Das Buch

Bei einem Ausritt retten Elena und ihre beste Freundin Melike ein verletztes Reh. Vom Förster erfahren sie, dass es in letzter Zeit mehrere Übergriffe auf Wildtiere gegeben hat. Elena ist schockiert: Ist es ein Wolf, der in den Wäldern rings um den Amselhof sein Unwesen treibt? Ist Junior, das neugeborene Fohlen, in Gefahr? Zum Glück sind Farid und ihre Freunde an ihrer Seite – gemeinsam kommen sie einem gefährlichen Geheimnis auf die Spur.

Die Autorin

© Felix Bruegemann

Nele Neuhaus, geboren in Münster/Westfalen, lebt heute im Taunus. Sie reitet seit ihrer Kindheit und schreibt bereits ebenso lange. Nach ihrem Jurastudium arbeitete sie zunächst in einer Werbeagentur, bevor sie begann, Erwachsenenkrimis zu schreiben. Mit diesen schaffte sie es auf die Bestsellerlisten und verbindet nun ihre zwei größten Leidenschaften: Schreiben und Pferde. Ihre eigenen Pferde Fritzi und Won Da Pie standen dabei Pate für die gleichnamigen vierbeinigen Romanfiguren.

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Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Erja.

Danke fürs Probelesen!

1. Kapitel

Das neue Jahr hatte so begonnen, wie das alte zu Ende gegangen war, nämlich mit eisiger Kälte. Selbst tagsüber kletterte das Thermometer nur selten über minus fünf Grad, und ich konnte mir kaum vorstellen, dass es jemals wieder warm und sonnig sein würde. An dem Abend, als das mit Tims Schwester passiert war, waren die ersten Schneeflocken gefallen, und dann hatte es eine ganze Woche lang so heftig geschneit, als ob es nie wieder aufhören wollte. Zwei Tage vor Silvester war eine Kaltfront aus dem Osten über das Land gekommen und hatte alles zu Eis erstarren lassen.

Als ich mit Lenzi am Zügel vorsichtig den schmalen Weg zur großen Reithalle entlangging, den Heinrich mit dem kleinen Bagger in die gefrorenen Schneeberge gefräst und mit Schotter gestreut hatte, dachte ich sehnsüchtig an die Oaktree-Farm von Brenda Murray in Massachusetts, auf der meine beste Freundin Melike und ich im letzten Jahr die Sommerferien verbracht hatten. Dort waren nicht nur die Reithallen beheizt, sondern es gab sogar Fußbodenheizung unter den Wegen zwischen den Stallungen, damit die wertvollen Turnierpferde bei Eis und Schnee nicht ausrutschten und sich verletzten.

»Von so was können wir hier nur träumen«, brummte ich und öffnete das Tor, das in den Vorraum der Reithalle führte. Twix, mein braun-weiß gefleckter Jack Russell Terrier, schlüpfte flink hindurch und lief geradewegs zu der Tür, durch die man auf die große Tribüne an der langen Seite gelangte. Auf einem Sitz in der fünften Reihe lag extra für ihn ein kuscheliges Schaffell, auf dem er es sich gemütlich machen konnte, wenn er mir beim Reiten zusah, und das tat er immer. Seitdem ich ihn im letzten Sommer sechs Wochen allein gelassen hatte, folgte er mir auf Schritt und Tritt und wahrscheinlich würde er mich sogar in die Schule begleiten, wenn er könnte.

»Tür frei, bitte!«, rief ich.

»Ist frei!«, erwiderte Papa im Vorbeigaloppieren. Er war ganz alleine mit Cotopaxi in der großen Halle. Unser Bereiter Jens war mit seiner Freundin Gloria, die auf dem Amselhof Western-Unterricht gab, noch bis zum 5. Januar, also übermorgen, im Urlaub, deshalb half ich mit den Pferden. Ohne Jens’ Hilfe war für Papa das Pensum, jeden Tag fünfzehn Pferde zu reiten, allein kaum zu bewältigen. Dazu kamen Glorias Westernpferde, die ebenfalls bewegt werden mussten. Nach einer langen und anstrengenden Saison hatten unsere Turnierpferde zwar momentan ihre wohlverdiente Winterpause, aber trotzdem sollten sie bis zum ersten Turnier Mitte Februar nicht komplett außer Form geraten, deshalb kamen alle mindestens zwei Mal am Tag raus: eine Stunde in die Freilauf-Führmaschine, außerdem noch lockere Bewegung unterm Sattel.

Ich drückte die schwere Bandentür auf und führte Lenzi in die Bahn. Es war noch früh am Morgen, die Sonne kletterte gerade erst über den Horizont. Das rote Sonnenlicht, das plötzlich durch die großen Fensterscheiben flutete, verwandelte die Atemwolken, die Lenzis Nüstern entwichen, in die feurigen Flammenstöße eines Drachen. Es sah spektakulär aus!

Während ich nachgurtete, die Steigbügel herunterzog und mich in den Sattel schwang, überlegte ich, ob man diesen Anblick wohl mit der Kamera einfangen könnte.

Seitdem ich in Amerika gewesen war, machte ich mir nur noch selten die Mühe, eine Reithose und Reitstiefel anzuziehen, auch wenn Papa das nicht gerne sah. Westernreiter ritten immer nur in Jeans und Cowboystiefeln, und besonders bei dieser Affenkälte fand ich es erheblich angenehmer, zum Reiten einfach die ledernen Fransenchaps über die Jeans zu ziehen, egal ob ich eines der Springpferde oder meine Quarter-Horse-Stute Hilda ritt. Ich hatte mir eine Wollmütze aufgesetzt und trug Handschuhe.

»Wo ist deine Reitkappe, Elena?«, fragte Papa, als er an mir vorbeitrabte.

»In der Sattelkammer«, erwiderte ich. »Ich frier mir die Ohren ab ohne Mütze.«

»Besser abgefrorene Ohren als ein Schädelbruch.« Papa parierte neben mir durch. »Na los, hol deinen Helm. Ich halte Lenzi solange fest.«

»Ach Menno!«, protestierte ich. »Ich fall schon nicht runter!«

»Das Thema hatten wir doch bereits …«

Wenn es um die Reitkappe ging, ließen meine Eltern nicht mit sich diskutieren, trotzdem versuchte ich es immer mal wieder, obwohl es eigentlich zwecklos war.

Mit einem Seufzer ließ ich mich also wieder aus dem Sattel gleiten, reichte meinem Vater die Zügel und trabte zurück in den Stall. Twix holte mich ein, als die Bandentür hinter mir zufiel, und freute sich. Wahrscheinlich glaubte er, ich sei schon fertig mit Reiten, und hoffte, ich würde ihn von dem karierten Fleece-Mäntelchen, das ich ihm der Kälte wegen angezogen hatte, befreien. Es gab jedes Mal einen Kampf, wenn ich meinem Hund den Mantel anziehen wollte, denn er empfand ihn als Demütigung. Nun sprang er an mir hoch und bellte auffordernd.

»Du musst es noch ein bisschen aushalten, Twixi-Bixi«, grinste ich und er ließ sofort die Ohren hängen. »Ich hole nur schnell meine Kappe.«

Mein Bruder Christian spottete immer über mich, wenn er hörte, wie ich mit meinen Tieren sprach, weil er der Meinung war, dass sie sowieso nicht begriffen, was ich sagte. Ich war mir da nicht so sicher. Twix verstand auf jeden Fall jedes Wort.

Im Turnierstall, in dem Papas Pferde untergebracht waren, war es ruhig. Nur das verstaubte Stallradio dudelte leise vor sich hin. Mein Bruder war kein Frühaufsteher, er würde nicht vor neun Uhr im Stall auftauchen. Die Pferde dösten in ihren Boxen oder knabberten Stroh. Wegen der Kälte waren die Außenfenster geschlossen, damit die automatischen Tränken nicht einfroren. Mein Hengst Fritzi, der mit richtigem Namen Fritz Power hieß, streckte seinen Kopf aus der ersten Box auf der linken Seite und grummelte leise, als er mich hereinkommen sah.

»Du bist nach Lenzi dran«, sagte ich zu Fritzi, ging zu ihm hin und drückte ihm rasch einen Kuss auf die Nüstern, dann betrat ich die Sattelkammer. Ich zerrte mir die Mütze vom Kopf, setzte den Helm auf und zog die plüschigen, rosa Ohrwärmer an, über die sich Jens, dem ich vor vielen Jahren den Spitznamen »Aknefrosch« verpasst hatte, lustig zu machen pflegte.

Drei Minuten später saß ich wieder auf dem Pferd, gurtete nach und ritt los.

Nach den dramatischen Ereignissen kurz vor Weihnachten, bei denen Gina, die kleine Schwester von Tim Jungblut, meinem Exfreund, so schwer verletzt worden war, dass sie noch immer in einer Spezialklinik in Mannheim liegen musste, hatte niemand von uns mehr Lust auf die ursprünglich geplante Silvesterparty bei Niklas gehabt. Stattdessen waren er und Melike zusammen mit Christian, Ariane und Niklas’ Eltern in deren Haus nach St. Moritz gefahren. Sie hatten Farid und mich gefragt, ob wir auch mitkommen wollten, aber Farid durfte wegen eines möglichen Verletzungsrisikos nicht Ski laufen, das stand in seinem Profi-Vertrag, und ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie auf Skiern gestanden und auch keine Lust, irgendwohin zu fahren, wo noch mehr Schnee lag als bei uns. Außerdem war Farid gestern für zehn lange Tage nach Abu Dhabi geflogen, wo sich seine Mannschaft in einem Trainingslager für die Rückrunde der Bundesliga-Saison fit machte.

Farid! Ich ritt am großen Spiegel vorbei und stellte fest, dass ich schon wieder wie eine Irre vor mich hin grinste. Immer wenn ich an ihn dachte – und das war quasi ununterbrochen der Fall –, flatterten Schmetterlinge in meinem Bauch und ich bekam Herzklopfen und weiche Knie. Ob das wohl jemals aufhören würde? Wir kannten uns seit sechs Monaten, waren uns beim Vor-Abi-Ball im Sommer zum ersten Mal begegnet. Kurz zuvor war meine Beziehung mit Tim zerbrochen, und mir hatte der Sinn null nach einem anderen Jungen gestanden. Immerhin hatte ich bis kurz vor unserer Trennung noch fest daran geglaubt, dass Tim und ich für immer zusammen sein und eines Tages heiraten würden! Als er und Niklas Melike und mich unverhofft auf Brenda Murrays Oaktree-Farm in Massachusetts besucht und wir gemeinsam mit Brendas Kindern Joana und Luke ein ziemlich gefährliches Abenteuer erlebt hatten, schien zwischen Tim und mir noch alles in Ordnung zu sein, aber kurz nach unserer Rückkehr aus Amerika hatte sich alles geändert. Warum, das war mir bis heute ein Rätsel. Tims und meine Beziehung war nie einfach und von Anfang an ein ständiges Auf und Ab gewesen. Wegen der alten Fehde zwischen Tims und meinen Eltern hatten wir unsere Liebe zuerst absolut geheim halten müssen, und auch wenn dieses Versteckspiel seinen Reiz gehabt hatte, so war ich erleichtert und glücklich gewesen, als Tim endlich auch ganz offiziell auf den Amselhof kommen und mein Freund sein durfte. Allerdings, und das musste ich mir im Nachhinein eingestehen, hatten sich ohne den Nervenkitzel der Heimlichkeit zwischen uns schnell Routine und Langeweile breitgemacht. Vor lauter Angst, Tim zu verlieren, hatte ich nicht wahrhaben wollen, dass etwas Grundlegendes zwischen uns nie gestimmt hatte: Da war kein echtes Vertrauen gewesen. Ein blödes Missverständnis nach dem anderen hatte unsere Liebe erschüttert, denn Tim hatte grundsätzlich alles, was ich zu ihm sagte, in den falschen Hals gekriegt. Irgendwann war er nur noch mürrisch und misstrauisch gewesen, und das hatte mich wahnsinnig gestresst. Er hatte keine schöne Kindheit gehabt, und ich hatte geglaubt, dass ich ihn glücklich machen könnte, wenn ich ihn nur genug liebte. Aber das war mir nicht gelungen. Seine Gleichgültigkeit und sein abweisendes Verhalten hatten mich zutiefst verletzt; ich hatte mich immer schlechter und elender, hässlich und irgendwie minderwertig gefühlt. Als mich seine kleine Schwester im letzten Sommer vor allen Leuten angefeindet hatte, hatte Tim zu meiner bodenlosen Enttäuschung nicht einmal Partei für mich ergriffen. Er hatte sich nur bei meinen Eltern entschuldigt und war gegangen, ohne mich zu beachten. Da war etwas in meinem Innern zerbrochen. Plötzlich hatte ich erkannt, dass Tim nicht gut für mich war, und das war wohl das Schmerzlichste, was ich je in meinem Leben erlebt hatte. Genau zu diesem Zeitpunkt war Farid in meinem Leben aufgetaucht, wie der schöne Prinz im Märchen. Er war nach den Sommerferien neu auf unsere Schule gekommen, kannte niemanden und war nur aus Höflichkeit auf den Vor-Abi-Ball gegangen. Als mich alle anderen, die eigentlich mit mir an der Bar arbeiten sollten, im Stich gelassen hatten, war er spontan beim Getränkeausschank eingesprungen. Später hatte er mir verraten, dass er sich auf den ersten Blick in mich verliebt hatte, und bei mir hatte es auch ziemlich schnell gefunkt. Ganz abgesehen davon, dass Farid mit seinen Zartbitterschokoladenaugen einfach mega aussah, wie meine beste Freundin Melike zu sagen pflegte, war er der absolut süßeste Junge, den ich kannte: Ich spürte, dass ich ihm wichtig war. Mit ihm konnte ich quatschen und lachen, und er hatte als Einziger wirklich verstanden, woher meine Schuldgefühle und Selbstzweifel nach dem schlimmen Sturz mit Bittersweet auf dem Turnier in Biblis kamen und was ich dagegen tun konnte. Ich verdankte es einzig und allein Farid, dass ich die Angst vor dem Springen überwunden habe, weil er mir …

»Elena!«, riss mich Papas Stimme aus meinen Gedanken. »Lass Lenzi doch nicht so vor sich hin eiern!« Er war mit Cotopaxi fertig, hatte dem braunen Wallach bereits die Abschwitzdecke über die Nieren gelegt. »Stell ihn mehr zusammen! Du reitest seit fünf Minuten ganze Bahn.«

»Ich dachte, ich soll ihn nur etwas bewegen«, antwortete ich.

»Ich sagte: Du sollst ihn etwas gymnastizieren«, korrigierte Papa mich. »Und das bedeutet nicht, ein Pferd eine halbe Stunde lang auf der Vorhand herumlatschen zu lassen. Wenn du mir helfen willst und keine Lust zum Reiten hast, dann sattle mir die Pferde nur und nimm sie mir wieder ab.«

»Nein, schon gut«, beeilte ich mich zu sagen und nahm die Zügel kürzer. »Ich hab ja Lust zu reiten.«

»Dann reite anständig. Sonst bist du keine Hilfe.«

Wenn es um das Wohl der Pferde ging, kannte Papa kein Pardon. Nachlässigkeit duldete er nicht. Er verließ mit Cotopaxi am Zügel die Halle. Ich gurtete noch einmal nach und ließ Lenzi angaloppieren. Vor drei Wochen, beim Frankfurter Festhallenturnier, hatte ich mit dem kleinen dunkelbraunen Vollblüter, der eigentlich Lancelot hieß, das Finale der Youngster Tour für sieben- und achtjährige Pferde gewonnen; wir hatten lauter berühmte und erfahrene Reiter hinter uns gelassen. Bei der feierlichen Siegerehrung war uns zu Ehren sogar die deutsche Nationalhymne gespielt worden, weil es sich um eine internationale Springprüfung gehandelt hatte, und bei der Erinnerung daran bekam ich noch heute eine dicke Gänsehaut. Anschließend war der Junioren-Bundestrainer zu mir gekommen und hatte mich mit Fritzi und Lenzi für Anfang Februar zu einem ersten Sichtungslehrgang für die Europameisterschaften eingeladen.

»Huhu!«, hörte ich eine Stimme. Twix sprang wie elektrisiert von seinem Schaffell auf und kläffte die seltsame Gestalt an, die sich nun mühsam die Treppenstufen zur Tribüne hochwuchtete. Lenzi erschrak daraufhin und preschte los.

»Spinnst du, Twixi?« Melikes Stimme klang hinter der Neopren-Skimaske, die nur die Augen freiließ, dumpf. »Ich bin’s doch!«

Der Jack Russell Terrier traute dem dick vermummten Wesen nicht über den Weg und knurrte es argwöhnisch an, das Nackenfell gesträubt. Erst als Melike die Maske hochschob, erkannte er sie und jaulte erfreut auf. Ich hatte Lenzi nach ein paar Galoppsprüngen wieder unter Kontrolle und parierte nun neben Melike durch.

»Hast du vor, ’ne Bank zu überfallen?«, fragte ich spöttisch.

»Ich erfriere sonst in dieser ätzenden Kälte«, klagte Melike. »Ich schwöre dir, in St. Moritz war es dagegen sommerlich!«

»Also, wenn man eine Weile reitet, geht’s, finde ich.«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaub’, ich hab mir auf dem Weg hierher Erfrierungen im Gesicht geholt«, jammerte meine Freundin. »Wieso hab ich Gloria bloß versprochen, mich um ihre Pferde zu kümmern, ich blöde Nuss? Ich könnte jetzt noch in meinem lauschigen, warmen Bettchen liegen und …«

»Immerhin scheint heute die Sonne«, unterbrach ich sie. »Lass uns doch später mit Hilda und Smiley eine Runde ins Gelände reiten.«

»Ins Gelände? Willst du mich töten?« Melike riss die Augen auf. »Es sind mindestens minus vierzig Grad!«

Meine Freundin neigte zu Übertreibungen, das kannte ich längst.

»Quatsch! Vorhin waren es minus neun«, erwiderte ich.

»Minus neun Grad! Ich bin ein Geschöpf des Sommers!«, rief Melike theatralisch.

»Deshalb warst du auch im Skiurlaub, oder?«, neckte ich sie. »Ich bin gleich mit Lenzi fertig, danach muss ich noch Fritzi, Never, Cornado und Conny reiten.«

»Okay.« Melike zuckte die Schultern. »Dann fange ich mal mit Gray Jac an. Nützt ja nichts, wenn ich hier herumjammere.«

Papa kehrte mit Calvador, dem Holsteiner Schimmelhengst, zurück, und ich brachte Lenzi in den Stall, sattelte ihn rasch ab und stellte ihn unter das Solarium, damit sein verschwitztes Fell trocknete, bevor ich ihm die Stalldecke anzog. In der Zwischenzeit lief ich zur Führmaschine, in der Qantas, Conny, Latus Lex und Cornado im Kreis trotteten. Ich drückte auf den Stopp-Knopf, öffnete die Tür und holte Cornado heraus. Dann schaltete ich die Maschine wieder ein.

Auf dem Weg zurück zum Stall kam mir die neue Einstellerin entgegen, die vor zwei Tagen auf dem Amselhof eingezogen war. Ihr schwarzer Andalusierwallach hatte die letzte freie Paddockbox bezogen. Sie hatte einen Doppelnamen, den ich mir nicht merken konnte, und war angeblich durch unsere Webseite auf den Amselhof aufmerksam geworden, das hatte Mama mir erzählt.

»Guten Morgen«, grüßte ich sie freundlich. »Ganz schön kalt heute, oder?«

Die Frau hatte ihre Wollmütze tief ins Gesicht gezogen, trug eine Daunenjacke, Chaps und gefütterte Reitstiefel.

»Es ist Januar. Da kann man in unseren Breiten ja wohl kaum mit Badewetter rechnen.« Sie streifte mich mit einem geringschätzigen Blick, ohne die Spur eines Lächelns. »Vielleicht solltest du dir eine Jacke anziehen. Das könnte helfen.«

Sie ging weiter, und ich starrte ihr sprachlos hinterher.

»Was für eine blöde Schnepfe!«, murmelte ich verärgert. Ich hatte nur irgendetwas Freundliches sagen wollen, aber jetzt kam ich mir total dämlich vor. Immer und unter allen Umständen freundlich zu den Einstellern zu sein, war eine goldene Regel in unserer Familie, die mein Bruder Christian und ich quasi mit der Muttermilch aufgesogen hatten, denn immerhin lebten wir von den Leuten, die ihre Pferde bei uns auf dem Amselhof einstellten. Die meisten Einsteller waren nett; manche waren einem mehr, andere weniger sympathisch, nur äußerst selten gab es mal jemanden, den ich überhaupt nicht leiden konnte. Aber seit heute gehörte die Neue ohne Zweifel in diese Kategorie. So eine arrogante Ziege hatte ich ja noch nie erlebt, nicht einmal Teicherts waren jemals so unhöflich gewesen!

2. Kapitel

Ich riss die Tür der Sattelkammer auf und Twix bellte unternehmungslustig, als ich in meine Daunenjacke schlüpfte, weil er glaubte, er könne mitkommen.

»Keine Chance, Twixi-Bixi. Du bleibst hier. Der Schnee draußen ist viel zu hoch für deine kurzen Beinchen.«

Sofort ließ Twix die Ohren hängen. Er begann am ganzen Körper zu zittern, hob ein Vorderpfötchen und guckte mich so flehend an, als ob ich wieder für Wochen nach Amerika verschwinden würde.

»Ich bin doch gleich wieder zurück.« Ich musste grinsen über so viel Schauspielerei. »Solange wirst du es hier wohl aushalten. Mach’s dir gemütlich in deinem Körbchen.« Ich drückte ihm einen Kuss auf seine Öhrchen, dann schloss ich sorgfältig die Tür der Sattelkammer und lief hinaus zu Melike, die mit Hilda und Smiley vor der Reithalle wartete.

Nach den grauen Wochen, in denen die Wolken fast bis auf den Boden gehangen hatten und es kaum einmal richtig hell geworden war, lachte heute die Sonne von einem strahlend blauen Januarhimmel und ließ den Schnee glitzern. Der Nebel hatte sich auf Ästen, Zweigen und Büschen niedergelassen und die Landschaft in ein echtes Winterwunderland verzaubert. Melike war eine endlos lange Woche im Skiurlaub gewesen und natürlich gab es – obwohl wir gestern Abend mindestens eine Stunde telefoniert hatten – jede Menge zu erzählen.

Meine Verärgerung über die blöde neue Einstellerin war längst verflogen, als Melike und ich unsere Pferde zwischen dem großen Springplatz und den Dressurplätzen entlang Richtung Wald lenkten. Mainly Mathilda, meine Fuchsstute, und Melikes Buckskin-Wallach Smiley mussten sich mühsam einen Weg durch den hohen Schnee bahnen. Im Winter ließ Papa bei allen unseren Pferden vom Hufschmied sogenannten Huf-Grip zwischen Huf und Hufeisen nageln. Die halbmondförmigen Kunststoffeinlagen verhinderten, dass sich Schnee in den Hufeisen aufstollen und die Pferde so zum Stolpern bringen konnte.

»Ich kann gar nicht glauben, dass Tim echt zu seinem ätzenden Alten auf den Sonnenhof ziehen will«, sagte Melike, als wir den Waldrand erreicht hatten. Im Wald lag der Schnee nicht so hoch und die Pferde kamen besser voran. »Meinst du, das stimmt?«

»Seine Mutter hat’s meiner Mom erzählt«, erwiderte ich achselzuckend. »Er will seinem Vater dabei helfen, den Sonnenhof wieder auf Vordermann zu bringen. Angeblich kriegt Tim sogar ein paar Pferde in Beritt, die er reiten und auf Turnieren vorstellen soll.«

Richard Jungblut, Tims Vater, sollte Mitte Januar wegen guter Führung vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen werden. Er hatte gerade mal anderthalb Jahre der vierjährigen Haftstrafe wegen Pferdediebstahls, Betrugs und Hehlerei abgesessen, und mich gruselte die Vorstellung, dass dieser schreckliche Mensch dann womöglich wieder auf Turnieren oder sogar auf dem Amselhof auftauchen könnte. Auch deshalb war ich insgeheim froh, nicht mehr Tims Freundin zu sein.

»Das halte ich für ein Gerücht!«, schnaubte Melike verächtlich. »Wer gibt dem Pferdedieb denn wohl Pferde?«

»Richard Jungblut kennt Gott und die Welt«, entgegnete ich. »Und Tim kann ja nun mal echt spitze reiten. Auf jeden Fall will er wohl die Schule abbrechen und sich nur noch um den Sonnenhof kümmern.«

»Hä? Hat der ’nen Knall?« Melike starrte mich entgeistert an. »Es sind nur noch drei Monate bis zum schriftlichen Abi! Wollte er nicht Tiermedizin studieren?«

»Keine Ahnung«, brummte ich. »Ist mir auch egal.«

»Aber das kann er doch nicht machen!«, regte meine Freundin sich auf. »Nach allem, was sein schrecklicher Vater ihm angetan hat! Das muss ich sofort Niklas sagen. Vielleicht kann er mal mit Tim reden. Oh Mann, das wäre doch echt total bescheuert!«

An der Eiche mit den drei Stämmen hielten wir uns rechts und erreichten wenig später die »Autobahn«, unsere liebste Galoppstrecke. Wir ließen die Pferde den schnurgeraden Weg, der leicht bergaufführte, entspannt kantern. Ich liebte Schneeausritte, denn sie erinnerten mich immer an meinen Lieblingsfilm »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«, den ich sicherlich hundert Mal gesehen hatte. Melike hörte nicht auf zu quatschen. Als wir das Ende der Autobahn erreicht hatten und wieder zum Schritt durchparierten, spekulierte sie darüber, ob Tims Mutter wohl auch auf den Sonnenhof zurückkehren würde.

»Das glaube ich allerdings nicht«, sagte ich. »Und ob Gina nach allem, was passiert ist, noch mal zu ihrem Vater ziehen möchte, wage ich auch zu bezweifeln.«

Wir bogen nach rechts ab und an der Gabelung schlugen wir den Weg ein, der bis hoch auf den Eichkopf führte. Nachdem Melike mir hoch und heilig versprochen hatte, nicht einmal Niklas ein Sterbenswörtchen darüber zu verraten, erzählte ich ihr, dass ich Farid letzte Woche drei Reitstunden gegeben hatte.

»Ist doch total cool!«, fand Melike. »Wieso darf das keiner wissen?«

»Weil er einen Riesenkrach kriegt, wenn sein Verein davon erfährt«, erwiderte ich. »Laut Vertrag ist ihm die Ausübung gefährlicher Sportarten wegen des Verletzungsrisikos verboten – und Reiten gehört genau wie Skifahren dazu.«

Melike erzählte mir von der ätzenden Silvesterparty auf der Skihütte mit fünfhundert unerträglich besoffenen Holländern und Engländern, die Niklas und sie eine halbe Stunde vor Mitternacht verlassen hatten, und von Arianes neuester Idee, mit einem eigenen YouTube-Channel Geld zu verdienen.

»Wer will denn wohl Ariane sehen?«, fragte ich belustigt.

Vor vielen Jahren, in der Grundschule, war Ariane Teichert meine beste Freundin gewesen, aber dann war sie mit ihren Eltern nach Königshofen gezogen und hatte mich fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Dummerweise waren wir in einer Klasse, und über Jahre hinweg war ich das Lieblingsziel für Arianes Bosheiten gewesen. Aber seitdem ihr Exfreund Fabian ihr übel mitgespielt und sie sogar entführt hatte, hatte sie sich verändert. Und seit Weihnachten war sie mit meinem Bruder Christian zusammen.

»Tja, das frage ich mich auch«, antwortete Melike. »In St. Moritz hat sie so einen Typen kennengelernt, der angeblich total die Ahnung hat von so ’nem Kram. Mit dem haben Chris und sie dann jeden Abend zusammengehockt, und es ging nur um Reichweiten, Abos, Likes und Klicks.«

Wir stellten allerhand Vermutungen an, womit Ariane wohl eine berühmte YouTuberin werden wollte, und wurden immer alberner. Es war einfach herrlich, dass Melike wieder da war!

Plötzlich blieb Hilda wie angewurzelt stehen und riss den Kopf hoch, Smiley machte einen Satz zur Seite und prallte mit der Hinterhand gegen meine Stute. Mit gespitzten Ohren und weit geblähten Nüstern starrten beide Pferde hinunter in den lichten Wald, als hätten sie einen Geist gesehen.

»Whoa, Smiley!«, sagte Melike zu ihrem Pferd und angelte mit einer Hand nach dem Zügel, der ihr aus der Hand gerutscht war. »Was gibt’s denn zu glotzen? Wenn ich runterfalle, komme ich nicht mehr auf die Beine. Ich hab so viele Klamotten an, dass ich mir vorkomme wie in einer Ritterrüstung.«

Ich guckte mich um und versuchte die Ursache für Hildas und Smileys Nervosität zu entdecken, aber ich bemerkte nichts außer schwarzen Baumstämmen und weißem Schnee. Der winterliche Wald ähnelte einem Scherenschnitt in Schwarz-Weiß. Es war totenstill. Kein Vogel zwitscherte. Im Winter, wenn die Bäume kahl waren, klang jedes Geräusch viel lauter als im Sommer.

Dann hörten wir ein Knacken und Rascheln. Etwa fünfzig Meter unterhalb des Weges tauchte ein Reh auf, allerdings bewegte es sich nicht lautlos und graziös, wie das Rehe normalerweise tun, sondern brach gehetzt und voller Panik durch das Unterholz.

»Warum rennt es …«, begann ich, doch dann sah ich den Grund für die kopflose Flucht. Mein Herz begann vor Schreck heftig zu pochen, als ich das große graue Tier sah, das dem Reh wie ein Schatten auf den Fersen war. Was war das? Es bewegte sich nicht wie ein Hund, sondern anders, geschmeidiger – wie … wie ein Raubtier.

»Was ist das? Ein Wolf?«, stieß Melike entsetzt hervor. »Oh mein Gott, Elena! Er will es töten! Was sollen wir bloß machen?«

Das Reh strauchelte, stürzte aber nicht, doch das graue Tier, das tatsächlich wie ein Wolf aussah, bekam einen der Hinterläufe zu fassen. Der Schrei, den das Reh in seiner Todesangst ausstieß, ging mir durch Mark und Bein und jagte einen heftigen Adrenalinstoß durch meinen Körper. Ich konnte mir diese Hetzjagd nicht einfach untätig mit ansehen! Ohne lange nachzudenken, grub ich Hilda die Fersen in den Bauch und lenkte sie den Abhang hinunter. Die Stute gehorchte sofort.

»Bist du verrückt?«, kreischte Melike hinter mir. »Du brichst dir das Genick!«

Hilda pflügte schlitternd die halsbrecherisch steile Böschung hinunter. Dünne Zweige und Äste brachen krachend unter ihren Hufen, sie stemmte die Vorderbeine in den Schnee und setzte sich beinahe auf der Hinterhand. Geschickt wich sie den Bäumen aus. Ich lehnte mich nach hinten, trat die Steigbügel aus und hoffte, dass mein Pferd nicht mit den Hufeisen auf einen Felsen geriet, der unter dem Schnee verborgen war. Noch nie zuvor war ich einen solch steilen Abhang hinuntergeritten, selbst zu Fuß hätte ich mich das unter normalen Umständen nicht getraut, und vom Pferderücken aus war die Perspektive erst recht beängstigend.

»Oh nein, er hat es erwischt! Er bringt es um!«, gellte Melikes Stimme. »Oh nein, nein, bitte nicht!«

Ich unterdrückte jeden Gedanken daran, dass es gefährlich sein könnte, was ich da tat. Alles, woran ich denken konnte, war das Reh und dass ich es retten musste. Der Wolf hatte es zu Boden gerissen und sich in dessen Hals verbissen. Ich sah verzweifelt zappelnde Läufe, das graue Fell des Wolfs, Blut.

»Verschwinde!«, brüllte ich. »Hau ab, du Mistvieh!«

War es der Klang meiner Stimme oder der Lärm, den Hildas Hufe verursachten, die das graue Untier aus seinem Blutrausch rissen? Ich war noch ein ganzes Stück entfernt, als es von dem Reh abließ, sich zu mir umwandte, dann aber eilig das Weite suchte. Innerhalb weniger Sekunden war es zwischen den Baumstämmen verschwunden.

»Whoa, Hilda, whoa!« Ich hielt die Stute an, die so heftig an der Kandare kaute, dass die Schaumflocken flogen, und am ganzen Körper bebte. Sie scharrte aufgeregt mit dem Vorderhuf im Schnee, vollführte einen Spin und schnaubte wild. Der Instinkt ihrer Urahnen, die als Mustangs in der Prärie gelebt und sich und ihre Herde gegen Kojoten und Wölfe verteidigen mussten, kam zum Vorschein. Am liebsten wäre sie wohl dem Wolf gefolgt!

Wo blieb Melike? Ich konnte jetzt unmöglich absitzen und nach dem Reh schauen, so aufgeregt, wie Hilda war. Endlich tauchte meine Freundin auf. Smileys Anwesenheit beruhigte die Fuchsstute. Ich klopfte ihr den Hals, ließ mich aus dem Sattel gleiten und reichte Melike die Zügel. Meine Freundin war totenblass.

»Hat er … ist es … ist es tot?«, stammelte sie zittrig.

»Ich weiß nicht.« Vorsichtig, um es nicht zu erschrecken, näherte ich mich dem Reh, das auf der Seite lag und sich nicht rührte. Seine Flanken hoben und senkten sich hektisch.

»Es lebt noch!«, rief ich mit gedämpfter Stimme.

»Ich rufe Lajos an«, brabbelte Melike hinter mir. »Er muss herkommen. Er muss es retten. Oh Gott, wie schrecklich das alles ist. Davon träum’ ich heute Nacht sicher. Oje, oje …«

Ich ging in die Hocke. Das Reh bewegte sich nicht, es lag stocksteif da, die Augen weit aufgerissen, atmete aber. Hatte es womöglich einen Schock? Was sollte ich tun? Wenn ich es berührte, bekam das arme Ding vielleicht noch einen Herzschlag vor Angst. Der Wolf hatte es in den linken Hinterlauf gebissen. Und ich bemerkte Blut am Hals und an der Flanke.

Melike telefonierte.

»Lajos will wissen, wo wir gerade sind«, sagte sie.

Ich richtete mich auf, blickte mich um und versuchte, mich zu orientieren.

»Ein Stück unterhalb des alten Römerkastells«, antwortete ich dann. »Er muss am Seufzerbrocken geradeaus fahren und an der nächsten Wegspinne rechts, Richtung Naturfreundehaus.«

Melike wiederholte meine Worte am Telefon, dann steckte sie das Smartphone weg und kam zu mir, die Pferde am Zügel.

»Meinst du, das war ein Wolf?«, flüsterte sie.

»Ich weiß nicht.« Bei der Erinnerung daran, wie mich das Biest kurz angestarrt hatte, schauderte ich. Ich versuchte, mich an Einzelheiten zu erinnern – spitze Ohren, eine lange Schnauze, schneeweiße Reißzähne, struppiges graues Fell, gelbliche Augen. »Ein Schäferhund war’s auf jeden Fall nicht. Auch kein Husky. Für einen Spitz war es viel zu groß.«

Eine Weile sagten wir beide nichts. Das verletzte Reh fiepte leise. Es tat mir in der Seele weh, ihm nicht helfen zu können. Sollte ich versuchen, es zu streicheln?

»Hoffentlich ist Lajos bald da«, sagte Melike, die mit den Pferden ein paar Meter entfernt wartete. »Soll ich ihn noch mal anrufen?«

»Er wird auf dem Weg sein«, murmelte ich und rückte näher an das Reh heran. Behutsam streckte ich die Hand aus und berührte es vorsichtig an der Schulter. Das Fell fühlte sich viel rauer an, als es aussah. Das Reh zitterte und starrte mich aus einem großen, samtschwarzen Auge angstvoll an, bewegte sich aber nicht. Spürte es, dass ich ihm nichts Böses wollte?

»Ich glaube, es ist noch ganz jung.« Ich ließ meine Hand leicht auf der Schulter des Rehs ruhen und auf einmal geschah etwas Seltsames: Meine Hand begann zu kribbeln und wurde ganz warm, und das Reh stieß einen tiefen Seufzer aus. Seine Atmung beruhigte sich, und für einen Moment befürchtete ich, es sei gestorben.

»Du musst keine Angst haben, kleines Reh«, flüsterte ich und streichelte vorsichtig einen der Vorderläufe. »Wir helfen dir, damit du wieder ganz gesund wirst.«

Das Reh zuckte nicht vor meiner Berührung zurück. Es sah mich ganz ruhig an, die Panik war aus seinem Blick gewichen.

Danke. Jetzt hab ich keine Angst mehr, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf sagen. Mein Herz begann zu pochen. Verstohlen blickte ich über meine Schulter, aber es war nicht Melike, die mit mir gesprochen hatte. Sie stand zu weit weg und tippte gerade irgendetwas in ihr Smartphone.

Ich wandte mich wieder dem Reh zu, das nun die Augen halb geschlossen hatte. So etwas Ähnliches hatte ich schon einige Male erlebt, zum ersten Mal bei meinem ersten M-Springen in Viernheim, als ich Quintanos Stimme in meinem Kopf gehört und mich mit meinem Pferd unterhalten hatte. Ich hatte gedacht, ich würde spinnen und deshalb gezögert, mit jemandem darüber zu sprechen. Doch schließlich hatte ich es Lajos erzählt, und er hatte mich zu meiner Überraschung nicht ausgelacht, sondern mir von einem alten Jockey berichtet, der in seiner Karriere mehr als fünftausend Pferde geritten hatte und sich auch mit dem einen oder anderen Pferd unterhalten konnte.

»Endlich! Da kommt er!«, sagte Melike. »Ich höre ein Auto!«

Wenig später sahen wir Lajos’ silbernen Mercedes herannahen. Er ließ das Auto auf dem Weg unterhalb stehen, zwei Autotüren klappten.

»Wer ist denn da bei ihm?«, erkundigte ich mich.

»So ’ne Frau«, sagte Melike. »Irgendwo hab ich die schon mal gesehen.«

Beim Näherkommen erkannte ich die Frau mit dem blonden Pferdeschwanz, die neben Lajos durch den Schnee stapfte. Es war Dr. Carla Waldow, die Tierärztin aus Hettenbach, eine gute Bekannte von Lajos, die Joyce, dem Golden Retriever von Farids Familie mit einer Not-Operation das Leben gerettet hatte. Im Februar würde ich ein dreiwöchiges Berufspraktikum in ihrer Kleintierklinik machen.

»Hallo, ihr zwei!«, begrüßte Lajos uns. »Carla, das sind Elena und ihre Freundin Melike. Ihr kennt Frau Dr. Waldow, oder?«

»Ja, klar.« Wir nickten. Ich hörte nicht auf, das Reh zu streicheln, denn meine Berührung schien es zu beruhigen. Selbst das Erscheinen von Lajos und der Tierärztin störte es nicht.

Lajos hockte sich neben mich und stellte seine Tasche in den Schnee.

»Wo ist es verletzt?«, erkundigte er sich leise. Es erstaunte ihn nicht sonderlich, dass sich das scheue Tier von mir anfassen ließ.

»Am rechten Hinterlauf, am Hals und an der Brust.« Ich sah ihn an. »Kannst du es retten?«

»Ich werde mein Möglichstes tun«, versicherte er mir.

»Was ist genau passiert?«, wollte Frau Dr. Waldow von Melike wissen. Meine Freundin erzählte, was sich vor unseren Augen abgespielt hatte.

»Elena ist von da oben runtergaloppiert! Wie im Film! Und dann hat der Wolf die Flucht ergriffen.«

»Ein Wolf?«, fragte die Tierärztin nach. Ich hörte die Skepsis in ihrer Stimme und bemerkte, wie Lajos neben mir für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte.

»Es gibt hier in der Gegend keine Wölfe«, sagte Frau Dr. Waldow. »Bestimmt war es ein Hund.«

»Groß, graues Fell, spitze Ohren, lange Schnauze und gelbe Augen«, wiederholte Melike die Beschreibung, die ich ihr gegeben hatte. »Ich hab die Pfotenabdrücke fotografiert. Elena und ich wollen die Spur verfolgen. Vielleicht finden wir heraus, wo es hingerannt ist, das Biest.«

»So etwas solltet ihr besser dem Förster überlassen«, fand Frau Dr. Waldow, dann trat sie hinter uns. »Hast du das Tier sediert, Lajos?«

»Nein.«

»Steht es unter Schock?«

»Möglich.« Lajos richtete sich auf. Er schürzte nachdenklich die Lippen. »Ich muss die Bisswunden desinfizieren und nähen. Das kann ich hier nicht. Wir müssen es zum Auto tragen. Am besten bringen wir es zum Amselhof, da kann es in einer der Boxen bleiben, bis es wieder gesund ist.«

Das Reh blickte mich unverwandt an.

»Wir müssen dich jetzt zu uns auf den Amselhof bringen«, sagte ich zu ihm. »Du musst aber keine Angst haben. Lajos wird dich zum Auto tragen und dir helfen.«

Es war komplett irrational, aber ich hatte das Gefühl, das Reh verstünde tatsächlich, was ich sagte. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich die kritische Miene von Frau Dr. Waldow und das Blut schoss mir ins Gesicht. Wahrscheinlich fand sie es genauso schwachsinnig wie mein Bruder, dass ich mit einem Tier redete, als ob es mich verstehen konnte.

»Vielleicht solltest du es wirklich besser sedieren, Lajos«, sagte die Tierärztin zu ihm. »Nicht dass es durchdreht und sich noch schlimmer verletzt.«

Das Reh blickte mich aus seinen samtschwarzen Augen an.

»Es wird ganz brav sein«, versicherte ich ihr. Frau Dr. Waldow hob die Augenbrauen und warf mir einen seltsamen Blick zu. Falls sie sich wunderte, behielt sie es für sich.

»Wildtiere reagieren oft völlig unberechenbar, wenn sie aus ihrem Schockzustand erwachen«, merkte sie an. »Ich behandle seit über zehn Jahren die Tiere im Wildpark der Fasanerie und habe dort häufiger mit Rehen zu tun.«

Lajos sagte dazu nichts. Vorsichtig hob er das Reh hoch und trug es zu seinem Auto. Am liebsten wäre ich mitgefahren, aber ich konnte Melike nicht mit beiden Pferden mitten im Wald allein zurücklassen.

Frau Dr. Waldow ergriff Lajos’ Tasche und folgte ihm schweigend, Melike und ich führten die Pferde bis zum Weg, sahen zu, wie Lajos das verletzte Wildtier behutsam auf die Ladefläche des Kombis bettete und die Klappe schloss.

»Gut gemacht, ihr zwei«, sagte er zu uns. »Wir sehen uns gleich auf dem Hof.« Dann stiegen er und Frau Dr. Waldow ins Auto und fuhren davon.

Benommen starrte ich ihnen hinterher. War das gerade alles wirklich geschehen? Hatte ich mich tatsächlich mit einem Reh unterhalten oder träumte ich?

»Lass uns nach den Spuren von dem Biest gucken, bevor wir hier festfrieren.« Melike rüttelte mich am Arm und sah mich besorgt an. »He, Elena, alles klar mit dir?«

»Ja. Ja, klar.« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Verfolgen wir den Wolf!«

3. Kapitel

Im Schnee waren die Pfotenabdrücke des Wolfs gut zu erkennen, wir konnten seiner Spur mühelos folgen. Allerdings hatte er sich von den Waldwegen ferngehalten und war bevorzugt durchs Unterholz gelaufen. Unterhalb der Kreuzung, an der es rechts zum Panoramaweg und am alten Steinbruch vorbei nach Hettenbach, links in Richtung Forsthaus oder geradeaus ins Steinauer Moor ging, war er geradewegs ins Moor getrabt. Glücklicherweise hatte er sich auf dem Pfad gehalten, deshalb kamen wir nun bedeutend schneller voran.

»Wo will er wohl hin?«, rief Melike, die voranritt, atemlos.

»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Wenn er hier weiterläuft, kommt er am Steinernen Kreuz raus.«

Früher, als ich noch jünger gewesen war, hatte mir das Moor großen Respekt eingeflößt, denn ich hatte geglaubt, man würde sofort in irgendwelchen schwarzen Moorseen versinken und erst hundert Jahre später als Moorleiche wieder auftauchen, sobald man nur mit der Fußspitze von den schmalen Wegen, die sich kreuz und quer durch die feuchten Wiesen zogen, abkam. Manchmal hatte ich richtige Albträume gehabt, wenn ich wusste, dass wir am nächsten Tag mit meinem Großvater einen Ausritt zum Steinauer Moor machen würden. Erst viel später hatte ich kapiert, dass Opa Christian und mir absichtlich gruselige Geschichten erzählt hatte, damit wir nicht auf die Idee kamen, alleine durchs Moor zu reiten, denn es gab tatsächlich ein paar sumpfige Stellen, die besonders im Frühjahr äußerst tückisch sein konnten. Eigentlich aber war das Moor nichts anderes als eine hügelige, von kleinen Wäldern übersäte Graslandschaft mit ausgedehnten Feuchtgebieten und ein Naturschutzgebiet, in dem es zum Schutz der seltenen Tier- und Pflanzenarten strenge Vorschriften gab.

»Hier ist er abgebogen und quer über die Wiese gelaufen!«, rief Melike über die Schulter und parierte zum Schritt durch. Ihre Wangen glühten vor Aufregung. »Was jetzt?«

»Hinterher!«, erwiderte ich.

»Ist das nicht zu gefährlich?«, wollte meine Freundin wissen.

»Nee.« Ich schüttelte den Kopf. »Im Moment ist der Boden sowieso gefroren.«

Mein Handy klingelte, und ich musste mir einen Handschuh ausziehen, um das Smartphone aus meiner Jackentasche zu kramen. Meine Mutter!

»Hallo?«, meldete ich mich.

»Sag mal, wo seid ihr denn?« Mama klang eher ärgerlich als besorgt. »Ihr seid um halb zwölf vom Hof geritten und gleich ist es halb vier!«

»Oh!«, erwiderte ich nur.

Ich hatte gar nicht bemerkt, wie spät es war. Eigentlich hatten Melike und ich nur eine kleine Runde im Wald drehen und zum Mittagessen zurück sein wollen.

»Was heißt hier ›oh‹? Elena? Hörst du mich?«

Für einen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, so zu tun, als ob ich keine Verbindung mehr hätte, aber das würde meine Mutter nur noch mehr aufbringen.

»Ja, ich höre dich!«, sagte ich also widerstrebend. »Wir sind … äh … im Wald.«

»Geht’s etwas genauer?«

»Äh … in der Nähe vom Steinernen Kreuz …«

»Ihr seid also durchs Moor geritten.« Mama schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »In einer halben Stunde wird es dunkel! Ich möchte, dass ihr bis dahin zurück auf dem Hof seid, verstanden?«

»Da ist er!«, kreischte Melike in diesem Moment und wies quer über die Wiese. »Da vorne, bei den Tannen! Mach ein Foto, schnell!«

»Ist etwas passiert?«, fragte Mama argwöhnisch.

»Nein, nein, alles gut«, beeilte ich mich zu sagen. »Wir reiten jetzt zurück. Bis gleich!«

Bevor sie noch etwas erwidern konnte, drückte ich das Gespräch weg. Melike hatte recht: Etwa hundertfünfzig Meter entfernt stand der Wolf am Rand einer Tannenschonung und äugte mit erhobenem Kopf zu uns herüber. Ich machte ein paar Bilder, hatte aber wenig Hoffnung, dass man etwas auf ihnen erkennen konnte. Das Licht war schon zu schlecht und der Wolf viel zu weit weg. Wir spornten unsere Pferde zum Galopp und ritten quer über die Wiese. Als der Wolf uns kommen sah, verschwand er wie ein Blitz in der Tannenschonung, die zum Schutz vor Wildtieren von einem hohen Drahtzaun umgeben war. Und genau dort war die Jagd für uns zu Ende, denn hier war kein Durchkommen.

»Verflixt!«, rief ich. »Wie ist er wohl da rüber gekommen?«

Wir guckten nach links und rechts, dann entdeckte Melike ein paar Meter weiter ein Loch, das unter den Zaun gegraben war.

»Hier hat er sich durchgequetscht«, stellte sie fest. »Wahrscheinlich ist er heute nicht zum ersten Mal auf der Jagd gewesen. So ein Mist!« Melike war deprimiert. »Wir waren so nahe dran.«

»Auf jeden Fall können wir dem Förster sagen, wohin der Wolf gelaufen ist«, entgegnete ich. »Komm, wir müssen uns beeilen. Meine Mom ist auf hundertachtzig.«

Die Sonne verschwand hinter den Baumwipfeln, es wurde dämmerig. Da spitzte Hilda die Ohren und hob den Kopf. Auch Smiley lauschte. Und selbst ich hatte den schrillen Pfiff wahrgenommen.

»Gute Idee. Ich hab auch allmählich voll Hunger und …«

»Pssst!«, unterbrach ich meine Freundin. »Hast du das gehört?«

»Nee. Was denn?«

»Ein Pfiff. Wie von einer Hundepfeife!«

»Ich hör nix.« Melike schüttelte den Kopf. »Aber meine Ohren sind eh nicht die besten.«

Mein Gehör war hingegen äußerst gut, manchmal nervte es mich richtig, denn ich konnte sogar das Schreien von Fledermäusen hören und das Piepsen dieser Dinger, die man in den Boden steckte, um Maulwürfe zu vertreiben. Im Sommer vor vier Jahren hatte ich deshalb abends kaum einschlafen können, Papa und Mama waren komplett ratlos gewesen, bis Opa endlich auf die Idee gekommen war, dass ich wohl die Ultraschallfrequenz seiner Maulwurfvertreiber hören konnte, die er im Garten in den Rasen gebohrt hatte.

Melike öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich hob die Hand. Ganz leise konnte ich das Klappen einer Autotür in der Ferne hören, dann das Anspringen eines Motors. Woher war der Pfiff gekommen? Hatte er dem Wolf gegolten? Und was befand sich hinter dem Hügel mit der Tannenschonung? Es war eindeutig zu spät, um einen Weg an der Einzäunung vorbei zu suchen, und ohne die wärmenden Strahlen der Sonne wurde es rasch kälter.

»Das checken wir mit Google Maps, sobald wir zu Hause sind«, sagte Melike, als ich meine Frage laut aussprach. »Auf jeden Fall scheint der Wolf irgendwohin zu gehören. Und das ist ja schon mal gut, denn so kann man ihn ausfindig machen.«

»Ach ja – und wie?«

»Für jeden Hund muss man Hundesteuer bezahlen.«

»Aber es wird doch nicht registriert, was für einen Hund man hat, oder?« Ich kapierte nicht so recht, wie Melike es sich vorstellte, auf diese Weise den Besitzer des Wolfs zu finden, und auch sie hatte keine zündende Idee.

»Keine Ahnung«, brummte sie nur. »Mir fällt sicher was ein. Falls deine Fotos einigermaßen gut geworden sind, kann man sie als eine Art Steckbrief benutzen.«

Dann sagte sie nichts mehr. Eine Weile trabten wir schweigend durch den Wald. Ohne den leuchtend weißen Schnee, der den Hufschlag unserer Pferde dämpfte, wäre es zwischen den Bäumen schon stockfinster gewesen. Hin und wieder schnaubte eines unserer Pferde, zwischendurch fielen sie in leichten Galopp. Sie genossen den langen Ausritt. Die kalten Temperaturen störten sie nicht, denn sie hatten beide einen dicken Winterpelz.

»Mann, hab ich einen Hunger!«, sagte Melike. »Mir ist schon ganz schwindelig. Hoffentlich hat deine Oma Käsekuchen gemacht. Stell dir nur vor, wie der schmeckt, wenn er noch warm ist!«

Bei dem Gedanken an Omas Käsekuchen lief mir das Wasser im Mund zusammen. Auch mir knurrte mittlerweile der Magen, zuletzt hatte ich etwas zum Frühstück gegessen. Aber viel wichtiger als Essen war das Reh. Ob Lajos und Frau Dr. Waldow es hatten retten können?