Rudolf Zacharias reist nach Berlin. Dort will der Dokumentarfilmer, Essayist und ewige Gastdozent die Vernissage seiner früheren Studentin Milena Sonntag besuchen. Thomas Lehrs großer Roman spielt an diesem einen Sommertag des Jahres 2011 – und zugleich in einem ganzen Jahrhundert. Denn in ihrer Ausstellung Schlafende Sonne zieht Milena nicht nur eine künstlerische Lebensbilanz, sondern sucht nach Schlüsselbildern ihrer Zeit. Themen, Epochen, Augenblicke, die um Jahrzehnte auseinander liegen, rückt Thomas Lehrs kunstvolle Sprache in unmittelbare Nachbarschaft, macht sie zu unserer eigenen Gegenwart. In großen Bildern und packenden Geschichten entsteht ein überwältigendes Fresko dieses deutschen Jahrhunderts: tragisch, komisch, grotesk, und doch immer wieder ganz persönlich und intim. Thomas Lehr hat seinen größten Roman geschrieben. Schlafende Sonne ist Teil eines erzählerischen Großprojekts, das sich über mehrere Romane erstreckt.

 

Hanser E-Book

Thomas Lehr

 

Schlafende Sonne

 

Roman

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

Für Dorle

 

 

Die Spirale ist ein Versuch, das Chaos unter Kontrolle zu bringen. Sie hat zwei Richtungen. Wohin stellst du dich, an den äußeren Rand oder mitten in den Wirbel? Näherst du dich vom Rand, bedeutet es Angst, die Kontrolle zu verlieren; das Sich-Hineinwinden ist ein Sich-Zusammenziehen, ein Rückzug, eine Verdichtung bis zum Moment des Verschwindens. Setzt du in der Mitte ein, bedeutet dies Bejahung – die Bewegung nach außen repräsentiert Geben, auch ein Auf-Geben der Kontrolle, sie ist ein Vertrauensbeweis, positive Energie, das Leben selbst.

Louise Bourgeois, Standpunkte

 

 

Aber in Wirklichkeit geht es um Macht und Freiheit, um Schwermut und Betörung, die so sorgfältig im Inneren der Spirale kodifiziert sind, dass man sich dabei täuschen und nicht sogleich erkennen kann, dass dieser Taumel des Raumes den Taumel der Zeit bedeutet.

Chris Marker, Sans Soleil

Teil 1  

MORGENGRAUEN – TRÄUME

1. IHR TICKET/TIME SLOT

Dein Stern, Jonas, nähert sich als fahles Licht, das in die Straßen fällt wie Staub aus einer anderen Welt. Dort liegt es nun mit sich verstärkendem Glanz. Bald wird etwas sichtbar werden, in der Mitte der Stadt. Das Ereignis (aber auch deine kleinen Schweinereien!). Die von obskuren Handzetteln versprochene Offenbarung. Ankündigung der Göttin der Kernfusion, die es mit atomaren Lichtblitzen an den Tag bringt. Erwartungsvolle Besucher versammeln sich, schweigend, feierlich erregt, sich mehr aneinander wärmend als drängelnd. Natürlich befummeln sich einige schon, mir kann man nichts vormachen. Es sei ihnen gegönnt, sie sollten von angenehmen Orten herkommen, von geselligen Anlässen, sich leicht überhitzt fühlen, so dass sie die Kühle genießen, die Erfrischung des Übergangs. Wären sie eben erst aufgestanden, fühlten sie sich aus dem Bett gezerrt. Dann herrschte das Morgen-Grauen, in dem man abgeführt wird, stumm und wie betäubt. (Exekution der Ehebrecher am Rand einer Müllkippe, am Rand der Stadt, am Rand der Welt. Bin ich verrückt?) Sie aber sind willkommene Gäste, Eingeladene. Erwählte für die Transformation! Mir gefiele es, wenn sie einfach wach geblieben wären, etwa in den Restaurants gegenüber. Allerdings will ich andächtige Besucher und auf gar keinen Fall den Einfluss von Alkohol. Nehmen wir Pilger, die um vier Uhr morgens den Berg Sinai erklommen haben, um den Sonnenaufgang zu erleben (zu unrasiert, womöglich Sandflöhe im Ohr), oder Kletterer vor einer nur im gesamten Tageslicht und mit Anstieg im Dunkeln bezwingbaren Wand (zu aufgeregt und zu entschlossen). Vertraue mir. Meine Zunge über deinem Bauch, das Kurzschwert der Rache, oszillierende Metamorphose zwischen Fleisch und Metall, rasch schwankend in jedem Augenblick, raues nasses spitzes Katzenzüngchen oder blanker Stahl? Es ist schwierig, ich gebe es zu. Außerdem haben wir noch ganz andere Probleme. Wie kann man im Morgengrauen eine Ausstellung eröffnen? Keine gewöhnliche Ausstellung noch dazu, sondern etwas Großes, Museales, Kunstprotziges, ein Halbes-Lebenswerk-Guckkasten-Labyrinth, wie es kaum einer je vergönnt wurde! (Sehr kleine Preisschildchen.) Stell dir vor, es geht keiner hin. Zu meiner Erleichterung sehe ich mehr und mehr Besucher in den Straßen. Sie nähern sich auf den Gehsteigen, betreten die von keinem Gefährt belästigten Fahrbahnen, stauen sich an den Häuserecken, vor ins Pflaster eingelassenen Bäumen, in Hofeingängen, auf einem leeren Parkplatz. Mit einem solchen Andrang hat niemand gerechnet. Es fehlen Ticketboxen vor der Tür, hilflos in der Menge treibend, mit blinkenden elektronischen Anzeigen (weihnachtskerzenrot oder tannengrün). Noch keiner der dreisten, selbstherrlichen Kassiererinnen und Wächter ist eingetroffen, die man brauchen wird, um die Dinge so schlecht wie üblich zu regeln. TIME SLOTS! Es ist alles zu grau und zu früh, für die Kunst hat die Zeit hier noch keinen Schlitz. Schlitz, Jonas, dein neues Nebenfach. Erst jetzt fällt mir auf, wie wenig Bilder es gibt, auf denen man die Morgendämmerung sieht. Schlitze im Morgengrauen. Sie sind überall und doch so selten gemalt wie die Augenblicke, in denen du mit Tränen und Wut und einer grauenhaften inhaltsleeren Sentimentalität erwachst, als hättest du unmittelbar vor der Geburt ein wüstes Leben hinter dich gebracht, dessen Erfahrungen (aber nicht deren Auswirkungen auf den Organismus) hastig gelöscht wurden. Ich schrecke auf und frage mich: Wie soll ich mir verzeihen? Denn immer noch ist mein erster Gedanke, auf deine Seite zu rollen und dir ins Ohr zu flüstern: Komm, Jonas, gib mir die Hand! Lass uns durch die Galerie unseres gemeinsamen Lebens gehen, das gerade erwachsen zu werden schien und so jung doch nicht sterben sollte (und pass auf die Kinder auf, du weißt, ich verliere mich in den Ausstellungen und in den Museen, ICH WERDE EIN BILD!). Weiterhin auf dem Straßenpflaster: Geburt des Lichts, die Ur-Droge, weißes Pulver aus dem Weltall, das in alle Farben explodiert. Aber noch bleibt die Szenerie schattenhaft, delikat, huschend, mehr Gedanke als Substanz. Dicht an dicht stehende Besucher. Zuverlässig feierlich erregt. Selbst das ist mir möglich, die sublime Erhebung, die Kirchenschiffseligkeit, auch wenn du es warst, der Ministrant gewesen ist. (Einmal, zweimal, mit der Hand, mit dem Mund, im Beichtstuhl am Arsch, man kennt das ja alles mittlerweile von euch Katholiken, aber mein Kopf, Jonas, war einmal fast eine Nonne!) Die Konturen lösen sich nur sehr langsam voneinander. Ölfarbe, Leinwand und Pinselhaar sind zu grob, zu sinnlich für die hauchfeinen Übergänge, diese Mikromillimeterfinesse macht mich wahnsinnig, es verlangt mich nach fotografischen Platten, empfindlichsten Emulsionen darauf (nicht das digitale Zeug, auf das ich so lange angewiesen war). Schemenhafte Vorgänge, obszönes Gekrieche – oder bloße Hilfestellungen? Ach was! – in der widerstrebend dahinsinkenden Nacht. Sie sprengen dort alles gleich ins Paradies, Jonas. Was kannst du dafür? Nichts. Ich blieb auf der Erde zurück, mein Körper lag neben dir als weidwundes, angeschossenes (schmählich angefahrenes) Reh. Der dich zurückweisende Gipshaken des rechten Arms. Erst im Inneren der Ausstellung sollen die Verhältnisse deutlich werden. IHR TICKET, TIME SLOT. Die Mühe, den Eingang zu finden! Man tastet über rauen Stein, Metall, Glas, endlich durch eine kurze (erregende erschreckende wo hört sie auf) Leere, dann spürst du den Stoff. Es sind schwere nachtblaue Vorhänge, die nahezu schwarz wirken (Berliner Blau oder Preußisch Blau, Pigment Blue 27-77510) und sich nur mit hohem Kraftaufwand beiseiteschieben lassen, nein, gar nicht. Infolgedessen: Schlitzen Sie selbst! Jeder Besucher erhält ein fürchterliches japanisches Messer, lang wie ein Unterarm, sticht zu und schlitzt. Nur auf diese Weise, streng nacheinander und jeder für sich, gelangt man in die Kunst, durch den so knapp wie möglich geöffneten Spalt. Ist sie jünger als ich, frischer als ich, duftet sie makellos wie frischer Babythunfisch, ist sie schön eng, weil sie noch niemals kreativ wurde mit ihrem nutzlosen verwöhnten Becken, anders als ich mit unserer glorreichen Brut? Nein, sie ist eine gestandene Frau und Mutter. Wie konntest du DEINE KINDER vergessen? Jonas! Der Ursprung der Ausstellung. Im Inneren kannst du dich kaum aufrichten. Du musst die Anspannung loswerden, jenes nervtötende Verlangen nach Sex. Die Türpfosten am Ende des schmalen Korridors bestehen aus zwei gewaltigen weiblichen Körpern (schwer atmend, schweißüberströmt und nackt, dies ist der Männer-Eingang), die karyatidenhaft aufragen und so eng einander gegenüberstehen, dass es nötig ist, sich seitwärts zu drehen und hindurchzuzwängen. Es gibt Künstlerinnen, die in diese prachtvollen Bäuche rote Zeichen hineinritzen würden, mit blinkenden Schweizer Taschenmessern. Ein Hakenkreuz, ein Davidstern, fertig ist der Lack. Ich tu so was nicht, das musst du mir zugutehalten. Auch wenn ich Teile meines Verstands verloren habe, in dieser Stadt am Meer. Die großen Frauen werden dir jetzt helfen, Jonas. Ihr überwältigender synthetischer Intimgeruch! Alles geht sehr rasch vonstatten, irgendwie hydromechanisch, das gebe ich zu, Säfte aus Laboratorien, Druck und Gegendruck, catch as catch can! Schon werden deine Knie weich, das Messer entgleitet deiner Hand, die Dame an deiner Vorderseite zieht sich zurück, mit einem hinreißenden pneumatischen Seufzer. Sie hat kein Gesicht, sie hat alle Gesichter (das bedeutet eine austernhaft undeutlich muschelige, glänzend grässliche, schleimige, weißlich triefende Larve, Jonas, mein armer Spitz). Beruhige dich, es ist schon vorbei. Du bist befreit und schwach, kindlich und leicht, sanft und wieder aufnahmefähig, endlich bereit für die Kunst (das, was man auch nach dem Sex noch unbedingt braucht). Schon stehst du im ersten der neu erschaffenen Räume, wenn auch noch mit zittrigen Knien. Vor dir erscheint eine neue Schrift, auf einem nie zuvor erblickten Bild:

2. SEESTÜCK/FRAU AM MEER

Was ist die Sonne? Der einzige Stern, der dem unbewehrten Auge größer erscheint als ein glänzender Punkt. Ich betrete ihren hell lodernden Kreis, schüchtern, im Raumanzug meiner nackten Haut. Es gibt keine Ruhe auf der Sonne, sagst Du. Wie denn auch? Der Zorn einer glühenden Scheibe, der sich durch mein irdisches Gehirn bohrt, die Höllenfeuerkugel, die mich als Astronautin verbrennt. Fliehe nicht. Was ist die Sonne? Eine ständige Explosion? Ich reiste ans Meer und flog in die Luft. Aber sie sprengten nur meine Seele. Danach lag mein Körper nächtelang neben Dir und beleidigte Dich. Es war ein Feuerwerk, sagte ich früher, wenn es gut war. Ich sagte auch: eine Explosion. Eine anhaltende Explosion, eine Sonne in meinem Bauch. Nachdem ich in die Luft geflogen war, ertrug ich es nicht mehr zu explodieren. Keine Sonne mehr. Schlafende Sonne.

(Was ich dachte, als ich explodierte./This is not my blood. Tafel 1)

 

 

Auf die leuchtende Sonnentafel folgt ein kleiner Raum, ein Kabinett eigentlich nur. Hier erholen sich die Augen vom grell auseinandersplitternden Dornenglanz der vermeintlichen Explosion. Es herrscht ein samtenes Dunkel, und nichts geschieht, bevor sich die Netzhaut nicht beruhigt hat. Nach einer ganzen Weile erst erscheint auf einer dem Betrachter gegenüberliegenden Wand ein Rechteck, blaugrau, verwaschen noch, aber mit frischen Tönen. Man geht unwillkürlich darauf zu, um schärfer zu sehen. Sobald man die ideale Distanz eingenommen hat, erscheint von links her die Gestalt einer Frau. Sie ist vor Beginn der Hotelfrühstückszeit aufgestanden. Über die Schultern hat sie eine Strickweste gelegt, die sie mit einer nervösen Hand vor der Brust zusammenhält. Nach hundert Schritten erreicht sie den Strand. Er ist noch silbrig grau und läuft mit der schläfrig schwappenden sinusförmigen Wasserlinie auf einen Hotelkomplex zu. In der obersten, vielleicht zwanzigsten Etage des größten Baus blinkt eine Neon-Werbetafel, rosafarben, langsam und regelmäßig pulsiert sie im rauchigen Himmel, ein unerbittliches, würfelförmiges, blasses Herz. Die Frau starrt es wütend an. Scheiße, Scheiße!, flüstert sie und beißt die Zähne aufeinander, bis sie ihre Kaumuskeln schmerzen. Was machst du hier? Sie bemüht sich, tief ein- und auszuatmen. Blau und Grau, verhaltene Violetttöne, das Brillantweiß vereinzelter elektrischer Beleuchtungen. Erde, Wasser, Elektrizität und Luft, was macht sie hier, sie ist erkaltetes Feuer, ausgebranntes Fleisch, der Ludergeruch von Asche steigt auf. Mit der Schuhspitze berührt sie ein verkohltes Holzstück, die Reste eines gewiss verbotenen kleinen Lagerfeuers, das einheimische Jugendliche oder irgendwelche Rucksacktouristen aus Europa oder sonst woher am Vorabend entfacht haben. Zelten darf hier auch keiner, klar, mein Jungfernhäutchen riss in einem Zelt, Scheiße, denkt sie, alles sind doch nur Membranen, all diese Zeltplanen, Einkaufstüten, Herzbeutel, Diaphragmen, Häute, im Raum, in der Zeit, mehr Abstand gibt es nicht, was trennt dich von deinem siebzehnten oder siebenundzwanzigsten Geburtstag, von deinem siebenunddreißigsten, der in acht Monaten stattfindet, von deinen Kindern, von deinem Mann, von den fiebrigen letzten Tagen zu Hause, in denen du diese Reise geplant und vorbereitet hast, als hättest du vor Mördern fliehen müssen, was aber nur du wusstest, während alle anderen deine Panik freundlich erschrocken hinnahmen, sich redlich bemühten, dir zu helfen. Mama muss euch jetzt ganz schnell mal betrügen (ist aber Papas Schuld, wer zog denn zuerst blank). Fast hätten sie dir noch den Koffer gepackt. Seit drei Tagen ist sie hier, und seit drei Tagen schon kann sie den Impuls, den Willen, die Anmaßung nicht mehr begreifen, die sie tatsächlich an diesem Strand ausgesetzt haben. Der Herzwürfel über dem Hotelkomplex scheint immer langsamer zu pulsieren. Dreh dich um. Im Gegensatz zur geschwungenen, schaumgekräuselten Strandlinie ist der Horizont von einer beruhigenden geometrischen Klarheit, er hat die Noblesse der Entfernung, allerdings kippt er ein wenig nach rechts. Es ist allein deine Entscheidung, weiter auf das Wasser zuzulaufen, sagt sich die Frau und wendet sich ab. Wieder geht sie auf das Reklameherz im zwanzigsten Stock zu, bei einem solchen Puls läge man schon im Koma. In diesem gleichmäßigen Erwachen und Ersterben kann sich keine Nachricht verbergen. Blutgeschmack, Eisenstaub im Mund. Ein Vorbote? Sie rafft erneut die Weste vor der Brust zusammen. Schlucke es herunter. Der Nektar des Lehrers. Es war dieselbe Diskussion damals, dasselbe Thema. Wenn ich große Themen anfasse (eines nach dem anderen), wenn ich mit aller Energie und allem Einsatz arbeite, wen kümmert dann mein Spießerleben? Dich, sagt der Lehrer. In der Mitte eines flachen schwarzen Gevierts, das vor dem Hotelkomplex im Zwielicht brütet, springt plötzlich ein gleißend blaues Rechteck auf, schießschartenähnlich. Menschliche Silhouetten erscheinen darin, man hört für einige Sekunden das gedämpfte Wummern einer Diskothek, dann ist alles wieder schwarz und man kann sich fragen, ob die Gestalten nun auf einen zukommen oder nicht.

3. BILDNIS DES AUSEINANDERLIEGENDEN PAARES

Nicht Fisch, nicht Nacht, nicht Tag, nicht Fleisch, denkt Jonas oder etwas in ihm, kein Schlaf mehr und noch kaum Erwachen. Das Pendel Nacht scheint zurückzuschwingen in die schwarze Zone, es könnte auch stillstehen, glaubst du einen Augenblick lang, Milena, aber wenn es ein Pendel ist, das zwischen tiefstem Dunkel und strahlender Helligkeit schwingt, dann hat es jetzt, im Übergang, die größte Geschwindigkeit, und es wird Tag. Muss gleich Tag werden, bleib noch eine Weile, denkt Jonas und meint damit zwangsläufig unbescheiden die ganze Erde, was würde geschehen, wenn sie die Drehrichtung änderte (Katalog der physikalischen Konsequenzen), nicht einmal plötzlich, sondern dezent, nach einem ungeheuren sanften Bremsvorgang im Lauf einer Woche etwa. Bleib, verschwinde, bleib, sagt Milena zu dem blonden Kopf zwischen ihren Beinen, dessen Ohren sie mit den Innenseiten ihrer Oberschenkel verschlossen hat, der, als gäbe es einen Mechanismus, ihr eine lange muskulöse Zunge herausstreckt und sich dann so plötzlich in Luft auflöst, dass ihre Knie auf eine Weise gegeneinanderzuschlagen drohen, wie sie es seit dem Unfall gar nicht mehr können und noch bevor sie sich ein Gesicht dazu aussuchen konnte. Blond, aha. War das schon Betrug? Milena weiß nicht einmal, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelte, bei einem Kopf ohne Gesicht ist das kaum auszumachen, war es mehr? Dachte sie nur an eine Frau, um Jonas eine ganz besondere, geschlechtsspezifische Wunde zu schlagen? Der langgliedrige schmale Körper der Galeristin oder Evas kräftiger Rücken (immer wieder das schöne Modell, so wäre es doch fast Selbstbefriedigung). Übe deine Zunge, Jonas, der du gerade zu spüren glaubst, wie dich die Erde im Stich lässt, sich unbarmherzig weiterdreht, eine blau-weiß marmorierte Glaskugel im Weltall, über der eine gebogene Schattenfront zurückweicht. Bald enthüllt sie bei dreizehn Grad, fünfundzwanzig Minuten östlicher Länge die Stadt. Es muss etwa fünf Uhr sein. Die Linie sieht nur von sehr weit oben oder vielmehr weit draußen betrachtet so scharf gezogen aus, vom äußeren Rand der Troposphäre her, in der Milenas sogenannter Lehrer am Vortag noch schwebte, in einem Stahlzylinder mit dünner Außenhaut (die Fensterreihen darin, Jonas, sollten hier an die Surrealismus-Experimente deiner allseits bewunderten Frau denken lassen, jene teils gläsernen Menschen mit Hautfenstern wie die Schubladen in den Figuren Dalís). Ich muss mich wieder mit deinem Gebiet beschäftigen, mein lieber Jonas, ich brauche LICHT für meine Ausstellung. Selbst Rudolf interessiert sich neuerdings für die Sonne. Er kam von Japan her, der Wurzel des Tags, direkt aus dem roten Feuerkreis der Flagge Ninomaru. Vor Monaten, noch bevor der jüngste große Flare (gewaltiges Aufblitzen im All) Schlagzeilen machte, hatte er sich an Jonas gewandt und mit einer kollegial tuenden Mail um eine Erklärung gebeten. Weshalb scheine die Sonne in den vergangenen beiden Jahren wie eingeschlafen? Stimmte es, dass manche Fachleute, in Erinnerung an das sogenannte Maunder-Minimum Ende des siebzehnten Jahrhunderts, eine neue Eiszeit befürchteten? Jonas hatte höflich auf das prinzipiell Chaotische der solaren Aktivität hingewiesen und auf eine Randbemerkung zur prinzipiell langweiligen Wiederkehr der Eiszeitbefürchtung verzichtet, sich aber selbst dieser unterdrückten Spöttelei geschämt und dann gewissenhaft auf einen Fachartikel über jene besonders starke, fast bis zu den Polen vordrängende Gasströmung aufmerksam gemacht, die am Ende des jüngst vergangenen Sonnenzyklus beobachtet worden sei. Eine Eiszeit, als wäre ich auch daran schuld, denkt er jetzt und vergräbt den Kopf in den Kissen, nur um dem schmerzlich abweisenden Gesicht seiner Frau zu begegnen. Selbstporträt als Eiskönigin, das hatte sie noch nicht gemalt. Passte auch nicht zu ihr. Mein liebes Kind, gerade hatten wir einen Mordsfeuersturm auf dem Zentralgestirn! Sie ist viel mehr für die Glut und die Hitze geschaffen, er sieht sie in ihrem türkisfarbenen Bikini auf einem Korbstuhl in der Sonne sitzen, vor sich ein wackeliges Holztischchen, den flimmernden Laptop darauf. Nach vierzehn Tagen Ehe-Eiszeit scheint es kaum mehr möglich, sich über ihre warme Schulter zu beugen (die Frau mit dem Glasfenster über dem Herzen stört kein neugieriger Blick), ihr nach Sommer und Strand duftendes Haar an der Wange zu spüren und mitzulesen, was der Lehrer, ihr alter Professor, der sich heftig gegen diese Bezeichnung wehrt, in einer seiner unaufhörlichen E-Mails aus Toronto, New York, Tokio oder Singapur geschrieben hat: Ich bin gekommen, Dich zu erlösen, weil der Kaiser es so will! Das ist bildlich gemeint, nicht physikalisch, sagt Milena jubelnd, reißt ihr Bikinioberteil von den Schultern und Brüsten, stößt das Tischchen beiseite (der Computer zersplittert lautlos auf den Lavasteinplatten des Bodens, es war ein Öko-PC aus purem Eiskristall), erhebt sich und tritt wie eine zu opfernde Jungfrau dem riesigen Feuerball entgegen, der plötzlich über dem Meer schwebt, dreihunderttausend Mal schwerer als die Erde, eine ungeheure thermonuklear befeuerte Kugel, in deren Fegefeuer Rudolf brät, zur Strafe für Millionen unangebrachter schlauer Bemerkungen. Nein, er kommt nicht zu Schaden. Der Tenno hat ihn mit einer feuerfesten, schwarzen, einem Kendo-Kampfanzug ähnelnden Rüstung ausgestattet, um Milena heimzuholen. Jonas gibt sich nicht gleich geschlagen, da er doch einiges mehr über die Sonne weiß als dieser endlos, erdlos um die Welt jettende Philosoph und Kulturwissenschaftler. Einmal war er so weit gegangen, sie als unsere wahre Heimat zu bezeichnen, als wäre er ein seifiger Moderator in einem jener mit Computeranimationen verstopften Fernseh-Wissensmagazine. Zur Idee der solaren Heimat fielen Milena lässige Manet’sche Figuren ein, und sie malte sie, nackt ausgestreckt neben ihren Picknickkörben unter Feuerbäumen und regenbogenartig aufschnellenden Protuberanzen, Le déjeuner au soleil, die schwarz gebrannte Malerin und ihre weißen Modelle, ruhend auf einer Art strahlender Gürteltierhaut. Er hatte ihr etwas über die Granula erzählt, den brodelnden Panzer der Sonne, aber vergessen zu sagen, dass die Glutzellen zumeist einen Durchmesser von über tausend Kilometern aufwiesen. Dennoch ist der Rasen aus Feuer jetzt die Lösung, der schwarze Entführer mit der Kendo-Maske muss hinnehmen, dass Jonas, seine Frau und noch einige andere nackte (unkenntliche) Modell-Freunde ganz einfach auf der Sonne liegen und frühstücken können. Sie treiben auf den angenehm warmen Schollen der Granula übers rote Feuermeer nach Westen (Westen! Immer weiter weg von Japan, daran hat der kulturwissenschaftliche Stümper Rudolf gar nicht gedacht!). Jonas verliert das Bild, glaubt dafür aber, im nächsten Augenblick an den auf der rechten Betthälfte liegenden Körper seiner Frau stoßen zu können. Nach der Explosion (Milena zieht dieses Wort vor) kauften sie Einzelmatratzen, die sie anstelle der bisherigen Zweischläfrigen in den Buchenrahmen fügen konnten. Der vierjährige Jakob schaffte es gleich nach dem Auswechseln, ein Füßchen zwischen die beiden Solitäre zu stoßen und sich schmerzhaft das Gelenk zu verdrehen. Jonas rollt ins Leere und erschrickt, als würde er in einen Abgrund fallen. Es ist nur Milenas nachgiebigere verwaiste Matratze. Die dämmrige Masse zweier Berliner Stadtviertel liegt zwischen ihnen, ein weites steinernes Feld, durchzogen von Gleisanlagen, Wasserläufen und Brücken. Aber Entfernungen bedeuten nichts für ihn, die grobe dreidimensionale Wucht der Mauern und Straßen wird sublimiert zu Bildern auf seidenen Vorhängen, leicht beweglich, zerteilbar, im Hyper-Raum der Träume relativistisch gebauscht, ganz nach Belieben verweht. Alles eine Frage der Definition. Modellieren Sie den Raum so, dass er der psychologischen Metrik entspricht. Zu anstrengend jetzt, wirklich. 5:88 Uhr. Der flackernde Blick, den Jonas auf die roten Digitalziffern seines historischen Radioweckers wirft, stellt ihn vor ein neues mathematisches Problem. Im nächsten Moment wird klar, dass nur Rudolf daran schuld sein kann. Skrupellos wütet der philosophische Narr im Zahlenraum und überdehnt die Minuten. Jonas blinzelt kurz. 5:09 Uhr. Schweißnass, allein. Die leere andere Hälfte des Bettes, die Stille der Wohnung. Kein Geräusch aus dem Kinderzimmer. Er hat noch neunzig, nein, einundachtzig Minuten. Du kannst sie jetzt mitnehmen! Ich bin an allem schuld, ich habe keine Rechte mehr! Die Eiszeit ist vorbei, jetzt geht es um den neuesten Ausbruch! Das wollte er dem Traum-Rudolf noch entgegenschreien. Nimm meine Frau und geh! Dabei wird er, Jonas, sich um den Lehrer kümmern müssen, ihn demnächst vom Flughafen abholen, nicht etwa Milena. Die verdiente Strafe. Jener glatte, gebräunte Rücken, die lautlos aufspringende Frucht. Deswegen wird er alles verlieren. Er schließt die Augen, er möchte zurück auf die Sonnenwiese, als nacktes weißes Modell seiner ihm angetrauten Malerin. Nur noch einer unter ihren anderen. Das ist kein Problem, das funktioniert hier sehr leicht. Eine zarte Frauenhand fährt ihm über die Stirn. Sie gehört einer unserer Führerinnen, die alle Besucher nackt und kundig durch die Räume der Ausstellung geleiten. Wir hätten es ihnen allerdings verbieten müssen, dass sie sich zwischen die Beine fassen während der Arbeitszeit. Jonas atmet dennoch oder trotzdem wieder ruhiger, als er die sacht aufgelegten feuchten Finger auf Nase und Mund spürt. Er sieht jetzt wieder große Dinge in der Luft, nur leicht verzerrt durch geschlechtliche Aberration (wir sagen seeing in der Astronomie).

4. ANFLUG DES LEHRERS

Rudolf wird auf jeden Fall zu deiner Vernissage erscheinen, beruhige dich. Dass er einen Tag später erst in Berlin eintrifft, ändert nichts daran. Einer muss den Überblick behalten. All die schlafenden Körper. Vorgestern um diese Zeit stand er am linken hinteren Flugzeugfenster und starrte in die zäh nachgebende wattige Finsternis. Weshalb kommt er einen Tag später? Um dich zu erledigen. Um dich zu retten. Nein, wegen dieser anderen Frau natürlich. Die Verwirrung, die er damit hervorgerufen hat, muss ihm gefallen. Angenommen, er liegt jetzt im Bett wie wir. Träumt. Aber was? Und neben wem? Wenn ich mir das nicht vorstellen kann, dann will ich es nicht. Als Wissenschaftler ist er dagegen gewesen, sofort in die Köpfe hineinsehen zu wollen (also es so zu machen, wie er selbst begonnen hat, die Interviews, Chinatown 1977, du erinnerst dich). Morgengrauen und Dämmerung. Hunderte von Träumern im kunstlichttrüben Halbtunnel der Airbus-Kabine, drei Reihen eng zusammengepferchter, in schmerzhaften Stellungen verkrümmter Passagiere, eingesponnen von Bordelektronik, überzischt von Luftdüsen, beschwert von lauwarmen Speisen und fadem Alkohol. Der letzte Bordfilm hatte sich in graue Pixel aufgelöst, die letzte Mahlzeit war längst eingenommen. Vorgestern Nacht und gestern früh. Reinstes Imperfekt strömt aus den Düsen (was das kostet, sie kennen keine Rücksicht auf den Steuerzahler in dieser irren Kunstszene). Es ging nur noch um das ehrliche, zerschlagene, monotone Sich-Voranbohren durch den schwarzen Stollen der Luft, das Ende einer Nachtschicht in einer Art Hightech-Bergwerk. Manche seelenlosen Umgebungen, schrieb er dir, seien perfekte Metaphern des Lebens. Bloßes Weitermachen auf dem Grund einer völligen Erschöpfung. War es das? Wenn man von Asien nach Europa fliege, erklärte er in derselben Mail, habe man die Wahl zwischen einem unerträglich in die Länge gezogenen, wie in die Mittsommernacht hineinbrennenden Tag und einer schier endlosen Dunkelheit. Er bevorzuge Letzteres, die schlafende Sonne (dein Begriff, Milena), obgleich ihm dann früh am Morgen der Blick auf den Himalaya entgehe, einen weiß aufgepeitschten Ozean von Bergen, dessen unfassbare Ausdehnung an die Radikalität eines anderen Planeten erinnere. Niemand schickte eigenartigere E-Mails als er. Hätte er sein nagelneues Mobildings (Smartplug) für eine Echtzeit-Echthirn-Brainbook-Mitteilung genutzt, so hätte er dir im gestrigen Morgengrauen einige Frühmorgen-Tagalptraumfetzen senden können (einhundertsiebenundsechzig Freunde finden das gut) über die bioelektrische Schnittstelle hinter seinem linken Ohr. Verzerrt hättest du auf der Folie eines grauen Bordfensters die Gesichter der Diskurs-Titanen gesehen, die ihn bedrohen wie steinerne Riesenmasken, die stumm die verwitterten Münder bewegen, seine Leibgegner Stenski und Riffle, denen er unweigerlich alle Jahre wieder auf den Podien dieser Welt begegnen muss. Noch fünf Tage, dann werden sie aufeinanderstoßen. Riffle, der unverwüstlich dynamische Thinktank mit den roboter-muttersauähnlich blinkenden Zapfreihen für Harvard-Doktoranden wird seine Statistiken aus dem Zauberhut hervorflirren lassen und wieder einmal darlegen, weshalb es unweigerlich besser wird, obwohl es überall schlecht aussieht, nur nicht auf seinem Bestseller-Bankkonto, wohingegen Stenski, dergroßetänzer2 (wie Rudolf ihn manchmal schreibt, ein fantasievoller Bursche, von dem es heißt, er arbeite neuerdings an einem Opernlibretto über den toten Gott und sich) natürlich das Kaninchen hervorzerren und zerreißen wird, um zu beweisen, dass es aus Plüsch war, jedoch ausgestopft mit dem verrotteten Gedärm einer scheinheiligen Humanität. Er hätte dieses schauderhafte Zusammentreffen absagen müssen, auch wenn es schon vor Monaten vereinbart worden war. Nichtige Show-Kämpfe! Die Müdigkeit, die Frustration, die Nachwirkungen der einsamen Wochen, die hinter ihm lagen, kamen noch zu seiner abgrundtiefen allgemeinen Debatten-Unlust dazu, um die ihm unmittelbar bevorstehende Gefühlsverwirrung zu erklären. Kurz nach der Schilderung seiner Gegner-Phantome hätte er dir in einer seiner spontanen Mails mitteilen können, dass ihn der Anblick einer Frau, die im Himmel auf ihn zutrat, wie ein Stich getroffen habe, absolut und großartig, unumkehrbar wie eine Klinge, die man nicht mehr aus dem Herzen zu ziehen brauchte, weil das Ende schon eingetreten wäre, mit der schmerzlosen Noblesse eines Fechtmeisterstoßes. Seine Reaktion hatte eine objektive Grundlage. Man muss bedenken, dass er entgegen der Wahrscheinlichkeit die Frau weder in den Duty-Free-Shops bemerkt hatte noch bei den Sicherheitskontrollen in einer der glänzenden, öltankähnlichen Stahlsäulen des Flughafens Tokio Haneda, weder auf den grauen Ledersesseln der Lounge noch in der Warteschlange vor der letzten Prüfung der Bordkarten. Sie erschien ihm, in zehntausend Metern Höhe, ohne Vorwarnung, als hätte sie von außen her mühelos die Kabine durchschreiten können, und ihr Anblick gab ihm – darin bestand das gewichtigere Moment des Schocks – nichts weniger als das furchterregende, erlösende Versprechen der Heimkehr. Somit seien zwei Kriterien des Todes erfüllt gewesen, wenigstens des Todes in Gestalt einer Frau. Jene norddeutsch, nein, mittlerweile etwas wärmer, also nordeuropäisch (Linie Hamburg-Malmö-Stockholm) wirkende Blondine, das erotische Desaster seiner Göttinger Zeit. Damals, mit Ende zwanzig, einschüchternd attraktiv, auf eine unglaubwürdige, seltsam aristokratisch sportliche Weise, wie eine langgliedrige Fünfzehnjährige, die durch Zauberei (Klonung, gentechnisches Hochgeschwindigkeitskopierverfahren mit Streckfaktor) oder die jahrhundertealte Blutschande ihrer Familie von blaublütigen Tennisspielern so infantinnenhaft auf die Körpermaße einer Erwachsenen gebracht worden war. Jetzt wärmer, fülliger, er war versucht menschlicher zu denken, nachdem sich der virtuelle Degen in seiner Brust aufgelöst hatte, um eine kaum erträgliche Gefühlsvermengung von Glück und Wundschmerz zu hinterlassen. Cara. Sie hatte ihn aus dem Augenwinkel am linken Backbordfenster lehnen sehen und unwahrscheinliche Minuten lang für einen fremden, rätselhaft starr stehenden, vielleicht gesundheitlich beeinträchtigten Mitreisenden gehalten, den sie schließlich ganz mechanisch und professionell ansprechen wollte, auf ihrem Weg zur Toilette.

Jetzt hätten sie sich beinahe umarmt, und um der daraufhin einsetzenden beiderseitigen Verlegenheit zu entkommen, begannen sie, kaum dass sie sich begrüßt hatten, geschäftsmäßig über den Jetlag zu philosophieren, insbesondere über die Vor- und Nachteile von Schlafmitteln bei der Bewältigung der Ortszeitdifferenzen. (Ich will ihn mir als übernächtigten Charmeur gar nicht vorstellen. Arbeite daran. Sieh aus Caras Augen.) Ganz wie früher redete er nicht laut, nicht angestrengt, akzentuiert sicherlich, aber keinesfalls eifrig. Selbst um fünf Uhr morgens und an einem der garantierten Tiefpunkte seines Lebens erwartete er mit natürlicher Bestimmtheit, dass man ihm das Ohr lieh, auch wenn er gedämpft und wie zu sich selbst sprach und man gegen das Dröhnen von Turbinen anhören musste, die draußen im Morgengrauen wühlten. Alte Dozentenkrankheit. Er kleidete sich weiterhin leger, mit Geschmack, war um den Anschein von Lässigkeit bemüht, allerdings ohne das Verspannte und Angeschlagene verbergen zu können, zumindest nicht vor ihrem geübten Blick. Kaum noch Haare auf dem Kopf. Wie früher hatte er sich einen Zehn- oder Vierzehntagebart stehen lassen, dunkelbraun und inzwischen grau gemasert, schütter in der Umgebung der Lippen, am Kinn dagegen von dichterem Wuchs. Das rief noch immer einen jugendlichen Effekt hervor, wirkte noch, tatsächlich, genau wie der Blick aus den grünbraunen Augen, in denen sie Farne, Moos und Goldpünktchen vorfand, als liefe sie auf einem Waldweg ihrer Kindheit, einladend, offen, halb staunend, halb fordernd, woher nahm er das nur. Würge ihn mit einer der blauen Krawatten, die er zu offiziellen Anlässen trägt (in Marthas Auftrag, denn wenn es um euch beide geht, müsste er eigentlich dich attackieren). Schon standen sie zehn Minuten beieinander und plauderten gegen ihre Fassungslosigkeit und Erschöpfung an. Weil eine der Stewardessen einen größeren Gegenstand (Koffer? Kindersitz? Ausgestopfter Bärenkopf?) an ihnen vorbeizutragen hatte, mussten sie sich aneinanderschmiegen, wollten es, die scheinbar erzwungene Nähe gab ihnen die Gelegenheit einer blitzartigen, gierig extrapolierenden Erfahrung des anderen Körpers. Rasierte weibliche Achselhöhle und irgendein Chanel, mein Gott, dachte Rudolf. Caras Nase erfasste: Schweiß, Citrus-Eau-de-Cologne, Spuren von Maschinenöl und Eisen, die wohl eher zum Flugzeug gehörten, darunter das erwartete Virile und Animalische, dessen natürliche Abstoßung sie erschreckend leicht überwand. Ich musste sofort wissen, ob ich ihn noch riechen kann, dachte sie, ich habe tatsächlich diesen Geruch gespeichert. Um der Stewardess noch mehr Raum zu geben, ließen sie sich in der zuvor von ihr allein belegten Sitzreihe nieder, so rasch und eingespielt, dass Cara ihren Gesprächspartner für einen Augenblick mit Peter verwechselte, dem jüngeren Kollegen, der ihr in Tokio das Verhältnis aufgekündigt hatte. Sie war jetzt noch dankbarer für ihren hastig gebuchten früheren Rückflug, und es erleichterte sie auch, dass Rudolf immer weiterredete (um Kopf und Kragen, er hatte unvermittelt diesen Eindruck). Mit einer seltsam unscharfen Wiedererinnerung betrachtete sie seine Hände. Mittellange Finger, gepflegte Nägel, durchaus praxistauglich. Wäre er kein Gelehrter (kein Windhund, ewiger Gastdozent, fahrender Hofnarr, wie Martha sich ausdrückte) gewesen, hätte sie beim Beruferaten auf etwas getippt, das eine ausgeprägte (fein-)mechanische Komponente besaß, etwas wie Zahnarzt oder Orgelbauer, vielleicht auch ein Spezialist für gewagte orthopädische Operationen (aber das war nun eindeutig sein jüngerer Bruder). Jetlag zum Zweiten. Langgezogener strahlender Kaugummi eines überdehntes Tags oder dunkler Tunnel der Zeit. Sieh sie von außen, was weißt du, was sie dachten. Sie sprachen über Reiseziele, irgendwie naheliegend. Von Frankfurt aus wolle er gleich weiter nach Berlin, er werde erwartet. An was hattest du gedacht, als du so lange am Fenster standest? Rudolf deutete auf das Ensemble der wie zusammengefallene Marionetten in ihren Sesseln hängenden Statisten (Passagiere). Nichts als Schlafende hatte er sich vorgestellt, an all die ruhenden Körper unter ihnen habe er denken müssen, zehntausend Meter tiefer, erreichbar nach einem mentalen Sturz durch das eisige Gewebe der Luft. Der große gemeinsame Sprung – war das ein Vorschlag? Er wirkte nicht verwirrt, eher tröstlich, als fiele man ganz sacht neben ihm, Hand in Hand, auf die Heere von Schlafenden zu. Die Dächer, Mauern, Zimmerdecken hätte er sich transparent wie aus Glas vorgestellt, gleichfalls die Bettkissen (wie auch die Schlafanzüge, Negligées, Baumwollnachthemden). Eine Art riesiger dreidimensionaler Röntgen- oder besser Nacktscanner-Aufnahme all derjenigen, die jetzt gerade noch nicht aufgestanden seien. Das ergebe ein apokalyptisches Bild, stellte sie fest. Aber nein, ich wollte mich mit dieser Vorstellung beruhigen, entgegnete er (Mit einer lächerlichen Vorsicht! Als ginge es um etwas, als dürfe er es sich nicht noch einmal mit ihr verderben!), könnte es nicht auch ein paradiesisches Bild sein? Sie bestand auf dem apokalyptischen Eindruck, weil man nicht umhinkönne, an Fukushima zu denken, an die Bilder der Verheerungen um das Atomkraftwerk, die sich in den vergangenen Tagen noch einmal ins Gedächtnis gebrannt hätten, bei all den Fernsehberichten, Trauerfeiern, den Aufrufen, Strom zu sparen im ganzen Land. Wie lange sei er in Tokio gewesen? Vier Monate, sagte Rudolf, und gerade deshalb habe er sich jetzt diese Massen arglos Schlafender im europäischen Raum vorstellen wollen. Er habe an etwas Friedliches und zugleich Überwältigendes gedacht, die leere Leinwand des Tages, auf der sich ganz allmählich ein riesiges Michelangelo-Gemälde abzeichne, die Projektion eines Filmes vielmehr, der Breitwand-Film des allgemeinen Sich-Erhebens, den die ins Licht tauchende Erde drehe. Hätte diese Vorstellung vor der Fukushima-Katastrophe auch schon apokalyptisch gewirkt? Cara hielt auf die gleiche konzentrierte Art den Kopf gesenkt, die ihn schon einmal aus der Fassung gebracht hatte. Nun hob sie das Kinn und befand, der Eindruck eines Untergangs hinge nur damit zusammen, dass er in seiner Fantasie die Leute ausgezogen habe. Allein schon die Nacktheit sorge für düstere Assoziationen? Ein nacktes Paar wirke paradiesisch, eine nackte Menge dagegen ließe stets an die Hölle denken, deshalb wäre Rudolf wohl auch auf Michelangelo gekommen. (Dein Gott, Milena!) Ich hätte auch auf Badestrände verfallen können, protestierte er sanft. Aber dann gab er ihr recht: An den Stränden sei es letztlich nicht anders als in den Vatikanischen Museen, über die nackte Menschenmenge scheine in jedem Fall ein Urteil zu ergehen, das Jüngste Gericht.

Recht theologisch betrachtet, erwiderte Cara, aber Strände seien ja doch ein guter Einfall, die meisten Schläfer erwarte nämlich keine Katastrophe, sondern nichts weiter als der gewöhnliche Tag. Nun, vielleicht sei eben das ihr Urteil, erwiderte er vergnügt, sie wachten auf und würden mit ihrem eigenen Leben bestraft, was allerdings nur dann schlimm sei, wenn sie es bemerkten. Cara lachte leise und wie bei einem Blick durch eine schmale Lichtung sah er sie und sich (so verkleinert, dass er die dramatische Verjüngung um achtzehn Jahre einfach übergehen konnte) vor Marthas Bücherregal in einer dieser mausoleumsähnlichen Gelehrtenvillen im Göttinger Norden stehen, entrückt und seltsam losgelöst von ihrer Umgebung, als wären sie damals schon zehntausend Meter über der Erde geflogen. Wären sie doch nur! Hatte sie nicht eine große Reise geplant? Keine Innenansichten, ich weiß. Cara sah sich jedoch gerade nackt auf ihren jüngeren (Ex-)Geliebten zugehen und hier wollen wir doch Mäuschen spielen: Er ruhte auf einem Hotelzimmerbett im Shinagawa Prince Hotel und verfolgte eine Diskussion über die Verstrahlung japanischer Großstädte an einem Fernsehschirm, ohne ein Wort zu verstehen. Das nackte Vorbeigehen an Katastrophen, die auf einem ausladenden Flachbildschirm stattfanden, so nah, dass sie die fröstelnde Haut erwärmten (Peter hatte kaum aufgeblickt, als sie aus dem Bad gekommen war). Außenseite, ich gehorche: Sie wollte wissen, was Rudolf vier Monate lang in Japan getan hatte, erschrak über ihre Direktheit (oberflächlich, ich meine, das sah man ihr an) und kam deshalb, noch bevor er antworten konnte, auf den sozialen Zusammenhalt der Japaner nach dem Unglück zu sprechen. Selbst in den wenigen Tagen, die sie auf einem Kongress in Tokio gewesen wäre, habe sie zahlreiche Beispiele von Solidarität und Gemeinschaft erlebt. Ein Zusammenstehen könne ein Zusammenhalten vortäuschen, sagte er abwehrend. Nacktheit bedeutet nicht unbedingt auch Nähe, aber ich weiß – sie legte ihm zwei Fingerspitzen auf den Unterarm, mit dem zitierenden, schockierenden, doppelbödigen Unrecht einer treulosen Ex-Geliebten –, in deiner Fantasie war es eine wissenschaftliche Nacktheit, ein methodischer Freikörperzustand, du wolltest die Leute bloß auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Nur so, mit methodischer Gewalt, kann man einen Blick auf das Ganze werfen, bestätigte er. Fühle er sich weiterhin dafür zuständig, für das Ganze und für die methodische Gewalt