2Peter Sloterdijk betrieb in seiner Kritik der zynischen Vernunft eine Aufklärung über die Aufklärung, in ihren Anfängen wie in der Gegenwart. Nach Gott widmet sich der theologischen Aufklärung über die Theologie, von der Zeit der Götterherrschaft über jene, in der der Welterschaffungsgott regierte, bis zu den Träumereien über das gottähnliche Vermögen der künstlichen Intelligenz. Auf diesem Weg muß die sich selbst aufklärende Theologie, durchgeführt von einem Nicht-Theologen, weit vor der Todeserklärung Gottes durch Nietzsche ansetzen und über dieses Diktum hinaus Gegenwart wie Zukunft erkunden.

Aus diesem Vorhaben ergeben sich Korrekturen an allen Weltbildern: Nach Sloterdijk enthält der Satz »Gott ist tot« ein Element von perspektivischer Täuschung: »Sosehr er Wahres ausspricht, es trifft weniger auf das Ende der Geschichte des Menschen mit der Überwelt zu als auf ihren Anfang. Der Tote ist Gott, der dem Lebenden mit den Augen des Seins-Neides über die Schulter schaut – doch auch durch die Brille des Mitgefühls mit denen, die noch dasein müssen. Aus seinem Totsein leitet der frühe Gott Ansprüche gegen die Lebenden her. Das Band zwischen hier und drüben wird durch Schuld gewoben. Indifferente Götter bilden ein sehr spätes Kapitel in der Geschichte der Transzendenz: Später kam der liebende Gott hinzu; seine Liebe freilich blieb oft ein Zwangsvertrag, von Drohungen durchsetzt. Auf liebende Götter jenseits der Ambivalenz wartet man bis auf weiteres, und bis zu ihrer Ankunft tun Menschen gut daran, sich um die Gestaltung ihrer Verhältnisse selbst zu kümmern.«

Peter Sloterdijk, geboren 1947 in Karlsruhe, zählt zu den wirkungsmächtigsten zeitgenössischen Philosophen. Seit mehr als dreißig Jahren praktiziert er ein in philosophische, politische, gesellschaftliche wie psychologische Debatten eingreifendes Denken. Er ist der Verfasser unter anderem der Bücher Die Kritik der zynischen Vernunft, Sphären, Im Weltinnenraum des Kapitals, Du mußt dein Leben ändern.

3Peter Sloterdijk

Nach Gott

Suhrkamp

4eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

eISBN 978-3-518-75214-2

www.suhrkamp.de

5Inhalt

1  Götterdämmerung

2  Ist die Welt bejahbar?

3  Die wahre Irrlehre: Gnosis

4  Mir näher als ich selbst

5  Der Bastard Gottes: Die Jesus-Zäsur

6  Menschenverbesserung

7  Epochen der Beseelung

8  Latenz

9  Der mystische Imperativ

10  Absoluter und kategorischer Imperativ

11  Neuigkeiten über den Willen zum Glauben

12  Chancen im Ungeheuren

Editorische Notiz

71 Götterdämmerung

»Allen Götterwelten folgt eine Götterdämmerung«[1]

Ruhe, ruhe, du Gott!

Richard Wagner, Die Götterdämmerung

1

Die Tatsache, daß bei den Griechen der klassischen Zeit die Menschen als die »Sterblichen« bezeichnet wurden, ist unter den Gebildeten unserer kulturell vergeßlichen Tage noch immer halbwegs in Erinnerung. Die Menschen trugen diesen Namen, weil sie als irdischer Widerpart der Götter aufgefaßt wurden, die man die Unsterblichen nannte. Tatsächlich war allein die Unsterblichkeit das eminente Merkmal der griechischen Götter; was ihr Verhalten anging, wäre es von dem der Menschen mit ihrer Allzumenschlichkeit kaum zu unterscheiden gewesen.

Nachdem Paul Valéry vor einhundert Jahren, unter den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs, das Prädikat »Sterblichkeit« auf die hohen Kulturen ausdehnte, indem er versicherte, wir wüßten nun, daß sogar die großen, durch Sprache, Recht und Arbeitsteilung integrierten Kollektivgebilde (nous autres, civilisations) sterblich seien, darf man es als glücklichen Zufall ansehen, wenn der immense Satz noch hier und dort ein Engramm in einem alteuropäisch ge8prägten Gedächtnis hinterlassen hat. Tatsächlich, »wir Zivilisationen« sind sterblich, und wir hätten es nach allem, was geschehen war, zur Kenntnis nehmen sollen. Das Prädikat »Sterblichkeit« kommt nicht mehr nur Sokrates und seinesgleichen zu. Es verläßt die syllogistische Übung und überschwemmt einen Kontinent, der seinen großen Krieg nicht faßt. Nicht allein die Tatsache, daß binnen vier Jahren mehr als neun Millionen Mann an den Fronten ins Feuer geschickt wurden, verlieh der Sterblichkeit die neue Note. Entscheidend ist, daß die Unzahl an Gefallenen und zivilen Opfern aus den internen Spannungen des Kulturgeschehens selbst zu folgen schien. Was sind Kulturnationen, und was bedeuten Zivilisationen, wenn sie solche Exzesse an Opfern und Selbstopfern zulassen, ja nicht nur zulassen, sondern aus ihren eigensten Antrieben hervorrufen? Was verrät dieser Massenkonsum an Leben über den Geist des Industriezeitalters? Was hat diese beispiellos neue Rücksichtslosigkeit gegenüber der einzelnen Existenz zu bedeuten? In dem Wort »Sterblichkeit«, auf Zivilisationen angewendet, klingt künftig die Anspielung auf suizidale Optionen mit.

Der Schock, von dem Valérys Notiz Zeugnis gab, reichte tiefer, als seinen Zeitgenossen bewußt werden konnte. Für diesmal betraf die Einsicht in die Untergangsfähigkeit der Zivilisationen nicht ferne Welten wie Ninive, Babylon, Karthago. Sie handelte von Größen, die man wie aus der Nähe zu kennen glaubte: Frankreich, England, Rußland … dies waren bis gestern noch klingende Namen. Man sprach sie aus wie Universalien in Völkergestalt. Sie standen für die überzeitliche Stabilität, die man von alters her den Sippen und ihren Vereinigungen in Völkern zusprach. Die Sippen wurden seit je vom Gesetz der Herkunft regiert. Sie verkörperten die Dauer, die durch die Generationen fließt, sosehr auch die Einzelnen im Kommen und Gehen sind. Valéry: 9»Und nun sehen wir, der Abgrund der Geschichte ist groß genug für alle.«[2]

Die Zivilisationsdämmerung beginnt in dem Augenblick, in dem die Bewohner der großen kulturellen Gehäuse von der Ahnung erfaßt werden, daß selbst die festesten menschlichen Systeme der Gegenwart nicht für die Ewigkeit errichtet sind. Sie unterliegen einer Zerbrechlichkeit, die man auch die »Geschichtlichkeit« nennt. Geschichtlichkeit bedeutet für die Zivilisationen, was für die Einzelnen die Sterblichkeit ist. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts hat man dies hinsichtlich der Individuen das Sein-zum-Tode genannt. Bei Kulturen heißt so das historische Bewußtsein.

In der Regel lassen die Angehörigen der geschichtlich bewegten Nationen die Erkenntnis außer acht, wonach ihre Historiker gleichzeitig ihre Thanatologen sind. Von Amts wegen sind Thanatologen die besseren Theologen: Sie nehmen – auf einen lokalen Ausgangspunkt gestützt – vorausgreifend Gottes Standpunkt am Ende von Welt und Leben ein. Historiker wissen in der Regel nicht, daß sie, indem sie an frühe Anfänge erinnern, auf indirekte Weise auch die Perspektive vom Ende her einüben.

Aus göttlicher Sicht bedeutet Geschichte nichts anderes als das Verfahren, das Noch-nicht-Gewesene ins Gewesene zu überführen. Erst wenn alles Sein ins Gewesensein eingegangen sein wird, ist der »allwissende Gott«[3] der metaphysischen Klassik am Ziel. Nur wenn gewiß ist, daß nichts Neues mehr geschieht, darf Gott das anfangs berauschende, später kompromittierende Prädikat »Allmacht« ablegen: 10Dieses war ja zunehmend peinlich und überflüssig geworden. Am wirklichen Ende der Geschichte gibt es weder etwas zu erschaffen noch zu erhalten. Alles, was ist, ist um dessen willen da, was zuletzt sein wird. Das Dossier der Schöpfung wird geschlossen. Der End-Gott hüllt sich in den Mantel der Allwissenheit: Sobald das vollständig gewordene Wissen seitens der Kreativität (oder des »Ereignisses«) vor keine neuen Aufgaben mehr gestellt wird, überblickt Gott das Universum in seiner Gesamtheit. Durch alles, was der Fall war, sieht er gelassen hindurch.

Den Moment des Durchblicks in der umfassenden Rückschau nennt die alteuropäische Überlieferung »Apokalypse«. Das meint im strengen Sinn: Aufdeckung aller Dinge vom Ende her. Ist alles fertig, wird alles transparent. Die sogenannten »Offenbarungen«, die sterblichen Beobachtern in einigen Hochkulturen unter der Gestalt von »heiligen Schriften« vorliegen, sind gleichsam Ausblicke ins stillstehende Jenseits, auf halbem Weg festgehalten. Sie zeugen dafür, daß es in höheren Religionen ohne Übereilung nicht geht.[4] Solche Vor-Eile unterliegt dem Zeitschema des ungeduldigen Glaubens: Schon jetzt, aber dann erst richtig! Die religiösen Apokalypsen handeln jedoch in der Regel nicht von den wirklichen »letzten Dingen«, sie schwelgen in der Schilderung von Tumulten vor dem Eintritt der großen Ruhe.

Wer solche Botschaften wie Wahrheiten akzeptiert, darf sich einbilden, an der Gesamtansicht vom Ende her vorausgreifend teilzuhaben. Die Sphären solcher Vorstellungen nennen sich »Glaubenswelten«. Sie werden geschaffen, um die Spanne von der Jetztzeit bis in die Ewigkeit zu überbrücken. Der Gläubige bleibt dennoch dem Gesetz des Unterwegsseins im Vorläufigen unterworfen. Er weiß, er kann 11Gott nur einholen, indem er mit ihm im Tod ontologisch gleichrangig wird. Das gilt für das alte Indien wie für Alteuropa, und für die Domänen des Islam nicht minder.

Mystiker hießen jene Gruppen von Gläubigen, die überzeugt waren, die scheinbar unmögliche Aufgabe, Gott einzuholen, media in vita lösen zu können. Dank ihrer Anstrengungen ist Transzendenz kein völlig leeres Wort geblieben. Diese Virtuosen der Selbstaufgabe versuchten, auf jedes Separatleben außerhalb Gottes zu verzichten. Auf diese Weise gaben sie sich der Vorstellung hin, schon hier ins Jenseits eingegangen zu sein. Tatsächlich heißt sterben: die Seele zurückgeben – so wie die französische Wendung rendre l’âme es metaphysisch treffend ausdrückt. Doch erst wenn alles tatsächlich gestorben ist, ob im voraus, ob zur rechten oder unrechten Zeit, wird alles, was zum Dasein bestimmt war, vom Zwang des Werdens und der Neuerung befreit sein. Sollte man mit einem Satz sagen, was die klassische Metaphysik im Sinn hatte, er würde lauten: Sie wollte die »Welt« dazu bekehren, am Stillstand in der Allwissenheit Gottes teilzunehmen. Dazu dienten unter anderem die stoischen und die christlichen Doktrinen der Vorhersehung (pronoia, providentia), die Gottes offene Flanke nach der Zukunft hin absichern sollten.

Weil dieser Bekehrungsversuch gescheitert ist, gibt es die moderne Welt. Der Moderne ist zuzurechnen, wer die Idee einer restlosen Entleerung der Zukunft in die Vergangenheit verwirft und für die Unerschöpflichkeit der Zukunft votiert, auch wenn durch dieses Votum die Möglichkeit eines allwissenden Gottes ausgeschlossen wird, eines Gottes, der sich »nach aller Zeit« in umfassender Retrospektive auf die Schöpfung zurückbeugt.

Die »Welt« – und daß »Welt« für lange Zeit ein »christliches Schimpfwort« war, das wußte Nietzsche besser als 12irgendwer[5] – widerstand der Einladung zur Entleerung der Zukunft ins totale Vergangensein, weil sie dem ontologischen Vorrang des Vergangenen abschwor. Sie leistete Widerstand, weil sie lernte, im Kampf mit sich selbst, dank einer autodidaktischen Anspannung von bemerkenswerter Kohärenz, der Zeit zu geben, was der Zeit gebührte. Ironischerweise vollzog sich die neue Bemühung um ein tieferes Verständnis der Zeit ausgerechnet auf europäischem Boden, der Heimat von resoluter Stillstands-Metaphysik und konvulsivischer Apokalyptik. Die prinzipielle Offenheit der Zukunft wurde im philosophischen Denken der Moderne erstmals angemessen erfaßt. Am Treffpunkt von Wille und Vorstellung formt sich die Welt als Projekt und Unternehmen. Nicht Händler und Seefahrer sind für die Reform der Welt zum Ensemble von Entwürfen verantwortlich, sondern Denker, die die metaphysische Paralyse der Zukunft aufhoben. Darum kommen Gestalten wie Schelling, Hegel, Bergson, Heidegger, Bloch und Günther, vielleicht auch schon Kusanus, herausragende Plätze im Pantheon der »zeitgenössischen« Philosophie zu. Diese Autoren waren es vor allen anderen, die mit der Evakuierung der Zeit und der Novität aus dem Sein ein Ende machten. Sie zersprengten das tote Gehäuse der Ontologie, indem sie die Zeit und das Novum ins Innerste des Seins versetzten.

2

Die altgriechische Mythologie hatte die Revanche der Zeit an der Ewigkeit von ferne vorausgeahnt, als sie sich die Andeutung gestattete, wonach sogar die unsterblichen Götter sich mit einem Verhängnis höherer Ordnung arrangieren müs13sen: Die Griechen nannten diese Schicksalsmacht die Moïra. Sie verkörperte eine anonyme Größe im Hintergrund des gestalthaften Seins. Aus dem Unsichtbaren wirkend, teilte sie allen Größen das Ihre zu. Sie besaß Vollmacht über die Einteilungen, die Portionen, die Lose, die Schicksale. Sie »waltete« als Macht vor der Macht, als Gerechtigkeit vor der Gerechtigkeit, als Schicksal vor den Schicksalen. Sie erlaubte dem Regime der Olympier, ins Dasein zu treten, indem sie kraft einer Gewaltenteilung im Absoluten die Geltungsbereiche der Hauptgötter voneinander abgrenzte: Über das Unterirdische wird Hades als Herrscher eingesetzt, über das von Wasser Bedeckte Poseidon, über das Sichtbare unter dem Himmel Zeus. Wo jedem aus dem Ganzen das Seine zugesprochen ist, tut die Zivilisierung der Götter den maßgebenden Schritt.

Wie weit sind wir hier bereits entfernt von den ungeschliffenen Macht-Monstren der vor-olympischen Gewalten, die stets alles im ganzen dominieren wollten! Ebenso weit sind wir noch vom Gott der Philosophen entfernt und seinem zyklothymen, barmherzig-zornigen Doppelgänger, dem Gott der Theologen! Von den letzteren ist bis heute nur wenigen bewußt, was sie anrichteten, als sie den Einen auf Kosten der Vielen überhöhten. Mit ihrer fatalen Unterscheidung von Gott und Götzen lösten sie eine theozidale Epidemie aus, die noch immer nicht ausgeklungen ist. Hatte nicht schon Jesaia die Götter der Anderen als angemalte Stücke Holz abgefertigt?[6] Hat nicht Nietzsche, noch immer in der Tonart der monotheistischen Religionssatire, bemerkt, es gebe »viel mehr Götzen als Realitäten in der Welt …«.[7] Nachdem der Eine die übrigen an den Rand gedrängt hatte, verdäm14merten die Götter im Exil. Dennoch meinen bestallte Theologen nach wie vor der Welt den besten Dienst erwiesen zu haben, als sie einen Großteil der Menschheit von einem in sich zerrissenen Gott abhängig machten, dessen Einzigkeit durch die klug maskierte Unverträglichkeit seiner höchsten Eigenschaften erkauft war.

In ihrem suprematistischen Eifer hatten die religiösen Theologen darauf bestanden, Gott gleichzeitig mit den strahlendsten Attributen zu bekleiden: Allmacht und Allwissenheit.[8] Sie bedachten nicht, daß sie mit der simultanen Proklamation dieser Eigenschaften einen Real-Widerspruch hochexplosiver Natur ins Höchste implantierten: Entweder ist Gott allmächtig, dann bleibt sein schöpferischer Wille in aller Zukunft für Neues frei und kann von seinem Wissen immer nur nachträglich gespiegelt werden; oder er ist allwissend, dann müßte er all seine Schaffens-Macht verbraucht haben; nur so dürfte er auf das Universum des Gewesen-Seins in einem ewigen Feierabend zurückschauen.

Das alteuropäische Denken brauchte anderthalb Jahrtausende, um den im monotheistischen Gottesbegriff verborgenen Widerspruch zur Zündung zu bringen. Das Aufbrechen der so lange verhüllten Kontradiktion wurde zumeist als die atheistische Krise der Neuzeit mißverstanden. In Wahrheit wurden Macht und Wissen, für das Obere wie das Untere, voneinander entflochten und neu konfiguriert. Während aber die jüngere christliche Theologie, die protestantische vor allem, sich zur Zukunftsoffenheit der Moderne bekehrt und sich mit Gottes Allmachtsverlust mehr oder weniger 15stillschweigend abgefunden hat[9], macht der aktuelle Islam von Allahs Allmacht weiter viel Aufhebens. Doch da auch Allah längst zu Neuem unfähig geworden ist und an seine Schöpfer-Vergangenheit fixiert bleibt, kann er seine vorgeblich weiterhin virulente Allmacht ausschließlich durch den Willen zur Auslöschung verworfener Geschöpfe unter Beweis stellen lassen.[10] Die jungen Mörder und Selbstmörder, die zum äußeren Dschihad aufbrechen, haben ohne jede Theologie erfaßt, wie sehr ein Gott vom Typus Allah eine unmögliche Figur abgibt, sobald man ihn vor dem Hintergrund einer modernen, das heißt von menschlichen Kreativitäten dynamisierten Welt betrachtet. Wohlgemerkt: Daß alle Menschen früher oder später sterben, darf man, fern jeder Gottesvorstellung, aufs Konto von Natur oder Fatalität setzen. Doch daß man einzelne Sterbliche vorzeitig auslöscht und daß die Auslöscher dabei nicht selten sich selber dumpf-heroisch opfern, soll nun allen Ernstes den Beweis des Geistes und der Kraft Allahs bedeuten. Die jungen Fanatiker ahnen nicht, in welchem Maß sie mit ihren Aktionen die Sterilität einer abgelebten Theologie-Kultur unter Beweis stellen. Es wird eine Weile dauern, bis die Einsicht zunimmt, wonach der von Islamisten verübte Terror gegen »Ungläubige« innerhalb und außerhalb des »Hauses des Islam« die Vollzugsform der Allah-Dämmerung darstellt. Attentate sind mißratene Beweise eines Gottes, der die Welt nicht mehr versteht.

Im Zentrum der theologischen Krise des Islam steht die ungeklärte Kreativitätsfrage. Sie ist zugleich die Frage nach der Technik und nach dem Recht zum Bild. Mit koranischen 16Mitteln ist das Problem nicht zu lösen. Tatsächlich nehmen die islamisierten Nationen summa summarum an der schöpferischen Moderne, insbesondere in ihren technischen Zuspitzungen, bisher nur vom Standpunkt des Anwenders teil. Sie haben sich nicht auf das Plateau der »technischen Existenz« begeben.[11] Sie produzieren nicht, was sie benutzen; sie generieren nicht, was sie in die Hand nehmen. Sie haben die translatio creativitatis[12] weder akzeptiert noch als Aufgabe der Zeit begriffen.

Es wäre übertrieben, wollte man der impliziten Theologie des griechischen Mythos eine Vorahnung dessen unterlegen, was in anderen mythologischen Überlieferungen eine »Götterdämmerung« hieß. Die Moïra impliziert immerhin den Gedanken an ein Regime, das den Göttern ihre »Verfassung« liefert. (Rousseaus Behauptung, ein Volk von Göttern werde sich unvermeidlich demokratisch regieren, ist metaphysisch ignorant, denn nach allem, was man von Göttern wissen kann, neigen sie spontan zur Hervorhebung eines Souveräns.) Von einem möglichen Ende der Unsterblichen sagt die Moïra nichts.

Gleichwohl hat sich in einigen dem Dichter Aischylos zugeschriebenen Dramen um den Titanen Prometheus eine Vorwegnahme post-olympischer Verhältnisse angedeutet. Prometheus soll kraft seiner vorausschauenden Intelligenz über das Regime des Zeus hinausgeblickt haben: Es heißt, er habe angeboten, seine bedrohlichen Visionen mit Zeus zu teilen, wollte dieser ihn von seiner ewigen Marter am Kaukasusfelsen befreien. Zeus – von Allwissenheit in eigner Sache offenbar weit entfernt – soll auf den Handel eingegangen sein und Prometheus »entfesselt« haben. Er tat dies, um zu erfahren, ob ihm von einem virtuellen Sohn das 17gleiche Schicksal drohe, das er seinem Vater Kronos bereitet hatte, als er ihn während des Beischlafs mit Gaia entmannte. Daraufhin nahm Zeus Abstand von der Zeugung eines zur Nachahmung des Vaters begabten Sohns und leistete Verzicht auf die pikante Nymphe, die als mögliche Mutter des Zeus-Mörders bereitstand.

Bis zu diesem Punkt bleiben die Vorahnungen von Unruhen in den Häusern der Götter auf dynastische Phasenwechsel begrenzt. Die Griechen der klassischen Jahrhunderte können sich eine Palastrevolution im olympischen Bezirk ohne weiteres vorstellen; eine Götterdämmerung indogermanischen und nordischen Stils bleibt ihrem Temperament unvertraut. Die stoische Ekpyrosis-(Weltbrand-)Doktrin ist ein später, aus dem mittleren Orient importierter Exotismus.

Um dem Ereignistypus »Götterdämmerung« näherzukommen, bietet die germanische Mythologie prägnanteres Material. Freilich streiten die Gelehrten bis heute mit diversen Gründen darüber, ob die Götter-Dichter des alten Nordens den verzehrenden Brand am Ende der Zeiten schon früh aus eigenen Stücken ersannen oder ob erst die Bekanntschaft mit der christlichen Apokalyptik ihnen die Lust am Untergang nahegebracht hatte.

Halten wir fest, daß Ragnarök – zuweilen mit »Weltende«, zuweilen mit »Götterdämmerung« übersetzt – sich durch eine Periode genealogischer Deregulierungen ankündigt. In deren Folge schlagen Brüder sich gegenseitig tot, Väter erwürgen ihre Söhne, und Eltern vergehen sich an ihren Nachkommen. Auf kosmologischer Ebene geschieht Entsprechendes. Der Riesenwolf Fenris verschlingt die Sonne und den Mond, die Sterne erlöschen. Nach einem Winter von tausend Tagen, in welchem der Sommer seine Aufgabe, einen Winter vom folgenden zu trennen, nicht mehr erfüllt, bebt die Erde, Berge stürzen ein, der Ozean überflutet das 18Festland, der Weltbaum zittert, und alles, was lebt, wird von Grauen erfüllt. In der letzten Schlacht zwischen den Muspelheim-Göttern und den archaischen Monstren stirbt Thor am Gift der von ihm getöteten Riesenschlange, während Odin vom Wolf verschlungen wird. Der Kampf steht unter dem Gesetz der nahezu gesicherten gegenseitigen Vernichtung. Zuletzt legt Surt (»der Schwarze«, ein skandinavisches Pendant zu Vulcanus) das Feuer an die Welt und läßt das Bestehende niederbrennen. Aus dem Inferno gehen einige Götter und ein Menschenpaar als Überlebende hervor. Ihre Aufgabe wird es sein, einen neuen Lebenszyklus zu stiften.

Es besteht hier kein Anlaß, auf Analogien zwischen der Ragnarök und dem Mahabharata bzw. der Apokalypse des Johannes einzugehen. Auch sind wir nicht betroffen von der Sorge, ob das Wort »Götterdämmerung« den Ausdruck »Ragnarök« richtig übersetzt. Es deckt, den Aussagen der gelehrten Literatur gemäß, ein Spektrum von Bedeutungen ab, die vom »Tod der Götter« bis zur »Erneuerung der göttlichen Gewalten« reichen. Auch Richard Wagner scheint von der Angemessenheit des Ausdrucks nicht durchwegs überzeugt gewesen zu sein: Nach dem Zeugnis Cosimas[13] soll er während der Arbeit am vierten Teil des Rings des Nibelungen mit der Idee gespielt haben, das Stück »Göttergericht« zu nennen, »denn Brünnhilde hält Gericht über sie« (sc. die Götter). Folglich wäre es dem Komponisten, dem die Renaissance des Motivs »Götterdämmerung« alles verdankt,[14] nicht so sehr um einen nordisch kostümierten Untergangs-Mythos gegangen als vielmehr um die Richtigstellung eines sittlichen Fehlers, der von alters her ins Gewebe der Welt 19eingeflochten ist. Seine Götterdämmerung ist ein moralisches Reinigungs-Drama; sie will keine Phänomenologie des Geistes für die Bühne sein. Sie kennt keine Erbsünde, doch einen Erbfehler. Von sinnreicher Symbolik bleibt die Tatsache, daß Wagners Göttersitz Walhall durch die Scheite des gefällten Weltbaums in Flammen aufgeht: Das alle Proportionen sprengende Finale des Bühnen-Festspiels läßt sich so lesen, als sei die Profanierung des Welt-Organismus durch seine Zerstückelung in Holzscheite die spirituelle wie materielle Ursache für das Verglühen der Götter.

Die Bühnen-Götterdämmerung legt einen definitiven Pessimismus offen. Wagners Textbuch resigniert vor der metaphysischen Verschlissenheit der alten Götter. Sogar Brünnhildes erhabener Freitod ist aus kultureller Sicht nicht wertvoller als Emma Bovarys Selbstmord. Ein gewisser Anarcho-Vandalismus behält das letzte Wort. Von einem neuen Schöpfungszyklus ist nicht die Rede. Die »Untergangsbrunst«[15] reißt alles an sich. Die Gründe hierfür bleiben innerhalb des Kunstwerks unverständlich.

3

Richard Wagners Beitrag zur Darstellung der Götter-Agonie läßt sich aufrufen als Zeugnis der Einsicht, wonach die Freiheit des Willens seit geraumer Zeit in die Kunst abgewandert ist. In der bewegten Welt kann der Mensch nur durch Anknüpfung an sein »eigenes« schöpferisches Potential – und an das seiner Schicksalsgefährten – eine Spur von 20Freiheit, das heißt von Offenheit auf Kommendes, erfahren. Die Emigration der Kreativität in Kunst und Technik besitzt epochalen Charakter. Ohne sie wäre das Wort »Moderne« ein leerer Schall. Als erster Denker Europas hat Giambattista Vico diese Bewegung auf den Begriff gebracht, als er das Weltalter der Götter von der Epoche der Helden und der des Menschen unterschied. Diese Reihenfolge läßt sich als progressive Inkarnation umschreiben. Wo Götter waren, sollen Menschen werden. Wo Menschen sind, nimmt Künstlichkeit zu.

Die philosophische Beachtlichkeit von Wagners Werk hat ihren Grund darin, daß es die drei Sphären auf engem Raum aneinander rühren läßt. Es evoziert eine anstrengende Beinahe-Gleichzeitigkeit von Göttern, Helden und Menschen. Wagners Meditation über die Macht der Zeit manifestiert sich darin, wie er nach den Göttern die Helden präsentiert und nach den Helden die Menschen – ohne für diese Sequenz weitere Begründungen anzubieten. Wagners Neue Mythologie ist eine Hermeneutik des Schicksals. Sie behauptet, durch die reine Vorführung zum Verstehen anzuleiten. Schicksalhaftes kann man nur zeigen, nicht erklären. Schicksal heißt, was geschieht, ohne daß Warum-Fragen zulässig wären.

Wagner steht in philosophischer Sicht nicht nur chronologisch zwischen Hegel und Heidegger. Als Leser Feuerbachs weiß er, Menschen besitzen von Natur aus theopoetische Kompetenz. Als Leser Schopenhauers begreift er, Handeln akkumuliert aus blindem Willen Schuld; als Leser Bakunins ist ihm deutlich, wer Neues will, muß die Brandfackel ans Brennbare legen, das die kritischen Geister das »Bestehende« nennen. Ohne Gang durchs Feuer keine Reinigung. Ohne Asche kein Phönix.

Die Götterdämmerung bildet den Beleg für Wagners Einsicht in die Verbrauchtheit der alten Götter-Garni21tur. Sie können ihrem Ende »nur entgegensehen, nicht entgegenwirken«.[16] Gleichwohl tragen Wagners Spekulationen nur indirekt bei zum Verständnis des Prozesses, den man in ontologischer Hinsicht als translatio creativitatis bezeichnen kann. Der Ausdruck besagt: Nicht Gott allein ist der Schöpfende, auch der Natur und dem Menschen sind schaffende Qualitäten eigen. Offenbar sind eine Vielzahl von Kreativitäten und eine Vielzahl von Reflexivitäten in der Welt, die nicht von einer zentralen göttlichen Instanz reklamierbar, geschweige denn monopolisierbar sind. Die Erde ist ein polyvalent intelligenter Ort. Sie bildet die einzige bekannte Stelle im Universum, für welche die Feststellung zutrifft: Es denkt, auf vielfältige Weise.

Was bisher in mythologischer Rede die »Götterdämmerung« genannt wurde, bedeutet aus philosophischer Sicht nichts anderes als die symbolische Kondensation der Folgerungen aus der These: Es denkt. Präzises Denken stiftet neue Realität. Descartes’ Fehlschluß bestand darin, das Denken für sein Ich zu reklamieren. Das Ich ist aber nichts anderes als der Ort, an dem die Feststellung »es denkt« zuerst auffällig wird. Daß ein Ich sein Denken und das Gedachte sich selber zuschreibt, ist sekundär. Der cartesische Primärgedanke, wonach ich, wenn ich denke, doch gewiß auch bin, erweist sich von Anfang an als steril. Das Cogito bildet ein unerschütterliches Fundament ohne Aufbau. Jeder inhaltlich fruchtbare Gedanke gehört der Sphäre des »es denkt« an (allenfalls des »es denkt in mir«). (In Parenthese: Es macht Fichtes Größe aus, daß er in seinem Spätwerk das Es-Hafte im Ich hervorkehrte; fürs erste braucht es zwar ein Ich, damit es denken kann, aber hinter dem Ich, das ich unmittelbar kenne, weil ich es gesetzt habe, ragt ein Ich auf, das ich nicht kenne und das mich gleichsam als sein Auge 22verwendet. Das unbekannte, durch mich hindurchblickende Ich heißt Gott. Gott ist der Wille zum Inhalt, der Wille zur Nicht-Sterilität, der Wille zur Nicht-Erschöpfung-im-leeren-Selbstbezug, kurzum der Wille zur Welt.)

Um das Phänomen »Götterdämmerung« zu begreifen, sind mythologische Aushilfen unzulänglich. Das Wort »Dämmerung« zeigt immerhin zutreffend an, daß Gott und Götter nicht sterben, sondern verblassen, sei es, ein helleres Licht überblendet das ihre, sei es, eine Verdunkelung macht sie unsichtbar. Lessings (aus Boccaccios Decamerone (1356) entliehene) Ringparabel in Nathan der Weise (1779) markierte eine Etappe im Vorgang des Verblassens. Nach ihr umgibt den Gott der ehemals scharfkantigen Monotheismen eine Aura von amiabler Unentscheidbarkeit.

Das Verblassen als solches muß nicht fatal sein.[17] Wie die Gegenwart beweist, kann sich ein Gott aus der Blässe erholen, wenn die Konjunktur günstig ist, obschon zumeist in einer fragwürdigen Farbigkeit. Im wesentlichen ist das Verblassen irreversibel, weil die moderne Zivilisation durch ihre Kunst, ihre Wissenschaft, ihre Technik und ihren Medienbetrieb so viel künstliches Licht erzeugt, daß Gottes Licht daneben fahl erscheint. Man kann es nur an Sonn- und Feiertagen leuchten lassen, indem man die Kunstlicht-Maschinen abschaltet.

Die letzte Feststellung ist am besten durch einen Rückgang in die Thanatologie der klassischen Metaphysik zu erläutern. Nach der maßgeblichen Schöpfungsgeschichte Alteuropas wurde dem Menschen die fühlend-reflektierende Seele durch göttliche Einhauchung verliehen. Solange die 23Seele ihre Gemeinschaft mit dem Körper aufrechterhält, ist der Mensch, wie die deutsche Sprache tiefsinnig sagt, »am Leben«. Im Universum der Genesis (wie in den meisten Schöpfungsmythen, die einen Demiurgen, einen Maker, einen Ersten Autor kennen) liegt das Summum der Reflexion bei der göttlichen Intelligenz, die kann, was sie will, und will, was sie weiß. Menschliche Einzelintelligenzen sind portionierte Leihgaben aus dem Fundus der Gesamtintelligenz. Diese Gaben werden im Tod von den Geschöpfen an den Schöpfer zurückgegeben. Der Mythos vom Jüngsten Gericht impliziert die Logik eines Leihvertrags: Bei der Rücknahme der entliehenen Seele wird geprüft, ob diese vollständig und unbeschädigt erstattet wurde. Andernfalls vollzieht der Leihgeber seine Rache an den Toten, die ihre Seele beschädigt, entstellt, verdunkelt zurückbringen.

Es versteht sich von selbst, daß innerhalb des klassischen Schemas der Transaktionen zwischen Gott, Seele und Welt keine zusätzliche Intelligenz in die Welt gelangen kann: Dies scheint auch nicht nötig zu sein, da Gott der Schöpfung bzw. der Natur aus seinem unüberbietbaren Reichtum an Struktur bereits so viel Ordnung mitgegeben hat, wie sie zu ihrem Bestand benötigt. Auch der intelligent beseelte Mensch kann die Welt nicht klüger einrichten, als er sie von ihrer Ur-Einrichtung her vorfindet. Darum empfindet er die Welt nicht selten als »Außenwelt«. Er ist ihr Gast, nicht ihr Veränderer. Innerhalb dieses metaphysischen Musters spielt sich der reflexive Verkehr ausschließlich zwischen Gott und den Menschen ab: Der Intelligenzgeber ruft die Seelen ins Dasein und gewährt ihnen genügend Offenbarung, um sie zum Glauben an ihn anzuleiten; im übrigen leben die Menschen »in ihrer Zeit« und geben nach deren Ablauf ihre beseelte Intelligenz an der Pforte des Todes zurück. Noch einmal sei an die subtile Wendung im Französischen erinnert: rendre l’âme. Das protestantische Kirchenlied weiß 24dies auf seine Weise ebenso: Die Welt ist nicht »mein rechtes Haus«.[18]

Die Suggestivität dieser Vorstellungen mag unangetastet bleiben. Dennoch läßt sich nicht verkennen, daß auch sie den Geist einer erhabenen Sterilität atmen. Der gibt dem Welt- und Schöpfungsgeschehen die Form eines Nullsummenspiels. Gott gewinnt bei alledem am Ende nichts, indes die Menschen, sofern sie problematisch gelebt haben, die Verdammnis riskieren. Unter dem klassischen Schema des Verkehrs zwischen Gott und Seelen ist ein Zufluß an Intelligenz zur Welt hin undenkbar. Mehr als die Hervorbringung von hinreichend ähnlichen Nachkommen vermag die nach-babylonisch in Einzelkulturen zerstreute Menschheit unter diesen Prämissen nie zu leisten.

An dieser Stelle bringt sich der Einspruch der Moderne gegen die klassische Metaphysik zur Geltung. Der Sache wegen muß dieser die Form einer alternativen Deutung des Todes annehmen. Es ist nicht auszuschließen, daß der Mensch im Tod seine »Seele zurückgibt«, aber die Annahme, die Welt bleibe vom Weggang einer intelligenten Seele aus ihr unberührt, entspricht nicht mehr der Erfahrung von symbolisch und technisch aktiven Menschen in höheren Zivilisationen.

Tatsächlich waren Menschen, wohin man sieht, weltweit als die theopoetischen Tiere tätig. Doch soviel sie in ihre Götterdichtungen investierten, sie erweisen sich gerade durch ihren theopoetischen Furor als die Denkmäler errichtenden Lebewesen. Sie betätigen sich in den Hochkulturen als Produzenten, die die »Halle des Gedächtnisses« mit Materialien anfüllen; sie wirken als Sammler von heiligen und profanen Memorabilien; sie funktionieren als Verwalter von »Kulturbesitzen« und als Wächter über Patrimonien. Diese 25Feststellungen lassen sich in keiner Weise mit der Grundvorstellung der klassischen Thanatologie zur Deckung bringen, wonach der Mensch im Tod seine Seele an Gott ohne Abzüge zurückgibt. Vielmehr hat es den Anschein, als habe der Mensch, in dem Maß, wie er »kreativ« wird, die Kompetenz erworben, etwas von seiner intelligenten Seele in der Welt zurückzulassen. Zwar gibt er im Tod »sich selbst« zurück, jedoch hat er nicht selten zugleich ein »Werk« geschaffen, das auf der Weltseite aufbewahrt wird und dort zum Ausgangspunkt weiterer Schöpfungen und erneuerbarer Vermächtnisse werden kann.

Das Phänomen der »Götterdämmerung« hat also mit transzendenten Verhängnissen auf Götterebene so gut wie nichts zu tun. Es betrifft ausschließlich das Verhältnis zwischen den kreativen Intelligenzen und der Welt. Will man den Schicksalsbegriff weiter bemühen, beträfe dieser die Tatsache, daß die höheren Kulturen unter die Rückwirkung ihrer Kreativität geraten. Je weiter in ihnen die Akkumulation der artifiziellen Effekte voranschreitet – und je mehr diese Effekte dem Gesetz der Selbstintensivierung unterliegen (in kybernetischer Terminologie: dem positiven Feedback) –, desto intensiver macht sich die Überschattung der Natur durch die Kultur bemerkbar und desto unaufhaltsamer vollzieht sich das Verblassen der göttlichen Seite.

Es ist kein Zufall, daß die Frommen seit jeher die Großstädte als Brutstätten des Atheismus beargwöhnt haben. Sie taten dies zu Recht, da der Stadtbewohner ständig von den Beweisen des Geistes und der Kraft rein menschlicher Milieubildung umgeben ist. Der Name Babylon steht seit den Tagen des Tenachs (christlich: des Alten Testaments) für den Jahrmarkt der Künstlichkeiten. Der lenkt unvermeidlich ab von dem Einen, das not tut. Die artifizielle Umwelt der Stadt verweist ihre Bewohner mehr auf sich selbst und auf die 26architektonischen Ambitionen der Vorfahren als auf das Werk der Götter oder des Gottes. Daß Metropolen wie Jerusalem, Rom, Benares als heilige Städte überlebten, beweist bloß, wie es manchen priesterlichen Eliten gelang, ihre Städte als Theater von gebauten Gottesbeweisen zu mystifizieren. In Chicago, Singapur oder Berlin und anderen urbanen Agglomerationen der Erde wäre ein solches Manöver a priori mißlungen.

Will man in philosophischen und kulturwissenschaftlichen Begriffen offenlegen, was es mit der Dynamik der Götterdämmerung auf sich hat, ist es nötig, die klassisch metaphysische Vorstellung von der Rückgabe der Seele im Tod zu revidieren. An die noble Idee der Heimkehr der Seele zu einer transzendenten Quelle braucht hierbei nicht gerührt zu werden. Es wird jedoch unumgänglich, die Figur des Testaments bzw. des »Nachlasses« von Grund auf neu zu überdenken. Gerade in der kreativistisch bewegten Zivilisation der Moderne, in der sich das Artifizielle zu immer neuen Höhen potenziert, läßt sich das Abfließen von menschlicher Intelligenz in »Werke« oder Artefakte nicht länger ignorieren, obschon auch heute deren Schöpfer wie seit jeher der Sterblichkeit unterliegen. (Der Zweit-Abfluß der Massenkultur in den Abfall ist ein andres Thema.)

Aus dieser Sicht bildet der Nekrolog die Schlüsselgattung zum Verständnis des Prozesses der Zivilisation. Beim Dahingang eines Kreativen hält die agitierte Welt für eine Sekunde inne und meditiert die Überführung eines work in progress ins globale Archiv. Während der meditativen Sekunde sind wir dem Phänomen Götterdämmerung näher als sonst.

Vom Abfließen von Intelligenz in informierte Strukturen mit relativer Haltbarkeit hat zuerst Hegel mit seinem Konzept des »objektiven Geistes« Notiz genommen. Der Ausdruck war metaphysisch zu voraussetzungsvoll, als 27daß er ohne Abstriche ins Vokabular der Humanwissenschaften hätte integriert werden können. Man hat ihn diskret durch den unverbindlichen Terminus »Kultur« ersetzt. Doch auch in dem oft unerträglich vagen Kultur-Begriff ist der Nachklang des Grundphänomens nicht zu verkennen: Stets geht es um das Einfließen lebendiger Reflexivität in objektivierte und materialisierte Strukturen, ob es Zeichen sind oder Rituale oder Institutionen oder Maschinen. Ihnen allen kommt, sobald sie sich bewähren, die Qualität eines Nachlasses oder eines Vermächtnisses zu, das die Präsenz des lebenden Urhebers nicht mehr voraussetzt. Die thanatologische Bedeutsamkeit von Büchern, Häusern, Kunstwerken, Behörden und Maschinen erweist sich darin, daß ihr »Funktionieren« – als Lesbarkeit, als Bewohnbarkeit, als Benutzbarkeit, als Fortsetzbarkeit – sich von ihren Urhebern abgelöst hat und zu einer Art von Eigenleben befreit ist. Das haltbare Artifizium überlebt seinen Schöpfer oft um ein vielfaches von dessen Lebensspanne. Das summierte Licht der Nachlässe überstrahlt mit der Zeit die Vorstellung eines transzendenten Urhebers und taucht das Seiende im ganzen ins Kunstlicht der Zivilisation. Mit gutem Grund hat Gotthard Günther von der »historischen Raserei der Hochkulturen«[19] gesprochen: Sie ergibt sich aus der Evolutionsbeschleunigung durch die vereinten Wirkungen von Schrift, Schule, Technik, Kunst, Reichsbildung, Archiv und Askese.

Ideenhistoriker haben das 17. Jahrhundert als die Schlüsselzeit der beginnenden Moderne bezeichnet, weil seit damals nicht nur einzelne unverbundene Erfindungen das Licht der Welt erblickten. Epochemachend wurde diese Periode, weil in ihr das Erfinden als allgemeine Methode der Innovation erfunden wurde. Der Ingenieur ist eine Erfin28dung des 17. Jahrhunderts – auch wenn sein Name schon zweihundert Jahre früher auftauchte, gleichzeitig mit dem des Virtuosen. Damals rührte die Abenddämmerung Gottes an die Morgendämmerung der menschlichen Kreativität. Diese hat in den folgenden dreihundert Jahren die Welt stärker verändert, als Millionen Jahre natürlicher Evolution es vermocht hätten.

Zum Verständnis der Gegenwart als Zeit wachsender Komplexitäten und Kompliziertheiten gehört die Einsicht in die Vermehrung der Dämmerungen. Wir haben es nicht mehr nur mit dieser oder jener Götterdämmerung zu tun, die den Mythologen, den Theologen und den Künstlern zu denken gab. Wenn Götterdämmerungen aus der Dynamik der Erfindungs-Kulturen als solchen folgen, so liegt die Vermutung nahe, daß künftige Dämmerungen auch vor den Mysterien der menschlichen Erfindungskraft nicht haltmachen werden.

Seit dem frühen 20. Jahrhundert ist erkennbar, wie eine diesseitige Seelendämmerung die metaphysische Götterdämmerung überlagert. Dies ist folgerichtig, insofern Gott und Seele in der klassischen Metaphysik ein Tandem bildeten. Das Verblassen der einen Instanz läßt sich nicht leicht ohne das Verdämmern der anderen denken. Das Aufkommen der Tiefenpsychologien um 1800, der Wiener Psychoanalyse um 1900 und die Aufhebung beider in den Neuro-Kognitionswissenschaften ums Jahr 2000 sind unmißverständliche Indizien dieses Vorgangs.

An die Seelendämmerung schließt sich folgerichtig eine Intelligenzdämmerung an, in deren Verlauf zahlreiche Leistungen des menschlichen Geistes mehr und mehr auf die »zweite Maschine« übertragen werden – um Gotthard Günthers 1952 (in einem Kommentar zu Isaac Asimovs Roman Ich, der Robot) geprägten Terminus aufzugreifen. Im Pro29zeß-Universum der zweiten Maschinen werden die Reste der alt-indoeuropäischen Seelen-Konzepte säkularisiert.

Angesichts des offenbar unaufhaltsamen Geschehens drängt sich die Frage auf, was nach der Entzündung der künstlichen Lichter von dem ewigen Licht der Seele bleibt, nachdem diese ein gut Teil ihrer vormaligen Leuchtkraft an die klug und immer klüger gemachten Welt-Dinge, die computerisierten Objekte, abgegeben hat. Die erste Maschine hatte die Seele ermächtigt, die zweite zwingt sie zur Selbstbefragung.

Müssen wir uns wirklich mit der Suggestion befassen, die Erfinder der Künstlichen Intelligenz hätten sich in die freigewordene Position des Macher-Gottes gedrängt? Folglich sollten sie wie dieser mit dem Aufstand ihrer Kreaturen rechnen? Gibt es eine Erbsünde der Maschinen? Sollen Maschinen an ihren Menschen glauben, oder wird es einen Ahumanismus der Robots geben?

Was sollen wir den seit Jahrhunderten aufflammenden antimodernen Hysterien antworten, die unterstellen, der Mensch möchte »werden wie Gott«? Und wenn die Antwort lautete: Wollte Gott, nach christlicher Grundlehre, Mensch werden, dürfte jemand sich wundern, daß der Mensch, seiner noblen Herkunft von einem Macher gewiß, zweite Maschine werden will?

Die Konsequenzen des immer rascheren Abfließens von Menschenreflexionen in Maschinenreflexionen sind unabsehbar. Gegenbewegungen bezeugen ihren Protest. Man wird Staudämme bauen gegen die Fluten externalisierter Intelligenz. Um in der Terminologie der Tradition zu sprechen: Wir leben nicht mehr bloß inmitten der ersten analogia entis, Gott  Mensch, sondern mit der zweiten, Mensch  höhere Maschine. Das Sein ist in sich selbst als Gefälle von Mächten und Intelligenzen verfaßt. Nicht wenige der klügsten unter den geistig virulenten Zeitgenossen – nennen wir Hawking 30und Hariri anstelle von einigen Nennenswerten – drücken ihre spirituellen Sorgen in der Vision von der Überwältigung der Menschen durch ihre digitalen Golems aus.

Vielleicht taucht die Unterscheidung von Gott und Götze, in technische und politische Register übersetzt, unter den Bürgern der Moderne demnächst von neuem auf. Für sie wird theologische Aufklärung – die etwas ganz anderes ist als instinktive Ablehnung von Religion – eine schicksalhafte Aufgabe.

Lassen wir das vorerst letzte Wort dem Denker, der das Phänomen der Künstlichen Intelligenz früher und durchdringender als alle Zeitgenossen reflektiert hatte. Gotthard Günther schreibt am Ende seines Aufsatzes Seele und Maschine (1956):

»Die Kritiker, die beklagen, daß die Maschine uns unsere Seele ›raubt‹, sind im Irrtum. Eine intensivere, sich in größere Tiefen erhellende Innerlichkeit stößt hier mit souveräner Gebärde ihre gleichgültig gewordenen, zu bloßen Mechanismen heruntergesetzten Formen der Reflexion von sich ab, um sich selber in einer tieferen Spiritualität zu bestätigen. Und die Lehre dieses geschichtlichen Prozesses? Wieviel das Subjekt von seiner Reflexion auch an den Mechanismus abgibt, es wird dadurch nur reicher, weil ihm aus einer unerschöpflichen und bodenlosen Innerlichkeit immer neue Kräfte der Reflexion zufließen.«[20]

312 Ist die Welt bejahbar?

Über den Wandel der Grundstimmung in der Religiosität der Moderne mit überwiegender Rücksicht auf Martin Luther

1 Die exzentrische Verschärfung

»Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht, / Zernichten der Heuchler erschlichene Macht!« Des Priesterkönigs Zarastro feierlich-unwidersprechliche Deklamation, mit welcher Mozarts »Oper« Die Zauberflöte (uraufgeführt im September 1791) endet, zieht die beiden Hauptmotive der theologischen wie der politischen Aufklärung in eine kompakte Drohung zusammen. Wo auch immer die Aufklärung ihre Bühnen betritt, vernunftreligiös inspiriert oder mit dem Pathos einer Befreiungsbewegung, dort nimmt sie sich vor, die mit »der Nacht« verbündete Despotie zu verjagen und die Systeme etablierter Heuchelei zu entlarven. In diesem Drama kann die Hauptdarstellerin niemand anderes sein als die Sonne selbst.

Schikaneders kindlich-volkstümliches Aufklärertum hatte die kritische Stelle in der psychopolitischen Konstruktion des ancien régime nicht schlecht getroffen. Die Allianz von Thron und Altar in den klerikokratisch gestützten Monarchien Alteuropas war tatsächlich seit jeher von einem konstitutionellen Heuchelei-Problem begleitet. Seine Reflexe gingen ins volkstümliche Bild der mittelalterlichen Kirche ein; sie sind von ihm ebensowenig wegzudenken wie die alte, stumme Überzeugung der kleinen Leute, man dürfe unter den Großen der Welt kaum einem trauen. Vom 32späten Mittelalter an fungierten der heuchlerische Priester und der ausschweifende Mönch als Standardfiguren des populären Realismus; zu ihnen gesellte sich vom 16. Jahrhundert an der Konsultant des Fürsten, der Trickster, der die Täuschung lehrt, um ihr nicht selbst zu erliegen. In der Literatur des Barock wurden Lebensklugheit und maskierte Existenz bis zur Ununterscheidbarkeit zusammengerückt. Ja, mußte man die Welt insgesamt nicht von alters her als den Inbegriff der Falschheit, Tücke und Verstellung ansehen? Galt nicht Frau Welt als die Heuchlerin par excellence, von vorn die üppige Dirne, die Glück verspricht, von hinten das schaurige Totengerippe? Seit der Heraufkunft des Bürgertums portraitierte man den Hypokrit neben dem Bastard und dem Schauspieler als eine Schlüsselfigur der sich etablierenden Wissenschaften vom Menschen. Man weiß vom Menschen unter seinesgleichen nicht genug, solange man die Allgegenwart Tartuffes nicht bemerkt hat. Wo Idealisten plädieren, sind Scheinheilige nicht weit. Die französischen Moralisten hatten den Ton vorgegeben: Sobald der Altruismus sich in Schale wirft, blitzt das Unterkleid des Egoismus hindurch.

Die seit dem späteren 19. Jahrhundert oft portraitierten Charaktermasken des Verbrechers und des Geheimagenten bezeugen die moderne-typische Aufmerksamkeit für Phänomene verstellten Verhaltens, weit über die seit dem 18. Jahrhundert verbreitete Denkfigur des entlarvten Priesterbetrugs hinaus. Die Grundstimmung der »bürgerlichen Gesellschaft« ertönt in dem Motiv der »verlorenen Illusionen«: Es verrät, wie sehr sich die Fronten zwischen Heuchelei und Aufklärung verschoben hatten. Wenn vom 19. Jahrhundert an die Heuchelei-Kritik in den Hintergrund geriet, so nur, um ihrer erweiterten Auflage als Ideologie-Kritik den Vortritt zu lassen. In dieser wurde die Großmacht der Verstellung, quasi um eine Oktave tiefer, in klassenbedingte 33Illusionssysteme und halbautomatische Selbsttäuschungen transponiert.

Ein Jahr nach der Uraufführung der Zauberflöte spitzte sich die Bühnen-Skepsis gegenüber der Heuchelei der Mächtigen auf den Straßen von Paris in eine bewaffnete Raserei gegen die neuen Masken der Hypokrisie zu: In der Terreur, die von 1792 bis 1794 wütete, ergriff die »Zernichtung« »erschlichener Macht« das Ruder. Ihre Protagonisten, Jakobiner an erster Stelle, waren von der Überzeugung durchdrungen, sie allein, die Generalbevollmächtigten des Lichts, seien imstande, die neuen wie die alten Heucheleien zu durchschauen. Sie widmeten sich der selbstsendenden Mission, die Reinheit der Revolution zu bewahren und den verstellten Patrioten zusammen mit den heimlichen Parteigängern der früheren Zustände die Maske vom Gesicht zu reißen oder das Gesicht vom Rumpf.