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Patrick Roth

Die Christus Trilogie

 

Herausgegeben von
Michaela Kopp-Marx

 

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2017

www.wallstein-verlag.de

ISBN 978-3-8353-4110-4

Inhalt

Riverside
Christusnovelle

Johnny Shines
oder Die Wiedererweckung der Toten
Seelenrede

Corpus Christi

 

 

 

 

Jesus sprach: »Wer mir nahe ist,

der ist dem Feuer nahe,

und wer fern ist von mir,

ist fern vom Königreich.«

  Thomas-Evangelium, Log. 82

 

 

Riverside

Christusnovelle

ER, Gott, rief den Menschen an und

sprach zu ihm:

Wo bist du?

Er sprach:

Deinen Schall habe ich im Garten

gehört und fürchtete mich,

 weil ich nackt bin,

und ich versteckte mich.

Im Anfang 3,9.10

 

 

 

Rock of Ages, cleft for me,

Let me hide myself in thee.

American Gospel Hymn

 

 

Johnny Shines

oder
Die Wiedererweckung
der Toten

Seelenrede

– I’m here for a funeral.

– Funeral … Who’s dead?

Dialog aus John Fords

»The Man Who Shot Liberty Valance«

 

 

Wer einen Pfad geht, wo Männliches

und Weibliches sich nicht zusammenfinden,

von dem sondert sich die Schechina.

Sohar

 

 

Du Narr: Was du säest, wird nicht

lebendig, es sterbe denn.

1 Kor 15,36

 

 

Here they come to

Snuff the rooster

Yeah here come the rooster

You know he ain’t gonna die

Alice in Chains

 

 

Corpus Christi

Aber laß mich jene Zeit übergehen:

was hätt ich noch mit ihr zu schaffen,

von der ich keine Spur mehr finde.

Augustinus

 

We took the dead man in sheets

to the river flanked by love

Deep enough to dive

Deep enough to dive

Live

 

Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst;

und wie können wir den Weg wissen?

Joh 14,5

 

In futurity

I prophetic see

That the earth from sleep

(Grave the sentence deep)

Shall arise …

William Blake

I

Ich sehe eine Höhle. Und darin, während draußen in den Gassen der Hügel die Springflut Regens übers Wild-Trockene hinschießt, seh ich Glut. Und gut zwanzig Schritte in die Sicherheit ihres dunklen Überhanges hinein, liegt gesammelt die Glut der Höhle. Zusammengesammelt, steinumringt, windumstoben. Und es hört Regen die Höhle. Und staut sich das Echo hinten, wohin sie dem Glutschein entkommt und dunkler wird und dunkelt, unsichtbar macht, was hier aufhält die Höhle. Aber fernher kam Donner.

Und aus dem dunkleren Teil, wo sich sein Echo hellt, kommt der Mann. Ist ein Alter. Und vermummt an Gestalt, kalkgraue, aschenverschmierte Lumpen am ganzen Körper, kommt er zu tragen, vornübergebeugt, die Last. Kommt schweren Schritts und zieht eine Leiter, langsam, beschwerlich, die, rückengetragen, im langen End kauzig-rauh nachschleift, als sei sie Last nur am Mann, am Boden aber schon Pflug. Als gälte es, aus dem trocken-brüchigen Lehm heute noch Ernte zu ziehen, eigensinnigerweise.

Und angekommen am Eingang der Höhle, beäugt der Alte die Wand, sucht darin obenhin. Nach einem Zeichen? Einem Versteck? Und scheint bald fündig und stellt dann die Leiter. Und nimmt auf vom Boden, bevor er noch steigt, ein Männergewand, das schon gefaltet bereit dort lag. Und steigt die Leiter hinauf. Und hält, unter der nächstletzten stehend, auf der siebenten Sprosse, und lehnt gegen die Leiter. Und greift aus der Seite sich, einer lappigen Falte des Lumpengewands, Nagel und Stein. Und schlägt den Nagel dort in die Wand, auf der Höhe etwa der letzten Sprosse der Leiter. Und hängt daran auf das Kleid, hoch oben, das sich entfaltet. Ein einfach Männergewand. Und läßt den Stein fallen und klettert hinab.

Und nochmals, von unten, prüft er die Höhe des Kleids. Und als die Fingerspitzen des Alten reichen nicht an den Saum, da ist ers zufrieden. Und zieht ab die Leiter, zurück. Und das lange Ende schleift nach, aber achtlos, nicht länger rückengetragen von ihm. So als sei schon gesät und die Ernte schon sicher. Und verstaut sie hinten im Dunkel der Höhle.

Und taucht, so getan, aus dem Dunkel dort auf, und nähert der Glut sich des Feuers. Und hockt davor hin und bläst hinein in die Flamme und wärmt sich die Hände.

Und ab und zu, schläfrig, tonbetört, schaut er hinaus in den Regen.

Zeit ist vergangen, da hört er Stein, niedergehaun vom Berg. Und rappelt sich auf, geht vornhin zum Eingang und schaut hinab. Da packt ihn, was er sieht. Denn er hat erkannt: es kommt Einer, kommen Welche! Und er zittert, wird schwach, als er sieht, und lehnt eine Weil in die Wand sich, wie in einen Freund. Wird aber nicht beruhigt, sondern: wünschend, die Leiter stünd neben ihm noch, auf Zehenspitzen heischt er, durchs Regenfadengewirr hinabhin, ein Bild sich zu holen der Ankömmlinge.

Und jetzt – wo ist das Schwer-Beschwerliche jetzt seines Gangs? – eilt er zurück zur Feuerstelle, hockt sich dahinter, dem Eingang zu. Und sogleich hat er Augen für nichts als das Feuer, das zusammengesammelte, steinumringte. Und hockt stille dort, reglos, als säß er schon Jahre.

Und zwei Männer erreichen, durchnäßt und vom Aufstieg erschöpft, die Höhle. Und sind jung, treten ein, Andreas und Tabeas, naßquerend die Ackerfurchen der Leiter.

Und der Alte, die Augen im Feuer, bemerkt sie nicht. Unsicher gehen die Männer hin, auf ihn zu. Er aber bemerkt sie nicht. Und Andreas blickt auf den Tabeas. Denn sie meinen, daß, wider die Rede der andern, ein Wunder geschehen, und der Alte hier, im Gebet versunken, vor ihnen ruhe. Und warten auf sein Auftauchen und daß er sie bemerke. Und er bemerkt sie nicht.

Von Andreas, der näher steht, tropft der gesammelte Regen, den sein Kleid gesammelt und aufgesogen. Nein, von beiden, von Tabeas ebenso, rinnen die Tropfen des ins Gewand versackten Wassers. Und rinnt ein Bächlein davon, wie sie dastehn und voll Achtung sind für die Andacht des Alten und sich nicht zu bewegen, nicht ihn zu stören wagen. Rinnt spöttisch die Schritt hin zum Steinring, zischt auf an der Hitze des Steins, mitten hinein in Schweigen und Ernst. Und macht Tabeas lachen.

Andreas aber, weil der Alte auch jetzt noch nicht aufschauen will, spürt dessen Widerwillen und sieht hin durchs Gebet, daß es keines ist, sondern Widerwille, und spricht vors Feuer tretend zum Alten:

– Sei gegrüßt, Diastasimos. Denn wir kommen in Frieden.

Der Alte bemerkt nicht. Schaut nicht einmal auf.

– Diastasimos?

Und bleibt reglos, wie er war. Und Tabeas hält den Andreas, der schon unwillig ist über solchen Empfang, weil er immer schnell unwillig ist und nur langsam bereut. Und Tabeas setzt sich diesseits des Feuers und bedeutet dem Andreas, ihm nachzutun. Und zögernd streckt Tabeas seine Hände aus, sie über dem Feuer zu wärmen. Läßt aber den Alten jenseits nicht aus den Augen, wie der sein Feuer, die Mitte, nicht aus den Augen läßt. Dann sagt Tabeas:

– Dank, Diastasimos. Denn dein Feuer, nachdem der Regen uns auf dem Berg überrascht hat, tut uns gut.

Und Diastasimos schweigt. Aber Andreas, den Alten endlich aufzuwecken, klatscht in die klammen Hände und reibt sie sich warm über Glut. Und als Tabeas, nachdem er aus seiner Tragtasche Schreibtafel und Stilus entnommen, neu beginnt und, von Heiserkeit unterbrochen, mit dem Namen des Alten, Diastasimos also, keine zwei Silben weit kommt, da brüllt es ihn an! Und herrscht die Lumpengestalt, die da hockt, die da aufblickt jetzt, herrscht beide sie an:

– Also, was wollt ihr?

Und genießt ihr Erschrockensein. Will mehr davon, raunt, schnaubt:

– Hmmmh?! … Hmmmmhh?!!

Und wiederholt so und ähnlich, herausfordernd, in allerlei raunender, schnaubender Tonart sein Hmhmmmh, wie es alter Männer giftiger Brauch, wenn sie junge befremden oder loswerden wollen. Und so immer wieder, als sei er verrückt oder zum Mindesten alt-kindisch, ungeeignet zu einem Gespräch mit Besuchern. Bis er einhält damit, wie verjüngt seine Stimme vor ihnen auffahren läßt, tänzelnd und höhnisch redend – sie letztlich, indem er so Kraft beweist, doch ermutigend, daß sie den Weg nicht umsonst gekommen:

– Noch vor Sonnenaufgang riet mir eine Stimme: »Diastasismos, versteck dich vor ihnen. Denn sie kommen die Hügel hinaufgeklettert zu deiner Höhle, dich zu fangen. Verhülle dich, denn sie schreiben dich auf. Schreiben dich auf … oder graben dich zu. Denn sie verfassen Schrift!«

Und Tabeas versucht, den Alten zu beruhigen. Er solle doch keine Furcht tragen. Wird aber im Beschwichtigen von Andreas unterbrochen, der sich an Diastasimos wendet, neugierig über das eben vom Alten Behauptete.

– Sag, hörst du solche Stimmen öfter?

– Ich sprach nur von einer. Sei also unbesorgt. Und versuche nicht, sie mir auszutreiben! Ich werde mich nicht vor euch winden und kenne eure Sorte.

Und Andreas und Tabeas werden wieder still, wissen noch nicht, wie sie den Alten zu nehmen haben. Da fragt er sie aber:

– Und? Wie nennen sie euch?

– Tabeas, aus Jerusalem.

– Andreas …

Der Alte unterbricht ihn, zahlts ihm zurück.

– Auch kein schöner Name.

Andreas will auffahren, aber schon hat ihn Tabeas angefaßt, dort am Ellenbogen. Und widerwillig, als wisse er wohl, was zu tun sei, zieht er weg seinen Arm, antwortet so:

– Haben wir dich, Diastasimos, etwa verstimmt, uns danklos hier niedersetzend, und sollten wir, Tabeas und ich, Andreas Markus, uns glücklich preisen, dich in der Höhle hier überhaupt anzutreffen, in der du seit langen Jahren lebst, fern der Stadt und selbst die aus dem nahen Bethanien meidend? Meinst du, wir sollten froh sein, dich nicht auf- und davongehen zu sehen?

– Allerdings, Bürschchen. Glücklichpreisen solltet ihr euch.

– Oder meidest du nicht gezwungenermaßen? Und meidet man dich nicht gezwungenermaßen und schließt dich aus der Gemeinschaft der Juden und auch der Heiden, gezwungenermaßen? Denn so verlangt es das Gesetz, Diastasimos, welches den Eintritt in die Stadt unter Todesstrafe stellt jedem Aussätzigen. Wohin hättest du dich versteckt, wenn nicht unter die Lumpen, mit denen du dich vor uns vermummst, und was etwa zu verhehlen hättest du dich aus deiner Höhle hinauswagen wollen?

Und Diastasismos wendet sich ab von Andreas, spricht zu Tabeas, als sei einem wie Andreas gar nicht zu antworten.

– Er weiß schon alles, dein Freund. Ihr hört auf eure Stimmen. Die meine aber, »mutiger« Andreas, »mutiger« Tabeas, die ihr in die »Höhle des Aussätzigen« zu treten euch überwunden habt, die zeigte mir an, daß es Zeit sei.

– Zeit? Wie meinst du?

– Zeit ist es nicht nur für euren Besuch, sagte die Stimme, sondern: zu vertauschen Gelübde und Lehre. Und euch, die ihr kommt, mir das eine abzuringen, will ich das andere gern verpassen. Denn ich habe der Stimme wohl gehorcht und habe mich versteckt. Nur seht ihrs nicht. Statt dessen werft ihr einander Blicke zu – mir entgeht keiner! – als sei der Aussätzige hier auch noch geistesgestört.

Und Andreas will jetzt gehört werden, dem Alten zu widersprechen, ihn aufzuklären über den wahren Grund ihres Kommens. Und Diastasimos gibt ihm Zeit, zweimal – aber nur für einige Worte.

– Alter, glaubst du, wir …

– »Geistesgestört«, sagten eure Blicke, lehr mich nicht anders!

– Nun hör mir doch zu, wir …

– Aber damit habt ihr ja Erfahrung, mit solcher Sorte. Bei den im Geist Gestörten kennt ihr euch aus, nicht wahr?

So rieb sich der Hohn des Alten an Andreas Einsprüchen blank, weil er unbeirrt ihn nicht zur Rede kommen ließ:

– Denn euren Herrn und Meister, hatte man den nicht oft grade so genannt und hat man nicht in der Heiligen Stadt gesagt, er höre Stimmen? Und gar welche von Gott? Und die hätten ihm gesagt, daß er sei jener Stimme Sohn und also König der Seinen, der Jünger, aber mehr noch: aller Juden? Mehr noch: der Heiden und aller Welt, wie ich seit einigen Tagen höre, daß es geplant? Erfahrung habt ihr, geprüft seid ihr wahrhaft in solchen Stimmen, höre ich. Drum wunderts mich, ihr könnt nicht sehen, wie ich versteckt bin. Denn ich bin euch versteckt, und meine Stimme sagte mir so.

– Du argwöhnst gegen uns ohne Grund, antwortet Tabeas nach respektvoller Pause. Zweifelten wir dein Zeugnis und Denkvermögen an, wir hätten uns nicht die Mühe gemacht. Auch in Bethanien erinnert man sich deiner. Wer aber im einzelnen von dir erzählt, auch dir von den Geschehnissen der Stadt berichtet, konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Sind es die dir manchmal das Essen bringen?

Diastasimos schweigt.

– Nur daß du nicht irr oder stumm geworden … das wußten sie dort sicher zu sagen.

– In Bethanien? Wollt ihr sagen, man erinnert mich in Bethanien?

– Jeder weiß dort auch von der Höhle, die abseits liegt des Wegs von Jericho herauf nach Jerusalem.

Wir hätten sie selbst sonst kaum gefunden. Auf deine Frage aber, warum wir gekommen sind und »was wir hier wollen«: Im Namen unseres Herrn, des gekreuzigten und wiederauferstandenen Jesus, sind wir gekommen.

Und der Alte schweigt eine Zeitlang. Und Tabeas meint, er sehe ihn lächeln. Schließlich hört er ihn murmeln, verstehts aber nicht. Und bittet den Alten zu wiederholen, denn auch Andreas hat nichts gehört. Und der Alte nickt, immer noch lächelnd, spricht:

– Hat ers euch geheißen?

Und Andreas, der das Gift schon spürt, und der, wie Tabeas, das Lächeln des Alten glaubt deuten zu können:

– Wie meinst du?

– Hat ers in euer Ohr euch gelegt, daß ihr euch aufmachen sollt zu mir, mich zu heilen?

Andreas und Tabeas schauen einander an, verlegen, unsicher, denn sie hatten nur seinen Hohn erwartet. Jetzt aber klingt eine Bitte darin, die macht sie verlegen. Und Andreas spricht:

– Nein. Sondern Thomas, einer der Zwölf, hat uns den Auftrag gegeben. Aber …

– Aber? Ihr schaut so verdrückt, raus damit!

Da sagt Tabeas:

– Wir kamen nicht eigentlich, dich zu heilen, Diastasimos.

Und Andreas fügt schnell hinzu:

– Denn dein Unglaube ist berühmt.

– So? Ist er das? »Nicht zu heilen«, da bin ich ja beruhigt. Ihr plant also keine Schattenhuscherei mit mir, wie sie euer Simon in Jerusalem treibt, dem sie, höre ich, Kranke hinlegen, daß er sie im Vorbeigehen überschatte. Antwortet!

– Nein, sagt Andreas. Wir sind gekommen …

– Auch nicht, mich tot umfallen zu sehen, wenn ich nicht mit allem herausrücke, wies dem Ananias und seinem Weib soll ergangen sein?

 – Da bist du nicht gut informiert, Diastasimos, denn damals …

– Willst du, junger Tabeas, wetteifern mit der Wahrheit meiner Stimme? Oder sie Lügen strafen und auf jenen Acker hinauswünschen, auf den einer von euch hinabfiel und in zwei soll geborsten sein, nur weil er getan, wie ihm von eurem Herrn selbst befohlen war?

– Woher willst du das wissen und wers ihm geheißen? meint wütend Andreas. Warst du dabei?

– Den Judas kannte ich.

– Kann nicht sein.

– Oh, doch, du nasser Tropf. Man weiß das noch bei euren Zwölf, oder, glaubt mir, man hätte euch nicht hierhergeschickt. Überhaupt: Wenn das euer Herr noch erlebt hätte! Oder meint ihr, er hätte all den anderen wohl, nur seinem Verräter nicht vergeben? Zustände sind das! Und jetzt wollt ihr Lehren flechten aus dem, was euer Herr gesagt, was er getan?

Spricht Tabeas:

– Wir wollen, Diastasimos, helfen, es festzuhalten für andere.

– Statt euch selbst fest halten zu lassen, wie? Ihr Schattenhuscher und Menschenverdammer! Wo ist das Zeugnis eures Herrn, wenn ihr es selbst nicht seid?

– Alter, du tust uns Unrecht. Man hat uns zu dir gesandt, weil einer der Zwölf begonnen hat aufzuschreiben …

– Hier ists, das Wort! fährt Diastasimos auf. Wußt ichs doch!

– … aufzuschreiben, was unser Herr gesagt und wem ers gesagt. Wir sammeln die Worte derer, die ihm begegnet sind. Denn es fehlt noch viel, und man versicherte uns: du hättest etwas. »Geht, holt!« Das aber als Zeugnis für die, die kommen werden und dieser Tage bekehrt werden sollen.

– Kommt aber nicht, mich zu bekehren, das sage ich euch. Denn warum soll ich auf die Seite von Schreibern gehen, die ihre Predigt nicht im eigen Fleisch und Blut geschrieben finden, sondern in Tintenstrichen auf Papier? Gebt mir den Mensch zu lesen, wenn ihr Menschen lesen wollt.

– Den Jesus also. Von dem du uns doch nicht reden lassen willst!

– Auch den kannt ich, winkt Diastasimos wie gelangweilt ab. Könnt ihr denn nur von andern künden? Dann geht! Macht euch davon! Die andern kenn ich schon.

– Du bist doch wirklich unverschämter als man uns versprochen, sagt da Andreas und läßt sich nicht von Tabeas halten. Bewirfst uns hier mit deinem Haß auf alles, was nicht in diesem selbstgegrabnen, gottverdammten Kalksteinloch sich fände. Was weißt du von der Welt, du Hund –

– Andreas, laß ihn!

– … daß Gott dich so gestraft hat?

– Wir gehn! Und Tabeas macht sich dran aufzustehen. Andreas bleibt aber sitzen, schimpft weiter:

– … daß Gott mit Aussatz dich beworfen hat? Und dann mit Einsamkeit und dann mit Besserwisserei?

Lächelnd betrachtet ihn der Alte, spricht:

– Und alle drei sind ansteckend, bedenke! Du redest recht von Gott. Na endlich! Habt ihr Blut geleckt? Bleib sitzen, Tabeas. Habt ihrs erfaßt? Denn da ist doch noch, über eurem Herrn, Einer, der straft. Den ihr an mir, dem Aussatz unter meinem Kleid, erkennen wollt. Ich bin sein Beispiel für die Strafen, die ihr fürchtet. Von eurem Gott: die Strafen und das Beispiel. Demselben Gott, dem eurer ja entstammen soll, angeblich. Dem Gott, den die Propheten kannten. Der dreinschlug, auszurotten wußte sieben Stämme, damit wie du hier welche wachsen konnten. Wißt ihr von meinem Unglauben, dann wißt ihr auch von diesem Gott. Dir aber, Rauhbein, will ich gleich vergeben. Denn wenigstens gabst du von dir und ehrlich, als du auffuhrst gegen meine Worte. Ich hatte indessen – so fühlte sich das an – ein Stückchen Fleisch-und-Blut von dir in meiner Hand. So soll es gelten zwischen uns. So soll geredet sein.

Und Tabeas fühlt sich herbeigerufen wie ein um Seelenheil besorgter Helfer, fragt wie ein Vater hier sein Kind:

– Wie kommt es, daß du Gott so zürnst?

– Ich zürne keinem Gott. Ich sage, was ich höre.

– Die Stimme wieder! ruft Andreas ärgerlich.

– Die sagt, daß Götter zürnen, keine Menschen. Wir winden uns, wenn man uns schlägt, und nennens Zorn – aus Eitelkeit. Weil wir uns unsrer Schmerzen schämen und daß sie Ihm, dem Gott, so offenbar.

Andreas nimmt ihn beim Wort, sagt:

– Dann war das deine Sünde, Alter: die Eitelkeit? Das Winden, Sich-im-Wort-Verdrehen, wie wirs in deinem Reden hören? Du nimmst nichts ernst. Das Wort, das dir Erlösung bringen könnte, flektierst du. Probierst es an, als sei es reiche Kleidung. Wach auf, es sind nur Lumpen, die du trägst, und war die Eitelkeit, die dich verraten hat.

– Die Eitelkeit, du sagst es, gibt ihm der Alte ruhig zurück. Und stellt sich wie geschlagen. Und spricht, zunächst ganz langsam, tastend-fassend, aus längstvergangnen Bildern so zusammensammelnd: Jetzt wird mir alles klar, Andreas. Die war es auch, die mich vor vielen Jahren einst erwachen ließ. In Gottes Morgendämmerung. Ich lebte damals in Bethanien. War Ehemann, war Vater zweier Söhne. Wie eitel war es da, als ich, vor allen andern aufgestanden – denn es galt, manches Werkzeug auszubessern – im spiegelglatten Wasser draußen die Sichel wusch. Wie eitel doch, als ich im Wasser sah die Stellen auf meinem Nacken, meinem Schulternrund. Dort hatt sich über Nacht und ein-und-festgesetzt, um rötlichgraue Herde: der Aussatz. Ich habe nicht gezürnt, Andreas. Kein Gott war da, der sprach: »So hab ich dir getan, jetzt trag es!« Es war ganz still, und ich, ich war ganz starr … du, Tabeas … Ganz starr. Und nur die eitlen Finger meiner Hand bewegten sich, die um das Kranke tasteten, als sei es dort und jetzt in Schranken noch zu weisen. Sonst war ich eitel-starr. Und erst als Gottes Sonne dann erschien und ich die Kinder hört in unsrer Hütte und auch die Frau, zog ich mir an das Überkleid, das bei der Schwelle hing und mir, ein Weilchen später nur, von meinem Sohn wär zugetragen worden aus Kindereitelkeit, versteht ihr, wie Kinder sind, wenn sie dem Vater etwas reichen können. Und jetzt nicht zugetragen wurd, das Überkleid, nicht schläfrig-freundlich, von niemand mehr, von keinem grad erwachten lieben Sohn je wieder zugetragen ward, mit aber Hast gefaßt von mir und atemlos erreicht: das Kleid, das mich verstecken mußte.

Antwortet Tabeas:

– Ich fühle mit dir, Diastasimos. Nur weiß ich auch, daß sich uns später im Gewissen immer offenbart, wofür uns Gott bestraft.

Und Andreas:

– Du wirst gewußt haben, was sonst vielleicht nur ER gewußt.

– Ihr ahnt, das muß ich sagen, ganz herrlich, wie man in meinem Fall mit Fragen nach der Ursache sich aushöhlt und innen alles umgräbt, die Tage auch, die schon vergangen, gar nicht vergehen läßt und sie aufs neue aufgehn läßt, das Auge draufhält und jeder Fliege Bahn verfolgt, um ja zu prüfen, ob man die Flügel ihr beim Aschenblasen nicht versengt und so des großen Zornes Grund im Kleinsten schon entzündet hätt. Ich war nicht fehlerlos, doch auch nicht schwerbelastet, schien mir. Ich hatte Schulden, ja. Doch nichts, was nach der nächsten Ernte, die viel versprach, nicht wär entgolten worden. Ich hatte einen Nachbarn einst verleumdet. Ich war mir sicher, daß das Zicklein uns nicht entlaufen war, sondern ihm zugelaufen, vielmehr zugezogen – von seiner Hand. Und hielt die Meinung davon in mir, nur ab und zu, in diesem, jenen Wort hat sich gezeigt, daß ich ihm nicht mehr Freund, nicht mehr der alte Nachbar war. Die Sache aber war nie offen, wir sprachen nie darüber. Denn was ich ahnte, konnt ich nicht beweisen. Jetzt frag ich euch, war das der Strafe Gottes würdig?

– Willst du, fragt ihn Andreas, daß wir entscheiden, wo schon entschieden wurde? Uns ist es nicht gegeben, in dich hineinzusehn. Du bringst uns in Verlegenheit. Laß uns doch reden, wovon dem Thomas wir Bericht zu geben hierhergekommen sind.

– Ja, bittet ihn auch Tabeas. Denn Thomas sagt, was du bereits bestätigt hast. Daß du mit Jesus, dem Menschensohn und Gottessohn, einst hast Gespräch gehabt. Sprich also davon, und leg uns dar, wies dazu kam. Erinnerst du die Zeit, und was er sagte, und was du ihm geantwortet?

– Ihr seid mir Botengänger! schimpft da der Alte. Wer hat euch rekrutiert? Soll ich vom Sohn erzählen, bevor ich bei dem Vater Gnade such? Muß ich nicht eher diesen Vater um die Heilung, wo aber die verschlossen, doch um ein Wort ihn bitten, doch um ein Flüstern, den windgetragnen Sinn der Krankheit einzuhören, den Urgrund meiner Strafe einzusehn, bevor die Meinen und meine ganze Welt erfährt, was mir im Nacken sitzt?

Und Tabeas sieht, daß ihm nicht beizukommen ist. Und seufzt und gibt ihm nach:

– Du hast dich deiner Frau nicht anvertraut?

– Was gab es ins Geheimnis ihr zu geben? Das, was ich selbst, so viel ich mit mir dachte, nicht zu verstehen wagte? Ja eher glauben wollt, es sei ein böser Traum, es sei ein fleischgeworden Bild der Ernte, die damals Regen traf und in Gefahr geraten war? Denn es war nah am Passahfest. Und wenn es jener Tage so geregnet hätt wie heute, wir Bauern hätten unsre Ernte nicht gesehn. Vielleicht, dacht ich halb irr und immer wieder prüfend Stell um Stelle, mich windend, ob es sich mehrt, und ob – denn Hoffnung ließ mich nicht – ob diese fremden Farben, ob die Geschwulst nicht schon verschwunden, ob es nicht doch ein ausgebrochner Traum war, der an mir, auf mir sagen, in meine Haut einschreiben sollt: daß diese unsre Ernte mit Pestilenz beworfen wird, wenn es nicht käm zu Gott und es nicht einzulenken sei, dies Volk. So dacht ich heimlich und hab mich schon am nächsten Tag davon gemacht.

– War es in diese Wildnis, in die du damals zogst, um abzuwarten, was mit dir geschähe?

– Du kennst mich nicht, Tabeas. Auch der, der damals wegzog von den Seinen, den kennst du nicht.

Ich war nicht immer einsam. Ich war wie du … und du, Andreas. Ich hab, wie ihr, die Einsamkeit gescheut, ich reiste nie allein, wenn es nicht nötig war. Ich war noch unter euch, versteht ihr? Ich war noch von euch. Einer von euch an jenem Tag noch. Kein Aussatz, kein Ausgesetzter wollt ich sein. Nicht »festgestellt« vom feinen Tempelpriester, und dann verbannt. Ich mußte zu euch, mitten unter die, mit denen ich bis dahin noch gelebt. Ich kam nicht hierher. Ich wollte nach Jerusalem, zu euch, euch Menschen … versteht ihr?

– So wie du warst? fragt ihn entsetzt Andreas.

– Vermummt, versteckt vor euch, so wie ich war.

– Man hätte dich gesteinigt, zu Recht. Du wußtest doch, was du an dir da in die andern trägst! Wie vielen wolltest du den Tod?

– Ich hab nicht, siehst du nicht, Andreas, ich hab mich nicht für tot gehalten, für einen Lebend-Toten. Ich konnte also auch den Tod nicht andern geben, den Tod, der mir, so war ich sicher, von Gott wieder genommen würde. Ich habe diesem Gott, ich habe seiner Güte ganz vertraut.

– Man wird, spricht da Andreas, dir aber sagen müssen: das war die Angst, die dich so handeln ließ, die Eigensucht, die letzte Tat in Eitelkeit und Teil der Strafe Gottes, daß du so ohne Rücksicht in Gefahr gebracht die ganze Stadt.

– Ich war nicht schuldig.

– Jetzt warst du es.

– Das war nicht meine Krankheit.

– Jetzt war sies. Mit dem Betreten unsrer Stadt! ruft ihm Andreas zu.

– Es war nur Gottvertrauen, seht ihr nicht?

– Gottlosigkeit und Selbstsucht, blinde.

– Ihr seht nicht. Nach all den Jahren seht ihr nicht.

Tabeas aber hat Mitleid mit ihm und sieht, wie den Alten die Worte des Andreas leise und mürbe gemacht. Und besorgt um ihr Ziel, versucht er auf anderem Weg, ihn wieder zum Sprechen zu bringen:

– Wie lange ist es her, das Passah, als du wegzogst aus Bethanien? Denn die uns hergeschickt, die kamen auch hinauf zur Stadt zum Passahfest, und meist aus Galiläa, Jahr für Jahr. Vielleicht hast du sie dort ja damals schon gesehn?

Und Diastasimos antwortet leis und sich erinnernd:

– Es war zu der Zeit, da Pilatus versuchte, das Wasser einer Quelle außerhalb Bethlehems in eure Stadt zu leiten … und Unruhe war unter den Städtern.

– Mein Bruder und ich, sagt Andreas, wir erinnern uns auch, aus anderem Grund, an jene traurigen Tage, und man sprach uns noch später davon. Pilatus nahm sich, so sagten sie, das Geld für den Bau aus unserem Tempelschatz, den Protest der Unseren aber mit mehr als Verachtung strafend.

– All das wußt ich nur halb, sagt Diastasimos. Ich wollt zu meinem Gott, dem Salomon einst hat gebaut und dann Herodes nachgebaut und neugebaut Sein Haus, den Tempel in Jerusalem. Darinhinein wollt ich mich retten und IHM dort opfern, IHN um die Heilung flehn.

Und hier taucht wieder Leben in den Alten, sie sehn es beide. Denn er spricht zwar erinnernd, aber so im Rhythmus des Vergangenen, daß es wie nachgezogen, von der sich schleifend-mühenden Stimme des Alten lebendig-lehmig hergezogen, vor sie zu stehen kommt:

– Es war um die dritte Stunde, als ich die Stufen hinauf zum östlichen Huldah Tor kam, des Tempels Säulengang zu betreten, und ich schaute auf die, die den Tempel durchs zweifache, westliche Tor nun gereinigt verließen, und sprach im Innern zu Jahwe: Führ mich im Kreise wie diese, auf daß ich gereinigt werde und gereinigt wie diese verlasse durchs linke Tor diesen Tempel, dein Haus, wie es geschrieben steht. Und trat ein. Im großen Tempelvorhof aber, bis zur inneren Mauer hin, die den Heiden Zutritt verwehrt, standen dichtgedrängt Volk und viele der Pilger und waren zum Fest, auch viele aus Galiläa gekommen. Ich hatte zwei Opfertauben gekauft und drängte vorbei an einigen, dem Tempelberg und den inneren Toren zu, da kam eine Unruhe über die Menge, die sie alle zusammenzog und noch dichter drückte, als würde von allen Seiten auf uns gepreßt. Und man stieß mich in diese, in jene Richtung, da lockerte sich die Menge wieder, und man hörte am fernen Ende des Tempelplatzes ein Schreien, der Burg Antonia zu. Ich aber stand bei einem, ein Jude wie ich, der hatte mich angesehn, als uns die erste Welle so aneinandergestoßen. Und der, das fühlte ich gleich, erfuhr nun in meiner, meinem Gesicht eingeschriebenen Angst: entdeckt, erkannt zu werden, die seine: erkannt, entdeckt zu werden. Denn seine Miene war schrecklich gespannt, und er erschrak auch, als er meinen Augen begegnete, und wich ihnen aus, noch bevor ich das tat. Mir war auch so, als erkennt ich hier einen, der mich vielleicht verfolgt hatte. Denn noch diesen Morgen, auf dem Weg von Bethanien, hinab ins Kidron Tal, blieb ich stehen. Da wars mir, als säh ich einen wie ihn droben stehen, wartend zu sehn, zu welchem Stadttor hin ich meinen Weg einschlüge. Aus der Ferne waren mir weder dessen Gesicht noch Kleidung erkennbar, und doch erschuf mir die Furcht jetzt, der rasch-unerwartete Zusammenprall in der Menge, diesen einen Verfolger und glich ihn dem Juden hier an. Denn er war, wie ich sagte, erschrocken, als ich ihn ansah. Und trug auch etwas unter dem Kleid, darin er beide Arme versteckt hielt, als hätte man ihm diese gebunden. Er drängte weg von mir, das sah ich jetzt deutlich, aber ein erneuter Ausbruch der Menge stieß uns wieder in nächste Nähe. Und diesmal so nah, ich konnt seinen Atem hören, hastig-angespannt-heiß, als sei dieser Mann das heimliche Herz der Menge, ihr pochend schlagend Herz, ihr Löser-Auslöser, für jeden der wogenden Masse all-verantwortlich, der geheime Vater aller Juden und doch: kein Vater. Eher Verfolger. Da brach die Menge los und schrie, und viele schlugen sich auf die Brust und wehklagten laut und rannten, ein Strom, nach Norden zu an die Burg, Pilatus im Jammer die Stirn zu bieten. Und jeder wurde mitgezogen und konnte nicht gegen den Strom, bis auf einige von uns. Denn jetzt sah ich ihn wieder, gegen den ich gestoßen, dessen Angst ich erkannt. Ich sah ihn, wenige Köpfe entfernt, stillestehn, von der schreienden, jammernden Menge umrannt. Unvergleichlich war aber dort der Lärm. Seine beiden Hände sah ich: nicht mehr verdeckt von dem Umhang. Sondern um Schwert und Geißel. Und sah, wie er hieb mit dem Schwert in die Unsren, in unsere Schultern, in unsere Hände und Häupter. Und die er nicht beibekam, die riß er, wo sie vorbeimochten, anderer Hand mit der bleiköpfigen Geißel auf. Es waren aber der Mörder viele, von Pilatus gedungen, und hatten wie die Unseren, in unserer Kleidung, sich unter das Volk gemischt, um uns die Stimmen zu stillen. Und wegdrängten viele, aber wurden zurückgedrängt von der Menge, die vorn an der Burg nicht weiterkonnten und die noch nicht ahnten, was unter ihnen geschah. Und so auch ich. Und kam unters Schwert des Soldaten. Doch eh ich getroffen, riß mich die Geißel. Denn er sah, wie ich ausweichen, zurück zwischen die Beine der anderen wollte, und hatte erkannt, wer ich war und daß er mir, wenig zuvor, noch ausgewichen war mit den Augen. Und drosch auf mich ein mit dem bleiköpfigen Lederstrauch, den sie flagellum nennen. Und der Stoff meines Kleides barst und wurde weit aufgerissen, so daß ich im selben Moment wußt, was er sah: nämlich den Aussatz, den Rücken voll Aussatz und Blut. Und wälzte mich um, ihn ein letztes Mal zu verdecken, und riß hoch beide Hände, an mein Gesicht, mehr vor Scham als vor Angst, denn ich sah sein Erstaunen noch über das, was er gerade entdeckt, und sah ihn zurückweichen vor mir, dann aber wieder herangedrängt von andern, welche anderen Schlächtern entkommen wollten. Und ich sah meinen Soldaten, wie sein Schwert auf mich fiel. Es waren aber in meinen Händen noch die zwei Tauben, die ich gekauft und die meine Furcht vor dem Tod mich umklammern hieß und sie erdrückt haben mochte, ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß, als sein Schwert niederkam, etwas aufstob, lösend sich von mir emporriß und naßquerte die Schwertbahn und den Streich missen ließ des Soldaten. Denn ich hörte noch seinen Wutschrei, da hieb er schon mit verdoppelter Kraft auf den Nächsten. Ich aber entkam. Entkam mit denen, die überlebten, durch jenes andere, zwiefache Huldah Tor, den Ausgang, den ich im Eingang mit Hoffnung betrachtet. Und war ja auch wahrhaft, nur anders, gereinigt von Gott: gottlos, denn den zu ihm Gekommenen hatte er dafür bestraft. Also betrogen, schlich ich die Rampe hinab und wußte: Wie er, stumm und tot, sich mir nicht gezeigt, würde auch ich für tot gehalten und zu den Toten gerechnet von heut an. Und wahrhaft, totgeglaubt wollt ich sein, unter die Opfer des Tages gezählt, denn ich war ohne Hoffnung und konnte so nicht zurück zu den Meinen. Und zog aus der Stadt und fand später hierher, wo ihr mich heute gefunden.

Sie schwiegen.

II

– Sag aber, Diastasimos, begann Tabeas von neuem, hast du die Deinen, ich denke an deine Söhne, an deine Frau, denn ohne Nachricht gelassen?

– Sie hat doch erfahren, daß viele an jenem Tag den Tod fanden. Viele. Denn eine genaue Zahl hatte niemand.

– Du lästerst Gott, undankbar wie du redest, spricht Andreas zum Alten. Warum hätte er dich am Leben gelassen, wenn er, wie du hier andeutest, dir einen nachgeschickt, dich zu töten? Du solltest Gott preisen. Er hat dich dem Manne entzogen, der auf dich schlug. Preisen, denn hier war die Frucht: lebendig bist du davongekommen. Und doch undankbar, wahrhaftig gottlos, ihn lästernd mit deinem Haß. Denn viele, auch wir, sahen an jenem Tag den Vater nicht wieder. Denn Pilatus wollte es so. Aber zürnten wir Gott? In Jerusalem hat man begraben und über den Gräbern geklagt, wissend, das Jahwe uns den Messias bereithält.

– Ihr habt mich gefragt: Warum zürnst du Gott? Weil ich zu jenen gehöre, die nicht mit Hiobshaut geboren. Wir aber sind Mehrheit. Darum geht, fragt die Toten. Meint ihr nicht, sie stimmten mir zu? Und nicht, daß sie mich, der ich tot der Welt lebe, an ihrer Statt reden ließen?

Aber Andreas will ihm nicht beigeben:

– In welcher Ohr denn, Diastasimos? Denn du sprichst zu den Lebenden und vermagst uns nicht zu überzeugen. Und wie lang denn willst du den Toten das Wort reden? Was, meinst du, bedeuten die Toten, daß sies im Gemüt hätten zu zürnen? Glaubst du, sie wissen? Und, wissend, glaubst du, sie wüßten mehr als ihren Tod? Und wenn mehr, was dann? Unser Herr aber hat gesagt: Nichts ist verborgen, das nicht entdeckt werden wird, nichts verhüllt, dem nicht entrissen wird das Verhüllende. Also auch nichts begraben, das nicht wird auferstehen, wenn Jesus wiederkehrt. Und dieses »mehr«, wenn ein Mehr es gibt im Wissen der Toten, wenn sie über ihren Tod hinaus etwas wissen sollten, dann dies: daß ihnen wird entrissen werden, wie ein Linnen, der Tod – und aufersteht der Begrabene! Denn im Ende, das ist der Tod: ein Verhüllender, der stirbt dahin.

– Ihr redet groß. Ihr redet aber und redet. Ihr ahmt die nach, die euch geschickt. Sie haben euch wohl den Vater ersetzt, und ihr haltet dafür, viele Väter zu haben. Aber was tut ihr? Wo wird gehandelt? Wollt ihr mich lehren? Dann packt an! Faßt mich an! Lebt, springt hinein in dieses Haus! Laßt euch ein in den Körper, den Körper dessen, der vor euch sitzt! Und dann, wenn ihr inwendig seid, Väter dieses Hauses, und wir uns also vertauscht, dann sprecht! Ich will euch hören, wie ihr Worte knüpft. Das Muster will ich sehen, ob es noch Hoffnung hat, sich ach-so-stolz fürs Leben bäumt und noch verheißt, daß jedes Ding sein Gegenteil, daß alles einst noch anders wird. Und ob ihr in der Höhle hier, nach Jahren, noch Den kommen hört, auf den ihr, wie ihr sagt, ja wartet. Wartet auf seine Wiederkehr, harrt aus in meinem Körper! Und ich will euch die Worte eures Messias aufsagen hören, ob ihr sie nicht verdammt und vaterlos werdet und inwendig lernt zu vergessen.

– Laß uns beten für dich, sagt Tabeas. Mein Bruder Andreas, wir wollen beten.

Aber Diastasimos läßt sie nicht aus seinem Zorn:

– Beten? Ist das alles, was ihr könnt? Hat man euch mehr nicht gelehrt? Warum handelt ihr nicht? Handelt doch, aber mit Macht!

– Was sollen wir tun? fragt Tabeas.

– Handelt! Steht auf, packt mich! Und heilt mich! Befehlt der Krankheit! Reinigt den Aussätzigen! Ist euch das nicht befohlen?

Spricht Andreas:

– Den Grund unsrer Reise zu dir haben wir schon genannt.

– Na und?! Jetzt geht einen Schritt weiter, nämlich zu mir, und befehlt eurem Gott, eurem Jesus, wenn ihr Manns genug seid! Mit welchem Mut hat er euch Schwächlinge denn versehen?

– Wo sollen wir heilen …

– Und wen? unterbricht ungeduldig Andreas seinen Begleiter. Etwa dich, den der Meister, den Jesus selbst nicht reinigen konnte, zurückgeworfen von deinem Mißtrauen und Haß und deiner Gottlosigkeit?

– Wird es so berichtet?

– Ebenso, antwortet Andreas.

– Wie sollten wir tun, was selbst Er nicht vermochte? fragt Tabeas hilflos-entschuldigend.

Aber der Alte sieht ihn nur höhnisch an. Und nochmals fragt Tabeas:

– Was willst du? Daß wir Gott lästern? Mit dir IHN verdammen? Oder auflösen dir den Grund deiner Strafe? Du willst ja nicht einmal, daß wir fürbitten.

– Kleine Brote backt ihr. »Fürbitten«, wer hat denn das erfunden? Soll Er nicht gesagt haben: »Fragt und so wird euch gegeben. Und nicht anderes wird euch gegeben, als wonach ihr gefragt. Und nicht ein Stein statt des Fischs?« »Fürbitten«, für und für, wo soll das hinführen? Aber sagt mir: wird es so erzählt?

– Wie denn? fragt Andreas.

– Daß euer Herr mich nicht gereinigt hat, machtlos, meinen Unglauben zu überwinden.

– So erzählte uns Thomas.

– »Thomas«? Ein Thomas war aber nicht dabei, damals, als die drei zu mir kamen.

– Thomas war nicht dabei, erklärt Tabeas. Aber so wurde es ihm von Johannes erzählt, dem Sohn des Zebedäus und einem der Zwölf.

– »Johannes«. Ja, das kann sein, daß der andere so hieß. Ich erinnere noch einen, der euch so erzählt haben könnte. Außer Jesus, versteht sich. Denn der sprach euch sicher nie von unserem Treffen hier oben.

– Zu den Zwölfen jedenfalls soll er nichts darüber gesagt haben, meint Tabeas.

– Denkt ihr nicht auch, er wird gewußt haben, warum? Hätte er mich aber geheilt, wäre es dann den Zwölfen nicht mitgeteilt worden?

– Sicher, sagt Andreas. Wie es ja auch Johannes tat, als er ihnen von deinem beispiellosen Unglauben berichtete.

– Nun sagt mir noch eines: Warum wollt ihr in eurer Schrift erinnern das Unvermögen dessen, den ihr den Gottessohn nennt und als Messias verehrt? Laßt mich doch weg, ich kann euch nur raten. Denn wer würde überzeugt?

Aber Andreas antwortet:

– Was ist dein Leid, deine Krankheit, dein Schicksal, gemessen am auferstandenen Christus?

– Ihr meint, ich sei zu vergessen? So klein, so gering gegen ihn?

– Du wirst ein Beispiel sein für einen Menschen, spricht Tabeas und sieht den Alten dabei nicht an. An dir werden erschrecken und den rechten Weg suchen lernen die von dir erfahren. Daß er dich nicht geheilt, ist das nicht, wird man sagen, Gottes Gerechtigkeit?

– Armer Gott, der so richtet. Arme Menschen, die euch das glauben.

– Im übrigen wollen wir Thomas nicht vorgreifen. Er hat uns ausgesandt, aber nicht endgültig zu schreiben, sondern zu sehen und hören, wer Zeugnis hat von ihm.

Und Andreas fügt hinzu:

– Wer aber – du wolltest einen Dritten nennen – wer war denn damals noch dabei?

– Har das jenem Thomas der Johannes nicht erzählt? fragt der Alte ganz unschuldig.

– Daß ein dritter dabei war, meint Andreas, wird bezweifelt. Es besteht nämlich darüber Unklarheit.

Auch Thomas weiß nicht mehr von anderen, und Johannes sagt, er kann sich nicht erinnern. Du bist der erste, der von einem dritten spricht.

– Dann schreibt mal auf. Denn ich erinnere mich seiner gut. Es war nämlich der, den ihr Judas nennt.

– Welcher? Der …

– Der Sohn des Simon Iskariot.

– Der?

– Von dem jetzt, wie ihr wißt, der Acker soll voll sein. Von seinem Gedärm nämlich, wie ihr unter dem Volke verbreitet habt.

– Du bist dir sicher, daß der dabei war, den sie so nennen: Judas Iskariot?

– Mit eurem Herrn und nach Johannes traf er hier ein. Er trug den Beutel am Gürtel, ich hörte das Klimpern des Gelds unter seinem Stöhnen, weil ihm der Weg höchst beschwerlich war, denn es war ja ein Umweg. Und sah ihn damals zum ersten Mal.

Und Tabeas sieht auf Andreas und spricht leise zu ihm:

– Kann das überhaupt sein? Hat man ihn nicht, wie sonst, vorausgeschickt mit einigen, zu erkunden, wo sie möchten die Nacht verbringen? Wer war denn damals dabei?

Andreas antwortet, auch so, daß es Diastasimos hört:

– Thomas meint, der Herr und die Zwölf seien von Jericho herauf den Weg nach Jerusalem gegangen. Es war aber sein letzter Gang hinauf, und er soll vor dem Einzug in die Stadt noch in Bethanien gehalten haben. Und dort mit dem Lazarus und mit Maria und Martha zusammengewesen sein. Und dem Volk, das gekommen war, ihn und Lazarus zu sehen, weil sie gehört hatten von dem Wunder, soll er zugesprochen haben und hat Lazarus unter sie gesandt. Das war in Bethanien. Dann zog er nach Bethphage an den Ölberg, von dort aber nach Jerusalem.

– Ihr seid, die ihr aufschreiben wollt, in eurem Bericht schon an mir vorbei, viel zu schnell, sagt der Alte. Du hast recht, Andreas, sie waren aus Jericho den Weg nach Jerusalem heraufgekommen, wenige Tage vor dem Passah, genau kann ichs nicht sagen. Aber Bethanien hatten sie, das seht ihr leicht, noch nicht erreicht. Denn meine Höhle liegt in den Hügeln der Steige, lang vor der Abzweigung dorthin. Ich hatte von ihm gehört und daß er Wunder tat und den Römern das Reich streitig macht, so wurde gesagt. Und es war damals, daß man ihm auflauerte, ihn zu fassen. Und ich wußte auch davon. Es war aber nichts, das mich betraf. Denn ich hielt mich »gezwungenermaßen«, wie du sagst, Andreas, allen fern und achtete nicht sonderlich auf das Treiben der Juden und Heiden. Es war gegen Abend, da hör ich Geröll, fallend, nah und unter der Höhle …

Und aufstehend jetzt fährt der Alte fort:

– … und ging zum Eingang und sah drei Männer kommen. Der aber Johannes hieß, ging auf mich zu, sagte: »Jesus, unser Meister, hat von dir gehört in Bethanien.« Und aus ihrer Mitte – denn der mir später als Judas seinen Namen nannte, der war hinzugekommen als zweiter und trat ein wenig zur Seite, daß ich sah den sie in ihrer Mitte hatten – aus ihrer Mitte erschien er. Staubig das Kleid, Hand und Fuß aufgerauht vom Gestein, bebend die Brust. Hustend noch, ich erinnere mich genau. Denn sie hatten hier herauf alle Staub geschluckt. Und seltsam, wo mein Aug nun an diesem hielt: seine Drosselgrube voll Schweiß, von der Kehle herab sich sammelnd … Da schritt dieser an Judas vorbei, und kam hin zu mir, der ich auswich. Aber unter schwarzsträhnig verklebter Stirn seine Augen: die sahen auf mich und kamen ruhig zu den meinen. Und ich war ausgewichen bis hierhin, und nicht weiter. Ihr seht, ich habe nichts verloren von jenem Besuch. Schreibt ihr aber auch auf?

– Das Wichtigste schreibe ich auf, sagt Tabeas.

– Wie willst du entscheiden, jetzt, was wichtig, was nicht, und entscheiden für wen? Da du das Ende nicht kennst?

– Aber wir kennen es doch, meint Andreas. Und hören beide mit, beruhige dich, Alter, und wo Tabeas fehlt, werde ich mich erinnern.

Und Andreas lacht, fügt seinen Worten hinzu:

– An die Drosselgrube zum Beispiel.

Diastasimos aber geht und zeigt ihnen die Stell auf dem Boden, unweit dem Feuer, zur Wand hin.

– Bis hierher, wo ich jetzt stehe. Und er … Er stand hier.

Und wieder geht er und schreitet ab den Abstand, drei Schritte oder vier, und bedeutet die Stelle.

– Johannes und Judas aber, noch ehe weiteres gesagt, standen … Johannes zwei Schritte vom Eingang, links. Und Judas … dort. Wo vorhin die Leiter stand.

– Wo stand sie denn, fragt Tabeas, wenn du willst, daß wir genau wissen. Denn ich sehe keine Leiter.

Und Diastasimos deutet, diesmal aber nicht allzugenau, auf jenen Ort, dem Eingang zu, wo hoch im Dunkeln das Kleid hängt.

– Dort, beim Eingang, dort rechts.

Und auch Andreas schaut sich um, aber lachend, weil der kauzige Alte immer wieder im Kleinsten sich zu verheddern scheint.

– Ebendort, wohin du jetzt siehst, meint Diastasimos kleinlaut und scheint unsicher geworden über dem Lachen.

– Gut, wir könnens uns vorstellen, sagt Andreas.

Aber der Alte schweigt wieder. Und das Lachen vergeht ihnen schnell.

– Und dann? fragt Tabeas ungeduldig.

– »Und dann«? äfft der Alte ihn nach.

– Was geschah dann? fragt Tabeas nochmals und bittet ihn schon.

Und der Alte spricht:

– Ich fragte – sah zu Ihm hin, aber beim letzten Wort, das ich sprach, etwas an Ihm vorbei, dorthin, zum Judas – »Warum seid ihr gekommen?« fragt ich. Es kann auch gelautet haben: »Was wollt ihr?« oder: »Was wollt ihr denn?« aber nicht ganz, nicht ebenso wie ich euch gefragt, als ihr kamt. Denn ich sagte doch zu euch: »Also, was wollt ihr?« Fragt ich nicht so, Tabeas, genau so?

Und verwirrt antwortet Tabeas:

– So ähnlich fragtest du uns.

– Aber genau so, diese Worte benutzend, habe ich doch zu euch gesprochen: »Also, was wollt ihr?«

– Alter, das weiß ich beim besten Willen nicht mehr, das ist doch nicht wichtig.

– Nicht wichtig? »Also, was wollt ihr?« hab ich gesagt, und darin war schon mein Unwille, denn ich wollt damit sagen: »Was wollt ihr, macht schnell und schert euch davon!« Das »Also« sollte euch anherrschen, und ihr müßt es gespürt haben, habt ihr denn nicht?

– Offensichtlich nicht, denn wir sind ja noch da.