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VERÖFFENTLICHUNGEN ZUR GESCHICHTE
DER UNIVERSITÄT MOZARTEUM SALZBURG
BAND 8

WOLFGANG GRATZER / SYLVIA HAHN /
MICHAEL MALKIEWICZ / SABINE VEITS-FALK
(HG.)

Salzburg: Sounds of Migration.
Geschichte und aktuelle Initiativen

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Für den Inhalt der Beiträge sind die Autorinnen bzw. Autoren verantwortlich.

Die Abbildungsrechte sind nach bestem Wissen und Gewissen geprüft worden. Im Falle noch offener, berechtigter Ansprüche wird um Mitteilung des Rechteinhabers ersucht.

Umschlag: Nikola Stevanović
unter Verwendung eines Fotos von Martin Herrmann / Red Bull Creative, eines Flyers für ein Konzert des Hagen Quartetts (© Muza Kawasaki Symphony Hall), der Plakate für ein Konzert von Hubert von Goisern zusammen mit den Gruppen Zdob şi Zdub und Gajdamaki (© Residenz Verlag), für Voices for Refugees (© Volkshilfe Österreich), für ein Konzertveranstaltung des West-östlichen Divans (© WÖD) sowie für klangschaf(f )t (© Odeïon Salzburg).

Layout und Satz: Nikola Stevanović, Belgrad

ISBN 978-3-99012-324-9 hbk

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Sounds of Migration (Vorwort)

I. Grundlagen

Sylvia Hahn / Sabine Veits-Falk
Migrationsgeschichte und Migrationsarchiv: Themenschwerpunkte der Paris Lodron Universität Salzburg und des Stadtarchivs Salzburg

Nils Grosch / Caroline Stahrenberg
„To be faced with the problem of entering into new ways of thinking“: Forschungsperspektiven und Sammlungsaufbau zu Musik und Migration an der Universität Salzburg

II. Geschichte

Thomas Schallaböck
Reisende Musiker im Mittelalter

Gerhard Ammerer
Die Lieder der Vaganten

Eva Neumayr
Migration und Mobilität. Die Mitglieder der Salzburger Hofkapelle des 18. Jahrhunderts auf Reisen

Oliver Rathkolb
Kulturelle Entnazifizierung und Reorientierung des Musiktheaters nach 1945 am Beispiel der Salzburger Festspiele bzw. des Exilanten Bruno Walter

III. Aktuelle Begegnungsinitiativen

Thomas Nußbaumer
„Echos der Vielfalt – Musik der Welten in Tirol“. Eine interkulturelle Konzertreihe

Hossam Mahmoud / Frank Stadler (im Gespräch mit Wolfgang Gratzer)
Vom Verstehen-Wollen: Der West-östliche Divan in Salzburg

Pavo Janjic-Baumgartner / Michael Malkiewicz
Interkulturelle Matinéen in Salzburg. Zwei Erfahrungsberichte

Alrun Pacher
Musikalische (Wahl)heimaten. Erfahrungsbericht über ein Education Projekt des Mozarteumorchesters Salzburg

IV. Interkontinentale Wege

Michael Malkiewicz
China-Aktivitäten der Universität Mozarteum Salzburg

Lukas Hagen / Rainer Schmidt (im Gespräch mit Wolfgang Gratzer)
Welttourneen und die Frage nach Klischees

Seda Röder (im Gespräch mit Wolfgang Gratzer)
Istanbul – Salzburg – Harvard – Salzburg

Shahriyar Farshid (im Gespräch mit Wolfgang Gratzer)
„Ich habe mich bald echt zuhause gefühlt, das muss ich sagen.“

Hubert von Goisern (im Gespräch mit Wolfgang Gratzer)
Mit Musik unterwegs: Fern- und Nahreisen über Jahrzehnte

AutorInnen

Register

Sounds of Migration (Vorwort)

Salzburg und Migration: Eine Intervention

„Sound of Migration“: Mehr als ein wortspielerischer Gag, mehr als ein kurzer Reflex auf Salzburgs Ruf als touristisch einträgliche Filmkulisse? Julius Deutschbauer und Gerhard Spring erhielten 2008 den von Land und Stadt Salzburg verliehenen „Kulturplakatpreis“ (Abb. 1). Die prämierte Arbeit wurde ähnlich einer Variation des Filmplakats für den Welterfolg The Sound of Music (USA 1965, Regie: Robert Wise) gestaltet: Zwei Männer stehen vor Salzburgs Bergwelt, die nach oben gerichteten Blicke und die nach vorne gestreckten Arme scheinen die Erwartung bzw. Verkündigung einer Prophetie zu signalisieren.

Auch die geschwungene Schrift darüber erinnert an das Plakat des US-amerikanischen Blockbusters, freilich ist nunmehr in großen Buchstaben „Sound of Migration“ zu lesen – eine Formulierung, die auch für den Film mit Julie Andrews gepasst hätte, zehrt die Handlung von The Sound of Music doch von jener Migrationsgeschichte der Familie Trapp, in der Musik gleichsam als Glücksbringer fungiert. Eine Presseaussendung der Stadt Salzburg vermied derlei inhaltliche Assoziationen. Vielmehr wurde das Jurymitglied Siegbert Stronegger darin mit der Begründung zitiert, das Plakat habe eine „verblüffend einfache, gleichzeitig witzig-provokante Lösung“ und den Beweis erbracht,

„dass Plakat und Kunst in engem Konnex zueinander stehen: Gute Plakate sind Kunst im öffentlichen Raum. Mehr noch: Sie sind Verführer zur Kunst.“1

Wurde von Seiten der Jury demnach das Potential eines – mit Mitteln künstlerisch gestalteter Ironie hergestellten – Transfers von Kunst in den öffentlichen Raum herausgestellt, so blieb das anspielungsreiche Sujet und dessen Entstehungsgeschichte in dieser Aussendung nicht näher erwähnt: Von der SZENE Salzburg eingeladen, Programmteil 7 im Sommerfestival zu gestalten und dabei das Motto „identity scan salzburg“ zu beachten, entschied sich das Künstlerduo Deutschbauer / Spring für eine irritierende künstlerische Intervention: Einheimische sowie Tagestouristinnen und -touristen der Festspielstadt wurden von einer „Interview-Maschine“ mit Fragen wie „How was your journey?“ konfrontiert: Fragen, die üblicherweise an FluchtmigrantInnen gerichtet sind; Fragen, deren Beantwortung – direkt oder indirekt – Aspekte der Nicht-Sesshaftigkeit in den Biographien der Befragten zutage treten lassen. Vermutlich dachte zu diesem Zeitpunkt kaum eine/r der in dieses Projekt Involvierten, welch polarisierender medialer „Sound“ in der Kommunikation über die Grenzregion Salzburg 2015 durch die Flüchtlingsströme vom sogenannten Nahen Osten Richtung Mitteleuropa entstehen würde.

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Abb. 1 Julius Deutschbauer / Gerhard Spring, Plakat Sound of Migration (2008) anlässlich des gleichnamigen SZENE Salzburg-Projekts (© SZENE Salzburg)

Migration und Musik: Forschungspotentiale

„Migration gehört zur Conditio humana wie Geburt, Vermehrung, Krankheit und Tod; denn der homo sapiens hat sich als Homo migrans über die Welt ausgebreitet.“ Diese summarische Feststellung ist – fernab bloßer Behauptung – längst wissenschaftlich argumentiert. Die These findet sich im Einleitungsteil der Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart2 formuliert und ebenda auf 1156 Seiten in eindrucksvoller Dichte belegt. Die Beiträge zum interdisziplinären Feld der Migration Studies sind mittlerweile so zahlreich, dass das Bedürfnis nach Zusammenschau signifikant wächst und jüngst vermehrt zu Veröffentlichungen wie dem International Handbook of Migration Studies (2013) führt, aber auch zeitlich bzw. geographisch fokussierte Sammelbände wie das Handbuch Migration im Mittelalter (2014) oder das Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert (2015) nach sich zieht.3

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Abb. 2 Plakat für das Solidaritätskonzert Voices for Refugees am Wiener Heldenplatz (2. Oktober 2015) (© Volkshilfe Österreich)

Die Migration Studies scheinen sich demnach in einem weit fortgeschrittenen Stadium zu befinden. Trotz aller erkennbarer Dynamik und Breite bisheriger Forschungsprojekte trügt der Eindruck, harren doch ganze Fragenkataloge der systematischen Aufarbeitung, d.h. der Dokumentation und Diskussion. Hierzu gehört auch die Frage nach den Voraussetzungen, Formen und Folgen musikalischer Aktivitäten in Migrationskontexten. Drei potentielle Forschungsszenarien als Beispiele:

(1.) Am 2. Oktober 2015 fand auf Initiative von Erich Fenninger (Direktor der Volkshilfe Österreich) am Wiener Heldenplatz die vom Fernsehkanal Puls 4 live übertragene Veranstaltung Voices for Refugees (Abb. 2) statt. Campino, Leadsänger der am Ende auftretenden Band Die Toten Hosen, verwies auf den Symbolwert solcher Groß-Konzerte und untersagte in der Anmoderation des Songs An Tagen wie diesen Heinz-Christian Strache, Bundesparteiobmann der Freiheitlichen Partei Österreichs und u.a. Proponent des gegen „Überfremdung“ auftretenden Vereins SOS Abendland4, ausdrücklich Tote-Hosen-Songs auf Parteikundgebungen zu spielen.5 In einem Rückblick der Volkshilfe Österreich wurde hierauf nicht eingegangen, vielmehr hieß es allgemein zur Motivation von Voices for Refugees:

„Unser Solidaritätskonzert sollte ein Weckruf für die EntscheidungsträgerInnen sein, sich wieder an den Grundwerten Europas auszurichten. Mehr als 150.000 Menschen sind unserem Aufruf gefolgt und zeigten als Zivilgesellschaft den einzig richtigen Weg, mit der Flüchtlingsbewegung umzugehen.“6

Die in hohem Maß heterogene Berichterstattung, abzulesen bereits an den stark schwankenden Angaben zur Publikumsgröße (zwischen 20 000 [Strache7] und 150 000 Menschen [Volkshilfe Österreich]), gibt ein Meinungsspektrum zu erkennen, in dem alles andere als zweifelsfrei feststeht, welche Funktion dem Entstehen, Präsentieren bzw. Hören von Musik in den gegenwärtigen, stark von Flüchtlingsströmen und dem Umgang mit diesen geprägten Migrationsdebatten zugeschrieben werden kann bzw. soll. Und: Unklar und demnach zu beforschen bleibt zudem, inwiefern historische Vergleiche hierbei nützlich sind und welche Referenzbeispiele sinnvollerweise herangezogen werden können.

(2.) Medial mit weit weniger Aufmerksamkeit bedacht, wurde am 16. September 2015 von der Online-Redaktion der Salzburger Nachrichten auf Youtube ein 45 Sekunden dauerndes Video veröffentlicht, das unter dem Titel Salzburg Bahnhof8 ausschnitthaft eine Begebenheit in der Tiefgarage des Salzburger Hauptbahnhofes festhält: Inmitten der – notdürftig für die Nächtigung von Flüchtlingen umfunktionierten – Halle tanzen, singen und klatschen Menschen verschiedenen Alters zur Musik eines jungen Mannes, der auf seiner akustischen Gitarre ein Lied spielt. Scheint dies, der Körpersprache der umstehenden Personen nach zu schließen, an Ort und Stelle Anklang zu finden und den erklärenden Worten der Salzburger Nachrichten

„Inmitten der Verzweiflung spielen sich auch berührende Szenen in der Bahnhofsgarage ab. Eine Gruppe von Freiwilligen macht Musik, ein Dutzend Flüchtlinge, darunter viele Kinder[,] singen und tanzen voller Freude mit.“

zu entsprechen, so postete ein Youtube-User unter dem Namen „Hans Ott“ ungehemmt (vollständiger Wortlaut in originaler Schreibweise):

„Ihr seid ja alle gestört. Aber bei Euch bleiben Sie nicht, die wollen alle zu Mutti Deutschland!!! Österreicher seit doch froh das Ihr den Dreck weitergeben könnt.“9

Ein zweiter Kommentator, „Florian Huber“, zeigt sich über diese Wortwahl bestürzt und meint abschließend (originale Schreibweise):

„es ist unterste schuplade so unmenschlich darüber im INTERNET zu schreiben einfach unmenschlich. Meiner meinung nach solltest du mal dort dabei sein dan könntest du mitreden.“

Wie in der ersten Stellungnahme wird auch hier die Musik nicht explizit erwähnt, vielmehr kreist die Einschätzung um die Gesinnungsrhetorik des kritisierten Statements und den Umstand, dass „Hans Ott“ attackierte, anscheinend ohne bei der gefilmten Situation anwesend gewesen zu sein. Bis 7. Oktober 2015, drei Wochen später, ist es bei diesen beiden Kommentaren und insgesamt 785 Youtube-Aufrufen geblieben; sieben Betrachter haben sich bis zu diesem Zeitpunkt entschlossen, zwischen den Buttons „Das mag ich“ und „Mag ich nicht“ zu wählen: Das Interesse von Youtube-Usern an diesem Video schien in den ersten drei Wochen niedrig gewesen zu sein und – den fehlenden verbalen Kommentaren nach zu schließen – die übrigen BetrachterInnen dieses Dokuments anders affektiert zu haben als die beiden zitierten Kommentatoren. Wie ließe sich das Zustandekommen, der Inhalt, der Veröffentlichungsmodus und die Rezeption des Videos innerhalb einer Geschichte des Verhältnisses von Musik und Migration verorten, sei diese Geschichte nun auf lokale, überregionale oder gar internationale Vergleichbarkeit hin angelegt?

(3.) An der Universität Mozarteum waren im Wintersemester 2015 (Stand 8. Oktober 2015) 1839 Studierende eingeschrieben, darunter 731 (39,7%) mit österreichischer Staatsbürgerschaft und 1108 (60,3%) anderer staatlicher Zugehörigkeit.10 Dem langjährigen statistischen Schnitt nach zu schließen, spiegeln diese Zahlen einen ‚Normalzustand‘, der im institutionellen Selbstverständnis der Universität eine maßgebliche Rolle spielt. In den „Ethischen Grundsätzen“ der erstmals 2002 verabschiedeten Leitlinien wird festgehalten:

„Universitäre Lehre und Forschung schließt Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen, Interessen und Zielsetzungen ein; daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer ausgeprägten Kultur des Gesprächs und der Lösung von Konflikten.“11

Zusammen mit den erwähnten statistischen Befunden signalisieren diese Zeilen einen Konsens, der sich u.a. in der im Entwicklungsplan 2010–2015 mit erkennbarem Stolz ausgewiesenen Verpflichtung zu „Internationalität“12 niederschlägt: Die Universität Mozarteum als ‚Insel‘ sich konfliktfrei gestaltender Migrationsphänomene? In eben diesem Sinn ein gesellschaftliches Unikat? Die Frage ist leichter zu stellen als konzise zu beantworten. Statistische Daten alleine lassen bestenfalls statistische Vergleiche mit ähnlichen Institutionen zu, doch ist damit noch keine hinreichende Auseinandersetzung geleistet. Die Frage beispielsweise, inwiefern interkulturelle Begegnungen an diesem Haus – etwa im Unterricht oder in öffentlichen Veranstaltungen – ‚funktionieren‘, lässt sich ehestens dann plausibel beantworten, wenn (1.) u.a. ausgehandelt ist, was unter ‚funktionierenden‘ interkulturellen Begegnungen an einer Kunstuniversität verstanden wird bzw. werden kann und (2.) solche Begegnungen Dokumentation erfahren.

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Abb. 3 Plakat für das Benefizkonzert zugunsten der Ausbildung junger Flüchtlinge, initiiert und veranstaltet vom Mozarteumorchester Salzburg im Haus für Mozart / Salzburg (15. November 2015) (© Mozarteumorchester Salzburg)

Salzburg – Sounds of Migration: Zur Entstehungsgeschichte

Die Vorgeschichte dieses Sammelbandes beginnt mit einer gemeinsamen Initiative von Sylvia Hahn (Paris Lodron Universität Salzburg) und Sabine Veits-Falk (Stadtarchiv Salzburg) im Jahr 2013, nach Kommen / Gehen / Bleiben. Migrationsstadt Salzburg 1960–1990 (Abb. 5) eine weitere öffentliche Wissensbrücke in der Stadt Salzburg Migrationsthemen zu widmen, und zwar nunmehr mit einem Schwerpunkt auf Musik einbeziehenden Aspekten.

Eine Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus den vier HerausgeberInnen der vorliegenden Publikation, entwickelte seither dieses Projekt. Dessen Umsetzung sollte im Studienjahr 2016/17 abgeschlossen sein. Vorbereitet wird zum einen eine auf dem Salzburger Makartsteg auf Schautafeln montierte Ausstellung, zum anderen eine öffentlich Ringvorlesung mit Vorträgen, Gesprächen und Diskussionsangeboten. Der Sammelband Salzburg: Sounds of Migration. Geschichte und aktuelle Initiativen will diese Unternehmungen ankündigen und begleiten.

Zugrunde liegt allen Projektphasen ein Begriffsverständnis von Migration, das nicht ‚an sich‘ feststeht, sondern historisch gewachsen ist und zu präzisieren bleibt. Entsprechend dem etymologischen Ausgangsbefund, wonach das lateinische Substantiv ‚migratio‘ deutschsprachig vornehmlich mit ‚Wanderung‘, ‚Einwanderung‘, ‚Auswanderung‘ und ‚Umzug‘ übersetzt wurde und auch entsprechend dem Umstand, dass diese Begriffe in ganz und gar unterschiedlichen Lebensbereichen Verwendung finden und beispielsweise in der Biologie ebenso anzutreffen sind wie in den Sozialwissenschaften, wird von der Arbeitsgemeinschaft ein breites Bedeutungsverständnis favorisiert: Demnach gilt, einem Formulierungsvorschlag Wolfgang Gratzers folgend,

Migration als Sammelbegriff für den Vorgang der Verlagerung des Lebensmittelpunktes (im Unterschied zu Phänomenen der Bleibe bzw. Sesshaftigkeit sowie kurzfristigen beruflichen und privaten Reiseaktivitäten).

Dies impliziert die Annahme, dass deren Formen, geographische Distanzen, Dauer bzw. Konstanz, Bedingungen, Auswirkungen variieren können.

Entsprechend wird in der interdisziplinär ausgerichteten Migrationsforschung typologisch zwischen

(1.) Migrationsformen (u.a. Arbeitsmigration, Armutsmigration, Bildungsmigration, Glaubensmigration, Fluchtmigration, Heiratsmigration, Karrieremigration, Kettenmigration, Wirtschaftsmigration und Zwangsmigration) und

(2.) Push- und Pullfaktoren (darunter demographische, kulturelle, ökonomische, politische und soziale)

differenziert und nach Wechselwirkungen in den betroffenen Migrations- und Bleibesystemen gefragt.

Hiervon ausgehend gerät die Recherche zu Berührungspunkten zwischen Salzburgs Musikleben und mit Salzburg in Bezug stehende Migrationsgeschichte(n) so üppig, dass der vorliegende Band weniger ein Resümee denn Impulse zur weiteren Erforschung anbieten kann:

• Kap. I thematisiert Grundlagen unterschiedlicher Art: Sabine Veits-Falk / Sylvia Hahn (S. 22–31) bzw. Nils Grosch / Caroline Stahrenberg (S. 32–41) stellen Salzburger Forschungsaktivitäten und Archivgründungen vor, die auf die sukzessive Dokumentation und Erforschung von Migrationsphänomenen zielen: Seit Jahren ist Migration ein Forschungsschwerpunkt des Fachbereichs Geschichte der Paris Lodron Universität Salzburg; im Stadtarchiv Salzburg werden seit 2014 Dokumente und Fotos gesammelt sowie Interviews mit MigrantInnen geführt, die ab 2016 öffentlich zugänglich sein werden; in der an der Paris Lodron Universität Salzburg angesiedelten, seit Herbst 2014 im Entstehen begriffenen „Music and Migration Collection“ finden sich v.a. thematisch einschlägige Nachlässe.

• Kap. II trägt in vier Texten zur Einsicht in einige Kapitel der langen Geschichte des Verhältnisses von Musik und Migration bei: Thomas Schallaböck (S. 44–61) skizziert die Entwicklung mittelalterlicher Spielleute und Sänger in den soziologischen Kontexten dieser Epoche; Produktions- und Rezeptionsdokumente geben die mitunter beachtliche Ambivalenz in der Wert- bzw. Geringschätzung dieser Zunft zu erkennen: Demnach empfanden „der Adel und das aufstrebende städtische Bürgertum, ja selbst die hörigen Bauern […] für dieses herumziehende Volk einerseits tiefste Verachtung und andererseits höchste Bewunderung“ (S. 59). Gerhard Ammerer (S. 62–78) lenkt ebenfalls den Blick auf die Geschichte des reisenden Künstlertums, konzentriert sich aber überwiegend auf Beispiele aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Er erinnert u.a. daran, dass der spätere Theaterdirektor und Zauberflöten-Librettist Emanuel Schikaneder die Risiken eines Wandermusiker-Lebens auf sich nahm und auf diesem Weg 1780/81 in Salzburg mit Wolfgang Amadé Mozart und dessen Familie bekannt wurde; weiters verweist Ammerer auf die auf Jahrmärkten anzutreffende Tradition sogenannter Bänkelgesänge, darunter Lieder über jenen kriminellen ‚Herumtreiber‘ Schinderhannes, dessen Leben einen Schauspiel-Text inspirierte, der 1804 in Salzburg erschien. Eva Neumayr (S. 79–94) rekonstruiert Migrationsbiographien von Mitgliedern der Salzburger Hofkapelle und kann verschiedene Motive für die auffällig gehäuften Reisebewegungen ausmachen: „Der Lebensmittelpunkt wurde gewechselt, um Ausbildung und Zukunftsperspektiven oder bessere berufliche Chancen und ein höheres Gehalt zu erlangen oder in ein gesünderes Klima zu kommen“ (S. 94). Oliver Rathkolb beleuchtet Anstrengungen, die Salzburger Festspiele und die Wiener Philharmoniker nach Ende des Zweiten Weltkrieges als weltoffen zu präsentieren und dabei verfemte Dirigenten zur Rückkehr aus dem Exil zu bewegen. (S. 95–115)

• Kap. III macht mit Chancen und Problemen gegenwärtiger „Sounds of Migration“ bekannt, wobei sich vielfach Bezugspunkte zu früheren oder jetzigen Mitgliedern der Salzburger Paris Lodron Universität und der Universität Mozarteum zeigen. Die von Thomas Nußbaumer (S. 118–125) porträtierte, seit 2004 existierende Konzertreihe Echos der Vielfalt – Musik der Welten in Tirol nahm ihren Anfang in einem Forschungsprojekt samt Lehrveranstaltung zur musikalischen Lebenswelt von Minderheiten. Das Zustandekommen der regelmäßigen Konzerte wird mittlerweile von verschiedener Seite unterstützt. Interkulturelle Zusammenkünfte etwas anderer Art fördert die 2011 begonnene und seither von Pavo Janjic-Baumgartner und Michael Malkiewicz (S. 141–164) mit „Begegnungsmusikmatinéen“ (S. 143) ausgestaltete Kooperation zwischen dem Verein IKUBIK und der Universität Mozarteum. Alrun Pacher (S. 165–179) blickt auf das von ihr initiierte Kooperationsprojekt Musikalische (Wahl)heimaten (2011/12) zurück. Beteiligt waren das Mozarteumorchester Salzburg, dessen Mitglieder aus ca. 20 Ländern stammen, und die Neue Mittelschule/Musikhauptschule Grödig, deren SchülerInnen ein Herkunftsspektrum von ca. 15 Ländern aufweisen; filmisch festgehalten wurde dieses Projekt von Jürgen Palme. Die beiden Mozarteums-Absolventen und Profimusiker Hossam Mahmoud und Frank Stadler (S. 126–140) haben sich 2012 zur Gründung des Vereins West-östlicher Divan entschlossen und ermöglichen einem wachsenden Salzburger Publikum seither literarisch-musikalische, zuweilen auch kulinarische Begegnungen mit VertreterInnen anderer Kulturräume.

• Kap. IV schließlich beleuchtet einige jener interkontinentalen Wege, die Musik und Musikausbildung zuweilen nehmen. Michael Malkiewicz (S. 182–199) berichtet über die zuletzt auffällig intensivierten Aktivitäten der Universität Mozarteum in China bzw. Taiwan und verweist auf Schieflagen im gegenseitigen Bemühen um Verständnis. Lukas Hagen und Rainer Schmidt (S. 200–219), Mitglieder des Hagen Quartetts, erläutern im Gespräch, welche Erfahrungen ein international begehrtes Musikensemble auf Tourneen außerhalb Europas macht. Die aus der Türkei stammende, 2001 bis 2006 an der Universität Mozarteum studierende, 2011 nach Salzburg zurückgekehrte Konzertpianistin Seda Röder (S. 220–241) erzählt von ihrem wechselvollen Leben zwischen Istanbul, Salzburg und Harvard. 2007 verließ der iranische Komponist Shahriyar Farshid (S. 242–257) seine Heimat, um zunächst in Armenien, seither in Salzburg und demnächst in den USA zu leben. Die Gesprächsreihe wird abschlossen durch eine Begegnung mit dem in Salzburg lebenden Musiker Hubert von Goisern (S. 258–280), der seit Jahrzehnten in anderen Sprach- und Kulturräumen Erfahrungen gesammelt hat und dort – nicht ohne Hindernisse – ungewöhnliche Projekte realisiert.

Zu danken ist insbesondere

• den AutorInnen für deren Manuskripte sowie den GesprächspartnerInnen für deren Mitwirkung bei der Nachbearbeitung der Transkripte

• der Paris Lodron Universität Salzburg, der Universität Mozarteum Salzburg sowie dem Stadtarchiv Salzburg für die unkomplizierte institutionelle Kooperation

• der Universität Mozarteum Salzburg sowie dem Rektor der Paris Lodron Universität Salzburg für die Finanzierung des Bandes innerhalb der Veröffentlichungen zur Geschichte der Universität Mozarteum

• allen Institutionen und Personen, die Recherchen unterstützten, Bilder zur Verfügung stellten und Abbildungsrechte erteilten

• Frau Ulrike Rapp, BA, für die Mitwirkung im Lektorat

• Herrn Dr. Michael Hüttler und seinen MitarbeiterInnen im HOLLITZER Verlag für die graphische Gestaltung, Lektorierung und Drucklegung des Bandes.

Salzburg, den 15. Jänner 2016

Wolfgang Gratzer

Sylvia Hahn

Michael Malkiewitz

Sabine Veits-Falk

I.
GRUNDLAGEN

SYLVIA HAHN / SABINE VEITS-FALK (Salzburg)

Migrationsgeschichte und Migrationsarchiv: Themenschwerpunkte der Paris Lodron Universität Salzburg und des Stadtarchivs Salzburg

Das Thema Migration gehört bereits seit mehreren Jahrzehnten zum Lehr- und Forschungskanon der Universität Salzburg. Bereits in den 1980er Jahren wurde dieses Thema im Bereich der Zeitgeschichte, und hier vor allem durch Gerhard Botz, gefördert und vorangetrieben. Zu den frühen und überaus innovativen Publikationen zählen beispielsweise der bereits Mitte der 1980er Jahre herausgegebene Sammelband zur Migration im Mittelalter von Gerhard Jaritz und Albert Müller1. Auch bei den von Gerhard Botz organisierten Erasmus Summer Schools zu „Neuen Methoden in der Geschichtsforschung“ war das Thema Migration sowohl in den Workshops zu den quantitativen als auch qualitativen Methoden stets präsent. Inhaltlich lag eine deutliche Konzentration auf den politischen und ethnischen Verfolgungen und Vertreibungen sowie Exilerfahrungen rund um den Zweiten Weltkrieg und das nationalsozialistische Regime. Einen wichtigen Bereich stellten dabei vor allem die Studien, Ausstellungen und oral-history Projekte sowie Videofilme über Jüdinnen und Juden aus Salzburg im Exil dar, die von einer ForscherInnengruppe um Helga Embacher und Albert Lichtblau durchgeführt wurden. Darüber hinaus gab es aber auch im Bereich der quantitativen historischen Sozialforschung Studien zur Arbeitsmigration in Niederösterreich im 19. Jahrhundert (Sylvia Hahn, Wolfgang Maderthaner und Gerald Sprengnagel)2 und zur Mobilität von Studenten und dem Alltagsleben im Mittelalter von Forschungsgruppen an der Universität Salzburg (Albert Müller) und Graz (Herwig Ebner, Ingrid Matschinegg, Brigitte Rath) sowie am Institut für Realienkunde in Krems (Gerhard Jaritz)3, das die Universität Salzburg 2012 von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften übernahm.

Arbeitsgruppe Migration, Labor and Urban Studies

In den 1990er Jahren kam es zur Gründung der Arbeitsgruppe Migration, Labor and Urban Studies unter Federführung von Josef Ehmer, Sylvia Hahn und Reinhold Reith und zur Organisation der ersten international besetzten Ringvorlesungen zu internationalen und globalen Migrationen. Es folgten weitere Projekte4 und Ringvorlesungen, die auch als Buchprojekte veröffentlicht wurden.5 Ein wichtiges Ziel der Arbeitsgruppe bestand von Anbeginn in der internationalen Vernetzung mit WissenschafterInnen aus dem europäischen und vor allem angelsächsischen Raum, wo die historische Migrationsforschung bereits etabliert war. Eine sehr gute An- und Einbindung sowohl an das Netzwerk der beiden wichtigsten Sozialhistorischen Konferenzen (European Social Science History Conference und Social Science History Association) gelang sehr rasch und Sylvia Hahn war für mehrere Jahre eine der migration-network-chairs der ESSHC. Seit diesen Jahren bestehen ausgezeichnete Kontakte zu WissenschafterInnen im Bereich der historischen Migrationsforschung in Europa und den USA. Mehrere international besetzte Konferenzen konnten in den letzten 15 Jahren gemeinsam mit diesen internationalen KollegInnen durchgeführt und wissenschaftliche Beiträge bzw. Sammelbände publiziert werden. Ein Resultat davon ist auch die 2004 von Sylvia Hahn, Christiane Harzig und Dirk Hoerder gegründete Reihe Transkulturelle Perspektiven6, in der mittlerweile insgesamt 13 Publikationen herausgebracht werden konnten. Forschungsergebnisse von MitarbeiterInnen der Universität Salzburg konnten darüber hinaus auch in der von Reinhold Reith (gemeinsam mit Mathias Beer, Dittmar Dahlmann und Margit Schulte Beerbühl) herausgegebenen Schriftenreihe Migration in Geschichte und Gegenwart7 publiziert werden. 2012 verfasste Sylvia Hahn eine Einführung in die Historische Migrationsforschung8 und 2014 (anlässlich 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei) eine Studie gemeinsam mit Georg Stöger im Auftrag des Bundesministeriums für Europa, Integration und Äußeres.9 Im November 2014 veranstaltete die Universität gemeinsam mit der Stadt Salzburg eine Podiumsdiskussion zu diesem Thema und gemeinsam mit dem Generalkonsulat der Republik Türkei in Salzburg eine Konferenz.10

2013 ist die Arbeitsgruppe Migration, Labor and Urban Studies zu einer der (insgesamt acht bestehenden) „Forschungssäulen“11 des Fachbereichs Geschichte geworden. Ihr Ziel ist, Migration, Arbeit und Stadtgeschichtsforschung noch stärker als bisher als Themenschwerpunkte in Forschung und Lehre und vor allem auch in einer interdisziplinären Kooperation zu verankern.

Studienergänzung „Migration Studies“

Ein wichtiger Schritt dazu war die Etablierung der Studienergänzung „Migration Studies“ 2012, an deren Gründung und Funktionieren KollegInnen aus allen vier Fakultäten beteiligt waren und sind. Mit dieser Studienergänzung wird interessierten Studierenden an der Universität Salzburg die Möglichkeit geboten, Einblicke in die historischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Grundlagen der Migrationsforschung zu erhalten. In der interdisziplinären Studienergänzung werden Lehrveranstaltungen unterschiedlicher Fachbereiche gebündelt. Durch die Absolvierung der „Migration Studies“ soll die Argumentations- und Kritikfähigkeit in Hinblick auf aktuelle gesellschaftliche Diskurse und Entwicklungen geschärft und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik Migration angeregt werden.

Universitätslehrgang „Migrationsmanagement“ in Kooperation mit St. Virgil Salzburg und dem Österreichischen Integrationsfonds

Im März 2016 beginnt bereits der dritte Universitätslehrgang „Migrationsmanagement“12, der 2007 von Nikolaus Dimmel gegründet wurde. Im Lehrgang werden Kompetenzen für eine erfolgreiche Führungs-, Leitungs- und Organisationstätigkeit in den Bereichen Migration und Integration vermittelt. Dabei werden rechtliche, politische, ökonomische, kulturelle, religionswissenschaftliche, psychologische, kommunikationswissenschaftliche, historische und soziale Aspekte der Migration berücksichtigt. Zielgruppe sind MitarbeiterInnnen im öffentlichen Dienst, vor allem in der öffentlichen Sicherheit, DiplomsozialarbeiterInnen, LehrerInnen, Krankenpflegepersonal sowie Menschen mit zivilgesellschaftlichem Engagement.

Ausstellung „Wissensbrücke“ am Makartsteg in Kooperation mit dem Stadtarchiv Salzburg

Unter dem Motto „Kommen – Gehen – Bleiben. Migrationsstadt Salzburg“ (Abb. 4/5) wurden in den Jahren 2013 und 2014 zwei Ausstellungen zum Thema der Migrationen in Salzburg von Sylvia Hahn und Sabine Veits-Falk (Stadtarchiv Salzburg) gestaltet und umgesetzt. Ermöglicht wurden diese beiden Ausstellungen durch die finanzielle Unterstützung des Integrationsbüros der Stadt Salzburg sowie einer weiteren Ko-Finanzierung seitens der Universität Salzburg13.

Die erste Ausstellung (23. Mai – 1. Juli 2013) thematisierte die lange Geschichte der unterschiedlichen Migrationen, die sich in der Stadt Salzburg ereignet hatten. Wichtig war dabei, sowohl die Zu- wie auch die umfangreichen Abwanderungen aus der Stadt sichtbar zu machen. Neben den Ansiedlungen der römischen und keltischen Bevölkerung im Salzburger Raum, zählten auch die Gründer der Stadt und der Universität zu ZuwanderInnen. In der Geschichte der Stadt Salzburg gab es kaum einen Erzbischof unter den zahlreichen kirchlichen Regenten, der kein Immigrant war. Daneben kam es immer wieder zu Vertreibungen von ethnischen oder religiösen Gruppen wie der jüdischen oder protestantischen Bevölkerung. Eine weitere wichtige Rolle spielten die zahlreichen Arbeitsmigranten, die spätestens seit dem Mittelalter immer wieder für die großen Bauprojekte der Erzbischöfe in die Stadt geholt wurden. Ein Beispiel dafür waren die italienischen Architekten, Künstler und Bauarbeiter, die selbst noch im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert auf den Bauplätzen in Stadt und Land, wie Fotografien zeigen, zu finden waren. Dem wichtigen und vielfach übersehenen Aspekt der weiblichen Migration – und hier insbesondere der Arbeitsmigration von Frauen – wurde ebenfalls in mehreren Tafeln Aufmerksamkeit gewidmet. Insgesamt war es den Gestalterinnen wichtig, einen genderspezifischen Blickpunkt auf das historische Migrationsgeschehen zu werfen, um die über Jahrhunderte tradierte Annahme der dominierenden männlichen Migration in Frage zu stellen. Die Intention dieser ersten historisch rückblickenden Migrationsausstellung war es, einige wichtige Etappen der umfangreichen und vielfältigen Immigrationen und Emigrationen von Frauen und Männern in der Stadt Salzburg sowie deren wesentliche Beiträge zur Stadtentwicklung darzustellen.

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Abb. 4 „Wissensbrücke“ am Makartsteg (23. Mai – 1. Juli 2013) unter dem Motto „Kommen – Gehen – Bleiben. Migrationsstadt Salzburg“ (© Sabine Veits-Falk)

Die zweite Ausstellung Migrationsstadt Salzburg 1960–1990 (23. Mai – 6. Juli 2014) thematisierte die sogenannte „Gastarbeiter“-Migration seit den 1960er Jahren. Anlassgebend für die thematische Ausrichtung der Ausstellung war das 50-jährige Jubiläum der Unterzeichnung des Arbeitskräfte-Anwerbeabkommens mit der Türkei (1964). Diesen ersten gezielten Anwerbungen, die zunächst auf eine Rotation der Arbeitskräfte ausgerichtet waren, folgten sehr rasch Kettenmigrationen und Familiennachzüge, die für die 1970er und 1980er Jahre charakteristisch wurden. Die Ausstellung konzentrierte sich auf die geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Arbeits- und Lebenswelten der ArbeitsmigrantInnen, deren lange Jahre des Pendelns zwischen zwei Lebenswelten und Kulturen und mit dem allmählichen Bleiben im neuen Zielland. Wichtig war dabei, aufzuzeigen, in welch unterschiedlicher und vielfältiger Weise diese MigrantInnen durch ihre Arbeit, ihre Betriebsgründungen oder durch ihre mitgebrachte Kultur zur Stadtentwicklung und zur Erweiterung der Vielfalt in der Stadt Salzburg in den letzten Jahrzehnten beigetragen haben.

Die Originaltafeln der beiden Ausstellungen konnten erstmals gemeinsam im Herbst 2014 an der Pädagogischen Hochschule Salzburg präsentiert werden. Im Zuge eines Symposiums zum Thema Migration konnte im Oktober 2014 die Ausstellung in den Räumen der PH eröffnet und für ein knappes halbes Jahr gezeigt werden.

Aufgrund einiger Nachfragen entschloss sich die Universität Salzburg, die gesamte Ausstellung auch als role-ups herzustellen. Im November 2014 tourte die Ausstellung in dieser Form nach Wien und wurde vom „Verein für ein gemeinsames Wien“ im Rahmen einer Veranstaltung zum 50-jährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens Österrreichs mit der Türkei gezeigt. Im Dezember 2014 konnte sie in Spittal an der Drau präsentiert werden. Im Frühjahr 2015 war sie für eine Wochenendveranstaltung in Graz und in Bad Gastein ausgestellt. Von Mai bis Juli 2015 war die Ausstellung in der Arbeiterkammer Salzburg zu sehen und wurde von zahlreichen Schulklassen besucht. Führungen wurden von einer Mitarbeiterin des Stadtarchivs Salzburg angeboten. Im November 2015 war sie im Unipark Nonntal zu sehen.

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Abb. 5 Sylvia Hahn und Sabine Veits-Falk (Hg.), [Broschüre] Migrationsstadt Salzburg. City of Migration (Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg, Beiheft 1), Salzburg: Stadtarchiv und Statistik Salzburg 2014, Titelblatt (Gestaltung Eric Pratter / © Salzburger Stadtarchiv)

Migrationsarchiv im Haus der Stadtgeschichte

Obwohl die Geschichte der Stadt Salzburg über Jahrhunderte durch Zu- und Abwanderung geprägt wurde, hat sich dieser Aspekt bisher noch kaum im kollektiven Gedächtnis niedergeschlagen. Mit den beiden Ausstellungen auf dem Makartsteg wurde 2013 und 2014 versucht, das Bewusstsein zu schärfen, dass auch in Salzburg schon immer Menschen unterschiedlicher Herkunft in vielfältiger Form Leben, Arbeit, Politik, Kultur, Gesellschaft und Religion mitgestaltet haben. 2014 erschien in der Schriftenreihe des Archivs der Stadt Salzburg (Beiheft 1) eine viersprachige Dokumentation (deutsch, englisch, türkisch, bosnisch/kroatisch/serbisch) beider Ausstellungen (Abb. 5).14

Einzelne Themenbereiche der beiden Ausstellungen waren in zwei am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg 2012/13 durchgeführten Lehrveranstaltungen (Lehrveranstaltungsleitung: Sylvia Hahn und Sabine Veits-Falk) gemeinsam mit Studierenden erarbeitet worden. Ausgehend von einem Treffen und Austausch mit Mitgliedern von migrantischen Vereinen wurden erste Interviews geführt sowie Fotos und Dokumente gesammelt. Diese Materialien galt es als Quelle zur Migrationsgeschichte auch dauerhaft zu sichern und zu erschließen.

Nicht zuletzt auf Initiative der Migrationsexpertin Sylvia Hahn beschloss die Stadt Salzburg im Rahmen des Projekts „Wissensstadt Salzburg“, ein Migrationsarchiv als gemeinsames Projekt von Universität Salzburg und Stadtarchiv Salzburg zu errichten. Das Migrationsarchiv ist im Haus der Stadtgeschichte angesiedelt und wird in Zusammenarbeit mit der Universität betreut und ausgebaut. Das Projekt wurde erstmals bei der Pressekonferenz anlässlich der Eröffnung der Ausstellung Migrationsstadt Salzburg (Teil 2) am 22. Mai 2014 vorgestellt.

Das Migrationsarchiv geht von einem weit gefassten Begriff von Migration aus und inkludiert auch den Aspekt von Mobilität. Drei inhaltliche Schwerpunkte wurden gesetzt:

1) Arbeitsmigration nach Salzburg seit den 1960er Jahren

2) Binnenwanderung innerhalb Salzburg, Österreich und Europa

3) Auswanderung aus Salzburg

Für das Migrationsarchiv werden Interviews mit Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern durchgeführt und archiviert. Gesammelt, beschrieben und archiviert werden Materialien wie Fotos, amtliche und persönliche Dokumente, Briefe sowie Ton- und Filmdokumente.

Bereits 2014 wurde eine Mitarbeiterin für die Durchführung von Interviews und die Inventarisierung von der Universität Salzburg geringfügig und seit 2015 vom Stadtarchiv über einen freien Dienstvertrag beschäftigt. Die Materialien werden ab 2016 im Stadtarchiv in einer internetfähigen Datenbank zugänglich gemacht werden. Daneben sollen im Stadtarchiv vorhandene Quellen aus den vergangenen Jahrhunderten, die bislang nicht unter der Kategorie Migration inventarisiert wurden, neu beschlagwortet werden. Ziel des Migrationsarchivs ist nicht nur die Bewahrung von Migrationsgeschichte/n, sondern auch deren Bewusst- und Sichtbarmachung durch Ausstellungen und Publikationen sowie auch die Vernetzung mit ähnlichen Einrichtungen.

Ein erstes österreichweites Vernetzungstreffen von VertreterInnen (aus Wien, St. Pölten, Graz, Salzburg, Innsbruck, Hall und Bregenz), die sich mit der Sammlung, Archivierung und Erschließung von Quellen zur Migration in Österreich befassen, fand im September 2014 im Haus der Stadtgeschichte gemeinsam mit der Universität Salzburg statt. Dabei wurde die Plattform „Österreichisches Netzwerk für Migrationsgeschichte“ gegründet, die dem Austausch über den Umgang mit Quellen zur Migrationsgeschichte und Sammlungsstrategien dienen soll. Im September 2015 veranstaltete die Plattform einen weiteren Workshop im Haus der Stadtgeschichte.

2016 werden das Stadtarchiv und die Universität Salzburg aus Anlass des Anwerbeabkommens mit dem ehemaligen Jugoslawien vor 50 Jahren im Rahmen der „Salzburg 20.16“-Landesausstellung „Bischof. Kaiser. Jedermann. 200 Jahre Salzburg bei Österreich“ eine weitere Ausstellung zum Thema Arbeitsmigration der in den 1990er Jahren nachkommenden Kriegsflüchtlinge aus den verschiedenen Regionen Jugoslawiens gestalten.

Für die Stadt Salzburg ist der Aufbau eines Migrationsarchivs ein wichtiger Schritt, aufzuzeigen, dass die Geschichte der Migration längst Teil der Salzburger Stadtgeschichte ist und um den Prozess der Integration zu fördern, der alle BewohnerInnen der Stadt unabhängig von Ethnie, Kultur, Sprache und Religion betrifft und allen eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen soll.

NILS GROSCH (Salzburg) / CAROLIN STAHRENBERG (Innsbruck)

„To be faced with the problem of entering into new ways of thinking“1: Forschungsperspektiven und Sammlungsaufbau zu Musik und Migration an der Universität Salzburg

Musik und Mobilität

Musik ist mobil. Sie ist unabhängig von Zeit und Raum wiederholbar, ihre Fixierung erfolgt in denkbar transportablen Speichern – vom individuellen Gedächtnis über Musikbücher bis zum mobilen mp3-Player. So lässt sie sich leichthin mitnehmen, wohin auch immer. Im Vergleich zu anderen Kulturgütern, die im Kontext von Gruppen- und individuellen Identitätskonstruktionsprozessen eine Rolle spielen, ist Musik in besonderem Maße geeignet, um in Migrationsprozessen mitgenommen (im weiteren und im direkten Sinne) zu werden.2 Die Qualität musikalischer Identitätskonstruktionen ist, so Simon Frith, mobil, dynamisch, prozessual, performativ und unabhängig von vordefinierten Grenzen.3 Sie ist Gegenstand steter Neuaushandlungsprozesse, in denen musikalisch-performative Bedeutungsgenerierung gefragt ist.

„Migration has steady presence in many of our everyday lives, including, naturally, the way we incorporate popular culture into our mundane deeds and pursuits“,4

so pointiert Lucilla Vargas mit Blick auf ihre Studienergebnisse zu Latina teens in den USA.

Dabei ist das Wechselverhältnis von Musik und Migration alles andere als beliebig. Im Falle der Migration professioneller MusikerInnen ziehen Menschen der Nachfrage nach Musik hinterher; bei Massenmigrationsprozessen führen Menschen Repertoires mit sich, die konstruktiver Bestandteil sowohl ihres persönlichen Gedächtnisses als auch kollektiver Identitätskonstruktionen sind; im Falle von gewaltsam erzwungener Exilierung entfalten MusikerInnen und andere mit Musik befasste Menschen erlernte musikalische Routinen und Konzepte in vollständig neuem Umfeld. Mobilität und Migration sind in der Geschichte – auch und in besonderem Maße in der Musikgeschichte – die Regel, Sesshaftigkeit die Ausnahme.5

Historische Narrative traditionell musikwissenschaftlicher Formung hingegen fußen zumeist auf Konzeptionen, Modellen und Sprachregelungen, die explizit oder implizit von Bewegungslosigkeit und Sesshaftigkeit als der selbstverständlicheren Lebensform ausgehen: Komponisten gelten als lokale und zumeist nationale Größen, ihre Gesamtausgaben – entscheidende Überlieferungsträger ihrer Werke – als nationale Monumente. Hierbei erscheint es, mit den Worten von Stephen Greenblatt, als durchaus problematisch, dass „die etablierten analytischen Werkzeuge selbstverständlich von stabilen Kulturen ausgehen oder doch zumindest meinen, dass Kulturen in ihrem originalen, natürlichen Zustand fest im Boden des Blutes verwurzelt und faktisch bewegungslos sind“ („the established analytical tools have taken for granted the stability of cultures, or at least have assumed that in their original or natural state […] cultures are properly rooted in the soil of blood and land and that they are virtually motionless.“)6

In den 1930er Jahren verließen Tausende Musiker oder professionell mit Musik verbundene Menschen Deutschland und Österreich auf der Flucht vor dem Nazi-Regime.7 Die Beschäftigung mit diesen Personen und ihrem Werk steht häufig unter dem Paradigma der „Restitution“, womit die Re-Integration von deren (akademischen und künstlerischen) Leistungen im Kontext eines klassischen Kanons kulturpolitisch zumindest erträumt wird – eines Kanons, der wiederum auf Modellen konventioneller Fixierung (bei Greenblatt: „fixity“) basiert, also der Zuschreibung zu nationalen kulturellen Identitäten (meist der deutschen). Dabei liegt auf der Hand, dass auf diese Weise solche Musik-MigrantInnen aus dem Fokus fallen, deren Arbeit sich nicht unmittelbar in text- und werkbasierten Wertschöpfungsdiskursen niederschlägt, wie MusiktherapeutInnen, MusiklehrerInnen oder PopmusikerInnen. Eine kulturelle Physiognomie der musikalischen Migration lässt sich nicht aus der affirmativen Fokussierung von ‚Leuchttürmen‘ allein, und schon gar nicht durch deren diskursive Abtrennung aus den migrantischen Kontexten, wie sie potenziell durch ‚Restitutions-Rhetoriken‘ befördert wird, leisten. Deshalb kommt es darauf an, die Prozesse kultureller und nicht zuletzt musikalischer Identitätsbildung in migrantischen Kontexten auf breiter Basis, historisch und zeithistorisch, zu dokumentieren und zu untersuchen.

„Heiße Zonen“: Migration im Fluss

Am 13. September 2015 strandeten aufgrund der von Seiten der deutschen Bundesregierung angeordneten Einstellung des Zugverkehrs von Österreich nach Deutschland über 1000 Flüchtlinge auf dem Salzburger Bahnhof und verbrachten die Nacht in der Tiefgarage.8 Die Situation blieb an den folgenden Tagen unübersichtlich, Flüchtlinge bewegten sich zu Fuß zur Grenze, andere blieben in den Notunterkünften. Der Salzburger Bahnhof und die zuvor für das kollektive Bewusstsein namenlosen Grenzorte wie Röszke (Ungarn), Nickelsdorf (Österreich) oder Freilassing (Deutschland) wurden zu „Heißen Zonen“ im Sinne des Historikers Karl Schlögel, „in denen der Tumult sich anbahnt und dann auch ausgetragen wird“, und die „dann die geschichtlichen Schauplätze [sind], von denen wir vorher nicht wussten, daß sie es einmal werden würden“.9 Salzburg stand als Grenzstadt plötzlich im Zentrum einer Aushandlung von Raum, im Aufeinandertreffen von Immobilität und Bewegung – eine im historischen Kontext Europas und Salzburgs nicht ungewohnte Situation. Allein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren in Europa zwischen 60 und 80 Millionen Menschen in Bewegung,10 in Salzburg entstand ein ganzer Stadtteil (Taxham) durch die Neuansiedelung von Vertriebenen.

Ob und wie der kulturelle Raum Europa durch die erneute Mobilitätswelle modifiziert bzw. neu produziert wird, wird nicht primär von den Flüchtlingen abhängen (wie in manchen Medien suggeriert wird), sondern vor allem von der gesamt-gesellschaftlichen Bereitschaft zu einem Umdenken jenseits national-eingrenzender Narrative. Aus der „Flüchtlingskrise“11 oder gar „Migrationskrise“12, wie das Phänomen unhinterfragt tituliert wird, kann eine „Flüchtlingschance“ werden, wenn man – auch aus historischer Perspektive – das produktive Potential von Bewegung in den Mittelpunkt stellt. Nicht nur deshalb beschreibt der Philosoph Vilém Flusser Migration als den Normalfall menschlichen Daseins; die „Freiheit des Migranten“, selbstgewählte Bindungen zu seinen Mitmenschen aufzubauen13, erscheint als verantwortungsbewusste soziale Haltung und somit als Zukunftsmodell.14

Der Eintritt ins Exil erfordert somit nicht nur das Einlassen auf neue Denkweisen, wie der Rechtsanwalt und Literaturwissenschaftler Max Freyhan es in dem im Titel unseres Textes zitierten Satz beschreibt; es fordert insgesamt die Kreativität des Emigranten15, aber auch die der Aufnahmegesellschaft. Musik, im Kontext von Identitätsstiftungsprozessen vorwiegend als Anker, als Marker von Stabilität, inszeniert, war von ihrer Beschaffenheit Mittel erster Wahl zur Kenntlichmachung beweglicher, dynamischer und nicht zuletzt migrantischer kultureller Identitäten. Dies macht die Erforschung von musikalischen Interaktionsprozessen in Migrationssitutionen und das Erschließen von Quellen, die wissenschaftlichen Zugang zu solchen historischen Prozessen erst ermöglichen, zu einer auch kulturell und politisch höchst bedeutsamen Aufgabe.

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Abb. 6: Nils Grosch und Guntram Lenk von der Salzburger Abteilung für Musik- und Tanzwissenschaft beim Auspacken und Ordnen der Sammlungen (© Maria Oprießnig)

Die „Music and Migration Collection“ der Universität Salzburg

Seit Herbst 2014 gibt es an der Universität Salzburg die „Music and Migration Collection“, in der Sammlungen mit einem entsprechenden thematischen Schwerpunkt zusammengefasst werden. Ausschlaggebend für die Etablierung war die Schenkung zweier Nachlässe aus England. Ziel ist es, das Material zu sichern und für die Forschung zu erschließen; in einem zweiten Schritt sollen ausgewählte Teile allgemein über das Internet zugänglich gemacht werden.

Die „Music and Migration Collection“ hat keinen nationalen, religiösen oder politischen Schwerpunkt, noch gibt es einen bestimmten Zeitraum, der abgedeckt werden soll. Sie ist grundsätzlich offen für alle unter musikwissenschaftlichem Gesichtspunkt zu dieser Thematik aufschlussreichen Nachlässe und Sammlungen. Im Zentrum des Interesses stehen dabei Fragestellungen nach musikbezogener Identität, musikkulturellen Austauschprozessen, Netzwerkbildung und sozialer Relevanz musikalischen Handelns innerhalb von Migration in ihren vielfältigen Ausprägungen. Dementsprechend ist sie auch nicht auf beispielsweise KomponistInnen-Nachlässe oder ‚berühmte‘ Namen beschränkt, sondern erachtet jedwede professionelle oder auch semi-professionelle Anbindung an das Musikleben als relevant, sofern aus den dokumentierten Unterlagen Aussagen zu den oben genannten Themenbereichen erschlossen werden können.

Im Moment umfasst die Sammlung folgende Dokumente:

• Kate and Hans Freyhan Collection (Schenkung Peter und Michael Freyhan).
Hans und Kate Freyhan emigrierten als „Hitler-Emigranten“16 von Berlin über Brighton und London nach Bedford und waren dort als Musiklehrer, Musikkritiker, Klavierlehrer, Chorleiterin, Blockflötenlehrerin, Chorsängerin und Konzertorganisatoren in vielfältiger Weise ins Musikleben involviert. In diesem Nachlass sind vor- und nachmigrantische Lebensphasen in Form von Korrespondenzen, Zeitungsartikeln und privaten Dokumenten hervorragend dokumentiert.

• Kurt Eulenburg Collection (Schenkung Pauline und Stephen Moorbath).