Über das Buch

Als Luise Schilling 1921 am Weimarer Bauhaus zu studieren beginnt, hat sie große Pläne. Doch wenige davon haben mit der Huldigung großer Männer wie Walter Gropius oder Wassily Kandinsky zu tun. Sie gerät in den Kreis der Naturmystiker um Johannes Itten und verliebt sich in den schillernden Kunststudenten Jakob, später dann in den politisierten Reklamezeichner Hermann. Zwischen Technik und Kunst, Kommunismus und Avantgarde, Populismus und Jugendbewegung lernt Luise die gesellschaftlichen Utopien kennen, die uns bis heute prägen. Mal unsicher, mal entschieden ringt sie darum, sich als einzige Frau in der Baulehre durchzusetzen. Luise will nicht brav im Haus sitzen, sie will das Haus bauen!

Theresia Enzensberger hat einen Campusroman geschrieben, der mehr ist als nur ein Campusroman: Ein radikal gegenwärtiges Portrait der rasend stillstehenden Moderne voller Intrigen, Freundschaften, Berühmtheiten der Zeitgeschichte und dem Glück der frühen Jahre.

Theresia Enzensberger

Blaupause

Roman

Carl Hanser Verlag

Weimar
1921

Ich weiß immer noch nicht, wo das Direktorenzimmer ist. Die große Uhr in der Eingangshalle zeigt schon kurz vor fünf, und ich irre durch die Gänge, in der Hoffnung, irgendwo ein Schild zu finden. Die Flure sind leer, nur aus der Tiefe des Gebäudes dringen gedämpfte Stimmen und Geräusche. Die anderen Studenten sind wohl noch in ihren Werkstätten. Als ich zum zweiten Mal über die große Wendeltreppe in den dritten Stock komme, sehe ich in der Ecke des Flures eine Gruppe stehen. Zu meiner Enttäuschung sind es Sidonie und die anderen Kuttenträger, vor denen ich mich unmöglich als Neue zu erkennen geben kann. Stattdessen gehe ich möglichst zielstrebig an ihnen vorbei, was ihnen nicht aufzufallen scheint, und biege dann um eine beliebige Ecke. Ich muss einen Jubelschrei unterdrücken, als ich am Ende des Ganges endlich den Namen »Walter Gropius« an einer Tür entdecke.

Auf ein etwas unwirsches »Herein« betrete ich ein helles Zimmer mit einem riesigen Schreibtisch in der Mitte, der unter haufenweise Papier begraben ist. Den Telefonhörer in der Hand, steht Gropius mit dem Rücken zu mir am Fenster. Das dicke Kabel spannt sich zum Apparat. Er ist größer als ich dachte, und obwohl ich sein Gesicht nicht sehe, spüre ich, wie gewohnt er es ist, mit dem größten Respekt behandelt zu werden. Sein Telefongespräch nimmt kein Ende. Vielleicht sollte ich einfach wieder gehen? So tun, als hätte ich den kleinen Briefumschlag mit der Einladung zum Direktor nie bekommen?

»Dann rufen Sie mich doch bitte zurück, wenn Sie etwas wissen … Ja … Guten Tag!« Er spricht kontrolliert, aber seine Stimme ist voll unterdrückter Wut. Der Telefonhörer prallt unsanft auf die Messingärmchen, Gropius dreht sich um und sieht mich geistesabwesend an. »Diese Bürokraten, immer!« Ich versuche ein Nicken, das Verbrüderung gegen die ominösen Bürokraten ausdrücken soll, auch wenn das Gesagte natürlich nicht an mich gerichtet ist.

Kurz scheint sich Gropius über meine Anwesenheit in seinem Zimmer zu wundern, dann sammelt er sich. »Kommen Sie doch herein, setzen Sie sich. Was kann ich für Sie tun?« Jetzt bin ich irritiert, er hat mich schließlich hierher gebeten, wieso ist es jetzt meine Aufgabe, mich vorzustellen? Andererseits funktionieren die institutionellen Mechanismen am Bauhaus vielleicht auch nur nach klassisch bürokratischer Manier: Eine unsichtbare Hand, bestehend aus Protokoll, Regulation und Datierung, führt Menschen zusammen, die am Ende auch nicht so genau verstehen, wie es eigentlich dazu kam. Ich erkläre also, ich sei neu am Bauhaus. Man habe mir bedeutet, ich solle mich vorstellen und meine Mappe mitbringen. Gropius’ Miene hellt sich auf. »Richtig, eine neue Studentin. Verzeihen Sie, dass ich erst jetzt Zeit für Sie habe. Normalerweise sehe ich mir die Mappen sofort an, damit Sie gleich mit dem Unterricht beginnen können, aber die letzten Wochen waren einfach sehr hektisch. Dann zeigen Sie mal her«, sagt er und greift nach dem großen Karton, an dem ich mich bis jetzt festgeklammert habe. Die unerträglich langen Minuten, in denen er sich in meine Arbeit vertieft, verbringe ich damit, durch die großen Fenster in den sommerlichen Hof hinunterzuschauen. Immer wieder mustere ich verstohlen sein Gesicht, seine hohe Stirn, seine buschigen Augenbrauen, die er konzentriert zusammenzieht. Vielleicht kommt es von dem Telefonat, das er eben hat führen müssen, aber es liegt ein großer Ernst in seinem Blick, der seine Autorität noch unterstreicht.

»Es ist unüblich, dass Studenten mitten im Semester zu uns stoßen«, sagt er endlich und gibt mir meine Mappe zurück. »Wie haben Sie denn vom Bauhaus gehört?«

Kein Wort über die Architekturzeichnungen, die ich im Büro eines Familienfreundes angefertigt habe, abends, wenn alle gegangen waren. Ich habe mich damals so erwachsen gefühlt, wie eine echte Architektin, zwischen den akkurat angespitzten Bleistiften, den riesigen Linealen und dem speckigen, durchsichtigen Zeichenpapier.

Ich erkläre, dass mein Vater gusseiserne Pfetten herstellt, was ihn in regelmäßigen Kontakt mit den moderneren Berliner Architektenbüros bringt, unter anderem mit dem von Peter Behrens. Die Entwicklungen in Weimar werden dort mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Ich hätte aber wahrscheinlich trotzdem nie vom Bauhaus gehört, hätte mein Vater nicht unvorsichtigerweise eine Broschüre bei uns im Salon liegenlassen. Er stand meiner Begeisterung für die Architektur schon immer skeptisch gegenüber und hätte den Teufel getan, mir von einer Hochschule zu erzählen, an der man etwas anderes lernen kann, als eine gute Hausfrau zu werden. Meine Bewerbung schickte ich heimlich ab. Als dann die Zusage kam, bedurfte es einiger Überzeugungsarbeit und der Komplizenschaft meiner Mutter, damit er mich fahren ließ. Ich glaube, die Tatsache, dass es am Bauhaus eine Webwerkstatt gibt, war am Ende ausschlaggebend für seine zögerliche Zustimmung.

Obwohl ich mich nach Verbündeten sehne, lasse ich das alles weg und Gropius vorläufig im Glauben, meine Familie stehe hinter meinen Plänen, Architektur zu studieren. Er steht auf und sagt: »Ihre Zeichnungen haben Potential. Aber wir sind hier sehr darauf bedacht, unseren Studenten eine ganzheitliche Ausbildung zu bieten. Im Vorkurs und in den anderen Werkstätten werden Sie sicherlich einiges lernen, was Ihnen auch bei ihrer Arbeit mit der Architektur helfen wird. Wenn Sie Fragen haben, können Sie sich jederzeit an mich wenden.« Obwohl ich mir sicher bin, dass er diese Floskel öfters benutzt, erfüllt mich die Vorstellung, ihn möglicherweise als Mentor zu gewinnen, mit Stolz.

*

Maria sitzt auf meinem schmalen Bett und stopft die Kekse in sich hinein, die Frau Werner uns aufs Zimmer gestellt hat. Der Tee, den meine Wirtin bestimmt wieder aus irgendwelchen Kräutern aus ihrem Garten zusammengepflückt hat, riecht komisch, wir rühren ihn beide nicht an, aber das süße Gebäck ist eine angenehme Abwechslung zu dem Gemüsebrei, der uns in der Kantine vorgesetzt wird. Maria verdreht verzückt die Augen, lässt ihre langen Beine baumeln und sagt kauend: »Ich kann nicht glauben, dass diese albernen Kuttenträger sich jetzt auch noch beim Essen durchgesetzt haben! Ich habe heute Mittag keinen einzigen Bissen heruntergebracht. Dank sei der alten Wernerette und ihrem Backfanatismus!« Maria redet gerne so, mit ironischem Pathos und vielen Ausrufezeichen. Sie fühlt sich wohl hier, wirklich sehr wohl, denke ich und betrachte die Krümel auf meinem Bett. Ich kann ihr nicht verdenken, dass sie mein Pensionszimmer ihrer engen Dachkammer vorzieht, aber manchmal habe ich das Gefühl, sie ist bei mir eingezogen. Weder ihre Verfressenheit noch ihr Hang zur Dramatik spiegeln sich in ihrer schlaksigen Erscheinung. Sie hat fast hagere Gesichtszüge und große, etwas wässrige Augen.

Obwohl wir beide vorgeben, uns nicht für sie zu interessieren, kommt das Gespräch immer wieder auf die Gruppe um Johannes Itten. Meistens machen wir uns über sie lustig; über ihre Gewänder, braune Jacken mit Kapuzen, die Mönchskutten ähneln; über ihre seltsamen Gebräuche, Turnereien und Diäten; und über die Gesänge, die sie manchmal unvermittelt anstimmen. Ich erzähle Maria von meinem Treffen mit Gropius und meiner verzweifelten Suche nach dem Direktorenzimmer, für die sie mich liebevoll auslacht. Dann sagt sie: »Aber mal im Ernst, das ist doch eine Unverschämtheit! Jetzt entscheidet eine Gruppe von vielleicht zehn Leuten über das Essen der gesamten Schule!«

»Ich finde den Fraß auch schrecklich. Aber ich habe gehört, das Budget ist gekürzt worden, vielleicht kann sich die Schule einfach kein Fleisch mehr leisten?«

Maria schüttelt den Kopf. »Ich bin mir sicher, dass die dahinterstecken. Und angeblich zahlen die noch nicht einmal Schulgeld!«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Es gibt Leute, die sagen, es liegt daran, dass sie Juden sind und bevorzugt werden.«

Über das Schuldgeld habe ich nicht mehr nachgedacht, seit ich meinen Vater überredet habe, mich hier studieren zu lassen. Woran erkennt man eigentlich in solchen Fällen, wer jüdisch ist? Mein Bruder Otto redet ständig von den Juden, aber letztlich kenne ich nur eine Familie, die zwei Häuser weiter in unserer Straße in Berlin lebt. Und bei denen würde man auch nur den Vater an den Schläfenlocken und dem Hut erkennen.

Maria sagt: »Ich glaube, das ist Quatsch. Nicht alle Itten-Jünger sind Juden, und die meisten von ihnen waren auch schon in Wien auf seiner Kunstschule. Wahrscheinlich hat er da mit Gropius irgendwas ausgemacht. Trotzdem, gerecht ist das nicht.«

»Kann schon sein, aber schenken wir ihnen nicht zu viel Aufmerksamkeit? Vielleicht sollten wir sie einfach ignorieren«, sage ich.

»Ignorieren! Wenn das so einfach wäre. Hinter jeder Ecke stehen diese albernen Gesangsvögel. Wenn sie wenigstens nicht so exklusiv tun würden! Mit uns reden sie ja nicht einmal. Und Sidonie ist die Schlimmste von allen. Wie die sich immer aufspielt!«

Ich finde Sidonie mit ihren kurzen roten Locken, von denen immer nur ein paar aus der Kapuze herausschauen, wahnsinnig schön, aber das behalte ich für mich.

*

Während der Atemübungen, mit denen wir den Vorkurs beginnen, spüre ich, wie mir der Schweiß langsam den Rücken hinunterläuft. Normalerweise liebe ich die Hitze, mehr, als das für eine durchschnittliche Mitteleuropäerin normal ist. Ich mag es, wenn die Windstöße so heiß sind, dass man meint, sie kämen aus einem Ofen. Ich mag es, wenn es nicht einmal nachts kühler wird und man im Bett das Laken von sich werfen muss. Aber die großen, gebogenen Fenster des Werkraums lassen sich nur zum Teil öffnen, und die Wärme, die seit Tagen über Weimar steht, ist inzwischen auch mir unerträglich. Dafür darf ich endlich am Unterricht teilnehmen, obwohl ich offiziell erst ab nächstem Semester mit dem Vorkurs anfange. Sidonie und die anderen stehen in der ersten Reihe. Sie atmen voller Inbrunst, während die übrigen Studenten nur routinierte Mienen zur Schau stellen. Johannes Itten steht vorne und gibt mit strenger Stimme Anweisungen. Wir sollen tief Luft holen und dann mit weit geöffnetem Mund geräuschvoll wieder ausatmen. Ich bin anscheinend die Einzige, die sich das Lachen verbeißen muss. Ich bin aber auch die Einzige, für die das alles noch neu ist. Jetzt kommt von Itten die Anweisung, sich einen der Metallreste auszusuchen, die in einem Durcheinander vor ihm auf dem Boden liegen.

»Das Ziel ist, das Material zu begreifen. Man kann Materialien auf viele verschiedene Arten und Weisen untersuchen, heute werden wir uns zeichnerisch mit ihnen auseinandersetzen«, sagt Itten. Er trägt eine purpurviolette Kutte, die bis zum Boden reicht und viel teurer und eleganter aussieht als die groben Jacken seiner Anhänger. Er wirkt tatsächlich ein bisschen wie ein Mönch, was vielleicht auch daran liegt, dass er keine Miene verzieht. Seine Anweisungen klingen wie scharfe Kommandos, was mich ein wenig an meinen Vater erinnert und dennoch einschüchtert. Ich starre auf mein leeres Papier und das krumme Metall, das wie ein grotesk verrenkter Wurm daneben auf meinem Tisch liegt. Ich glaube nicht, dass Itten von uns verlangt, einfach nur eine Zeichnung von dem Metallstück anzufertigen. Unauffällig schaue ich mich um. Die anderen haben längst angefangen. Leider kann ich nicht sehen, wie sie die Aufgabenstellung umsetzen. Architekturzeichnungen sind anders, da gibt es keine Unsicherheiten. Es gibt ein klares Ziel, einen Entwurf und feste Maßstäbe.

Ich denke wieder an die einsamen Abende im Atelier. Es bedurfte damals einigen Bettelns, um dem Freund meiner Eltern den Schlüssel zu entlocken, aber immerhin hatte ich dann meine Ruhe. Offiziell verbrachte ich diese Stunden bei meiner Freundin Charlotte, deren Eltern sowieso immer auf Reisen sind. Im letzten Jahr habe ich mehr vor meinem Vater und meiner Mutter verheimlicht als je zuvor. Heute trage ich zum ersten Mal die neuen Zimmermannshosen, die ich vor meiner Reise nach Weimar unter einigem Aufwand gekauft und dann unter meinem Bett versteckt habe. Mein Vater bekäme einen Herzinfarkt, könnte er mich so sehen. Mich erfüllt das mit Genugtuung. Leider war die Hose nicht gerade die richtige Wahl für diese Hitze, sie fühlt sich eng an und mein Hintern klebt am Holzstuhl fest.

Bis eben saß Itten auf seinem Pult und meditierte mit geschlossenen Augen, die langen dünnen Beine unter der Kutte in einem komplizierten Schneidersitz verschränkt. Jetzt ist er aufgestanden, um sich die Zeichnungen anzusehen. Ich habe noch nicht einmal angefangen. Also setze ich hastig ein paar Striche auf das Papier, die sich leider nur zu einer simplen Abbildung des Metallstrangs verbinden. Etwas Besseres fällt mir einfach nicht ein.

Itten beugt sich über meine Schulter und betrachtet meine Skizze. Er riecht nach einer Mischung aus Knoblauch, Bienenwachs und Sauerampfer. Auf seiner Glatze haben sich Schweißtropfen gebildet. Ich würde mich ekeln, wäre ich nicht so eingeschüchtert von seiner Präsenz. Einer der Tropfen löst sich so langsam von der spiegelnden Oberfläche, dass ich mir einbilde, ich könnte ihn noch aufhalten, bevor er mitten auf meinem Papier aufschlägt. Das weiche, dicke Zeichenpapier ist saugfähig, kleine Wellen bilden sich um die Pfütze in der Mitte, die Bleistiftlinie franst leicht aus. »Das werfen wir am besten gleich weg«, sagt Itten, aber er sagt es nicht, weil er meine Zeichnung nass gemacht hat, sondern weil ich offensichtlich die Aufgabe nicht erfüllt habe. Ich sehe ihn ratlos an. »Nehmen Sie das Material in die Hand. Genau, so. Und jetzt schließen Sie die Augen. Wie fühlt sich das an? Versuchen Sie, dieses Gefühl so weit zu verinnerlichen, dass Sie es zeichnen können.« Dann geht er weiter, um sich die nächste Arbeit anzuschauen. Ich finde das Ganze immer noch merkwürdig, versuche aber, mich auf die Übung einzulassen, schließlich will ich nicht versagen. Das Metall ist glatt und nicht etwa kühl, wie man sich das vorstellen mag, aber kühl ist in diesem Raum schon lange nichts mehr. Außerdem fühlt es sich irgendwie sperrig an. Also gut, denke ich, nehme meinen Bleistift und fange an zu schraffieren. Besonders weit komme ich nicht. Die anderen sind schon lange fertig, Itten hält ein paar gelungene Zeichnungen hoch, lässt die Studenten beschreiben, was an ihnen besonders ist, und gibt uns dann den nächsten Auftrag: Wir sollen im Ilmpark nach interessanten Materialien suchen. »In einer Stunde treffen wir uns wieder.« Alle sind erleichtert, viel länger hätte es niemand in diesem Backofen ausgehalten.

*

Schon wieder so eine Aufgabe – woher soll ich wissen, was Itten als interessantes Material empfindet? Ich hebe ein paar Stöcke und Äste auf, wiege sie in der Hand und werfe sie wieder weg. Dabei versuche ich, im Schatten zu bleiben. Der Weg ist von großen, knorrigen Bäumen gesäumt. Ich habe fast alle anderen Studenten aus den Augen verloren, aber das ist mir ganz recht. Ich bin zu matt, um mich unterhaltsam zu fühlen, und die Hose klebt immer noch an meinen Beinen fest. Ein paar Meter weiter taucht zwischen zwei Bäumen ein Turm auf – Neugotik, denke ich sofort. Mein Verständnis der Architekturgeschichte ist lückenhaft, aber über die Gotik hatten wir einen prächtigen Bildband zu Hause, in dem ich über die Jahre immer wieder geblättert habe. Der Bau hier scheint aber nicht besonders alt zu sein. Bleibt nur die Neuauflage. Wie überhaupt jemand auf die Idee kommen kann, so viel später einfach nochmal im selben Stil zu bauen, ist mir unverständlich. In Berlin treiben sie es seit Mitte des letzten Jahrhunderts sogar noch schlimmer, da kopiert man einfach Stilelemente aus den verschiedensten Epochen und bastelt sie zusammen. Ich finde das nicht besonders originell. Aber vielleicht ist das ein Zeichen unserer Zeit. Niemand möchte mehr einen eigenen Standpunkt beziehen oder etwas ernst meinen.

Diesen Gedanken habe ich öfters in letzter Zeit. Statt ihm nachzuhängen, versuche ich, mich wieder auf die Aufgabe zu konzentrieren. Vielleicht findet sich ja bei dem neugotischen Bau ein Material, das als interessant durchgeht. Neben dem Turm kommt ein gedrungener Anbau zum Vorschein. An den Wänden wuchert Efeu, zu seinen Füßen wachsen ein paar Bäume, und das flache Dach ist von einer filigranen Balustrade gesäumt. Die hohen Steinwände, die hier so unvermittelt in die Höhe ragen, strahlen eine angenehme Kühle aus, und der Schatten riecht modrig. Eine große Holztür ist von wuchtigen Säulen gerahmt, auf denen sich zwei Figuren leicht nach vorne beugen. Ich halte an und überlege, wen sie darstellen könnten. »Darf ich vorstellen, Vroni und Peter, die Wächter des Tempelherrenhauses«, sagt eine helle, etwas heisere Stimme mit österreichischem Akzent. Beim Tor an die Wand gelehnt sitzt ein junger Mann auf dem Boden und blickt amüsiert zu mir hoch. Er ist ungefähr in meinem Alter und sieht mit seinen dicken, hellen Locken und den langen Wimpern aus wie ein sehr hübsches, knabenhaftes Mädchen. Mir ist meine Verwirrung wohl anzusehen, denn er sagt: »So nennen wir die beiden. Ich habe natürlich keine Ahnung, wer hier wirklich dargestellt werden soll. Bestimmt wieder irgendwelche Heiligen.« Er springt auf und streckt mir die Hand hin: »Ich bin Jakob.« Erst jetzt merke ich, dass er eine Mönchsjacke trägt. Komisch, denke ich, ihn habe ich noch nie mit Sidonie und den anderen gesehen.

Ich reiße mich zusammen. »Luise. Und was machst du hier?« »Interessante Materialien sammeln, was sonst«, sagt er und lächelt ein Lächeln, von dem ich genau weiß, dass es schalkhaft sein soll, dessen Wirkung ich mich aber trotzdem nicht entziehen kann. Ich verstehe nicht, wie ich ihn im Vorkurs übersehen konnte.

Er hebt zwei Steine vom Boden auf. In den einen war einmal ein Relief eingemeißelt, der andere ist groß und rund und sieht so aus, als wäre er vom Wasser weich geschliffen worden. Ich entscheide mich für die Wahrheit und gestehe, dass mir bis eben nicht klar war, was ein interessantes Material ausmacht, dass ich vollkommen einsehe, dass der Kontrast zwischen dem von Menschenhand und dem von der Natur geformten Steinen als interessant gelten kann, dass ich aber darüber hinaus immer noch nicht weiß, wonach ich suchen soll. Jakob grinst wieder so unverschämt und bietet an, mir einen seiner Steine zu überlassen. »Wir sagen einfach, wir haben zusammen gesucht. Johannes hat nichts gegen Kollaborationen.« Dass Jakob ausgerechnet mit mir zusammenarbeiten will, kommt mir zwar komisch vor, denn die Kuttenträger bleiben normalerweise lieber unter sich, aber ich bin so froh darüber, dass ich sofort zustimme.

Als wir das Atelier betreten, sind die meisten schon zurück, manche arbeiten bereits an ihren Skizzen. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber uns treffen irritierte Blicke. Vor allem Sidonie taxiert uns eine Sekunde zu lang, bevor sie sich wieder ihrer Zeichnung zuwendet. Zielstrebig steuert Jakob auf eine Ecke abseits der anderen Studenten zu. Ich folge ihm. Als ich zugebe, dass ich nicht wirklich verstanden habe, wie man das Material erfühlen soll, unterweist mich Jakob in den »Materialstudien«, wie er es nennt. Wir betasten mit geschlossenen Augen die Steine. Ich forciere ein paar Mal die Berührung mit Jakobs Hand, was ihn nicht zu stören scheint. Die Ernsthaftigkeit seiner Erklärungen hat etwas Pathetisches, aber irgendwie ringt sie mir auch Respekt ab. Immerhin meine ich jetzt zu verstehen, worum es bei der Aufgabe geht. Wir fertigen Zeichnungen an, die unsere Perspektiven auf die zwei Steine darstellen sollen. Ich schraffiere über ein wenig Sand, den ich unter das Blatt gestreut habe, um die raue Oberfläche des menschlich geformten Steins zu zeigen. Dann trage ich auf das andere Blatt Graphit auf, so dick, dass es tatsächlich glänzt wie ein Kiesel, dessen Oberfläche immer und immer wieder von Wasser umspült wurde. Jakob füllt ein Papier mit kleinen Kästchen, das andere mit wellenförmigen Verschränkungen. Er beherrscht die Abstraktion. Diesmal sind es unsere Zeichnungen, die Itten am Ende des Unterrichts in die Höhe hält.

*

Maria schiebt den grünbraunen Linsenbrei auf ihrem Teller mit dem Löffel hin und her, vielleicht in der Hoffnung, doch noch ein Stück Fleisch zu entdecken. Ich bin froh, dass sie mit ihrem Essen beschäftigt ist, so kann ich unbemerkt Ausschau nach Jakob halten. Seit dem Tag, an dem er seine Steine mit mir teilte, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Das ist jetzt zwei Wochen her und es kommt mir komisch vor. Wie kann ein normaler Student im Vorkurs einfach fehlen? Auch bei den Vorlesungen zur Form- und Farbenlehre, die von Kandinsky und Klee gegeben werden, habe ich ihn nicht gesehen. Vielleicht ist er von der Schule geflogen? Das ist seit der Gründung des Bauhauses angeblich erst einmal passiert, weil ein Student nicht genügend Engagement zeigte. Aber so etwas hätte ich bestimmt mitbekommen. Außerdem war er doch sehr ernsthaft bei der Sache. Und wenn ihm etwas passiert ist? Das hätte mir Maria sicherlich erzählt, sie ist in Sachen Schulklatsch immer auf dem Laufenden. Allerdings habe ich ihr von meiner Begegnung mit Jakob nie erzählt – sie kann also gar nicht wissen, dass es mich interessieren könnte.

Wir sitzen vor dem Prellerhaus im Schatten eines niedrigen Baumes. Dieses unscheinbare Haus ist der einzige Ort, der einigen wenigen Studenten zum Wohnen zur Verfügung gestellt wird. Die Männer, die sich besonders hervortun, dürfen dort in einem der großen Werkräume arbeiten und wohnen. Frauen können sich nicht bewerben, aus »Gründen der Sitte«. Auf dem großen Platz davor steht die Kantine, das ehemalige Atelier des Tiermalers, der hier mal Direktor war. Sie hat gemauerte Wände und ein Dach, das früher wie eine Glaskuppel aussah. Von den Oberfenstern hat aber kaum eines den Krieg überstanden, die Dachkonstruktion wurde mit schweren Brettern vernagelt. Im Gegensatz zum Hauptgebäude, das mich ein wenig an die Abbildungen der prachtvollen neuen Häuser in Wien erinnert, sieht sie irgendwie traurig aus. Auf dem Boden liegt schon ein wenig Laub, der Spätsommer hat aber immer noch kaum etwas von der Hitze eingebüßt, die jetzt schon seit August über Weimar hängt. Unsere Teller haben wir neben uns auf die Holzbank gestellt. Die anderen Studenten haben sich über den Vorplatz verteilt, manche hocken auf dem Boden, manche haben sich zum Essen Stühle mit nach draußen genommen. Auf der anderen Seite des Hofes haben sich die Kuttenträger niedergelassen. Nur Jakob ist nirgends zu sehen. »Lu, was schaust du denn so? Das fürchterliche Essen kann es nicht sein, das hast du ja noch nicht mal probiert«, sagt Maria und stupst mich an.

Bevor ich antworten kann, kommen ein untersetztes Mädchen und ein langhaariger Junge zu uns. Das Mädchen fängt sofort an, mit Maria zu plaudern, nach einer kurzen Zeit sind die beiden einen regelrechten Wettkampf der Lebhaftigkeit eingegangen. Der Junge hört nur zu, ich kann nicht ganz einschätzen, ob er schüchtern ist oder einfach keine Lust hat, mit den beiden um das Wort zu ringen. Ich finde seine langen Haare irgendwie komisch und bemühe mich, nicht allzu auffällig hinzusehen. Die Mädchen reden über das Drachenfest. Zur Zeit gibt es kaum ein anderes Thema. Es wurde noch nicht offiziell angekündigt und alle spekulieren über den Raum, in dem nach dem Drachensteigen gefeiert werden könnte, über die ausgelobten Preise, aber vor allem geht es natürlich um die eigenen Entwürfe für aufsehenerregende Drachen.

»Hoffentlich müssen wir nicht wieder streiken, so wie im März«, sagt das Mädchen. »Für die Produktion in den Werkstätten macht es ja kaum einen Unterschied, so wenig, wie wir damit verdienen, aber wir können doch nicht unsere Arbeit an den Drachen niederlegen!« Maria lacht und will etwas antworten, aber der Langhaarige wird jetzt lebhaft und sagt: »Niemand musste im Frühjahr streiken, du dummes Huhn! Das war eine freiwillige Solidaritätsbekundung mit den Arbeitern, die in den Kampf gezogen sind. Da sind Leute gestorben, da macht man doch keine Witze darüber.« Das Mädchen verdreht nur die Augen und wendet sich mir zu, woraufhin der Langhaarige wieder in sein Schweigen versinkt.

»Diesmal wird es bestimmt weniger chaotisch. Das war ja unser erstes Fest letztes Jahr, und eigentlich waren wir auch nur ein paar Leute, die spontan Drachen steigen ließen«, erzählt das Mädchen mir. »Dann kamen immer mehr Leute und wollten zuschauen, und bei Einbruch der Dunkelheit war fast das ganze Bauhaus versammelt. Ein paar Studenten brachten Instrumente mit, manche haben getanzt, es wurde immer später, und irgendwann saßen Maria und ich sehr betrunken auf einem Hügel und haben den Sonnenaufgang angeschaut.« »Hör auf! Du machst mich ganz sentimental, so alt sind wir doch noch gar nicht!«, sagt Maria und lacht ihr kratziges Maria-Lachen.

Dieses Jahr, so wird es zumindest behauptet, soll das Fest offiziell beworben werden, mit Einladungskarten, die natürlich in den Bauhaus-Werkstätten entworfen werden. Ein paar musikalisch begabte Studenten haben sich zusammengetan, um zum Tanz aufzuspielen, und üben schon für ihren Auftritt. Es soll einen Ort für das Fest danach geben, den die Lehrer organisieren. Der langhaarige Junge hält das Ilmschlösschen für wahrscheinlich, Maria behauptet, sie habe etwas von weißen Zelten im Park gehört, und das Mädchen sagt, das sei alles Quatsch, schließlich habe ihnen letztes Jahr auch der freie Himmel genügt.

Ich bin ein bisschen neidisch auf die gemeinsamen Erinnerungen der drei an ihre ausschweifenden Feste, aber nächstes Jahr, denke ich, nächstes Jahr werde ich mich mit ihnen gemeinsam daran erinnern können. Das ganze Bauhaus war letztes Jahr versammelt, hat das Mädchen gesagt. Der Gedanke, Jakob spätestens beim Fest wiederzusehen, macht mich euphorisch.

*

In meinem Zimmer gibt es nur einen kleinen Spiegel über der Waschschüssel. Bisher ist mir das kaum aufgefallen, aber heute möchte ich mich schminken. Ich möchte das Ritual vollziehen, nach dem man sich für einen Moment schön findet, um sich dann für einen besonderen Abend gewappnet zu fühlen. Ich grabe also den kleinen, seidenen Beutel aus, den mir Charlotte zum Abschied geschenkt hat und den sie mit allerlei Kosmetika füllte: »Damit du dort nicht verwahrlost.« Auf einmal vermisse ich sie. Wir haben vor den großen Festen am Wochenende Stunden damit verbracht, uns in der Wohnung ihrer Eltern am Kurfürstendamm schönzumachen. Wenn ihr das Kleid, dass ich mir zu Hause angezogen hatte, nicht gefiel, was meistens der Fall war, sah sie mich mit kritischem Blick von oben bis unten an, schüttelte den Kopf und warf mir mindestens vier ihrer kostbaren Kleider hin. Sie drehte das Grammofon auf, wir tranken den Champagner ihres Vaters, der nie zu Hause war, und ich hörte gebannt zu, während sie mir von ihren letzten Eroberungen erzählte. Ich habe Charlotte schon immer dafür bewundert, wie wenig sie sich in Liebesdingen um gesellschaftliche Konventionen schert. Wenn ihr ein Mann gefällt, verwandelt er sich in ihren Augen in ein Wild, das erlegt werden muss. Ist diese Aufgabe erledigt, verliert sie sofort das Interesse an ihm, was dazu führt, dass sie ständig von einer Schar ehemaliger Liebhaber umgeben ist, die sie mit traurigen Hundeblicken bedenken. Ich hatte nie die Freiheit, die ihr durch die ständige Abwesenheit ihrer Eltern vergönnt war, und hätte ich sie gehabt, wäre ich wahrscheinlich zu schüchtern gewesen, sie auszuleben. Meine Eroberungen beschränkten sich auf einen verstohlenen Kuss von einem Familienfreund meiner Eltern, in den ich danach jahrelang verliebt war. Und dann war da noch die Nacht mit dem unbeholfenen, aufdringlichen Jungen, von der ich beschlossen habe, sie nicht zählen zu lassen.

Ich schaue in den angelaufenen Spiegel und versuche, meine Lippen ordentlich mit dem dunkelroten Lippenstift nachzuziehen. Meine dicken braunen Haare haben sich noch nie um meinen Ordnungssinn geschert, ich brauche Unmengen an Klammern und Spangen, um sie einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Wenn Charlotte mich jetzt sehen könnte, würde sie mich wahrscheinlich auf der Stelle wieder nach Berlin mitnehmen wollen. Sie betrachtet meine Entscheidung, ans Bauhaus zu gehen, als eine Verirrung, die ich mit der Zeit selbst erkennen werde. Ebenso würde sie sich nie mit dem kargen Zimmer zufriedengeben, in das mich meine Eltern bei Frau Werner eingemietet haben. Auch ich fand es anfangs unbequem, bis ich begriff, was für ein enormes Privileg es hier ist, überhaupt ein eigenes Zimmer zu haben. Maria wohnt zur Untermiete am Stadtrand. Sie teilt sich ihre winzige Kammer mit einem bösartigen Mädchen, dem sie aus dem Weg geht. Dagegen ist meine Unterbringung geradezu luxuriös, auch wenn ich mein Elternhaus mit seinen hohen Decken, der Kunst an den Wänden und dem dunkel glänzenden Parkett manchmal vermisse. Ich wohne nah am Park und habe immerhin einen Schreibtisch, eine Kommode und ein leidlich bequemes Bett, das ich mit einem Kaschmirschal verschönert habe, den mir meine Mutter mitgegeben hat. Frau Werner ist schrullig, aber nett. Sie ist Beamtenwitwe, und von ihrer Pension bleibt ihr manchmal genug übrig, um echten Kaffee zu kaufen oder die Zutaten für einen Apfelkuchen. Meistens ist sie sowieso mit ihrem Garten beschäftigt.

Trotzdem hoffe ich, dass sie nicht an meine Tür klopft, als ich etwas gebückt vor dem Spiegel stehe und versuche, einen ordentlichen Lidstrich zu ziehen. Ich trete einen Schritt zurück und betrachte mein Werk. Mit dem petrolblauen Rock und der schlichten schwarzen Bluse, durch die meine Augen heller aussehen, als sie sind, finde ich mich zumindest ansehnlich. Das Wichtigste ist heute sowieso der Drachen, an dem ich in den letzten Wochen jede freie Minute gearbeitet habe. Noch liegt die vielköpfige Hydra zerknautscht auf meinem Bett. Im Wind sollen sich dann die einzelnen Köpfe aus Pappmaché in alle Richtungen strecken.

*

Schon von weitem sehe ich Maria. Sie hat sich in den Fäden eines rostroten Ungetüms verheddert, das wohl ihr Drache sein soll. Ihre Ambitionen haben ihre handwerklichen Fähigkeiten überflügelt, aber von so etwas lässt sie sich nicht die Laune verderben. Lachend steht sie inmitten der Bahnen von Stoff und ruft: »Vielleicht hätte ich mir doch lieber ein Ballkleid daraus nähen sollen!«

Über den ganzen Hügel verstreut sind Studenten mit ihren Drachen beschäftigt. Alle laufen herum und begutachten die Werke der anderen. Manche schauen etwas ratlos in den Himmel oder halten ihre befeuchteten Finger in die Luft, denn es ist schon wieder ein heißer, wolkenloser und völlig windstiller Tag. Ich bin froh, als die Ersten trotzdem losrennen, um zumindest den Versuch zu wagen, ihre Drachen in die Höhe steigen zu lassen. Schließlich will auch ich meine Hydra präsentieren. Ich ernte viel Bewunderung, als ihre Köpfe für einen kurzen Moment in den Himmel schweben. Aber es hilft alles nichts, auf Dauer kann man ohne Wind eben keine Drachen fliegen lassen.

Stattdessen setzen sich alle und plaudern. Die ersten Weinflaschen machen die Runde und ich schaue mich etwas weniger unauffällig nach Jakob um. Nichts. Die Heftigkeit meiner Enttäuschung überrascht mich selbst.

Halbherzig lausche ich der Unterhaltung, die Maria mit einem Jungen aus meinem Vorkurs führt. Maria preist den Webstuhl. Sie arbeitet seit einem halben Jahr in der Webwerkstatt und das Gerät beschäftigt sie sehr.

»Wenn man Stoffe in Serie produzieren kann, dann muss man das doch auch tun!«

In dem Jungen hat sie ein dankbares Publikum gefunden. »Finde ich auch. Deswegen müssen sie ja nicht weniger schön sein«, sagt er.

»Ich verstehe überhaupt nicht, warum sich manche Leute so sehr dagegen wehren. Was ist denn falsch daran, wenn ein Teppich, den wir gestaltet haben, bezahlbar ist?« Maria redet sich in Rage.

»Es ist absurd. Da steckt irgendein miefiger, elitärer Dünkel dahinter«, sagt der Junge.

Gerade habe ich mich genug in die Konversation eingelebt, um wenigstens pro forma zu widersprechen, da marschieren zu unserer Linken die Musiker vorbei. Fünf Männer, die ihren Trompeten und Geigen Klänge entlocken, die so schräg klingen, dass es für mich im ersten Moment eher nach Lärm als nach Musik klingt. Ihnen voran läuft ein kleiner Mann mit wildem Haar, der ein riesiges Dreieck aus Pappe auf dem Kopf trägt und den Umstehenden mit gespieltem Ernst zuruft: »Folgt der Musik! Die Musik weiß, was gut für euch ist!« Eilig kommen die Studenten der Aufforderung nach, hinter der Kapelle bildet sich ein Zug. Auch unser Grüppchen löst sich auf, Maria hakt den Jungen unter und verschwindet mit ihm in der Menge. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichen wir ein freistehendes Backsteinhaus mit Garten, über den Fenstern des Erdgeschosses steht in großen Lettern »Ilmschlösschen«. Alle drängeln hinein. Die Musiker positionieren sich auf der Bühne. Die Halle ist leergeräumt, nur ganz am anderen Ende gibt es eine Bar. Neben der schrägen Marschmusik, mit der Einzug gehalten wurde, beherrscht die Kapelle anscheinend auch Tanzmusik. Auf den Partys, zu denen mich Charlotte in Berlin mitnahm, wurde Charleston getanzt, das kam mir damals wild und provokant vor. Aber hier scheint der Tanz überhaupt keinen Regeln zu folgen, niemand schert sich um Schrittfolgen oder feste Partner. So aufregend das ist, es überfordert mich auch. Ich finde die Freiräume, die man sich innerhalb einer gegebenen Struktur schafft, oft spannender als das, was ganz ohne Anhaltspunkte entsteht. Aber vielleicht ist das ein unbrauchbares Axiom, es ist durchaus möglich, dass diese Vorliebe eher etwas über meinen Mangel an Kreativität aussagt.

Auf einmal steht Jakob vor mir. Ich schaue auf den Boden, auf dem ich aus irgendwelchen Gründen immer noch stehe, da nimmt er schon meine Hand und zieht mich aus der Menge an die Bar. »Wein?«, fragt er.

»Willst du mich nicht erst mal begrüßen?«, frage ich zurück, strahle ihn aber trotzdem an. Seine Verunsicherung ist entwaffnend, sie passt nicht zu dem Spiel, das er mit seinem Charme betreibt. Die sofortige Vertrautheit, die er herstellt, ist wohl zumindest für ihn authentisch. Gerade will ich fragen, was er in den letzten Wochen gemacht hat, da kommt Sidonie und stellt sich zu uns. Sie hat zwei Männer im Schlepptau, die natürlich auch die Mönchsjacken mit dem steifen Kragen tragen.

»Willst du uns nicht bekanntmachen, Jakob?«

Ich komme ihm zuvor: »Luise. Freut mich.«

»Mich auch, Luise.«

Ich ärgere mich, dass sie sich nicht vorstellt. Gleichzeitig bin ich überrascht, dass auch sie einen österreichischen Akzent hat. Dann erinnere ich mich, dass Maria mir erzählt hat, die meisten der Itten-Jünger seien aus Wien.

»Und wer bist du?«, frage ich schließlich.

»Wie dumm von mir, entschuldige. Ich bin Sidonie, das sind Erich und Samuel.«

Erich hebt die Hand, Samuel mustert mich neugierig. Ich lasse mir nicht anmerken, dass ich sie alle schon vom Sehen kenne. Erich ist ein kleingewachsener, gutmütig dreinschauender Mann mit schwarzen Haaren und olivfarbener Haut. Er ist etwas älter als die anderen und zieht sein linkes Bein beim Gehen nach. Wahrscheinlich war er an der Front, denke ich, werde traurig und finde das albern, schließlich habe ich überhaupt keine Ahnung, was es bedeutet, im Krieg gewesen zu sein. Es kommt mir vor, als wäre das alles schon sehr lange her, bei Kriegsende war ich ein unbedarfter Backfisch, der nicht über viel mehr nachgedacht hat als die nächste Stunde bei seiner Französischlehrerin.

Ich wäre lieber mit Jakob allein, aber die anderen machen keine Anstalten, sich zu entfernen. Mein plötzlicher Verdacht, dass zwischen Sidonie und Jakob etwas sein könnte, lässt sich auf den ersten Blick weder entkräften noch bestätigen. Allerdings gründet sich dieser Verdacht eigentlich nur auf die vielen Schundromane, die ich heimlich lese. Dort würden die wilde Sidonie und der anmutige Jakob sicherlich zusammengehören.

Die Kapelle setzt aus. Gropius betritt mit gemessenen Schritten die Bühne und es wird sofort still. Ich frage mich, ob er gerade erst gekommen ist. Ich habe heute Abend überhaupt noch keinen der Lehrmeister gesehen.

»Liebe Bauhäusler, dieser Abend ist ein besonderer. Ich freue mich sehr, dass wir heute dieses Bauhaus-Fest zusammen feiern, und ich bin mir sicher, es werden noch viele folgen.« Der Weinpegel ist schon recht hoch, Gropius wird von frenetischem Applaus und Zwischenrufen unterbrochen. Er lächelt und wartet, bis der Lärm versiegt.

»Wir werden uns nicht von der Windstille schrecken lassen! Es wurden Preise für den besten Drachen versprochen, und Preise wird es geben.« Wieder tosender Applaus.

»Wenn ich Sie jetzt alle bitten dürfte, Ihre Werke vorne an der Bühne abzulegen. Die Jury besteht aus den Meistern Itten, Klee und meiner Wenigkeit. Wir werden uns zurückziehen und die Gewinner in einer halben Stunde bekanntgeben. Bis dahin machen Sie unserem Ruf alle Ehre und amüsieren Sie sich!«

Nun entdecke ich Klee, der von den Studenten nur »der liebe Gott« genannt wird, vielleicht weil er so menschenscheu ist. Auch jetzt wandern seine großen, melancholischen Augen entrückt über die Menge. Er steht am rechten Rand der Bühne, direkt neben Itten, der die Hände in seinen Kuttenärmeln verschränkt hat und dessen Blick wach und scharf ist. Sein Aufzug wirkt im Kontrast zu den Tweed-Anzügen um ihn herum noch mönchischer. Der liebe Gott und ein Buddhist, denke ich und muss lächeln. Die Musiker spielen eine aufgeregte Melodie, mit der sie sich wohl über die Hektik mokieren wollen, die im Raum ausbricht. Vor der Bühne gibt es Gedrängel. Ich war mir sicher, meine Hydra die ganze Zeit bei mir gehabt zu haben. Vielleicht habe ich sie irgendwo abgelegt? Auf dem Boden sehe ich sie jedenfalls nicht.

»Du willst doch nicht ernsthaft bei diesem Kindergarten mitmachen?«, fragt mich Sidonie und schaut spöttisch. Unsicher blicke ich zu Jakob, der mich ähnlich mitleidig anguckt. Auf einmal scheint mir das ganze Spektakel lächerlich. Bevor ich mich versehe, habe ich meinen Drachen und damit meine wochenlange Arbeit an ihm verleugnet. Die Mienen hellen sich auf. »Umso besser, dann können wir ja gehen«, sagt Jakob. Gehen? Wohin denn? Gibt es noch ein anderes Fest, von dem ich nichts weiß? Sidonie, Erich und Samuel sind schon fast an der Tür. Jakob nimmt mich an der Hand und zieht mich hinter sich her.

*

Der Park ist größer als ich dachte. Die anderen gehen zielsicher voran. Ich weiß nicht, wohin es geht, meine Nachfrage geht im Gespräch unter. Also füge ich mich und trotte schweigend nebenher. Aus der Unterhaltung schließe ich, dass sie sich alle für einen Schriftsteller namens Hanisch interessieren, dessen neues Buch gerade in deutscher Übersetzung erschienen ist. Sein »Hauptwerk«, wie Sidonie es nennt, scheint bei ihnen eine große Rolle zu spielen. Ich bewundere, wie ernsthaft sie über Bücher und Kunst sprechen. Viel intelligenter als Charlottes Freunde, deren geistreiche Bonmots und witzige Plänkeleien mir immer schrecklich zynisch vorkamen.