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Impressum

Inhaltsverzeichnis

Venetian Vampires 1

Prolog

Erster Teil - Mohammed

Zwischenspiel

Zweiter Teil - Luca

Epilog

Danksagung

Venetian Vampires 2

Prolog

Erster Teil

Zweiter Teil

Zwischenspiel

Dritter Teil

Epilog

Danksagung

Venetian Vampires 3

Prolog

Erster Teil

Zwischenspiel

Zweiter Teil

Dritter Teil

Epilog

Vampirlogo



Gabriele Ketterl


Venetian Vampires

Band 1


Kinder der Dunkelheit

 



fabEbooks

Zu dieser Trilogie gehören:

Venetian Vampires 1: Kinder der Dunkelheit

Venetian Vampires 2: Die Raben Kastiliens

Venetian Vampires 3: Geschenk der Nacht



Das Buch:

In einer einzigen Nacht verliert Mohammed al Hassarin durch ein grausames Massaker seine gesamte Familie. Auch er selbst wird gefangen, gefoltert und schließlich zum langsamen Tod verurteilt.

Doch im letzten Moment wird er gerettet – von den Kindern der Dunkelheit, einem sehr alten Volk, dessen Blut besondere Heilkräfte birgt. Überdies verfügen die Unsterblichen über außergewöhnliche Kräfte. Sie nehmen Mohammed in ihre Reihen auf – er wird zu Luca, dem Venezianer.

Auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Lebensgefährten findet die Münchnerin Sabine sich in Venedig wieder, der Stadt voller Magie und Träume. Doch die Schatten der Vergangenheit lassen sich nicht so leicht abschütteln – ihr Ex verfolgt sie, um sie zu ermorden. In letzter Sekunde wird die schwer verletzte Sabine von einem geheimnisvollen Mann gerettet und ins Leben zurück gebracht. Der gutaussehende Mann ist der über fünfhundertjährige Luca, der auf diese Weise im eigenen Herzen Heilung erfährt. Er weiht Sabine in sein Geheimnis ein, und sie wird wie ein Teil seiner »Familie«.

Sabine ahnt nicht, dass ihre Entscheidung weitreichende Folgen haben wird – für alle Kinder der Dunkelheit, die von einem tot geglaubten, grausamen Feind der Vergangenheit heimgesucht werden, der seine Identität verborgen hält. 

Luca, seine unsterblichen Freunde und Sabine setzen alles daran, den unheimlichen Mörder zu finden und aufzuhalten, doch bis dahin müssen viele Opfer gebracht werden ...

Die Autorin:


Gabriele Ketterl wurde in München geboren, wo sie auch heute wieder mit ihrer Familie lebt.

Sie ist u. a. Autorin von Kinderbüchern, Essays und Drehbüchern. 

Sie absolvierte ein Studium der Amerikanistik und Theaterwissenschaften an der Ludwig- Maximilians-Universität in München.

Die Autorin lebte über zwei Jahre auf den Kanarischen Inseln, wo erste Kurzgeschichten entstanden, und bekam viele weitere Inspirationen durch weitere Auslandsaufenthalte, unter anderem in Los Angeles und London.


Für Daniel, Florian und Stonie 

Inhalt


Prolog

Erster Teil - Mohammed

Zwischenspiel

Zweiter Teil - Luca

Epilog

Danksagung

PROLOG


NOCH NIE WAR IHM IN DEN SINN GEKOMMEN, dass er sterben könnte. Es hatte keinen Grund gegeben, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Gut, ab und zu hatte er sich in seinen jugendlich-heroischen Tagträumen vorgestellt, wie es wohl wäre, sich wegen einer schönen Frau zu duellieren. Doch in seinen Träumen war nicht er es gewesen, den der Tod ereilt hatte. Wie auch?  Es waren schließlich seine Fantasien, deren Ausgang nur er allein bestimmte.

Jetzt aber waren es die Träume eines Fremden, eines Menschen, dem das Leben anderer weder heilig noch in irgendeiner Art wertvoll war. Wie abgrundtief musste der Hass dieses Mannes sein, um ihn so sehr zu quälen? Wann immer Schauergeschichten über Folter oder die Verbrennung von Ketzern in sein behütetes Leben eingedrungen waren, hatte er sie mit einem bedauernden Kopfschütteln kommentiert, doch damit war seine Anteilnahme auch schon erschöpft gewesen.


Seit letzter Nacht wusste er, was es bedeutete, gefoltert zu werden. Wusste, was es hieß, unbeschreibliche Schmerzen zu erleiden, die glühende Speerspitzen, Peitschen mit Widerhaken, in Salz getauchte scharfe Dolche und langsam trocknende Lederriemen hervorriefen.

Als der Don ihn vor einer Weile, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen war, hierherbringen ließ, hatte der Gepeinigte den Tod angefleht, Erbarmen zu zeigen. Dieser aber hatte sich taub gestellt.

Seit sie ihn an das Kreuz geschlagen hatten, fühlte er, wie er zunehmend schwächer wurde. Weshalb nur konnte er nicht einfach aufgeben, warum kämpfte er mit aller Kraft um sein verfluchtes Leben? Die Antwort war ebenso einfach wie grausam: Sein junger, einst kräftiger Körper, sein starkes Herz, ja selbst sein Verstand, den er kaum mehr zu kontrollieren vermochte – einfach alles in ihm wehrte sich dagegen, zu sterben.

Albtraumhafte Visionen huschten durch seinen wunden Geist. Seine Eltern Hand in Hand, blutüberströmt und doch lächelnd, schritten langsam auf ihn zu. Seine Mutter trug Asma auf dem Arm, deren lockiges Haar von geronnenem Blut verkrustet an ihrem Engelsgesicht klebte.

Hör auf! Hör auf zu denken, hör auf zu kämpfen!, flehte er sich selbst in Gedanken an. Ich will endlich sterben, so wie die, deren Tod ich zu verantworten habe!

Trotz der Seile, die ihn hielten, knickten seine Beine weg, und die eisernen Nägel, die von den Folterknechten durch die Handflächen getrieben worden waren, rissen ihm das Fleisch ein. Sein ganzer Körper war eine einzige, lichterloh brennende Wunde.


Endlich, kurz bevor die Schmerzen ihn in den Wahnsinn trieben, breitete sich in seinem Kopf eine dunkelblaue Samtdecke aus, mit einem hellen Schimmer darüber.

Die Stimmen der Folterknechte wurden stetig leiser und verschmolzen zu einem fast nicht mehr wahrnehmbaren Murmeln. 

All sein Sehnen richtete sich auf das helle Schimmern und wäre es ihm noch möglich gewesen, so hätte er jetzt gelächelt. Dieses Licht – dorthin musste er gelangen, dann würde endlich alles vorbei sein!

Plötzlich drang aus der dumpfen Geräuschkulisse etwas heraus, das seinen versiegenden Geist noch zu erreichen vermochte. Der Todesschrei eines Menschen, ein wildes Gurgeln, ein lautes Knacken und Reißen, und alles übertönend ein dunkles Knurren. 

Er wollte nichts mehr hören und weg von allem Leid, also wandte er sich erneut dem Licht zu, das ihm jetzt heller erschien als zuvor.

Ein kühler Lufthauch strich über seinen gepeinigten Körper und er fühlte den Druck sanfter Hände. Seine Schmerzen wurden leichter, sein Körper löste sich von der Erde und flog dem Licht entgegen.

»Halte durch, mein Junge, halte durch! Du hast so lange gekämpft, gib jetzt nicht auf! Lebe, mein Junge, lebe!«

1.

Granada, 1492

ES WAR MIT SICHERHEIT einer der atemberaubendsten Sonnenuntergänge, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Mohammed al Hassarin lehnte sich noch ein wenig weiter über die marmorne Brüstung des geschwungenen Balkons, um auch wirklich jede Sekunde dieses herrlichen Naturschauspieles in sich aufsaugen zu können. In der Ferne tauchte die rotgoldene Sonne die Spitzen der eindrucksvollen Mauern der Alhambra in warmes, gelbes Licht. Mohammed genoss die Wärme des Sommerabends und den Duft der unzähligen Blüten, den der laue Wind des Südens zu ihm hinauftrug.

Der große Park war ein einziges Meer blühender Blumen, liebevoll gepflegt von seiner Mutter Fathwa. Er neigte den Kopf, schloss die Augen und lauschte in den Abend hinaus. Das Plätschern der Springbrunnen vereinte sich mit dem Gesang der Vögel in den Bäumen zu einer geheimnisvollen, die Fantasie anregenden Melodie. Mohammed liebte sein Zuhause. Umso mehr beunruhigten ihn die Pläne, die sein Vater derzeit verfolgte.

Hatte Yussuf al Hassarin bis vor Kurzem auf Nachfragen hin noch abwiegelnd erklärt, es sei nichts, er habe nur viele Dinge, die ihm auf der Seele lägen und die der Erledigung bedurften, so waren seine Absichten seit einiger Zeit offenkundig. Yussuf plante, Andalusien zu verlassen. Jedoch wollte er das nicht allein tun. Seine gesamte Familie, alle engen Freunde sollten ihn begleiten – zu ihrem Besten, so sagte er.

Mohammed konnte die Pläne des ansonsten von ihm geliebten und hoch geschätzten Vaters nicht verstehen. Sicherlich, wieder einmal war offener Streit ausgebrochen zwischen Sarazenen und Christen – wie schon in den Jahren zuvor, war es auch dieses Mal wieder um Ländereien gegangen, die von den Christen als ihre eingefordert wurden. Mohammed schmunzelte. Kein Wunder, dass sie die von den Sarazenen zu einem blühenden Garten Eden verwandelte einstige Ödnis nun nur allzu gern selbst besitzen wollten. Aus Staub und Sand hatten sie ein arabisches Märchen geschaffen, ein Märchen, das auch die Spanier träumen ließ. Es ließ sie träumen von einem Land, das sie viel zu wenig geschätzt hatten – ein Land, das sie für wenige Goldstücke an die Sarazenen verkauft und sich dann damit gebrüstet hatten, dass sie Staub zu Gold verwandelt hätten. In Wirklichkeit waren es die maurischen Einwanderer gewesen, die mit ihrem umfangreichen Wissen, ihrer Baukunst und ihrem Talent, aus jeder Erde grüne Ebenen hervor zu zaubern, den Staub vergoldet hatten.

Erneut glitt Mohammeds Blick hinüber zur Alhambra, dem besten Beispiel dafür, was man mit dem nötigen Wissen aus dem Nichts erschaffen konnte. Bei dem Gedanken daran, dass er diese ganze Pracht zurücklassen, seine nicht unbeträchtlichen Habseligkeiten zusammenpacken und dann seine Heimat verlassen sollte, um einer ungewissen Zukunft in Marokko entgegenzusegeln, wurde ihm übel. Andalusien war seine Heimat, hier war er geboren und aufgewachsen, hier hatte er zudem die Liebe seines Lebens gefunden. Ana! Seit er die schöne Duquesa zum ersten Mal gesehen hatte, konnte er sie nicht mehr vergessen. Mohammed schwang sich auf die Brüstung und lehnte den Kopf an die glatte, kühle Marmorsäule hinter sich. Ana war eine Schönheit, sie war groß, von anmutiger Gestalt, mit hellem Haar, das ihr wie eine goldene Welle über den Rücken floss. Sie kam aus besten Familienverhältnissen, benahm sich aber bei Weitem nicht so hochnäsig und herrisch wie viele der jungen Damen der Gesellschaft. Ana war gebildet, großherzig und pflegte einen freundlichen Umgang mit allen Menschen. Zwar musste Mohammed sich eingestehen, dass ihm ihre Schönheit zuerst ins Auge gefallen war, doch nach näherem Kennenlernen war er endgültig verloren. Ana war nicht einfach irgendeine Frau, nein, sie war ein Engel! Ein tiefes Seufzen stieg aus seiner Kehle empor und wurde von einem leisen Lachen beantwortet.

»Ja, dein Leben ist sicherlich hart und beschwerlich. Wenn ich dir in irgendeiner Weise Erleichterung verschaffen kann, dann bitte sprich mit mir, mein Sohn.«

Wie immer war sein Vater so leise hinter ihn getreten, dass der in Gedanken Versunkene ihn nicht gehört hatte. Mohammed stand auf und schloss seinen Vater in die Arme.

»Vater, wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht!«, rief er, ohne auf den Scherz einzugehen. »Du warst volle zwei Tage weg! Mutter wollte niemandem sagen, wohin du so unangekündigt verschwunden bist. Wo warst du also?«

Die prächtige Kleidung Yussuf al Hassarins war staubig, und auch in den feinen Linien seines ausdrucksstarken Gesichtes hatte sich der Schmutz abgesetzt. Als habe er die beiden Tage durchgehend im Sattel gesessen. 

Der Vater küsste seinen Sohn auf beide Wangen. »Setz dich, Mohammed, ich muss mit dir sprechen! Dazu würde ich auch gern sitzen, ich bin etwas müde.« Er zog sich einen der geflochtenen, mit Seidenkissen gepolsterten Sessel heran. Mohammed ließ sich wieder auf der Brüstung nieder. Yussuf zog leicht tadelnd eine Augenbraue hoch.

»Mein Sohn, du wärest wohl besser in einer Nomadenfamilie aufgehoben. Kannst du dir nicht angewöhnen, einen angemessenen Sitzplatz zu wählen? Muss es immer der Boden, das Gras, eine Brüstung oder gar ein Baum sein?«

Mohammed grinste ihn herausfordernd an. »Noch habe ich Zeit, erwachsen zu werden, Vater. Ich werde danach mein restliches Leben lang erwachsen sein.«

Zu kurz huschte die Andeutung eines Lächelns über Yussufs müdes und sorgenvolles Gesicht. Im Allgemeinen gelang es Mohammed, seinen Vater aufzuheitern. Während seiner Reise schien etwas geschehen zu sein, das ihn zutiefst beunruhigte. 

Nachgiebig stieß Mohammed sich von der Brüstung ab und erfüllte den Wunsch seines Vaters, indem er sich ebenfalls einen der Sessel herbeiholte und sich Yussuf gegenüber niederließ. »Was ist so schlimm, dass es dir dein Lächeln geraubt hat?«

Das Lächeln, das Yussuf erneut versuchte, misslang kläglich. Als er sprach, war seine Stimme traurig, aber fest. »Mohammed, ich komme zurück von der Küste, wo ich einige Dinge geregelt habe, die ich aus Bequemlichkeit viel zu lange vor mir hergeschoben habe. Aber jetzt wird gepackt. Ich habe die Dienerschaft vorhin angewiesen, alles für die Reise vorzubereiten.«

Mohammed verstand nicht. Vielleicht wollte er auch nicht verstehen. »Reise? Welche Reise, Vater?«

Auf Yussufs Stirn erschien eine tiefe Falte, die nichts Gutes verhieß. »Mohammed, ich bitte dich! Ich weiß sehr wohl, dass ich keinen Dummkopf großgezogen habe, also stell dich nicht unwissender, als du bist! Du musst mitbekommen haben, dass die von den Spaniern bezeichnete Reconquista nicht beendet ist, sondern erneut aufflammt. Die diversen Besuche des Bischofs können dir nicht entgangen sein, und glaube mir, er kam nicht wegen unseres köstlichen Mokkas oder aus Freundschaft. Wenn er es früher einmal jährlich erwähnte, dass wir zum Christentum konvertieren sollten, so geschieht das jetzt jede Woche. Und es sind keine wohlmeinenden Ratschläge mehr, sondern vielmehr klare Aufforderungen mit der versteckten Drohung, dass wir andernfalls mit Konsequenzen zu rechnen haben.«

»Vater, das war doch schon immer so. Die Kirchenoberhäupter haben uns gedroht, und wir sind noch hier! Du allein hast über hundert Soldaten, die in deinen Diensten stehen. Wenn ich bedenke, dass das auf die meisten Familien auch zutrifft – wovor habt ihr solche Angst?«

Mit einer ruckartigen Bewegung stand Yussuf auf und ging unruhig wie ein gefangenes Tier im Käfig, auf und ab. Mohammeds Blick folgte seinem Vater und plötzlich wurde er gewahr, dass er ihn schon lange nicht mehr bewusst betrachtet hatte. Hätte er es getan, so wäre ihm bereits früher aufgefallen, wie sehr sich der stolze Sarazene verändert hatte.

Noch immer war Yussuf al Hassarin ein großer, würdevoller Mann, doch es schien, als würden Sorgen seine Schultern nach unten drücken. Sein Haar war voll und reichte ihm bis auf die Schultern, aber in den letzten Monaten war es zusehends ergraut. Kleine Furchen, die von Sorgen hineingegraben worden waren, die man nicht so einfach beiseiteschieben konnte, durchzogen sein schönes dunkles Gesicht. 

Wenn er den Patriarchen nun ansah, schämte sich Mohammed, denn so sehr er auch glaubte, dass sein Vater übertrieb, so sehr liebte er ihn und es tat weh, ihn so zu sehen. Er überlegte, was er in dieser Situation Sinnvolles sagen könnte, um seinem Vater zu zeigen, dass er sich sehr wohl Gedanken machte. Nur leider fiel ihm überhaupt nichts ein, was daran liegen mochte, dass er sich tatsächlich noch nie im Leben über etwas ernsthaft Sorgen gemacht hatte. Also zog Mohammed es vor, zu schweigen, denn Yussuf al Hassarin noch mehr zu verärgern, das wollte er nicht.

»Du verkennst den Ernst der Lage«, fuhr dieser fort. »Wir alle sind hier nicht mehr sicher. Meine Freunde und ich beobachten die neue Entwicklung mit wachsender Sorge. Du sprichst von ›unseren Leuten‹ und ›meinen Soldaten‹ – Junge, wach auf! Die Hälfte ›unserer Leute‹ sind Christen. Sie würden uns ohne mit der Wimper zu zucken bei lebendigem Leibe die Haut abziehen, wenn ihr Bischof sie dazu aufruft. Ist dir in letzter Zeit entgangen, dass Menschen spurlos verschwinden? Dass unbescholtene Leute der Ketzerei angeklagt werden? Wir haben ihrem Gott nichts getan und haben das auch nicht vor, nur leider interessiert sie das nicht. Mohammed, der Hass gegen uns wird gezielt geschürt. Der Hass der Armen, der Hass derer, die es zu nichts gebracht haben. Uns werden sie die Schuld für ihre Not geben. Glaub mir, mein Sohn, der Tag ist nicht fern, an dem sie auch die letzten von uns mit Feuer und Schwert vertreiben werden!«

Mohammed hatte dieser zornigen Ansprache seines Vaters ungläubig gelauscht und wollte ihm gerade antworten, als sie unterbrochen wurden.

Durch die offenen Türen des Balkons wirbelte laut lachend ein kleines Mädchen. »Bābā, endlich bist du wieder da! Du hast mir so gefehlt. Du hast versprochen, mich nicht zu lange allein zu lassen!«

Dank seiner ungebrochen schnellen Reaktionsfähigkeit fing Yussuf seinen Wirbelwind im Fluge auf. Kleine Staubwolken stiegen von seiner Kleidung auf, so heftig hatte das Kind sich in seine Arme geworfen. »Asma! Vorsicht, du wirfst mich alten Mann ja um! Das darfst du doch nicht tun!« Yussufs strahlende Augen angesichts seiner Jüngsten straften seine Worte Lügen. Asma war sein Sonnenschein, seine Prinzessin, sein Augenstern. Die Kleine war mit ihren schwarzen langen Locken, dem dunklen Gesichtchen und den dunkelbraunen Mandelaugen aber auch eine Augenweide! Ihre Arme umschlangen den Hals des Vaters so fest, dass dieser sie lächelnd etwas löste. »Ein klein wenig atmen muss sogar ich, meine Prinzessin.«

Das Kind zwirbelte schmollend die Locken, um sogleich wieder das Gesichtchen am Hals des Vaters zu vergraben. Gerade noch rechtzeitig schien ihm einzufallen, dass es ja eine Aufgabe hatte. Asma wandte sich an Vater und Bruder und verkündete mit ernster Miene: »Māmā lässt euch sagen, wenn ihr nicht gleich zu uns hinunter zum Essen kommt, dann lässt sie den Braten den Windhunden servieren, oh ja, das tut sie!«

Endlich gelang Yussuf das erste laute und unbeschwerte Lachen an diesem Tag. »Das wollen wir unter keinen Umständen riskieren. Wir kommen sofort. Los, lauf schon vor!«

Er setzte seine Tochter ab, und diese wirbelte in gewohnter Manier zurück ins Haus. 

An Mohammed gewandt, meinte Yussuf: »Willst du das Leben dieses unschuldigen Kindes gefährden, nur weil du an alten Gewohnheiten und an einem Leben in Luxus festzuhalten gedenkst? Darüber solltest du einmal nachdenken, mein Sohn.«

Er schien keine Antwort zu erwarten, sondern legte seinem Sohn einen Arm um die Schultern und die beiden Männer beeilten sich, dem Ruf der Hausherrin Folge zu leisten.

2.


Das Abendessen verlief nicht so unbeschwert und fröhlich, wie man es sonst in der Familie gewohnt war. Fathwa schien gewusst zu haben, was Yussuf an der Küste vorgehabt hatte, denn als er erzählte, dass er ein Schiff gefunden habe, das die ganze Familie samt Dienerschaft nach Marokko bringen würde, nickte sie. »Das ist gut. Du weißt, wie schwer es mir fällt, alles hier zurückzulassen, doch das Leben meiner Familie ist durch nichts aufzuwiegen.« Sie legte ihre Hand liebevoll auf den Arm ihres Mannes und lächelte ihn traurig, aber zu allem entschlossen an. Ridha, Mohammeds jüngerer Bruder, warf seinem Vater einen fragenden Blick zu.

Yussuf nickte ernst. »Ja, Ridha, es ist so, wie du denkst. Wir werden dieses Land verlassen. Hab keine Angst, unser Vermögen ist groß genug, um in Marokko ein neues gutes Leben zu beginnen.«

Ridha schüttelte den Kopf. »Es ist nicht wegen des Geldes oder dieses Hauses. Ich bedaure nur, dass ich all meine Freunde zurücklassen muss. Ich werde sie vermissen.«

Yussuf betrachtete gütig die besorgte Miene seines jüngeren Sohnes. »Du bist jung. Fünfzehn Jahre sind kein Alter, du wirst nicht nur eine neue Heimat bekommen, sondern ganz sicher auch neue Freunde finden.«

Ridha nickte nachdenklich, dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht, als er sich an seinen Bruder wandte. »Und du, alter Mann, wirst du deine ganzen Bewunderinnen vermissen? Ab einem gewissen Alter ist es ja nicht mehr so leicht, die Damen zu betören?« Er duckte sich in Erwartung des Klapses, und er tat gut daran. Mohammed erwischte trotzdem gerade noch Ridhas Scheitel. Ridha grinste. »Nun, du bist im reifen Alter von achtundzwanzig, viel Zeit bleibt dir nicht mehr.«

»Ein wenig mehr Respekt vor deinem großen Bruder, wenn ich bitten darf!« Mohammed zerzauste die Lockenmähne seines Bruders. »Es ist nicht sicher, dass auch ich das Land verlasse. Noch habe ich mich nicht entschieden.«

Schweigen folgte auf diese Ankündigung, Schweigen und ein erstickter Laut seiner Mutter. Fathwa schlug erschrocken die Hand vor den Mund. »Das kann nicht dein Ernst sein, Mohammed! Erkennst du nicht, wie ernst die Lage ist? Siehst du die Zeichen nicht? Sie drohen uns mittlerweile ganz offen! Sie wollen unser Land, sie wollen unseren Besitz und sie wollen unser Leben. Ich flehe dich an, mein Sohn, sei vernünftig! Bitte, ich möchte dich nicht verlieren.«

»Du wirst mich nicht verlieren, Mutter. Du wirst sehen, dass alles gut wird. Ich werde meinen Plan zu Ende führen und dann folge ich euch. Hab keine Angst. Ich kann auf mich aufpassen.« Sein Blick in die Runde brachte nicht ganz das, was zu sehen Mohammed gehofft hatte. Offenbar war es ihm nicht gelungen, die eigene Zuversicht auch seiner Familie zu vermitteln. Sein Vater hatte den Blick abgewandt und aß schweigend weiter, ohne auch nur noch einmal aufzusehen. In den Augen der Mutter glitzerte es verdächtig, und Asma sah ihn an, als hätte er soeben verkündet, er würde in den Krieg ziehen.

Asma widersprach. »Nein, Mohammed, du kannst nicht bleiben! Du bist mein großer Bruder, du hast versprochen, immer bei mir zu sein und mich zu beschützen, also musst du mit, ob du willst oder nicht!«

Angesichts dieser klaren Ansprache seiner kleinen Schwester wurde Mohammed dann doch etwas seltsam zumute. Er erinnerte sich gut an den Augenblick, als er – kaum dass Asma richtig laufen konnte – ihr versichert hatte, immer auf sie zu achten. Das war sein Versprechen gewesen, nachdem er sie von einem Baum gepflückt hatte, auf den sie wohl hinauf-, nicht aber wieder heruntergekommen war und bitterlich weinend in den Ästen gehangen hatte.

»Ach, Augenstern, für die kurze Zeit, die wir getrennt sind, passt Ridha auf dich auf. Er wird das ganz wunderbar machen.«

Verärgert und enttäuscht warf Asma ihre schwarze Lockenpracht zurück. »Wenn uns etwas passiert, dann bist du schuld!«

»Es wird nichts passieren. Bitte, Kleines, vertrau mir doch.«

»Pah!« Asma war ausdrücklich verärgert.

Langsam drohte ihn die Atmosphäre bei Tisch zu erdrücken. So schwer hatte er es sich nicht vorgestellt, seine Pläne in die Tat umzusetzen! Der Rest des Abendessens verlief in Stillschweigen und Mohammed war froh, als alle ihr Mahl beendet hatten und er aufstehen konnte. »Seid mir nicht böse, ich habe eine Einladung von Donna Sonja. Ich möchte mich dort zumindest für eine Weile sehen lassen, um nicht unhöflich zu erscheinen.«

Es war Yussuf anzumerken, dass er gern widersprochen und seinen Sohn genötigt hätte, zu bleiben, doch er wusste ebenso, dass dieser Versuch nicht von Erfolg gekrönt sein würde. Daher bat er Mohammed nur um eines. »Ich möchte nicht, dass du auch nur im Entferntesten etwas über unsere Pläne verrätst. Wir möchten unbehelligt und so schnell wie möglich unsere Abreise bewerkstelligen. Also, bitte keine Andeutungen – zu niemandem! Auch nicht zu Donna Sonja und – dies bitte ich dich besonders zu beherzigen – nicht zu Herzogin Ana.«

Mohammed zuckte zusammen. Woher konnte sein Vater wissen, dass auch Ana anwesend sein würde? Allerdings hatte er sich schon vor geraumer Zeit abgewöhnt, zu hinterfragen, woher sein Vater Dinge wusste, die er eigentlich nicht wissen konnte. »Ich werde schweigen wie ein Grab, Vater. Das verspreche ich dir.«

Gerade, als die Familie sich von ihren Plätzen erhoben hatte und jeder seiner Wege gehen wollte, klopfte es leise, und ein leichtes Räuspern kündigte Fathi, Yussufs Leibdiener, an. Fathi galt als Schatten seines Herrn – wo immer Yussuf war, befand auch er sich in der Nähe. Seit über dreißig Jahren schon war er an seiner Seite.

Yussuf betrachtete Fathi mehr als Freund denn als Diener, daher reagierte er zuerst erfreut, als er den großen, dunklen Mann in dem gewohnt schwarzen Gewand erblickte. »Fathi, komm herein! Was führt dich her? Ich sagte doch, du sollst dich von der Reise erholen.«

»Das habe ich schon, Herr. Ich habe keine guten Nachrichten. Als ich sofort nach unserer Rückkehr die Anweisung zum Packen gab, tat ich dies auch in den Stallungen. Als ich soeben nachsah, wie weit sie seien, entdeckte ich, dass Juan und Pedro samt all ihrer wenigen Habseligkeiten verschwunden sind. Soll ich sie suchen, Herr?«

Yussuf schüttelte traurig den Kopf. »Nein, Fathi, die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Damit musste man rechnen.«

Fathi wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Wenn die Ratten das Schiff nur verlassen, dann wäre das nicht so schlimm. Ich traue den beiden aber nicht. Sie haben immer gut verdient und hatten hier ein angenehmes Leben. Ihren Familien ging es prächtig. Aber seit die Unruhen zunehmen und die Rufe nach einem christlichen Andalusien immer lauter werden, haben sie sich verändert. Ich bin misstrauisch.«

Yussuf winkte ab. »Lass gut sein, Fathi. Sammle die Getreuen und dann werden wir die Abreise eben beschleunigen. Je schneller, desto besser. Lieber warten wir einen Tag am Hafen.«

Fathi nickte. »Sehr wohl, Herr. Ich werde für heute Nacht Wachen aufstellen und ich werde nur unsere Männer nehmen. Sonst habe ich keine ruhige Minute. Den Christen traue ich nicht mehr.«

»Als ob du das jemals getan hättest!«

Fathi überhörte den letzten Satz seines Herrn geflissentlich und war verschwunden, ehe jemand etwas sagen konnte.

Mohammed kam diese Stimmung so gar nicht entgegen und daher beeilte er sich, ebenfalls das Weite zu suchen. Die Entwicklungen der letzten Stunden waren nicht nach seinem Sinn und standen seinen Plänen enorm im Weg. Er entschuldigte sich bei seiner Familie und eilte in seine Räume, um sich umzukleiden. Wenn er ehrlich war, dachte er keine Sekunde daran, sich den Abend bei Donna Sonja entgehen zu lassen. Er wusste, dass die Damen der Gesellschaft ihn gern bei sich hatten. Schönheit öffnete viele Tore – auch solche, die ansonsten verschlossen geblieben wären.

Er bürstete das lange, dichte Haar und band es mit einem Seidenband zu einem Zopf. Sein leichtes Hemd tauschte er gegen eine dunkelblaue, mit Silberfäden durchwirkte Tunika und legte dann die breiten silbernen Armreifen an, die den Damen immer Verzückungsschreie entlockten. Er war durchaus zufrieden mit seinem Äußeren. Warum sollte er sein Aussehen nicht für seine Zwecke nutzen? Was Allah ihm gegeben hatte, durfte ein Mann ja wohl nicht sinnlos vergeuden. Eine Freundin seiner Mutter hatte einmal zu ihm gesagt, sein Gesicht sei das Schönste, was sie jemals gesehen hätte. Abgesehen davon, dass er – damals noch ein halbes Kind – dunkelrot angelaufen war vor Scham, war ihm dieser Satz nie wieder aus dem Kopf gegangen. Mit der Zeit hatte er gelernt, dass Schönheit in dieser oberflächlichen Gesellschaft unglaublich wichtig war. Lediglich Ana hatte einmal sehr heftig erklärt, dass Schönheit ohne Verstand und ohne Herz eine vergeudete Gabe Gottes sei. Für diese Äußerung liebte und bewunderte er sie nur umso mehr.

Als er das Haus verließ, kam ihm seine Mutter mit einem Arm voller Blumen entgegen. Sie versuchte, es zu verbergen, doch er sah sofort, dass sie geweint hatte. Das war etwas, das er überhaupt nicht ertragen konnte. Seine geliebte Mutter durfte nicht weinen, alles, nur das nicht! Vorsichtig, um die Blumen nicht zu zerdrücken, schloss er sie in die Arme. »Māmā, es wird alles gut! Bitte glaube mir. Ich verspreche es! Habe ich dich schon angelogen? Jemals?«

Fathwa schüttelte nur schweigend den Kopf.

»Siehst du, und auch jetzt lüge ich nicht. Hab Vertrauen, ich werde alles so einrichten, dass du wieder glücklich bist.«

Seine Mutter nickte zwar, aber er konnte erkennen, dass sie zweifelte. Lächelnd zog er einen Zweig mit duftenden Jasminblüten aus dem Strauß, küsste seine Mutter auf die Wange und sprang kurz danach auf seinen weißen Hengst, den Fathi ihm zuvor wortlos bereitgestellt hatte.


Fathwa sah ihrem Sohn nach, bis er mit der Dunkelheit verschmolzen war, erst dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf.

B

Auf der kleinen Plaza vor der uralten Kirche war es um diese Zeit sonst voll gewesen. Fröhliche Kinder hatten gespielt und die Menschen hatten angeregt über den vergangenen Tag geplaudert. Vor einiger Zeit war dieses unbeschwerte Treiben verschwunden und die große Fläche lag wie ausgestorben da. Nun hasteten die Menschen mit eingezogenem Kopf durch die Nacht. In der Mitte des Platzes zeugte ein großer, fast kreisrunder schwarzer Fleck von einem Feuer, das dort erst kürzlich gebrannt haben musste. Die Stelle wies einen Durchmesser von über drei Metern auf. Vereinzelt waren noch verkohlte Papier- und Pergamentschnipsel zu entdecken, im übrigen ließ nichts mehr darauf schließen, was hier geschehen war.

Juan allerdings wusste es nur zu gut. Er war selbst dabei gewesen. Er selbst hatte einige der alten Bücher ins Feuer geworfen, und es hatte sich gut angefühlt. Heidnisches Gedankengut, sinnloser Ballast für die Köpfe der Menschen, die doch lieber arbeiten sollten und dafür Sorge tragen, dass dieses Land wieder frei, dass es wieder ein christliches Land sei! Den Inhalt der Bibliothek zu verbrennen, war eine gute und gottgefällige Tat gewesen. 

Juan vergrub die Hände tief in den Taschen seiner Jacke und starrte suchend über die Plaza.

»Hoffentlich kommt er«, sagte Pedro unruhig seufzend. Er hatte ein mieses Gefühl, was möglicherweise daran liegen konnte, dass er gerade dabei war, heftig in die Hand zu beißen, die ihn so lange und so reichlich gefüttert hatte.

»Natürlich kommt er. Er ist ein Ehrenmann.«

»Hm, ein Ehrenmann, der andere dafür bezahlt, dass sie zum Verräter werden.«

»Halt dein dummes Maul, du Schwachkopf, willst du auf der falschen Seite stehen, wenn es so weit ist? Hast du Lust, zu krepieren?«

Pedro schüttelte kleinlaut den Kopf. 

»Dann reiß dich zusammen!« Juan wütend zu machen, war nicht gut. So dämlich, wie er war, so brutal konnte er auch werden. Das wusste Pedro und so senkte er sicherheitshalber wieder den Kopf und hing still seinen Gedanken nach. Lange Zeit dazu blieb ihm nicht. Aus dem Dunkel einer Gasse erklang der Hufschlag von Pferden und wenige Augenblicke später rollte eine prächtige Kutsche auf den Platz. Der Kutscher brachte die Pferde vor den beiden Männern zum Stehen und stieg ab, um seinem Herrn beim Aussteigen behilflich zu sein.

Don Ricardo war ebenso eingebildet wie reich. Seine Kleidung zeugte von einem exquisiten Geschmack und seine Haltung von einer schier unglaublichen Arroganz. Doch leider konnten die edelste Kleidung und der stolzeste Ausdruck nicht die brutalen Züge in seinem Gesicht abmildern. Das aber war ihm denkbar egal, er hatte alles, was er brauchte, und mehr noch. Nun würde er dafür sorgen, dass er zuletzt das bekam, was er mehr als alles andere begehrte – Herzogin Ana. Sie würde die absolute Krönung seines Lebens sein und er würde ihr ein Geschenk machen, das sie überraschen würde. Nicht umsonst schwärmte sie immer wieder von einem ganz bestimmten Blumengarten! Im Moment aber galt es, die Hindernisse zu beseitigen, die auf dem Weg zu seinem erklärten Ziel standen. Aus diesem Grund war er jetzt hier und aus diesem Grund standen diese beiden jämmerlichen Gestalten vor ihm.

»Nun, Juan, was hast du herausgefunden? Sag mir, dass ich mein sauer verdientes Gold gut angelegt habe.« Don Ricardo legte seine Hand fast zärtlich an den Knauf seines Schwertes.

Es war eine unbewusste Bewegung, doch für Juan und Pedro sehr beunruhigend. Folglich beeilte sich Juan, ihm zu versichern, dass alles den Plänen entsprechend laufen würde. »Herr, es ist so, wie ich bei unserem letzten Treffen vermutete. Yussuf al Hassarin wird das Land verlassen, und mit ihm seine Familie und die Dienerschaft.«

Don Ricardo zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Die ganze Familie? Wirklich alle? Das überrascht mich jetzt etwas.«

Juan zuckte mit den Schultern. »Na ja, so ist das bei denen. Was das Familienoberhaupt bestimmt, das muss befolgt werden. Wir sind abgehauen, nachdem dieser schwarze Riese uns befohlen hat, das Zeug vom Stall zu packen.«

Don Ricardo starrte nachdenklich auf die silbernen Spitzen seiner schwarzen Lederstiefel. »Was denkst du, wann werden sie aufbrechen?«

Juan sah etwas ratlos aus. »Ich denke, frühestens übermorgen. Sie werden sowieso viel zurücklassen müssen, aber es dauert trotzdem, bis sie alles in Kisten und Taschen verstaut haben. Wenn ich richtig gehört habe, dann hat al Hassarin auch für seine Pferde Sorge getragen, dass sie mitgeführt werden.«

Der Don nickte gedankenverloren. »Gut, ihr haltet Kontakt zu eurem Informanten. Ich will sofort Bescheid erhalten, wenn ihr wisst, wann sie alles fertig haben und aufbrechen, habt ihr verstanden?«

»Natürlich Herr, Ihr werdet es sofort erfahren.« Juan verbeugte sich tief vor dem Don, dem das sichtlich gefiel. 

Auf der kleinen Plaza vor der uralten Kirche war es um diese Zeit sonst voll gewesen. Fröhliche Kinder hatten gespielt und die Menschen hatten angeregt über den vergangenen Tag geplaudert. Vor einiger Zeit war dieses unbeschwerte Treiben verschwunden und die große Fläche lag wie ausgestorben da. Nun hasteten die Menschen mit eingezogenem Kopf durch die Nacht. In der Mitte des Platzes zeugte ein großer, fast kreisrunder schwarzer Fleck von einem Feuer, das dort erst kürzlich gebrannt haben musste. Die Stelle wies einen Durchmesser von über drei Metern auf. Vereinzelt waren noch verkohlte Papier- und Pergamentschnipsel zu entdecken, im übrigen ließ nichts mehr darauf schließen, was hier geschehen war.

Juan allerdings wusste es nur zu gut. Er war selbst dabei gewesen. Er selbst hatte einige der alten Bücher ins Feuer geworfen, und es hatte sich gut angefühlt. Heidnisches Gedankengut, sinnloser Ballast für die Köpfe der Menschen, die doch lieber arbeiten sollten und dafür Sorge tragen, dass dieses Land wieder frei, dass es wieder ein christliches Land sei! Den Inhalt der Bibliothek zu verbrennen, war eine gute und gottgefällige Tat gewesen. 

Juan vergrub die Hände tief in den Taschen seiner Jacke und starrte suchend über die Plaza.

»Hoffentlich kommt er«, sagte Pedro unruhig seufzend. Er hatte ein mieses Gefühl, was möglicherweise daran liegen konnte, dass er gerade dabei war, heftig in die Hand zu beißen, die ihn so lange und so reichlich gefüttert hatte.

»Natürlich kommt er. Er ist ein Ehrenmann.«

»Hm, ein Ehrenmann, der andere dafür bezahlt, dass sie zum Verräter werden.«

»Halt dein dummes Maul, du Schwachkopf, willst du auf der falschen Seite stehen, wenn es so weit ist? Hast du Lust, zu krepieren?«

Pedro schüttelte kleinlaut den Kopf. 

»Dann reiß dich zusammen!« Juan wütend zu machen, war nicht gut. So dämlich, wie er war, so brutal konnte er auch werden. Das wusste Pedro und so senkte er sicherheitshalber wieder den Kopf und hing still seinen Gedanken nach. Lange Zeit dazu blieb ihm nicht. Aus dem Dunkel einer Gasse erklang der Hufschlag von Pferden und wenige Augenblicke später rollte eine prächtige Kutsche auf den Platz. Der Kutscher brachte die Pferde vor den beiden Männern zum Stehen und stieg ab, um seinem Herrn beim Aussteigen behilflich zu sein.

Don Ricardo war ebenso eingebildet wie reich. Seine Kleidung zeugte von einem exquisiten Geschmack und seine Haltung von einer schier unglaublichen Arroganz. Doch leider konnten die edelste Kleidung und der stolzeste Ausdruck nicht die brutalen Züge in seinem Gesicht abmildern. Das aber war ihm denkbar egal, er hatte alles, was er brauchte, und mehr noch. Nun würde er dafür sorgen, dass er zuletzt das bekam, was er mehr als alles andere begehrte – Herzogin Ana. Sie würde die absolute Krönung seines Lebens sein und er würde ihr ein Geschenk machen, das sie überraschen würde. Nicht umsonst schwärmte sie immer wieder von einem ganz bestimmten Blumengarten! Im Moment aber galt es, die Hindernisse zu beseitigen, die auf dem Weg zu seinem erklärten Ziel standen. Aus diesem Grund war er jetzt hier und aus diesem Grund standen diese beiden jämmerlichen Gestalten vor ihm.

»Nun, Juan, was hast du herausgefunden? Sag mir, dass ich mein sauer verdientes Gold gut angelegt habe.« Don Ricardo legte seine Hand fast zärtlich an den Knauf seines Schwertes.

Es war eine unbewusste Bewegung, doch für Juan und Pedro sehr beunruhigend. Folglich beeilte sich Juan, ihm zu versichern, dass alles den Plänen entsprechend laufen würde. »Herr, es ist so, wie ich bei unserem letzten Treffen vermutete. Yussuf al Hassarin wird das Land verlassen, und mit ihm seine Familie und die Dienerschaft.«

Don Ricardo zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Die ganze Familie? Wirklich alle? Das überrascht mich jetzt etwas.«

Juan zuckte mit den Schultern. »Na ja, so ist das bei denen. Was das Familienoberhaupt bestimmt, das muss befolgt werden. Wir sind abgehauen, nachdem dieser schwarze Riese uns befohlen hat, das Zeug vom Stall zu packen.«

Don Ricardo starrte nachdenklich auf die silbernen Spitzen seiner schwarzen Lederstiefel. »Was denkst du, wann werden sie aufbrechen?«

Juan sah etwas ratlos aus. »Ich denke, frühestens übermorgen. Sie werden sowieso viel zurücklassen müssen, aber es dauert trotzdem, bis sie alles in Kisten und Taschen verstaut haben. Wenn ich richtig gehört habe, dann hat al Hassarin auch für seine Pferde Sorge getragen, dass sie mitgeführt werden.«

Der Don nickte gedankenverloren. »Gut, ihr haltet Kontakt zu eurem Informanten. Ich will sofort Bescheid erhalten, wenn ihr wisst, wann sie alles fertig haben und aufbrechen, habt ihr verstanden?«

»Natürlich Herr, Ihr werdet es sofort erfahren.« Juan verbeugte sich tief vor dem Don, dem das sichtlich gefiel. 

»Schon gut, schon gut. Du musst es nicht übertreiben. Tu deine Pflicht, das genügt mir schon.«

Er stieg wieder in seine Kutsche und wies den Kutscher an, loszufahren. »Los, ab zu Donna Sonja, ich bin sowieso schon spät! Ich möchte noch einmal die Anwesenheit des unwiderstehlichen Mohammed al Hassarin genießen.« Das Lachen des Don klang alles andere als gut gelaunt.

Pedro schüttelte sich, als der Don samt der Kutsche im Dunkel der Nacht verschwunden war.

»Compadre, der Kerl ist mir unheimlich. Der will nicht nur wissen, wann die Bahn für ihn frei ist! Der ist schon seit Jahren scharf auf die Güter der al Hassarins. Don Ricardo ist eine hasserfüllte Kröte und ich traue ihm zu, dass er der Familie ein Leid antut.«

Juan drehte sich mit einem bösen Lachen zu seinem Begleiter um. »Wie blöd bist du eigentlich? Natürlich will er die al Hassarins ausschalten, Mann, was erwartest du? Die Heiden haben das schönste Land, die schönsten Häuser und Geld im Überfluss, seit unzähligen Jahren. Woher glaubst du wohl, dass das kommt?«

Pedro sah Juan herausfordernd an. »Lass mich mal nachdenken. Möglicherweise daher, dass sie aus einer Wüste schöne Gärten gemacht haben. Oder vielleicht auch daher, weil sie fleißig und geschickt sind? Könnte das sein?«

Juans Gesicht war jetzt ganz nahe an dem Pedros. »Mann, ich sag es dir noch einmal. Wenn du die al Hassarins so liebst, dann geh zu ihnen zurück! Aber sei gewarnt, wenn du dein dummes Maul nicht im Zaum halten kannst, dann könnte es ein Problem geben.«

»Ach, und das wäre?«

Juan setzte sein typisch zynisches Lächeln auf. Ein Lächeln, das so falsch war wie der ganze Mann. »Ich weiß ja nicht, wie viel dir deine Frau und deine kleine Tochter bedeuten. Ich würde sehr auf sie achten, wenn ich du wäre. Es passiert so viel dieser Tage. Weißt du, täglich sterben Menschen, einfach so …« Juan schnippte mit den Fingern und Pedro wurde plötzlich kalt, sehr kalt.

Juan kicherte. »Ah, ich sehe, die ist Botschaft angekommen. Jetzt hau ab, verschwinde zu deiner schönen Frau und deiner süßen Tochter! Sieh sie dir gut an, damit du weißt, was auf dem Spiel steht.«

Als Juan sich noch immer lachend abwandte und sich selbst zu seiner Familie trollte, stand Pedro noch lang allein auf der Plaza. Nur langsam wurde ihm bewusst, was er getan hatte, und dass er nichts mehr daran ändern konnte. Er kannte Juan lange genug, um zu wissen, dass der ohne mit der Wimper zu zucken auch Kinder ermorden würde, wenn sie seinen Plänen und denen seiner Auftraggeber im Wege standen. Verfluchte Söldnerseele!

3.


»Mohammed, wie schön, Euch zu sehen!« Donna Sonja kam strahlend und mit weit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Mohammed wusste, dass er die zu erwartende überschwängliche Umarmung rechtzeitig abwenden musste, wollte er nicht wieder den Unwillen aller männlichen Anwesenden auf sich ziehen. Also griff er mit einer eleganten, fließenden Bewegung nach der rechten Hand der edlen Dame und deutete einen Handkuss an.

»Donna Sonja, schön wie immer. Ihr seid der strahlendste Stern dieser Nacht!« 

Die Gastgeberin schmolz vor seinen Augen dahin. »Mohammed, Ihr seid solch ein Schmeichler! Aber ich bitte Euch, macht weiter, ich sauge Eure Komplimente auf und verschließe sie in meinem Herzen, für die trockenere Zeit in meinem Heim.« Ein Seitenhieb auf ihren sicherlich langweiligen, doch gutmütigen Gatten, der solche verbalen Fehlgriffe seiner Frau meist mit einem Lächeln überspielte.

Fröhlich plaudernd führte ihn seine Gastgeberin durch die Räumlichkeiten auf die große Terrasse hinaus, wobei er ununterbrochen Bekannte und Freunde begrüßte; das Gesicht jedoch, das er am meisten zu sehen wünschte, konnte er zu einer großen Enttäuschung nicht entdecken. Nur widerwillig ließ seine Gastgeberin ihn schließlich aus ihren Fängen und wandte sich ihren übrigen Gästen zu, um sich nicht allzu offensichtlich nur Mohammed zu widmen.

Endlich hatte er die Muße, sich ein Glas Wein zu holen und sich unter die anderen Gäste zu mischen. Ihm fiel auf, dass außer ihm und Salman, dem Besitzer der großen Pferdezucht, offenbar nur Christen von Donna Sonja eingeladen worden waren. Das überraschte ihn, denn bis zum heutigen Tage waren die Festgäste von Donna Sonja stets eine gute Mischung aus Christen und hochrangigen muhammadi der Gesellschaft Granadas gewesen. So gern er es getan hätte, das konnte nicht einmal er ignorieren – trotz seines ansonsten so unbeschwerten Gemütes. Während er grübelnd an einer Wand lehnte, ließ er den Blick über die Gäste schweifen. Zwar hatten ihn alle herzlich und freundlich begrüßt, doch so sehr er auch versuchte, es zu verdrängen, so wie heute war noch keine der Einladungen gewesen. Nur ab und zu kam jemand auf ihn zu und sprach ihn an. Die Unterhaltungen waren kurz und oberflächlich, fast so, als fürchtete man, ein Thema anzusprechen, das unangenehm werden könnte. 

Er war tief in Gedanken versunken, als hinter ihm die Stimme erklang, auf die er so sehr gehofft hatte.

»Guten Abend! Schön, Euch zu sehen, Mohammed. Seid Ihr ganz allein hier?«

Mohammed wandte sich der Sprecherin zu. Ana lächelte ihn so erfreut und herzlich an, dass er alle negativen Gedanken sofort beiseiteschob.

»Jetzt nicht mehr, Ana. Ich hatte gehofft, dass Ihr auch hier seid. Ich musste Euch sehen.«

Fast unmerklich hob Ana den Finger an die Lippen, so als bedeute sie ihm, zu schweigen. Er unterbrach sich und blickte Ana fragend an. Die sprach an seiner statt nun fröhlich weiter. »Kommt, lasst uns einen Platz suchen und ein wenig plaudern.«

Sie ließen sich auf einer Bank, abseits vom Trubel nieder. Mohammed saß nun so, dass er den übrigen Anwesenden den Rücken zukehrte. Das schien Ana so beabsichtigt zu haben. Ihr Blick war seltsam unruhig, doch nachdem sie ihn eine Weile suchend über die Gäste hatte schweifen lassen, wandte sie sich ihrem Gegenüber etwas weniger angespannt zu.

»Mohammed, du musst vorsichtiger sein, das ist wichtig. Sieh dich einmal unauffällig um, was siehst du?«