Es beginnt mit dem Fiat 500 im Hof, den Großmutter gern schwungvoll fährt, weil man dann nichts von ihrer Gehbehinderung merkt. Und weil sie darin die Familie ganz eng bei sich hat. Im Erdgeschoss führt Großvater seine Arztpraxis, seit er seine Stelle im Krankenhaus verlor. Der getaufte Jude erkennt die Gefahr unter der deutschen Besatzung erst spät. Da greift seine Frau zu einer List: Sie lässt sich offiziell scheiden und versteckt ihren Mann in einem Gelass zwischen Bad und Schlafzimmer. Als der Krieg zu Ende ist, kommt ihr dritter Sohn zur Welt.

Christophe Boltanski wuchs selbst bei seinen Großeltern in diesem Haus auf, wo sein Onkel Christian unter dem Dach seine künstlerische Karriere begann. Ein Leben in einem familiären Kokon, voller Zuneigung, Originalität und Eigensinn.

 

Hanser E-Book

Christophe Boltanski

 

DAS VERSTECK

 

Roman

 

Aus dem Französischen von Tobias Scheffel

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

Für Anne und Jean-Élie

 

 

INHALT

Auto

 

Küche

 

Arbeitszimmer

 

Salon

 

Treppe

 

Wohnräume

 

Badezimmer

 

Zwischen-Raum

 

Schlafzimmer

 

Speicher

AUTO

 

 

1

 

Ich habe sie das Haus nie zu Fuß verlassen sehen, nicht allein und nicht einmal gemeinsam. Etwas so Einfaches tun wie einen Bürgersteig entlangschlendern. Sie wagten sich nur motorisiert aus dem Haus. Sitzend, dicht an dicht, im Schutze einer Karosserie, hinter einer Panzerung, wenn auch einer leichten. Innerhalb von Paris fuhren sie in einem weißen Fiat 500 Lusso. Ein einfaches, wendiges, beruhigendes Auto, ihnen mit seiner Rundlichkeit angemessen, mit seiner Zwergengröße, dem Tachometer, dessen Skala bis 120 km/h reichte, dem Zweizylinder-Heckmotor, der ein Rasseln hervorbrachte, das Tuckern eines alten, knatternden Motorboots. Sie parkten es im gepflasterten Hof, dem Tor gegenüber, abfahrbereit, neben dem Hauptflügel, fast an die Wand gepresst, wie die Rettungskapsel einer Rakete. Die Beifahrertür unveränderlich zum Kücheneingang ausgerichtet. Um es zu erreichen, brauchten sie nur eine kleine Steintreppe zu nehmen. Damit das Hinabsteigen leichterfiel, hatte man auf halber Höhe aus einem Teil einer Stufe eine weitere herausgehauen. Unten angelangt, mussten sie nur noch ins Wageninnere eintauchen, indem sie sich an den Türgriff klammerten. Sie ließen niemanden zurück. Wir brachen immer alle zusammen auf. Sie am Steuer. Er neben ihr. Jean-Élie, Anne und ich auf die Rückbank gequetscht.

Sie trug eine sehr große Brille mit hellbraunem Gestell und ovalen, leicht getönten Gläsern. Bevor sie den Zündschlüssel betätigte, beugte sie sich vor zu dem kleinen Spiegel auf der Rückseite der Sonnenblende, richtete mit dem Handballen ihr Haar, bauschte es zur Tolle, streckte die Wangen vor, deutete ein spitzlippiges Lächeln an, um Make-up und Lippenstift zu überprüfen, und startete dann unter einem Kochtopfgeschepper, das von den Hauswänden widerhallte. Am Steuer ihrer Knatterkiste, die bei jeder Kolbenbewegung von heftigem Zittern erfasst wurde, verwandelte sie sich in einen Cyborg. Sie war eins mit ihrer Maschine. Da ihre kaputten Beine die Pedale nicht drücken konnten, waren mit Hilfe irgendeines Automechanikers lange Bedienungshebel, eine Art Besenstiele wie in alten Flugkisten, hinzugefügt worden, damit sie bremsen, beschleunigen, also steuern konnte, was sie mit beachtlicher Geschwindigkeit tat, vor allem, wenn sie einem Fußgänger begegnete, der gerade über die Straße lief. Mit wütender Freude raste sie am liebsten auf hinkende, aber eigenständige Alte los, um sie für deren geringe Bewegungsfreiheit zu bestrafen und ihren Mitfahrern einen Schrecken einzujagen. Sie hat nie jemanden überfahren. Ich weiß nicht, ob sie einen Führerschein besaß und falls ja, durch welche List sie ihn bekommen hatte. Sie liebte das. Diese Fahrten waren ihr Rollstuhl, ihre wiedergefundenen Beine, ihr Sieg über ihre erzwungene Unbeweglichkeit.

 

 

2

 

Wann hatten die beiden aufgehört, durch die Straßen zu gehen? Bei ihr weiß ich es. Anfang der dreißiger Jahre. Seit ihrer Polio-Erkrankung, die sie sich kurz nach der Geburt von Jean-Élie während ihres Medizinstudiums zugezogen hatte, und ihrer unerschütterlichen Weigerung, Krücken zu benutzen und in der Öffentlichkeit als schwache Person zu erscheinen, eines Teils ihrer selbst beraubt. Wenn in einem Restaurant ein Kellner auf sie zueilte, um ihr die Tür aufzuhalten, schnauzte sie ihn an, sie brauche niemanden. Sie hasste vorgetäuschtes Mitleid, hochmütige Liebenswürdigkeit, die Gesunde oder vermeintlich Gesunde jenen gegenüber bekunden, die es nicht sind. Und er? Zu welchem Zeitpunkt hat er beschlossen, nicht mehr zu Fuß zur Arbeit zu gehen? Nicht mehr die Kais entlangzuflanieren und in den Büchern der Bouquinisten zu blättern? Keine Einkäufe mehr zu erledigen? Ohne einen Sou in der Tasche zu leben? Die öffentlichen Verkehrsmittel zu boykottieren? Sich nicht mehr allein auf eine Caféterrasse zu setzen? Das Haus nicht ohne Begleitung zu verlassen? War es seine Entscheidung oder die seiner Frau? Litt er unter akuter Agoraphobie? Wollte er mit dem Vermeiden jener natürlichen Fortbewegungsart des Menschen sein Mitgefühl mit oder eher seine Liebe zu einer Frau bekunden, die gegen die Gesetze der Mechanik zu Felde zog?

Sie diente ihm als Chauffeur. Sie setzte ihn vor offiziellen Gebäuden mit repräsentativen Steinfassaden ab, sah ihm zu, wie er hinter monumentalen, von der Trikolore überragten Türen verschwand, und wartete dann auf seine Rückkehr. Sie beförderte ihn überallhin. Wie einen Schwerverletzten. Ins Krankenhaus, als er noch praktizierte, zu Kommissionssitzungen, wo er an Diskussionen über Invalidität und Untauglichkeit teilnahm, zu Fachtagungen zum Thema Behinderung. Sie brachte ihn mitten in der Nacht, mit ihren schlafenden Kindern, ans Bett von Sterbenden oder, was öfter vorkam, zu Hypochondern. Ohne diese Eskorte hätte er sich sicherlich verirrt. Der gewissenhafte Arzt, der von seinen Patienten vergöttert wurde, mit Diplomen, Ehrungen, Auszeichnungen behängt, war wie ein nacktes Kind inmitten von angezogenen Leuten. Mal vergnügt, mal gequält, mal leidend, bewegte er sich im Leben ohne Rückzugsposition, ohne Zufluchtsort, wie ein Schalentier, das seines Panzers beraubt und der Gnade des erstbesten Raubtiers ausgesetzt ist. Er war unfähig, zu lügen oder seine Gefühle zu verbergen, und fähig, bei der geringsten Ergriffenheit in Schluchzen auszubrechen. Ein Text, eine Musik, eine Bemerkung, eine Erinnerung genügten, ihn zum Weinen zu bringen oder ihn bis über beide Ohren erröten zu lassen.

Breiter Kopf, kräftiger Hals, hohe Stirn, flacher Schädel, kurzgeschnittenes schütteres Haar. Äußerlich hatte er eine leichte Ähnlichkeit mit Erich von Stroheim, ohne dessen preußische Steifheit. In der Öffentlichkeit mimte er nicht den – im Falle des amerikanischen Schauspielers und Regisseurs österreichisch-ungarischer Herkunft vollständig erfundenen – Stil des betressten Junkers mit sadistischer Neigung, sondern den in seinem Falle ebenso sehr aus der Luft gegriffenen des taktvollen, diskreten und zurückhaltenden englischen Gentleman. Zu diesem Zweck trug er einen schmalen, wie bei David Niven zweigeteilten Schnurrbart, unter der Jacke immer eine beigefarbene Wollweste, rauchte eine Bruyere-Pfeife mit geradem Rohr von gängiger Qualität, hergestellt zumeist in Saint-Claude, und bekundete Geschmack für Whisky, obwohl er sonst praktisch keinen Alkohol trank. Mit seinen langgezogenen mandelförmigen Augen, die von markanten Wimpern betont wurden, blickte er beständig erstaunt auf die Welt, als bliebe sie ihm ein Geheimnis. Wir mussten ihn schützen, mussten vereint bleiben, einen Sperrgürtel um seine Person bilden. Was immer kommen mochte, wir waren seine Leibwächter. Seine Airbags, bereit, beim ersten Zusammenprall aufzugehen.

 

 

3

 

Der Fiat der zweiten Generation, der sogenannte Nuova 500, mythisches Objekt der italienischen Filme der fünfziger Jahre, erinnerte an ein Goldfischglas, ein Mini-U-Boot, ein UFO, und ich, sein Passagier, an einen Marsmenschen, der auf einen unbekannten Planeten geschleudert worden war. In seinem Herkunftsland nannte man ihn la bambina. Die weniger schmeichlerischen Franzosen hatten ihm den Spitznamen ›Joghurtbecher‹ gegeben. Sein Boden glitt dicht über den Asphalt. Sein Blech war so dünn wie ein Blatt Papier. Das Gefühl des Eingeschlossenseins wurde durch das Fehlen hinterer Türen und noch stärker durch das von Fenstern, die man hätte öffnen können, verstärkt. Ich konnte Stunden damit zubringen, im Rücken den Motor, von dem ich jeden Pulsschlag spürte, in alle Richtungen durchgeschüttelt, die Beine angezogen, die Knie gegen den Vordersitz geklemmt und das Gesicht an das kleine Fenster gepresst, wie aus der Froschperspektive ein Paris vorbeiziehen zu sehen, das damals fast einförmig schwarz war, eine vom Dunst verschwommene, monotone Landschaft. Benommen vom unregelmäßigen Dröhnen der Maschine, fuhr ich große, rußbedeckte Verkehrsadern entlang, die Rue Bonaparte, den Boulevard Morland, die Avenue de Ségur, die Rue de Sèvres, die Rue Vaneau, die Avenue du Maine, in einem Zustand der Schwerelosigkeit, als bewegte ich mich in einer dunklen und wässrigen Welt (sagt man nicht vom Verkehr, er fließe?), wie in der Tiefe von Tusche, in Tiefseegräben, die von durchsichtigen Fischen bevölkert waren. In fötaler Haltung zusammengekauert saß ich im Inneren dieser eiförmigen Kiste, den Blicken der anderen ausgesetzt und kurioserweise unsichtbar, in einem Uterus auf Rädern, den meine Großmutter mitten durch das Treiben der Stadt steuerte.

Sie wohnten in einem jener herrschaftlichen Stadthäuser, die im Allgemeinen den Namen eines Vicomtes oder Marquis tragen, im mittleren Teil der Rue de Grenelle. Sie hatten nichts mit Adel und allem, was damit in Beziehung steht, zu tun, gehörten deswegen aber durchaus nicht zum Faubourg Saint-Germain, das seit Balzac weniger ein Viertel denn eine soziale Gruppe bezeichnet, bestimmte Verhaltensweisen, ein Gehabe, eine Art zu reden. Bis ich ungefähr mit dreizehn beschloss, dauerhaft bei ihnen zu leben, haben sie mich an allen schulfreien Tagen gehütet, also fast die Hälfte der Woche. Am Dienstagnachmittag (oder war es damals noch am Mittwoch?) holten sie mich bei Schulschluss im 14. Arrondissement in der Rue Hippolyte-Maindron ab, brachten mich am nächsten Abend zu meiner Mutter in die Impasse du Moulin-Vert zurück, und nahmen mich für das Wochenende von Samstagmittag bis Sonntag erneut. Alle waren sie da und erwarteten mich im Fiat gegenüber der Schule, dann, später, in respektvollem Abstand zum Collège Lavoisier. Je weiter ich in meiner Schullaufbahn kam, desto weiter entfernt parkten sie Jahr für Jahr, in der Rue Pierre-Nicole, dann der Rue des Feuillantines, ja sogar in der Nähe des Hôpital du Val-de-Grâce, um mich nicht vor den anderen Schülern zu umarmen. Eines Tages, sicherlich der Tag des Übergangs zum Jugendalter, nahm ich schließlich den 83er Bus an der Haltestelle Port-Royal in Richtung Bac-Saint-Germain.

 

 

4

 

Als Kind verbrachte mein Onkel Christian jeden Vormittag von 9 Uhr 15 bis 12 Uhr 30 auf genau demselben Platz, allerdings in einem Wagen mit Frontantrieb (es sei denn, es wäre eine ID19 gewesen, die einfachere Version der DS), während sein Vater im Hôpital Laennec Dienst tat. Das Krankenhaus mit seinem Ballett von Krankenwagen und glänzenden Polizeitransportern jagte ihm Entsetzen ein. Zu Recht verband er es mit Leiden und Tod. Geschah es, weil man ihm ein solches Schauspiel ersparen wollte, oder wegen der Parkvorschriften? Der Citroën wurde nicht vor dem Haupteingang in der Rue de Sèvres abgestellt, sondern auf der Seite der Rue Vaneau. Was tut man in einer Glaskabine mitten in Paris? Man betrachtet die Aussicht. Die Hilfspolizistinnen, die Strafzettel unter Scheibenwischer stecken, die akrobatischen Übungen eines Fahrers, der vergeblich versucht, sich zwischen zwei Stoßstangen zu klemmen, die mit Presslufthämmern bewaffneten Arbeiter, die gerade ein Trottoir aufbrechen, die Tauben, die sich auf eine Regenrinne setzen, ein Stückchen von Auspuffgasen verschleierter Himmel. Christian heftete die Augen auf die Passanten. Mit der Zeit kannte er sie alle. Die alte Schachtel in ihrem Gabardinemantel, das Motordreirad der Post, den Alten im Regenmantel, die Frau mit Kinderwagen. Ganz besonders erwartete er, die Stirn an die Scheibe gedrückt, die Ankunft eines kleinen Mädchens, in das er sich verliebt hatte, ohne je das Wort an sie gerichtet zu haben.

Er wartete das Erwachsenenalter ab, bis er sich ohne seine Schutzhülle aus dem Haus wagte. Beim ersten Mal war er achtzehn. Er lief nicht weit. Keine fünfhundert Meter, von der Rue de Grenelle bis zu einer winzigen Galerie, auf jiddische Kunst spezialisiert und genannt Les Tournesols, die seine Mutter in der Rue de Verneuil eröffnet hatte, um eine Betätigung für ihn zu finden. Dort tat er seinen Dienst und malte währenddessen im Hinterraum. Nach ein paar Monaten übernahm er die Leitung der Galerie und begann, Maler auszustellen, die er selbst ausgewählt hatte, wie Jean Le Gac. Ich weiß nicht, ob ihn am Ende dieser ersten selbständigen Exkursion jemand abholen kam. Noch mehrere Jahre lang fuhren ihn seine Eltern, wohin auch immer, mit dem Auto. Zur Académie Julian, wo er Zeichenkurse besuchte, zu Museen, zu Ausstellungen. Luc, mein Vater, behauptet, er habe seine Selbständigkeit früher erworben. Aber als er ungefähr im selben Alter die Idee hatte, segeln zu gehen, um mal rauszukommen, fand er sich mit seiner ganzen Familie auf dem Boot wieder. Ein zehn Meter langes Schiff mit einem Skipper, das in einem Hafen im niederländischen Friesland lag. Wie gelang es seiner Mutter, sich mit ihren Hinkebeinen an Bord zu hieven? »Hätte sie die Wüste in einer Karawane durchqueren wollen, wären wir alle auf Kamele gestiegen«, sagt Christian.

 

 

5

 

Im Winter ließ sie während der langen Wartestunden den Motor laufen, damit es warm blieb. Sie klemmte eine Wärmflasche zwischen die Oberschenkel, deckte ein Plaid darüber und beschrieb Blatt um Blatt, wobei sie sich auf eine lederne Schreibunterlage stützte. Unter dem Pseudonym Annie Lauran verfasste sie Romane, inspiriert von ihrer traurigen und einsamen Kindheit – sie war adoptiert worden, »verkauft«, wie sie sagte, an ihre Patentante, eine exzentrische vornehme Frau, Vorstandsdame eines Wohltätigkeitsvereins –, von ihrem Vater, einem mittellosen, morphiumsüchtigen Anwalt aus Rennes, der von seinen politischen Misserfolgen zerrüttet war, von ihrem Bruder, einem Abenteurer, der vom Größenwahn befallen war und auf den Austral-Inseln im Exil lebte wie Napoleon auf Sankt Helena. Sehr schöne Bücher, die in einem Land von früher spielten, das aus Kathedralen und Taufkapellen bestand, einer feuchten, abergläubischen Mayenne, einem kleinkarierten, kolonialen Überseefrankreich. Außerdem war sie die Verfasserin quasi soziologischer Essais. Erstaunlich hellsichtiger Abhandlungen über die zweite Einwanderergeneration, die »Kinder von nirgendwo«, wie sie sie nannte, oder über ihre Ablehnung des »dritten Lebensalters«, wie der Ausdruck lautete, der in den siebziger Jahren in Mode war, bevor »Senioren« und »Grey Power« erfunden wurden. Sie forderte eine »Tonbandliteratur«, die sich der ausschließlichen Aufzeichnung der Wirklichkeit widmen würde, nach dem Beispiel des Cinéma vérité von Jean Rouch, in sachlichem Stil, befreit von jeglicher Form von Psychologie. Insgesamt etwa zwanzig Titel, die bei Plon oder Pierre-Jean Oswald und später bei den Éditeurs français réunis erschienen, dem Verlag der Kommunistischen Partei, häufig mit Fotografien oder Collagen von Christian auf dem Umschlag. Ein zu Unrecht in Vergessenheit geratenes Werk.

 

 

6

 

Als sie angesichts ihres neuen Status als Ahne nach meiner Geburt eine wenn nicht liebevolle, so doch zumindest vertrauliche Anrede akzeptieren musste, entschied sie sich für »Großmutter«, wie im Märchen. Wegen Rotkäppchen oder eher des großen bösen Wolfs wegen, dieser zwiegesichtigen Hydra, die Sanftmut und dröhnende Stimme vereint, Unschuld und Raubtierhaftigkeit, Nachthemd und graues Fell, Baumwollmütze und blitzende Fangzähne. Sie provozierte gern, brach gern Verhaltensregeln, liebte es, zu bezaubern und zugleich einzuschüchtern. »Oma«, die Bezeichnung, für die sich meine andere Großmutter, mütterlicherseits, entschieden hatte, hätte nicht zu ihr gepasst. Sie gehörte nicht zur Gruppe jener süßlich-freundlichen alten Damen, die für ihre Nachkommenschaft Kuchen und Marmeladen zaubern. Es kam für sie nicht in Frage, sich ins Oma-Fach abschieben zu lassen – mit wohlwollendem Lächeln, großer Nachsicht und gezwungener Aufmerksamkeit, wie man sie unter den gerührten Blicken der Passanten launischen Kindern entgegenbringt. Sie verfügte über einen unerbittlichen Lebenshunger. Sie brodelte wie ein Dampfkessel unter Druck, unfähig, ihre überbordende Energie auf ihre Antriebsräder zu übertragen. Wie das Tier im Märchen war sie ans Bett gefesselt und wurde von unersättlichem Hunger gequält. Wie das rotbemützte Mädchen hatte sie uns alle gefressen. Wir waren zu ihren Armen, ihren Beinen geworden, zu einer Verlängerung ihres eigenen Körpers.

An öffentlichen Orten – der Abflughalle eines Flughafens, einer Caféterrasse, einem Kinosaal oder der Buchmesse beim Fest von L’Humanité – war es mir verboten, sie Großmutter zu nennen oder irgendeinen gleichwertigen Ausdruck zu verwenden, der auf ihr Alter hätte anspielen können, über das sie größtes Stillschweigen bewahrte. Beim Schreiben dieser Zeilen weiß ich immer noch nicht genau, wann sie geboren wurde, und ich empfinde Widerwillen, die nötigen Nachforschungen bei den betreffenden Behörden anzustellen, aus Furcht, in ihre innerste Privatsphäre einzudringen. Sie lehnte, wie sie sagte, »alles, was Spuren hinterlässt«, ab. Angefangen bei der Last der Jahre, jenem langsamen Niedergang, jenem körperlichen Verfall, jenem reduzierten Leben, das sie auf ihre Krankheit zurückwarf, jene andere Erniedrigung, die sie nie zu bekämpfen aufgehört hatte. Sie legte unendlichen Wert auf ihr Erscheinungsbild. Sie färbte sich die Haare schwarzbraun, übertrieb es mit Selbstbräunungscreme, und trotz ihrer Schwierigkeiten beim Laufen trug sie hohe Absätze, um ein paar Zentimeter größer zu werden. Vor Fremden musste ich also »Meine Tante« sagen, ein respektvollerer, vor allem zeitloserer Ausdruck, der weniger mit dem Alter verbunden war. Um mich nicht zu verheddern, vermied ich es, sie in der Öffentlichkeit anzureden.

 

 

7

 

Natürlich kam es vor, dass wir unser Raumschiff verließen, um uns einen Film anzusehen, vorzugsweise einen amerikanischen, oder ins Restaurant zu gehen. Orte, die ihrer leichten Zugänglichkeit und Anonymität wegen ausgesucht wurden. Wie die Kinos Maine, Escurial, Mac-Mahon, deren Säle ebenerdig gelegen waren. Oder große laute und unpersönliche Brasserien, wie La Coupole oder Le Select zu beiden Seiten des Boulevards Montparnasse, oder auch Les Ministères, eine Brasserie in der Rue du Bac. Niemals französische Bistros mit karierten Tischdecken, sogenannter traditioneller Küche, runtergebrannten Kerzen und einem aufmerksamen Wirt, der einem jeden Wunsch von den Augen abliest. Wir wollten in der Masse der Gäste oder der Zuschauer aufgehen. Trotz unserer Bemühungen, unauffällig zu bleiben, spürte ich die lastenden Blicke, sobald wir irgendwo aufkreuzten. Unsere kleinen, dunkelhaarigen, mageren Gestalten (abgesehen von meinem Großvater, der etwas voluminöser war) und unsere schildkrötenartige Bewegung, unsere ernsten, fast lauernden Gesichter machten einen eigenartigen Eindruck. Wir gingen Hand in Hand, drückten uns aneinander und bildeten ein einziges Wesen, eine Art dicken Tausendfüßler. Natürlich waren mir diese schwächlichen, verwundbaren Geschöpfe ein wenig peinlich. Sie, rechts und links eingehängt, er, auf einen Stock gestützt. Wir um die beiden herum. Wenn ich ihnen nicht den Arm anbot, tat ich, als würde ich sie nicht kennen, ich ging voraus, sah in die Luft. So sehr ich die Wärme, das Zusammengepferchtsein im Fiat mochte, so sehr fürchtete ich das ungeschützte Hinausgehen, die wenigen Meter, die vor aller Augen zurückgelegt werden mussten.

 

 

8

 

Sie, er, wir, diesmal im Einsatz. Der für profane wie religiöse Rituale günstige Sonntagvormittag begann immer mit dem Vertrieb der Humanité dimanche. Das eingetragene Parteimitglied war sie. Ein Engagement, das stärker von der Loyalität ihrem Verlag gegenüber bestimmt war als von ihrem Glauben an eine Ideologie, die in ihrer Vorstellung immer ein wenig undeutlich blieb. Trotz ihrer Behinderung holte sie mindestens einmal im Monat die Wochenzeitung bei der Ortsgruppe des 7. Arrondissements in der Rue Amélie ab, um sie dann an die wenigen Mitglieder des Arrondissements zu verteilen. Sie übernahm das Fahren, Jean-Élie und Anne das Ausliefern. Entsprechend der sozialen Zusammensetzung des Viertels umfasste die Zelle, der sie angehörte, eine ansehnliche Zahl von Führungskräften und höheren akademischen Berufen, ja sogar Unternehmer mit Betrieben von zehn oder mehr Angestellten, will man die Kategorien des Instituts für Statistik übernehmen. Im Falle dieser für die Kommunistische Partei Frankreichs wenig repräsentativen Stichprobe wäre es angebrachter, von Nomenklatura im Sinne der Ostblockländer zu sprechen. Der Anwalt verteidigte die kommunistische Gewerkschaft, der Bankier verwaltete das sowjetische Vermögen in Frankreich, der Dichter hatte seinen Sitz im Zentralkomitee, die Verlegerin verlegte die Genossen Schriftsteller. Da sie in Feindesland lebten, vermieden sie jede Form von Agitation, wie Flugblätterverteilen, Plakatieren oder Hausieren. Als erklärte Bourgeois, aber heimliche Aktivisten, wahrten sie hinsichtlich ihrer politischen Aktivitäten größte Diskretion. Wenn Anne ihnen die Zeitung ins Haus lieferte, baten sie sie rasch herein und schlugen die Tür hinter ihr zu, aus Angst, mit der aufrührerischen Literatur von einem Nachbarn überrascht zu werden. Sie wussten nicht, ob sie das junge Mädchen als Weggefährtin behandeln sollten oder als Austrägerin, der man ein Trinkgeld zusteckt. Einer hatte sie gefragt, ob sie ihm bei der Gelegenheit Croissants mitbringen könne.

Nach L’Huma kam die Messe. In Saint-Sulpice. Oder eher davor. Auf dem Kirchenvorplatz. Weder sie noch er betraten die Kirche. Immer dieselbe Rollenverteilung: Jean-Élie und Anne als Kundschafter voraus, die von dem gewaltigen Portal verschlungen wurden. Meine Großeltern und ich im Begleitfahrzeug hinterher, in dem wir am Fuße der Stufen, unter der gewaltigen Säulenhalle, sitzend, gesammelt, tief verneigt, das Ende der Messe erwarteten. Der Fiat fordert zum Beugen der Knie auf. Holten sie ein Messbuch heraus? Murmelten sie Ave Maria oder Vaterunser? Ließen sie andere für sich beten, ihre abgesandten Kinder? Ich habe nur noch ein langes Schweigen in Erinnerung, einen leeren Platz, einen steinernen Brunnen, aus dem nicht das geringste Wasser sprudelte. Einen geschlossenen Zeitungskiosk. Reglose Bettler, die an den Säulen lehnten. Hinter den Scheiben des Café de la Mairie gestapelte Stühle. Den verlassenen Parkplatz. Und mich, in die Betrachtung eines Kinoplakats versunken, das an der Fassade des Bonaparte hing, dessen Filmtitel ich durch die Kastanienbäume hindurch zu entziffern versuchte, unruhig, weil ich meinen Onkel und meine Tante nicht aus diesem unsymmetrischen, fast unförmigen Gebäude auftauchen sah, auf das Glockengeläut lauernd, das Signal ihrer Erlösung und unseres Aufbruchs.

Der Vormittag endete im Marais, in der Rue des Rosiers, die damals noch keine von Luxusgeschäften und Falafelimbissen heimgesuchte Fußgängerzone war, sondern eine lebendige und volkstümliche Straße. Ein weiteres Ritual. Dort wurden in der Boulangerie Binkelsztajn Kümmelbrot, Mohnkekse und Käsekuchen gekauft, bei Goldenberg, Blum oder Klapisch Wurst und Malosol-Gurken – die Frage, welcher der drei das beste Pastrami, das beste pickelfleisch und die beste leberwurst machten, war Anlass zu endlosen Diskussionen – und in einem Lebensmittelladen mit kleinen blauen Fliesen in der Rue Hospitalières-Saint-Gervais, dessen Namen ich vergessen habe, Matzen, den ich butterbestrichen und kochschinkenbelegt verschlang, ein doppelter Verstoß gegen die Kaschrut, über den Großpapa lächelte. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dieses lange sonntägliche Programm als widersprüchlich empfunden hätte. Jedenfalls nicht vor einem gewissen Alter. Und er, was dachte er darüber?

 

 

9

 

Durch die Zufälle des Lebens hatte sein eigener Vater ebenfalls eine enge Beziehung zum Auto. Er hätte unter dem Applaus der Menge aufrecht in einer Karosse fahren sollen, als Mephisto verkleidet, mit rotem Cape und geschwungenen Brauen. Stattdessen wurden die Karossen und Limousinen von ihm fabriziert. Er war in Odessa aufgewachsen, jener Stadt am Schwarzen Meer voller Musiker. Ein Kind aus dem Ghetto, Spross einer einfachen, frommen Familie, der über eine außerordentliche Stimme verfügte. Ein reicher homosexueller Händler (oder eine wohltätige Dame, je nach Version) finanzierte ihm den Gesangsunterricht und erklärte ihm immer wieder, er sei der neue Fjodor Schaljapin. Die Bretter des zaristischen Theaters erwarteten ihn. Er würde Boris Godunow spielen. Er würde vor dem Zaren im Todeskampf liegen. Er würde dem englischen König »Ha! Ha! Ha! Den Floh!« entgegenschleudern (ein anscheinend in Russland ziemlich alltägliches Wunschbild: Jahre später erlebte der Schriftsteller Romain Gary, wie seine Mutter ihm dieselbe Zukunft versprach). Eine Stimmbandtuberkulose hatte seinen Opernambitionen und seinen Träumen vom Ruhm ein Ende bereitet. Unter dem vereinten Druck der Krankheit und der Pogrome war er in der Hoffnung auf ein besseres Leben um 1895 nach Frankreich emigriert, und dies trotz der Degradierung von Hauptmann Alfred Dreyfus im großen Hof der École militaire im selben Jahr. Er war an einem Sonntag in Paris angekommen. Alles war geschlossen, bis auf eine Karosseriewerkstatt, die wohl in der Nähe der Gare de l’Est gelegen war. Der Chef fragte ihn nach seinem Beruf. Er konnte nichts, außer die Stimme zu erheben, und er sprach kein Französisch. Er streckte ihm die Hände hin. Zunächst wurde er Sattler, machte Sitze, Kissen, Polster. Dann wurde er als Arbeiter bei Citroën eingestellt. Am Quai de Javel oder an der Place de Clichy? Es war eine harte Arbeit, bei der lange Phasen der Untätigkeit mit Phasen der Überlastung abwechselten. Am Ende war er Werkmeister. Bevor ihn der Krebs dahinraffte, soll er seine Freunde angefleht haben, ein letztes Mal eine Oper anhören zu können. Man soll ihn auf einer Trage in die Opéra Garnier gebracht haben. Christian hat an dieser Geschichte, die zu melodramatisch ist, um wahr zu sein, immer gezweifelt. Seiner Ansicht nach ist die Karriere seines Großvaters als eines großen tragischen Basses nie über das Stadium des Vorsängers in einer Synagoge hinausgekommen.

 

 

10

 

In den Ferien legten sie Tausende von Kilometern zurück, dann aber nicht im Fiat 500, sondern in einem Volvo 144, einem für die Landstraße besser geeigneten Fahrzeug, robust, eckig, aus schwedischem Stahl, das sie so selten wie möglich verließen. Sie verbrachten darin Tage und Nächte. Um die Lobby, die endlosen Flure, engen Treppen oder winzigen Mansarden eines Hotels zu vermeiden, zog Großmutter es vor, im Sitzen zu schlafen, auf den Vordersitz gequetscht, um sich herum zusammengepfercht die Ihren. So konnte sie über sie wachen, ohne mit einem argwöhnischen Rezeptionisten über ein Einzelzimmer für fünf Personen, darunter drei Erwachsene, verhandeln zu müssen. Jean-Élie saß neben ihr. Ich weiß nicht, wie es ihm gelang, ein Auge zuzutun, während er mit dem Kopf am Fenster lehnte und das Lenkrad ihm in die Rippen stach. Anne, damals ein Teenager, schlief auf der Rückbank. Großpapa über ihr auf einem Brett, das wackelig über Kopfstütze und Hutablage gelegt worden war. Wenn ich sie begleitete, lag ich im Kofferraum, der offen blieb, damit ich inmitten des Gepäcks atmen konnte. Im Hafen von Brindisi, in Italien, wurde ich einmal von der Taschenlampe eines Bersagliere geweckt. Ich erinnere mich noch mit Schrecken an das Lichtbündel, das über mein Gesicht fuhr, das Flüstern in einer mir unbekannten Sprache. Die Polizisten, die durch den nur angelehnten Kofferraumdeckel stutzig geworden waren, vermuteten wohl einen Diebstahl, bis sie unsere verschlafenen Gestalten bemerkten.

Jahre zuvor befand sich Christian unter dem Deckel, aber in anderen Autos. Sein Bruder, Luc, nahm Annes Platz ein. Ihr Vater auf seinem Brett lag neben einem langhaarigen, aus Amsterdam stammenden Dichter, einem Freund der Familie, der in ein großes grünes Cape gehüllt war. Die Besetzungen, die Nebenrollen konnten wechseln, es war immer dasselbe lebende Bild, derselbe Aufbau, dieselbe Ansammlung von Fleisch und Stahl, wie nach einer Karambolage. Man erwachte auf fahlen Parkplätzen im Geräusch der Hupen. Um ihre Bedürfnisse über einer Schüssel zu verrichten, hielt Großmutter sich an der Türöffnung fest, von der Wagentür verdeckt. Man wechselte kaum die Kleidung. Mit einem Evian-Zerstäuber oder dem Wasser aus einer Wärmflasche machte man Katzenwäsche. Man verachtete Museen, Schlösser, Ruinen, Strände, idyllische grüne Flecken, pittoreske Dörfer, angesehene Restaurants, Orte, für die sich ein Umweg lohnt. Auf diese Weise waren sie, in diesen Fällen ohne mich, bis in den Iran, an den Polarkreis, nach Moskau, über den Wendekreis des Krebses hinaus gefahren. Sie hatten die Vereinigten Staaten von Osten nach Westen durchquert, Australien von Norden nach Süden. Wie Paul Morand sagt, opferten sie beim Reisen die Tiefe der Weite. Ihr Ziel bestand weniger darin, entfernte oder exotische Landstriche zu entdecken, als längstmögliche Entfernungen zurückzulegen und neue Nadeln in einen Globus zu stecken.

 

 

11

 

Mangelte es den Autofahrern bereits an Benzin oder streikten auch sie? Wir durchquerten ein sonniges Paris, das so leer war wie an einem 15. August. Wir fuhren die Avenue du Général-Leclerc hinauf. Es war morgens. Durch die kleinen Fenster des Fiats erinnerte die Löwenskulptur auf der Place Denfert-Rochereau an ein Zirkustier. Großmutter und Jean-Élie zeigten verschwörerische Mienen. Wir fuhren durch eine Stadt voller Graffiti und zerfranster Plakate mit einem überschwappenden Eimer voll weißem Kleister zwischen den Beinen, einem Besen und unserem eigenen Papierstapel. Die Botschaft, die wir an die Mauern kleben würden, hatte mit den schüchternen Anfängen der Aufruhrstimmung in diesen ersten Maitagen des Jahres 1968 nicht viel zu tun. Damals war ich sechs. In der Sackgasse, in der meine Eltern wohnten, spielte ich mit den Kindern aus der Nachbarschaft Bereitschaftspolizei und Demonstranten. Ich hatte mich, glaube ich, für die Seite der Ordnungshüter entschieden, aus Freude an der Uniform. Auf dem kleinen braunen, rechteckigen Plakat, das wir ankleben sollten, war nicht die Rede von irgendwelcher Polizeigewalt, sondern von »La vie impossible de Christian Boltanski«. Ich verstand nicht, warum mein Onkel ein so strenges Urteil über sein kurzes Leben fällte und das auch noch der Pariser Bevölkerung mitteilen wollte, noch dazu mit Hilfe seiner Familie. Es war seine erste Ausstellung. Der Surrealistenfreund Henri Ginet hatte ihm sein Theater und Kino geöffnet, das Ranelagh in der Nähe des gleichnamigen Parks im 16. Arrondissement. Er hatte seine farbverschmierten Gliederpuppen aus Lumpen am Fuße einer monumentalen Treppe in einer nachgemachten Renaissancehalle aufgestellt, die mit rotem Filz verkleidet war. Ich erinnere mich genau an die Vernissage am 3. Mai 1968 abends. Jean-Élie kam ganz aufgeregt und verkündete, im Quartier Latin gebe es Barrikaden.

 

 

12

 

Wir fuhren rückwärts in den Hof, wobei wir darauf achteten, nicht die beiden kleinen schmiedeeisernen Bogen rechts und links des Portals zu demolieren. Die Nachbarin, Erbin eines alten, auf Reiseliteratur spezialisierten Verlages, hätte den Hof gern von diesem Schrott befreit. Sie träumte von einem eleganten, geradlinigen französischen Garten in der Art von Le Nôtre und hatte zu diesem Zweck auf der ihr zustehenden Fläche einen beständig trocken liegenden Brunnen errichten und um ihn herum, entlang mehr oder weniger geometrischer Linien, Weißdornbüsche in Form von Kugeln oder Ähren pflanzen lassen, Sträucher, die mangels Sonnenlicht alle rachitisch und abgezehrt endeten. Sie hätte ihrem Besitz gern ein Jahrhundert aufgeklebt, vorzugsweise ein großes, hätte dieses recht eigentümliche herrschaftliche Stadthaus, das im Winter feucht, im Sommer kühl war, immer im Schatten lag, schwermütig, voller staubiger, schmutziger Luft, gern auf die Liste historischer Gebäude setzen lassen, besser noch, ihm einen Stil zugewiesen, einen prestigeträchtigen Namen, erhielt jedoch vom Denkmalamt eine endgültige Ablehnung. Das Gebäude war ein architektonisches Durcheinander, ein Haufen geologischer Schichten, ein Patchwork unterschiedlicher Epochen, das eine Rotunde aus dem 17. Jahrhundert, eine efeuüberwucherte Louis-XV-Fassade und zahlreiche spätere Bauteile miteinander verband.

Es mag seltsam erscheinen, die Beschreibung eines Hauses mit seinem Auto zu beginnen. Der Fiat 500 bildet, genau wie seine schwedische große Schwester, den ersten Raum der Rue-de-Grenelle, ihre Verlängerung, ihre Schleuse, ihren beweglichen Teil, ein Zimmer außerhalb der Mauern, bildet ihre Augen, ihren Augapfel. Wie ein Heim umschließt er ein begrenztes, rundes, glattes Universum, warm und beruhigend wie ein Fleckchen vor dem Kamin. Er ist weniger Transportmittel als Wohnform. Leer, durchsichtig und vollgestopft zugleich, mit seinen verglasten Außenseiten offen und mit seinen Gummidichtungen und vernickelten Umrandungen verschlossen, verriegelt, fast wasserdicht. Das Innere wird durch sein Gegenteil definiert, durch jenes omnipräsente und doch weit entfernte und irreale städtische Außen. Der Fiat befriedigt unseren Wunsch, fliehen und sich einschließen zu können, zur Welt zu kommen und in den Zustand eines Fötus zurückzukehren. Er stellt den schützenden und gebärenden weiblichen Körper dar. Als phallisches und mütterliches Symbol ist er ebenso domus wie domina, Domizil wie Dominierende. Großmutter hatte ihn mit unentbehrlichen Gegenständen ausgestattet, Bürste, Einwegkulis, Reinigungstücher der Marke Quickies, Papiertaschentücher, Sonnenbrille, goldene Päckchen 555-Zigaretten, ähnlich wie Blaise Cendrars, jener andere Versehrte, der seinen Alfa Romeo in ein fahrbares Zimmer verwandelt hatte und die Kapitel der Bücher, die er lesen wollte, im Handschuhfach aufbewahrte.

 

 

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Ich stelle mir vor, wie ihr Gesicht aschfahl wurde, als sie an der Windschutzscheibe das Blatt Karopapier entdeckte, über das sich in Großbuchstaben die Worte »PROFFESSOR BOLTANSKI JUDE« zogen. Sie erkannte die Buchstaben sofort als Kinderschrift, und zwar nicht nur wegen des Schreibfehlers und der Unbeholfenheit, der Unanständigkeit des Ausdrucks. Sie hatte keinerlei Schwierigkeit, den Schuldigen zu überführen. »Mein kleiner Liebling, wie buchstabierst du Professor?«, fragte sie ihn eines Tages in honigsüßem Ton. Der Junge, kaum älter als ich, proper, brav, kurze Hose und Seitenscheitel, antwortete ihr eilfertig. Ob sie danach von seinen Eltern, die im dritten Stock wohnten und genauso geschniegelt waren, in einheitlichem Marineblau, Blazer, Faltenrock und Haarreif inklusive, eine Erklärung verlangte? Die aus der Dunkelheit gesprungene Vokabel konnte er nicht »ganz allein gefunden« haben, wiederholte sie. Er musste bei Tisch Äußerungen, Anspielungen auf »die Leute von nebenan« aufgeschnappt haben, auf den Mann, der seinen Briefkasten mit dem Titel »Professor« schmückte, Äußerungen und Anspielungen, über die er sich später vielleicht mit seinen Kameraden von der Schule der Heiligen Sowieso ausgetauscht hatte, von denen es im Viertel so viele gab. Hatte einer von ihnen ihm vorgeschlagen, zur Tat zu schreiten? Den Eindringling zu demaskieren? Während sie tobte – nicht gegen das Kind, sondern gegen das noch immer von Hass durchdrungene Milieu, aus dem es hervorgegangen war – blieb der Empfänger der Botschaft stumm. Ein einfaches Blatt Papier, drei Worte und alles fängt von vorn an.

 

 

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Wie begibt er sich aufs Kommissariat? Nicht im Hotchkiss, jenem Wagen mit spitz zulaufendem Kühler, auf den er so stolz war, trotz der Aussetzer beim Anlassen. Den hatte die deutsche Armee schon vor einer Ewigkeit konfisziert. Nicht zu Fuß, trotz des kurzen Weges. Bestimmt im Velocar, das zu dem Zeitpunkt noch nicht beschlagnahmt ist. Das vierrädrige, pedalbetriebene Fahrzeug mit leichter Karosserie hat ihm bereits Ärger eingebracht. Er hatte es von einem Unbekannten gekauft und wurde von einem jungen Mann im Viertel, der behauptete, er sei der Eigentümer, des Diebstahls beschuldigt. Natürlich hat er die geforderte Summe bezahlt. Er konnte sich keine Diskussionen erlauben. Als er in der Rue Perronet 10 ankommt, hilft er seiner Frau, die ihn wie immer begleitet, die staubige Treppe hinauf. Seine Mutter, die ebenfalls vorgeladen ist, schließt den Zug. Die Polizeistation erstreckt sich über zwei Stockwerke eines repräsentativen Eckgebäudes. Sie gehören zu den Ersten, die ihr Abzeichen holen. Alle, deren Name mit den Buchstaben A und B beginnt, werden ab Dienstag, 2. Juni 1942, einberufen. Ein Mann in »abgewetztem Anzug« empfängt sie in einem rauchverdüsterten Raum. Höflich bietet er der behinderten Frau einen Stuhl an, nicht aber der Schwiegermutter. Die beiden Geächteten bleiben vor dem Polizisten stehen, der hinter seinem Schreibtisch sitzt. Ist er derselbe, der bei ihrer Eintragung in das Spezialverzeichnis im Oktober 1940 in einem Tonfall, als sei das ganz offenkundig, sagte: »Monsieur Boltanski, bei Ihnen in der Nachbarschaft lebt ein weiterer Jude, Monsieur Lévy. Sie kennen ihn wahrscheinlich?« Er händigt beiden ihr gelbes Viereck aus, aus dem mit der Schere drei Sterne auszuschneiden sind, und fordert sie auf, in der für die Abzeichnung vorbehaltenen Spalte zu unterschreiben. Im Gegenzug verlangt er eine Stoffmarke aus ihrem Heft mit den Rationierungsmarken. Die Mutter verlässt als Erste den Raum, mit verschrecktem Blick, den Stoff in der Hand, den sie zu Hause entlang der schwarzen Borte ausschneidet und sorgfältig an die Revers der Mäntel näht. Auf dem Gehsteig bricht sie zusammen. Als eine Passantin das Stückchen Stoff und ihre Tränen sieht, sagt sie zu ihr: »Von jetzt an können wir unsere wahren Freunde erkennen!«

 

 

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Deutlich sichtbar trägt er seine gelbe Zielscheibe. Sie drückt sich an seine Seite. So schnell er kann, tritt er in die Pedale und fährt durch ein teilweise menschenleeres Paris. Sie verlassen kaum noch das Haus, aber man hat sie über eine Sendung Orangen informiert. Eine Seltenheit. Eine ganze Kiste. Wo fahren sie hin, um sie abzuholen? Jean-Élie erinnert sich nicht mehr. »Vielleicht zu einem Bahnhof.« Und wer ist der Absender? Ein Verwandter? Ein Freund? Jemand, der ihnen etwas schuldet? Wie auch immer, sie machen sich Sorgen. Sie haben gezögert, ein solches Risiko einzugehen. Seit dem Frühsommer ist die Überwachung stärker geworden. Die Polizei für Judenfragen stellt in Metrogängen, an Ausgängen von Kinos und Theatern und in öffentlichen Parks Fallen. Mit seinem leuchtenden Stoff auf der Brust kann er überall aufgegriffen werden. Auf der Rückfahrt plötzlich eine Schlange, eine Menschenansammlung und in der Ferne eine Sperre, eine Kontrolle, Uniformierte verlangen Ausweise, es werden Befehle gerufen. Wenn er wendet und zurückfährt, fällt er sofort auf. Also weicht er zurück, ganz langsam, kaum merklich. Bei einem Velocar gibt es keinen Rückwärtsgang. Die einzige Möglichkeit besteht darin, den Fuß auf die Erde zu setzen und das Fahrzeug zurückzuschieben. Seine ohnmächtige Beifahrerin sieht zu, wie er schwitzt, die Muskeln angespannt, am Lenker zieht. Seine Sohlen rutschen. Die Räder sperren sich gegen den Asphalt. Die Fahrradkette läuft leer. Die Menge vor ihnen, die sie verbirgt, wird lichter. Wenn sie den Abstand vor sich zu groß werden lassen, riskieren sie, die Aufmerksamkeit der Polizisten oder Soldaten auf sich zu lenken. Die letzten Fußgänger und Fahrzeuge werden gleich die Absperrung passieren, als seitlich ein Ausweg auftaucht. Er weicht noch einen oder zwei Meter zurück, biegt mit dem Velocar ab und verschwindet in der Nebenstraße.

 

 

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Diesmal geht er allein. Mitten in der Nacht läuft er die Stufen vor der Küche hinunter und wendet sich zur Straße, mit seinem Überzieher, dem Hut und einem kleinen Koffer. Er trotzt der deutschen Anordnung, die es ihm verbietet, zwischen 20 Uhr und 6 Uhr morgens seinen Wohnsitz zu verlassen. Ist es im Spätsommer oder bereits im Herbst 1942? Seit einiger Zeit hält er keine Sprechstunden mehr. Das Aufsichtsgremium der öffentlichen Wohlfahrtspflege von Paris macht sich daran, seine Praxis für »vakant« zu erklären. Er ist offiziell von seiner Frau geschieden. Sein Bankkonto ist gesperrt. Nichts hält ihn mehr in Paris. Mit entschlossenem Schritt durchquert er den Hof, geht zum Tor, hebt den Riegel an, zieht es auf und lässt es so laut hinter sich zuschlagen, als wollte er, dass alle – Angehörige, Concierge, Nachbarn, Anwohner, Polizeispitzel, mögliche Passanten – ihn hören.

KÜCHE