Wir rennen durch den oberen Korridor, als die Fenster zersplittern: Dutzende von Glasscheiben explodieren, die Samtvorhänge blähen sich wild auf. Steine bleiben zwischen den glitzernden Scherben liegen, es fliegen brennende Pechklumpen und wirbelnde Fackeln …

Dann verschmilzt alles zu einer Kakophonie von Geräuschen, meine schnellen Füße, meine blutigen Hände, das Toben der Menge draußen.

Mutter ruft schrill: »Aurélie, warte auf mich!«

Sie folgt mir, in großer Balltoilette mit Fischbeinkorsett und dreißig Pfund Seidenbrokat. Sie ist viel zu langsam. Bernadette und Charlotte haben bereits die Treppe erreicht. Vaters Wachen begleiten sie, die Gesichter schweißglänzend. Die kleine Delphine kauert am Treppenpfosten, die Arme um das Holz geschlungen, und wartet auf Maman und mich.

»Folgt den Wachen!«, befehle ich. Ich blute aus dünnen Schnitten in den Handflächen und zucke vor Schmerz zusammen, als ich Delphine hochhebe und mit ihr die Treppe hinuntereile. »Los, alle hinterher!«

Ich werfe einen Blick über die Schulter. Mutter hat die Treppe fast erreicht. Sie trippelt auf der Stelle, greift nach einzelnen Gegenständen, lässt sie wieder fallen. In ihren

Draußen erheben sich einzelne Stimmen über das Gebrüll und rufen laut Befehle. Ich schnappe Wörter wie f‌inancier, porcs und le meurtrier auf. Der Mörder. Unter den vielen Schimpfnamen, die ich schon über meinen Vater gehört habe, ist mir dieser hier neu. Was wohl aus uns werden wird, wenn wir es nicht nach unten schaffen? Wenn wir Glück haben, stellt man uns in Paris vor Gericht und lässt uns vor einer tobenden, zahnlosen Menge guillotinieren. Und wenn wir Pech haben … Ich sehe schon unsere Leichen auf einem Haufen im Schatten des zerstörten Schlosses liegen. Motten huschen über unsere beschmutzten Gesichter und breiten ihre Flügel über unseren Augenlidern aus. In diesem Moment erscheint mir mein Leben klein und nichtig, ein läppischer Stofffetzen, der in einer Hecke hängengeblieben ist und im Wind flattert. Was habe ich die ganzen Jahre hier nur gemacht? Wenig. Genau genommen gar nichts.

Die dicken Holztüren in der Eingangshalle zersplittern. Stiefel hämmern auf den Marmorboden, ein hallendes Stakkato von Schusternägeln und klatschendem Leder. Die Geräusche der Eindringlinge verraten mir, wo sie sind. Im Musikzimmer. Im Salle des Arts, wo die Porträts der stirnrunzelnden, hakennasigen Bessancourts abgenommen worden sind und nichts als helle Rechtecke auf der Tapete hinterlassen haben.

Mutter wagt sich jetzt auf die Treppe. Ihre Absätze sind so hoch, dass sie seitlich herunterbalancieren muss, Stufe

Ich tippe dem jungen Wachmann auf die Schulter. »Hol sie«, flüstere ich. »Schleif sie mit, wenn es sein muss, aber bring sie runter!«

Er nickt, duckt sich ein wenig und schnellt dann an mir vorbei, die Treppe wieder hinauf. Die Flammen im Korridor lodern heller. Eine Tür fliegt krachend auf, beängstigend nahe. Heisere Rufe schallen in meine Richtung, Waffen klirren, Füße stampfen im Marschtritt.

»Lauf, Maman! Zieh die Schuhe aus! Lauf!«, rufen meine Schwestern im Chor. Delphine fängt laut an zu heulen, und Tränen fließen ihr über die dicken Babywangen.

Der alte Wachmann schwingt seine Muskete vom Rücken und schleift sie hinter sich her, die Stufen hinauf. Der junge Wachmann hat Mutter fast erreicht. Sie ist so klein! Er könnte sie sich unter den Arm klemmen … Als er sie gerade ergreifen will, schlüpft sie weg. Eine Stufe hinauf. Zwei Stufen.

Ich erstarre und umklammere mit den Fäusten meine Röcke. Der junge Wachmann starrt Maman mit offenem Mund an. Sie schüttelt den Kopf. Dann blickt sie an ihm vorbei in meine Richtung.

Ihre Lippenbewegungen sagen: »Vergib mir, Aurélie«, doch ihr Flüstern geht im Lärm und in dem Lodern des Feuers fast unter. »Ich wünschte, ich wäre mutiger. Für alle von euch wünschte ich, ich wäre tapfer.«

»Nein!« Eine Welle brennender Wut erfasst mein Herz. »Maman, nein, NEIN, LAUF

Sie haben sie gesehen. Die Schreie werden schrill, aggressiv, jubelnd, geifernde Hunde im Blutrausch. Die Flammen brausen. Der junge Wachmann weicht zurück, die Stufen herunter bis zu uns.

Ein Schuss kracht.

Ich schreie, aber ich höre mich nicht. Ich höre nur den Knall. Mutter erstarrt oben an der Treppe, mit dem Rücken zu uns.

Nein, Maman, bitte nicht …

Langsam dreht sie sich um, eine Hand in den seidenweichen Stoff über ihrem Bauch verkrallt. Als sie die Hand wegzieht, trägt sie einen glänzenden roten Handschuh. Erstaunen malt sich auf ihrem Gesicht. Die Wachen treiben uns auf eine Öffnung in der Wand zu, hinter einem Teil der Vertäfelung, der mit einem kunstvollen Messingfalter geschmückt ist. Doch ich sträube mich, weil ich mich nicht von Mutters Anblick losreißen kann.

»Maman!« Die Aufständischen stürmen auf sie zu und umringen sie. Delphine in meinen Armen schreit wie am Spieß. Der alte Wachmann verpasst ihr eine Ohrfeige. Das Paneel gleitet vor die Öffnung und verschließt sie. Dunkelheit umfängt uns. Unsere eilenden Füße, unsere schnellen, keuchenden Atemzüge, wir können nicht weinen, wir können nicht innehalten. Die Wachen drängen uns voran – hinab und immer weiter hinab in die Schwärze, zu Glück, Sicherheit und ewigem Frieden, wo Vater wartet.

Ich kritzle mit Permanentmarker ein paar Abschiedsworte auf Mamans Kühlschrank aus rostfreiem Edelstahl. Keine Ahnung, ob Permanentmarker darauf hält. Vielleicht hätte ich es ganz dramatisch machen und meine Nachricht mit einem Steakmesser einritzen sollen, aber der Marker muss genügen, denn ich muss gleich los. In einer Minute werde ich in einem schwarzen Mercedes sitzen, unterwegs zum Flughafen. In einer Stunde werde ich die anderen treffen. In drei Stunden werden wir irgendwo über dem Atlantik sein.

Hi, Familie! Fast zerdrücke ich die Spitze des Markers auf der kalten Oberfläche. Die Digitaluhr über dem Herd springt auf 18:59 Uhr. Die Sonne geht unter und taucht den Rasen draußen in Gold und Pink.

Überraschung! Ich fliege nach Aserbaidschan! Warum, wollt ihr wissen? Nein, wollt ihr nicht. Aber in drei Monaten werdet ihr es sowieso erfahren. Aus der New York Times. Und der Washington Post. Titelstory.

Tschüss,

Anouk

Es ist nicht witzig. Soll es auch nicht sein. Es soll verletzen. Anouk – das bin übrigens tatsächlich ich. Keine Ahnung,

Ganz schön pompös, was?

Ich wickle mich eng in meinen wollenen Häkelmantel und schlüpfe aus der Küche. Ein grellbunter Federwisch kreischt mich aus einem Käfig über der Küchenbar an. Pete, der Papagei. Uralt, ständig deprimiert, unglaublich nervig. Gewissermaßen meine Seele in Vogelgestalt. Tschüss, Pete.

Draußen höre ich Reifen über den Kies auf der Auf‌fahrt knirschen. Das Haus wirkt riesig und leer. Marmorblass. Ich bin ein vorsätzlicher Schmutzfleck inmitten all dieser Makellosigkeit, eine Radiergummispur auf den geraden Linien. Penny hat eine Ballettauf‌führung. Alle sind dort. In einer perfekten Welt würden jetzt Mom und Dad aus ihren Zimmern stürzen, dann Penny in ihrem Balletttrikot mit dem violetten Einhorn darauf oder was immer sie sonst momentan am liebsten trägt. Sie würden sich über das Geländer beugen wie Statisten in Les Misérables, schreien und weinen und mich anflehen, es mir noch einmal zu überlegen, und ich würde ihnen eine schneidende Bemerkung zuwerfen und hocherhobenen Hauptes zur Tür hinausmarschieren.

Wieder kreischt Pete in seinem Käfig. Mit diesem Abschied muss ich vorliebnehmen.

Ich höre eine Autotür zuschlagen und den Fahrer die Eingangstreppe heraufkommen.

Ich atme tief durch. Es geht los. Dies hier ist das Bedeutendste, was ich je in meinem Leben getan habe. Weit bedeutender, als Kühlschränke zu ruinieren. Das mit Aserbaidschan war übrigens gelogen. Für dies hier wurde ich

Der Schatten des Fahrers auf den venezianischen Glasscheiben der Eingangstür wächst.

Los geht’s!

Ich nehme meinen Koffer, schalte die Alarmanlage ein, öffne die Tür.

»Guten Abend, Miss …«

Ich reiche dem Fahrer meinen Koffer und gehe an ihm vorbei die Eingangstreppe hinunter. Ich setze mich auf den Rücksitz des Mercedes und ziehe meine zahnstocherdünnen Beine hinterher. Sonnenbrille auf. Pokerface.

Der Fahrer drückt meine Tür zu und setzt sich wieder ans Steuer. Er wirft mir im Rückspiegel einen kurzen Blick zu, runzelt die Stirn und versucht, aus mir schlau zu werden.

Vergiss es, Kumpel. Versuch’s nicht einmal.

Er startet den Motor. Der Wagen rollt die Einfahrt hinunter, durch die geöffneten Tore. Dann sind wir draußen auf der Straße und gleiten unter den kahlen Zweigen des Long-Island-Winters hinweg. Ich blicke nicht zurück. Viel Spaß bei der Ballettauf‌führung, denke ich und spüre förmlich, wie sich meine Wut gleich einem rotglühenden Tier in meiner Brust zusammenrollt. Tanz dir die Seele aus dem Leib, Penny. Für mich.

Unser Treffpunkt ist am JFK-Flughafen, in der weißen Glas- und Stahlhalle von Terminal vier. Wir haben äußerst detaillierte Anweisungen erhalten:

7:45 Uhr – Ankunft am Flughafen. Nicht in die Koffer schauen. Sofort durch die Sicherheitsschleuse gehen und dann weiter zu Gate B 24. Dort Zusammentreffen mit den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Forschungsreise und Abflug. Begleit- und Kontaktperson ist Professor Dr. Thibault Dorf.

Hier steht es, schwarz auf weiß auf dickem Büttenpapier, enthalten in den piekfeinen blauen Mappen, die uns zugeschickt worden sind. Ich fahre mit den Fingern über das Wappen der Sapanis, das in die rechte obere Ecke geprägt ist – ein Beil und eine Flagge, umrankt von zwei Rosen. Sie finanzieren unsere Expedition. Ihnen gehört das Schloss, unter dem die archäologische Sensation entdeckt wurde. Nach Google sind sie die fünftreichste Familie der Welt, aber ich habe noch nie von ihnen gehört – zu den Gartenpartys meiner Eltern sind sie jedenfalls nicht eingeladen.

Mein Herz macht kleine Sprünge, als wir uns dem Flughafen nähern.

Meine Augen huschen über die Dokumente. Packlisten. Sicherheitshinweise. Eine Anleitung mit dem Titel Teamarbeit – Fokussiertheit, Kommunikation und Kameradschaft, die ich bisher jedes Mal beim Lesen übersprungen habe. Man muss es ja nicht übertreiben. Wo ich doch zusätzlich in wochenlangen Intensivkursen Klettern und Tauchen lernen und anschließend die Teilnahmebestätigungen an ein Büro in Manhattan schicken musste, um zu beweisen, dass ich bestanden hatte.

Ich musste ellenlange Verträge Blatt für Blatt abzeichnen, mich auf jede bekannte Krankheit testen lassen, um sicherzustellen, dass ich die Expedition nicht gefährde – das Ganze unter größter Geheimhaltung. Nur die Eltern oder Sorgeberechtigten waren eingeweiht. Und da soll ich auch noch fokussiert, kommunikativ und kameradschaftlich sein? Nichts da.

Der Wagen biegt in die Abflugzone ein. Ich klemme die blaue Mappe unter den Arm, steige aus, gehe nach hinten zum Kofferraum und hebe meinen Koffer schon heraus,

Im Hineingehen erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild in den Glasschiebetüren zum Terminal. Ich bin das, was die Leute gern als »gertenschlank« beschreiben, vor allem, wenn sie keine Ahnung haben, wie eine Gerte aussieht. Scharfkantiges Gesicht unter einem dunklen, krankenschwestermäßig kurzen Bob. Verkniffener Mund. Dunkle Ringe unter den Augen. Unter dem Häkelmantel gucken Skinny Jeans sowie spitze Hexenschnürstiefel hervor, in denen mir wahrscheinlich in ein paar Stunden die Füße höllisch weh tun werden.

Mit leisem Zischen öffnen sich die Türen und teilen mich in der Mitte. Ich betrete den Terminal. Eau de Airport empfängt mich – Kaffee, staubige Teppichböden, luxuriöse Kopfnoten von Heizungsluft und billiger Waschlotion. Passagiere schieben Berge von Gepäck vor sich her wie Strafgefangene. Sie starren mich an, blöde und fast feindselig.

Schon klar, ich hasse euch auch.

Ich durchpflüge die Menge. Sofort durch die Sicherheitsschleuse gehen und dann weiter zu Gate B 24.

Eine junge Mutter, die zwei Kinder hinter sich herzieht, rempelt mich an, und ich erwarte schon eine Entschuldigung, doch bei meinem Anblick verändert sich ihr Gesichtsausdruck: Verlegenheit – Überraschung – Angst – Widerwille – alles in wenigen Millisekunden. Meine angeborene unsympathische Wirkung auf andere muss in diesem Moment wie

Er wirft einen Blick auf meinen Boardingpass und bedeutet mir, zur Seite zu treten. Na super. Wahrscheinlich hält er mich für eine Drogenkurierin.

Eine TSA-Mitarbeiterin kommt zu uns herüber. Schmetterlingsbrille, knallroter Lippenstift, blasiert: »Bitte folgen Sie mir, Ma’am.« Sagt’s und führt mich an der ganzen endlosen Schlange vor der Sicherheitsschleuse vorbei. Ich wappne mich schon gegen Deportation, Gulag, was immer sie heutzutage mit unliebsamen Personen anstellen. Stattdessen positioniert mich die TSA-Angestellte als Erste in der Reihe und lässt mich dann stehen. Die Sicherheitsleute winken mich durch.

Wie bitte? Cool!

Laptop raus, Mantel aus, breitbeinig hinstellen für den Bodyscan. Schon bin ich im Abflugbereich und quetsche mich an einem Punk vorbei, der auf die glorreiche Idee gekommen ist, mit einem Dutzend Piercings, einem Nietengürtel und Stiefeln mit Metallkappen zu reisen. Er schaut mich vorwurfsvoll an, als mache er mich für seine miesen Lebensentscheidungen verantwortlich.

Und schon bin ich im Bereich mit den Fastfood-Restaurants und Zeitschriftenläden. Als ich das letzte Mal nach Europa geflogen bin, dauerte alles viermal so lang. Damals

Ich schämte mich jetzt dafür, dass ich gedacht hatte: Mom? Penny ist nicht mal gut in Ballett. Ich bin diejenige, die nach Italien fliegt. Rede mit mir!

Doch alles, was ich sagte, war: »Penny, bitte denk dran, Pete zu füttern.«

Ich vergöttere Penny. Dabei habe ich gar nicht das Recht dazu. Im Grunde dürf‌te ich ihr nicht mal zu nahe kommen, aber sie ist der einzige Mensch auf der Welt, den ich, wenn, sagen wir mal, ein Komet auf die Erde zurasen würde und ich ein Raumschiff hätte, mitnehmen würde. Als Baby hat sie mir den Spitznamen Ucki verpasst, weil sie bei »Anouk« zu viel sabbern musste. Mit vier erzählte sie mir, wenn sie

Ich weiß noch, wie Penny mir zunickte, während ihr Daumen über den Bildschirm wanderte. Und wie meine Mutter und ich aneinander vorbeistarrten. Meine Mutter ist 43, mit einer so dichten, fülligen Mähne wie Mufasa in Lion King. Und sie hat ein Wahnsinnscharisma. Sie kann Firmengesellschafter, Vizepräsidenten und den Hotdogverkäufer auf dem Bürgersteig vor ihrem Bürogebäude dazu bringen, ihr ins Nichts zu folgen. Sie wünscht, ich wäre tot.

Etwa zehn Sekunden lang standen wir so, und im Inneren bettelte ich laut schreiend darum, dass ihre Augen sich nur einen halben Zentimeter zur Seite bewegen und mich ansehen würden.

Doch das taten sie nicht. Sie fixierte einen Punkt über meine Schulter hinweg und sagte: »Nimm dich in Acht vor den italienischen Jungs.« Und dann lächelte sie ihr winziges, grimmiges Lächeln, das besagte: Geschieht dir recht.

Sie wickelte das nächste Kaugummi aus. Beugte sich nach vorn und flüsterte in Pennys Ohr, als wären sie Freundinnen oder wenigstens Mutter und Tochter. Ich beobachtete sie und hätte meine Mutter am liebsten geohrfeigt, sie an den fließenden schwarzen Kleidern gepackt und geschüttelt, bis sie geschrien hätte, bis sie mich gehasst hätte, denn wenn sie mich hassen würde, müsste sie mich wenigstens ansehen. Doch ich stand vollkommen reglos da, und meine Haut

Ich fühlte mich krank und wütend und versteckte mich nach dem Sicherheitscheck sofort in der Business Class Lounge. Kaute auf Blutorangenschalen herum, bis mein Mund schmerzte. Drei meiner Klassenkameraden vom St. Winifred waren auch da, ebenfalls auf dem Weg nach Perugia. Ein Trio mit perfekt funktionierendem Verstand, perfekt operierten Nasen und perfektem Schmuck von Tif‌fany, die miteinander flüsterten und mir Blicke zuwarfen. Eine von ihnen – Bahima Atik, glaube ich – winkte mir zu. Ich tat so, als würde ich es nicht bemerken. Am St. Winifred hat man keine Freunde. Höchstens Verbündete. Handelsabkommen und Nichtangriffspakte, und wenn man Glück hat, ein oder zwei Leute, die einem nicht von hinten ein Messer in den Rücken rammen.

Ich kehre in die Gegenwart zurück und verspüre wieder diese Wut, die sich an die Innenseiten meiner Rippen hef‌tet, als gehörte sie dorthin. An jenem Tag verließ ich die Lounge wie eine Art düstere, spindeldürre Meereskreatur, der man schon von weitem ansah, dass man ihr besser nicht zu nahe kam. Dort hat alles begonnen, nehme ich an. Diese Suche nach etwas Großem, nach einer heroischen Aufgabe, durch die mir die Leute automatisch ausweichen würden, wenn ich einen Flur entlangginge, die mich angsteinflößend, großartig und unübersehbar machen würde. Ich hoffe, ich habe sie gefunden.

Ich hätte eine Million anderer Dinge tun können. Ich hätte mit einem Baseballschläger durch unser Haus auf

Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Noch drei Minuten bis zum Treffen mit den anderen.

Als Ersten sehe ich Jules Makra. Er lehnt an einer Säule vor Gate B 24 und spielt mit seinem Handy. In unserer Mappe befindet sich unter anderem ein Spreadsheet, in dem mit Aufzählungspunkten unsere Eigenschaften aufgelistet sind, als wären wir Superhelden in einem blöden Comic. Alter. Besondere Fähigkeiten. Studienfächer. Hobbys. Passbilder, damit wir einander erkennen.

Jules ist groß und schlaksig. Zappelig. Trägt sein Haar zu einer imposanten, eindeutig sehr aufwendigen schwarzen Tolle gestylt, die allerdings schon in sich zusammenzufallen scheint. Er trägt Ohrhörer und wippt mit einem Bein einen offenbar sehr unregelmäßigen Beat. Ich trommle mit den Fingernägeln auf den Griff meiner Tasche. Atme tief durch und gehe mit meinem Rollkoffer auf ihn zu.

Erst als ich vor ihm stehe, hebt er den Kopf. Sieht mich. Grinst.

Jules Makra aus der Nähe: ein bisschen Punk, ein bisschen Hipster. Aufgekrempelte Chinos, dazu ein abgefahrenes grelles T-Shirt mit aufgedruckten russischen Puppen und Blumen, das unter einer schiefsitzenden Bomberjacke hervorschaut. Für eine Millisekunde kneift er die Augen zusammen, kleine Splitter über seinem Grinsen. Checkt mich ab.

»Ja!«, antwortet er. Er zupft einen Ohrhörer heraus und sein Grinsen wird breiter. »Bist du Lilly?«

»Nein.« Ich blicke mich nach den anderen um.

»Aha. Dann bist du Anouk?«

Nein, ich bin William Park, hätte ich beinahe erwidert, doch dann taucht William Park auf, und ich beiße mir auf die Lippe.

Ich mag Will Parks Gesicht. Er sieht aus, als hätte jemand Jules in- und auswendig studiert und dann das genaue Gegenteil gebaut. Auch Will ist groß, aber kräftig und breitschultrig, und während man bei Jules befürchtet, er könnte jederzeit ein Schulterblatt aus seinem mageren Rücken hervordrücken, scheint Will in sich zu ruhen. Nur seine Kinnpartie widerspricht diesem Eindruck, denn sie ist scharfgeschnitten und ein bisschen verkrampft, als beiße er die Zähne zusammen. Vielleicht ist er nervös. Er trägt eine Ballonmütze, tief ins Gesicht gezogen, und eine abgetragene alte Kabanjacke, die wahrscheinlich schon vor hundert Jahren Shabby Chic war.

Jules zieht den anderen Ohrhörer auch noch heraus und grinst wieder, allerdings habe ich das Gefühl, dass er Will breiter angrinst, vielleicht in der Hoffnung, das Debakel namens Anouk vermeiden zu können. »Hey!«, sagt er.

»Hey.« Wills Stimme ist tief, und er reicht uns beiden ohne zu zögern die Hand. Er sieht mich für eine Sekunde an, bevor er den Blick senkt. Er hat blaue Augen.

Jules runzelt die Stirn. Wahrscheinlich fragt er sich, wie die Chancen stehen, dass alle in diesem Team asoziale Freaks sind. Ich setze mich auf meinen Koffer. Will lehnt sich mit

Hayden Maiburgh erscheint als Nächster. Er ist genauso groß wie wir alle, aber ein ganz anderer Typ. Der Typ, den ich normalerweise zu meiden versuche wie die Pest. Privatschulblazer, blauverspiegelte Pilotenbrille, das Haar ordinär zur Seite gegelt. Er sieht aus, als wäre er unterwegs zu einem Polospiel oder einem Champagnerbad in einer goldenen Wanne, und beim Näherkommen hat er dieses Hey-ihr-Loser-Grinsen, mit dem manche Leute offenbar auf die Welt kommen.

Und dann sagt er auch tatsächlich genau das: »Hey, ihr Loser!« Ich hätte mich beinahe verschluckt. Dann probiert er an Jules einen pseudocoolen Bro Handshake aus, mit Umgreifen und Fäuste aneinanderstoßen und so, nur dass Jules keine Ahnung hat, wie Bro Handshakes funktionieren, und das Ganze geht zu meiner diebischen Freude gründlich daneben. Blöderweise scheint Hayden genau das erwartet zu haben, als wäre die Begrüßung ein Test gewesen und als würde Jules’ Versagen von Anfang an die Hierarchie zwischen ihnen etablieren. Grinsend dreht er sich nun zu Will um, bereit, das ganze Manöver zu wiederholen, doch der springt nicht darauf an, sondern quetscht Haydens Hand nur kurz ein Mal und starrt dann weiter gedankenverloren in die Menge.

Ich bleibe auf meinem Koffer sitzen. Strecke die Beine aus und werfe Hayden einen tödlichen Blick zu, als er auf mich

Anouk Geneviève van Roijer-Peerenboom. 17 Jahre alt. Turnerin. Bekloppte. Spricht fünf Sprachen fließend, hat Grundkenntnisse in acht weiteren, national anerkannte Jungakademikerin, studiert Kunstgeschichte an der NYU. Vor kurzem Abschluss an der Privatschule St. Winifred in Manhattan. Kann außerdem klettern und tauchen.

Jules Makra. 17. Grafikdesignstudent. San Diego, Kalifornien. Hat einen Preis dafür gewonnen, dass er einen Stuhl gezeichnet hat oder so.

Will Park. 17. Ingenieurstudent aus Charleston, South Carolina. Hat hübsche Augen.

Hayden Maiburgh. 17. Hauptfach Philosophie an der Cornell Universität. Soll das ein Witz sein? Worüber philosophiert er, Gewichtheben? Getränkekartons? Wie arm die Superreichen dran sind?

Die Fünf‌te im Bunde ist noch nicht da. Lilly Watts. 16. Sun Prairie, Wisconsin.

Drei Minuten später kommt sie. Ich vermute, sie ist wie ein ganz normaler Mensch auf uns zugeschlendert, aber für mein Gefühl taucht sie so abrupt auf wie eine Anime-Figur, die alle anderen wegbläst, so dass sie nur Speedstreifen hinterlassen. Sie ist klein, rundlich und die Verkörperung des amerikanischen Hippie-Indie-Girls: Federn im Haar, jede Menge bunte Armbänder, eine abgetragene Lederjacke mit Fransen. Dazu trägt sie den riesigsten Wanderrucksack, den ich je gesehen habe und der ihren Kopf bei weitem überragt. Ihre Nase glänzt und sieht fettig aus.

Sie führt einen kleinen Indianertanz auf. Jetzt lächelt sie mich direkt an. »Ich habe schon Angst gehabt, heute wäre gar nicht Mittwoch. Weil, ich hab euch nämlich nicht gefunden, und einmal habe ich die ganze Nacht und einen ganzen Tag verschlafen, ganze 24 Stunden hab ich verpasst, deshalb dachte ich, ich hätte vielleicht den Mittwoch verschlafen und heute wäre schon Donnerstag. Ich weiß, das klingt blöd, oder, habe ich aber wirklich gedacht!«

Sie schüttelt Hayden die Hand, weil er ihr am nächsten steht, und dabei lacht und plappert sie, und Hayden lächelt ein wenig herablassend auf sie hinunter. Merkt Lilly das überhaupt?

Jetzt spricht sie mit Jules. Er reißt Witze. Sie unterhalten sich. Lilly macht so eine Schulterbewegung auf ihn zu und sagt: »Wiirklich? Ich auch!«, und ich stelle mir vor, dass sie darüber reden, wie sie beide das blendende Zahnpasta-Werbelächeln hingekriegt haben.

Dann ist Will dran. Im ersten Moment sieht es fast so aus, als wolle sie den armen, schweigsamen Kerl umarmen, doch dann schiebt sie den Gedanken zurück in die Mappe der guten Taten für später und nimmt stattdessen seine Hand in ihre beiden Hände, strahlt ihn an und erklärt, sie finde seine historisch korrekte Kaban-Jacke phantastisch. Kurz bevor sie mich erreicht, stehe ich auf.

»Hurra«, bemerke ich tonlos und mache eine

Lilly bleibt abrupt stehen. Alle starren mich an.

»Wir sollten uns hier mit ihm treffen«, bestätigt Hayden.

»Hat noch jemand von euch beim Klettern komplett versagt?«, fragt Jules.

»Hi«, sagt Lilly und winkt mir zu, mit einer kleinen, hektischen Bewegung.

Ich drehe mich auf dem Absatz um und scanne die Gesichter, die an mir vorbeiziehen. Wir sind genau da, wo wir sein sollten, Terminal vier, Gate B 24. Doch die Reihen der grauen Sitze im Wartebereich sind leer, und der Monitor zeigt keine Fluginformationen.

»Vielleicht haben wir alle den Mittwoch verschlafen«, sagt Lilly und lacht. Niemand lacht mit. Ich werde tatsächlich ein bisschen nervös. Falls ich den falschen Tag, die falsche Zeit oder den falschen Flughafen erwischt habe, muss ich zurück nach Hause schleichen und möglicherweise feststellen, dass Permanentmarker tatsächlich auf rostfreiem Stahl hält …

Ich höre ein metallisches Klicken hinter mir. Die Stahltür zur Schleuse wird geöffnet. Ich drehe mich um und sehe vier Typen in schwarzen Anzügen herausmarschieren. Sie sind tadellos gekleidet, aber ansonsten ziemlich krass. Ich sehe ein Tattoo, das sich unter einem Hemdkragen hervorschlängelt. Silbrige Narben, die sich im Zickzack über eine Reihe Fingerknöchel ziehen. Einer trägt tatsächlich einen grellroten Irokesen, sechs Spitzen, die sich wie lodernde Sonnenstrahlen mitten über seinen Schädel ziehen.

Aus ihrer Mitte kommt ein fünf‌ter Mann auf uns zu, um

»Hallo, hallo!«, ruft er. Nicht laut, doch er hat eine tiefe, rauhe, klangvolle Stimme, bei der sich alle im Umkreis von drei Metern umdrehen und ihn anstarren. Wir inklusive. Die Bodyguards nehmen unser Gepäck. Der mit dem roten Irokesen drängt uns durch die Metalltür und die Schleuse, und Dorf sagt: »Wie nett, euch kennenzulernen. Und ihr wart alle pünktlich! Willkommen beim Projekt Papillon.«

Er hat einen kaum merklichen Akzent. Weder französisch noch britisch. Keine Ahnung, was es für einer ist. Lilly klammert sich sofort an seinem Arm fest und erklärt ihm, wie unfassbar aufgeregt sie sei, jetzt hier zu sein. Ich schaue den Bodyguard an, der mir am nächsten ist. Geieraugen. Blonder Stoppelbart, so hell, dass er fast grau wirkt. Der Typ sieht aus wie ein nordischer Gott. Fasst sich mit einer Hand ans Ohr; er trägt ein Headset, das sich an seinem Kinn entlangzieht. Ein Licht blinkt darin – ein dünner roter Strich, lautlos pulsierend, als erhalte der Typ gerade eine Nachricht. Ein Flüstern, direkt in den Schädel gepflanzt.

Die anderen unterhalten sich, lernen einander kennen, freunden sich an. Ich beobachte das pulsierende Licht und den Typen und frage mich, was er hört.

Mutter wurde heute nach unten eingeladen. Niemand hat das Palais du Papillon bisher gesehen, niemand außer Vater, Havriel und die Legionen von Handwerkern, die in den Tiefen leben, ohne Wechsel von Nacht und Tag, und bei Lampenschein unermüdlich arbeiten, malen und bildhauern.

Die Einladung kam mit großem Pomp: drei Lakaien in voller Livree – goldbetresste scharlachrote Jacken, seidene Beinstrümpfe, der mittlere von ihnen zusätzlich mit einem kleinen vergoldeten Helm. Sie klopf‌ten an die Tür zu Mamans Gemächern. Sie befand sich gerade in ihrem Boudoir, wo sie in einem Flecken Sonnenlicht wie eine Katze schlief. So kam es, dass ich das Geschenk entgegennahm. Ich klappte den Deckel auf und schaute hinein wie ein neugieriger Pfau. Ein einziges Stück Papier lag darin, gebettet auf getrocknete Stiefmütterchen und Apfelblüten.

Mein Liebling, mein Schatz, mein Herz, las ich. Die Karte war goldumrandet und duftete so intensiv nach Nelken, Rosenöl und schweren Parfüms, dass mir fast übel wurde.

Ich erbitte Dein treff‌liches Erscheinen vor den Toren zum Palais du Papillon am heutigen Tage, dem 27. August, zur neunten Stunde.

Für immer in Liebe, Frédéric

 

Ich überreiche Maman die Einladung, als sie erwacht, und heuchle Überraschung, als sie mir erzählt, was darin steht.

»Darf ich mitkommen?«, frage ich, vielleicht ein wenig zu direkt, denn Maman blickt mich verwundert an.

»Nein«, sagt sie. »Nein, mein Kind, er hat nicht geschrieben, dass ich jemanden mitbringen soll. Er ist da sehr besonders.«

»Ich bin auch besonders«, erwidere ich gespielt beleidigt. »Besonders neugierig.« Dann lache ich, aber Mutters Lächeln ist schwach wie verwässerter Cognac, deswegen dränge ich nicht weiter. Ihr Schweigen beunruhigt mich nicht. Ich bin so aufgeregt, als ginge ich selbst hin. Letzten Monat beobachteten Charlotte, Delphine und ich die gepanzerten Kutschen, die die Allee entlangkamen. Die Pferde schwitzten, ihr Fell glänzte in der Sonne, und die Kutscher riefen den Gärtnern im Vorbeifahren fröhliche Worte zu. Wir sahen Sofas aus Paris, Spinette aus Wien, Ballen von Seide und Brokat aus London und Flandern, so schwer, dass die Diener ganz gebückt gingen, als sie sie in den unteren Korridor schleppten, den unterirdischen Gängen und der Dunkelheit entgegen, die sie verschluckte wie ein gefräßiges Ungeheuer. Der Palast muss ein wundervoller Anblick sein. Und riesig! Eine endlose Schlange von Kutschen, alle bis zum Bersten gefüllt. Es scheint, als könne sich Vater alles leisten, was sein Herz begehrt: sich an Honigwachteln und

 

Als Maman später an mir vorbeigeht, ist sie aufgeputzt wie eine venezianische Madonna, ihr Gewand aus feinster Seide und von einem tiefen, leuchtenden Karmesinrot (wie Mohnblüten, Beeren oder Rosen), Ärmel und Mieder über und über mit Perlen bestickt, die Perücke eine hochaufgetürmte rauchgraue Lockenpracht und mit Silberblüten festgesteckt. Sie geht allein in den Korridor hinab, wo Vater und Havriel sie erwarten; nicht einmal Madame Kretschmer oder die Zofen dürfen sie begleiten. Sie nimmt mich im Vorbeigehen nicht wahr. Ich würde ihr gern etwas zurufen, ihr Glück wünschen, aber schon ist sie weg, und ich höre nur ihre gedämpf‌ten, langsamen Schritte, die sich die Stufen hinunter entfernen. Ich kann ihren Bericht kaum erwarten!

Im Flugzeug werden wir von einer spindeldürren Asiatin in Bleistiftrock und hochgeschlossener weißer Bluse begrüßt. Ihre Augen stehen in einem auf‌fälligen Kontrast zu ihrem Typ – grün-graue Strudel mit großen schwarzen Pupillen, als hätte jemand Löcher in die Himmelskuppel gestanzt. Sie mustert uns, irgendwie kalt und grausam, wie ein Fleischbeschauer.

»Das ist Miss Sei«, stellt Dorf sie vor. »Leitende Wissenschaftlerin der Sapani Corporation. Sie wird bei der Expedition assistieren.«

Sie schnalzt mit der Zunge, bedeutet uns mit einem Wink, ihr zu folgen, und marschiert resolut voraus durch den Mittelgang.

Ich beobachte, wie sich ihre eckigen Schultern unter der Bluse bewegen. Neben mir stößt Jules einen leisen Pfif‌f aus. »Wir reisen definitiv erster Klasse.«

Damit meint er wohl die iPads in den Armlehnen, die Flachbildmonitore mit Bildschirmschonern von Stränden und Wasserfällen, den wie zufällig positionierten, kleinen Mangobaum neben dem Notsitz.

Miss Sei bittet uns in eine Lounge mit glänzender schwarzer Holzverkleidung, weißen Ledersitzen, Sofas wie riesige Perserkatzen, außerdem eine Bar mit drei Jugendstilhockern

»Alles nur für euch!«, sagt er und breitet einladend seine großen Hände aus. »Wir sehen uns dann in Paris, morgen früh in aller Frische.«

Miss Sei und er verschwinden ebenfalls im nächsten Abteil, wobei er in der Tür den Kopf einziehen muss. Die Glastür gleitet hinter ihnen zu. Wir sind allein.

Augenblick mal, das war’s? Keine Begrüßungsrede? Kein »Willkommen an Bord, alle miteinander«?

Einen Moment lang sitzen wir wie erstarrt da. Dann sagt Jules: »Das. Ist. Phantastisch!«, und streckt sich auf einem der Sofas aus. Anscheinend fällt niemandem außer mir auf, wie bizarr das alles ist. Lilly hüpft von den Barhockern zum Mangobaum zum Wasserfall-Bildschirmschoner und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Hayden tritt an die Bar und klirrt mit den Flaschen. Ich setze mich auf eine Couch, schlage die Beine übereinander und lasse das ganze Schauspiel auf mich wirken.

Will macht es sich neben mir auf dem Sofa bequem. Keiner von uns spricht ein Wort. Der Flugkapitän gibt durch, wir sollen uns zum Start bereitmachen. Ich schaue Will an. Er hat die Hände auf die Knie gelegt und blickt so ernst, als wäre alles, was er sieht, eine große Tragödie. Ganz deiner Meinung, Will.

Jules und Lilly hängen an ihren Handys, lachen über

Will räuspert sich. Ich sehe ihn an. Er räuspert sich noch mal und bemerkt: »Es gibt keine Anschnallgurte.«

Er hat eine wundervolle Stimme, tief und ruhig, ein wenig schleppend.

»Stimmt«, sage ich.

Schweigen. Anscheinend hat er sein gesamtes Small-Talk-Repertoire erschöpft, deswegen beschließe ich, ihm zu helfen. Mit einem Wink auf die anderen sage ich: »Das kann ja heiter werden. Neun Stunden zusammen mit denen? Und dann noch mal zwei Wochen und neun Stunden. Was wir eigentlich bräuchten, wären Käfige. Und Tranquilizer.«

Will starrt mich an. Seine blauen Augen verdunkeln sich und sehen mich forschend an.

»Käfige und Tranquilizer!«, wiederhole ich ein wenig lauter. Die Turbinen dröhnen. Die Lichter auf der Startbahn laufen uns in orangefarbenen Zwillingsreihen entgegen wie gutabgerichtete Glühwürmchen.

Will zieht eine Augenbraue hoch. »Das nicht. Aber Anschnallgurte wären gut.«

Aha. Alles klar. Ich habe keine Ahnung, wie ich mit jemandem umgehen soll, der keinen Sarkasmus versteht. Angeblich lässt sich Intelligenz daran messen, wie sensibel man auf Humor reagiert. Keine Ahnung, ob das stimmt oder nicht, aber ich tröste mich damit, dass die Leute, die mich nicht lustig finden, einfach nur dämlich sind.

Ende dieser Unterhaltung. Ich starte die Playlist auf meinem iPod.

Die Kabine neigt sich, als das Flugzeug abhebt. Will bleibt reglos neben mir sitzen, was ich wahnsinnig galant von ihm finde angesichts der Tatsache, dass ich gerade seinen Namen aus meinem geistigen Buch aller Dinge ausradiert habe. Ich schließe die Augen und frage mich, ob ich vielleicht doch mit diesen Leuten auskommen könnte. Unmöglich ist es nicht. Manchmal werden andere zu Freunden, einfach so.

»Hi!«, quietscht Lilly und bohrt sich quasi zwischen Will und mich. »Wir haben uns noch gar nicht richtig kennengelernt. Ich bin Lilly.« Ich schlage die Augen auf. Ich habe gerade Ingrid Michaelson gehört, und zwar die Passage im Stück, in der sie quasi mit der Stimme lächelt. Let’s get rich and buy our parents homes in the south of France. Lass uns reich werden und unseren Eltern Häuser in Südfrankreich kaufen. Ich liebe diesen Part. Nur seinetwegen höre ich mir das gesamte Stück an.

»Hi«, sage ich, ohne die Kopfhörer abzunehmen.

»Wie heißt du?«, fragt Lilly und lächelt mich ermunternd an.

»Anouk«, antworte ich. »Hast du die Unterlagen nicht gelesen?«

Lillys Lächeln wirkt für einen Moment angestrengt, aber irgendwie erhält sie es durch reine Willenskraft aufrecht. Ich schaue sie neugierig an. Sie sieht weder übermäßig intelligent aus noch so, als könnte sie eine Felswand erklimmen oder Flaschentauchen.

»Was?«, frage ich ziemlich gereizt und lasse jetzt doch die Kopfhörer in den Nacken rutschen. »Nein. Ich glaube, niederländisch. Oder flämisch.«

»So ein Zufall, meine Tante wohnt in Flemings!«, erwidert Lilly. »Das ist in Wisconsin.« Sie berührt mein Knie und wirft mir erneut ein Lächeln zu, als sei es eine besondere Leistung, in Flemings, Wisconsin, zu wohnen.

Andererseits ist es das durchaus. Keine Ahnung, wie die Leute das aushalten. Wie das irgendjemand aushalten kann.

»Glückwunsch an die Tante«, sage ich und wippe mit dem Bein. »Nein, wirklich, Flemings, Wisconsin. Wow!«

Lillys Augen verengen sich. Ist sie jetzt sauer? Nein: Genau so hat sie Will angesehen, bevor sie beschloss, ihn nicht zu umarmen. Nur diesmal beschließt sie wohl, dass eine Reaktion auf mein komisches Verhalten nicht aufgeschoben werden darf, sondern sie sich mir sofort widmen muss. Sie zieht ihre Füße in den abgetretenen Chucks auf das Sofa, legt ihre geschmückten Unterarme um die Knie und fängt an zu reden. Es ist, als würde man Wellen an einem Strand beobachten oder jemanden, der nach einer Party kotzt: Es hört einfach nicht auf, und man fragt sich, wo das alles herkommt.

Will schaut etwas alarmiert zu uns herüber, steht auf, geht zu einem anderen Sofa. Nimm mich mit!, möchte ich ihm zurufen, aber Telepathie funktioniert bei ihm nicht. Und Lilly ist noch lange nicht fertig.

Sie erzählt, wie man vegane Quinoa-Brownies backt, und von ihren alternativen Hippie-Eltern, die sie zu Hause unterrichtet haben und die sie offensichtlich vergöttert. Von

Ich werfe meinen Kopf in den Nacken und starre zu den winzigen Lichtern an der Decke hinauf. Lilly scheint beim Reden nicht mal Luft holen zu müssen. Sie ist definitiv zu sehr in ihre eigenen Geschichten versunken, um sich etwas daraus zu machen, dass ich sozial inkompatibel bin. Ihre Stimme wird zu einem Hintergrundrauschen. Alles wird zu einem Rauschen. Die Lüftung, die Flugzeugdüsen, das Klirren von Glas – alles verschwimmt zu einer einzigen Flatline von Geräuschen.

Ich setze mich auf. Blicke mich um. Mir kommt das alles so unwirklich vor, wie ein unheimlicher Traum in Zeitlupe. Hayden liegt auf einem Sofa und schlürft Orangina durch einen Strohhalm. Will und Jules sitzen nebeneinander, und Jules scheint ein Gespräch beginnen zu wollen, während Will fast umkommt vor Verlegenheit. Ich blicke hinüber zu der automatischen Tür, die uns von Dorf und den Übrigen im Jet trennt. Sie ist aus Milchglas mit klaren Streifen dazwischen. Ich sehe einen Abschnitt von Miss Sei – ein Bein, ein Stück Rock. Ein großes Auge, das mich beobachtet.

Plötzlich ertönt ein lauter, schriller Alarmton, und wieder hüllen mich Geräusche ein. Durch die Lautsprecher kommt

Jenseits der Glasscheibe entsteht Unruhe. Der Lautsprecher in unserem Abteil wird abgeschaltet, aber ich kann die Stimme des Piloten weiter gedämpft durch die Abteiltür hören.

Ich erschauere, doch als Lilly mich fragend ansieht, setze ich die Kopfhörer wieder auf und drehe die Musik laut.

Maman ist erst weit nach Mitternacht in ihre Gemächer zurückgekehrt. Ich habe das Klappern ihrer Absätze auf der Treppe gehört, ihre Tür, die sich knarrend schloss. Eine luftige, samtige Stille senkte sich herab. Doch noch immer schien das Schloss zu ächzen und sich zu regen, als pulsierte irgendetwas, etwas Kleines, in seinem Innersten, das nicht zur Ruhe fand.

Als Maman am nächsten Morgen zum gemeinsamen Frühstück erschien, wirkte sie blass und abgespannt, die Augen merkwürdig wässrig, mir hätte auf‌fallen müssen, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn ich nicht so dumm wäre, hätte ich meine Schwestern mit einem strengen Blick zum Schweigen gebracht. Wir hätten rasch gegessen und uns nur mit Blicken und dem Klimpern des Silberbestecks verständigt. Anschließend hätten wir uns in eines der staubigen, unbenutzten Gästezimmer zurückgezogen und die Sache dort in Ruhe besprochen. Doch ich starb beinahe vor Neugier, mehr über den neuen Palast zu erfahren. Als meine Schwestern unsere Mutter umringten, gesellte ich mich dazu und fragte Maman, ob der Palast sehr groß sei, wie viele Kerzen man brauchte, um die Flure zu erleuchten, und ob es warm sei in der Tiefe oder bitterkalt, und ob es einen Salle d’Apollon gäbe wie in Versailles.