{5}Meiner Mutter,

Nancy Bingemer Goebel,

der Besten

{6}Nur durch die Kunst kann ich die Menschen lieben,

ohne daß ich ihnen zu nahe trete.

Ernst Ludwig Kirchner,

ein Künstler des 20. Jahrhunderts

Beim Tanzen bin ich stolz auf meinen Körper.

Zeig her, was du hast. Es ist ein Tangaslip.

Chad, ein Künstler des 21. Jahrhunderts

{9}Erster Teil

{11}I. RACHEL

1

Tut mir leid, daß Du es ausgerechnet von mir erfährst, aber Du wirst nie glücklich sein.

Ich will Dir damit nicht weh tun, ich will es Dir einfach sagen, weil ich es nur anständig finde, daß ich ehrlich zu Dir bin, ehe wir anfangen. Ich hoffe, Du weißt das zu schätzen, denn von nun an wird keiner mehr anständig oder ehrlich zu Dir sein. Darum hier gleich noch einmal: Du wirst nie glücklich sein. Jetzt hast Du’s schriftlich, und gern geschehen, echt.

Ich möchte, daß Du an dem sonnigsten, schwülsten Tag des Jahres nach draußen gehst und es gelassen laut aussprichst: »Ich werde nie glücklich sein.« Sogar in der Hitze müßtest Du dann die kalte Wolke Deines Atems sehen können, die Deine Aussage bestätigt. Und Deinen Atem wirst Du nur dann nicht sehen können, wenn Du es stolz sagst, wie ein weiser alter Mann: »Ich werde nie glücklich sein!« Probier es irgendwann mal.

Wenn ich an Dich denke, dann sehe ich wie in einem Comic eine Wolke über Deinem Kopf schweben, die Dir und nur Dir einen Wolkenbruch beschert. Ich sehe Dich naß bis auf die Knochen, mit hängendem Kopf und ganz {12}geknickt, und Du bist dauernd krank, weil Du immer im Regen stehst. Tief bedrückt vom schlechten Wetter weinst Du Dir die Augen aus, doch Deine Tränenbäche verdunsten und werden zur nächsten Wolke, aus der es noch heftiger auf Dich niederregnet. Du kannst nur verlieren!

Traurige Aussichten. Du wirst nie das Mädchen kriegen. Du wirst die Welt nicht retten. Du wirst nie die wahre Liebe finden. Und auch keinen vertrauenswürdigen Freund. Du wirst nie zufrieden sein. Du wirst nie genug bekommen. Die Kirschen der andern werden immer größer sein. Und Deine holen die Vögel. Deine Tage werden lang sein und freudlos. Deine Nächte werden einsam sein und kaum mehr. Stets wirst Du auf bessere Zeiten warten, die nie kommen. Und Seelenfrieden kannst Du komplett abschreiben.

Es wird Tage geben, da wirst Du auf die Knie fallen und laut schreiend Dein Leid klagen, wem auch immer. Doch Das-Ding-das-wir-Gott-nennen kann und wird nicht helfen. Ich stelle mir den Himmel als eine funkelnde Kristallstadt vor, und dort, in ihrem höchsten, glitzernden Wolkenkratzer, verhandelt der Bürgermeister, immer viel beschäftigt, hinter einer Tür ohne Klinke. Er ist nie zu sprechen, Anrufe werden nicht durchgestellt. Und dann sehe ich die vielen makellosen blonden Engel ohne Genitalien und ohne Füße vor mir, wie sie sich versammeln und auf uns alle hier unten zeigen, uns auslachen und kichernd sagen: »Die armen Kleinen!« Sie werden einen Heidenspaß an Dir haben.

Deine Gebete werden eher wir erhören als sie. Oder auch nicht. Wir werden Dein Schicksal lenken und über Dich wachen, nicht Götter oder Engel. Auch nicht die Toten. {13}Wir. Männer und Frauen. Erwachsene mit verworrenen Beziehungsgeflechten und geheimen Plänen. Ehemalige Kinder.

Wir werden Dir geben, was Du brauchst, aber versagen, was Du willst. Wir werden dafür sorgen, daß alles, was Du für Dein Glück brauchst, knapp außerhalb Deiner Reichweite bleibt. Solltest Du aus Versehen ein Glücksgefühl verspüren, dann halte es fest, mit aller Macht. Genieße es, so lange Du kannst, denn es bleibt garantiert ein kurzes Vergnügen.

Noch einmal, es tut mir leid. Es stimmt, was die Leute sagen – das Leben ist ungerecht, vor allem zu Dir. Und ich kann Dir nur einen Trost bieten: Was Du in all dem Leid und der Einsamkeit zustande bringst, wird Deine Verzweif‌lung und unsere Grausamkeit bei weitem überdauern. Unsere Folter ist vergänglich, Dein Werk währt ewig. So gesehen, werden wir auf lange Sicht alle gewinnen.

Und deshalb entschuldige ich mich im Namen aller, denen Du je begegnen wirst, im voraus für allen Kummer, den wir Dir bereiten werden. Dir stehen harte Zeiten bevor, Kleiner. Du bist gewarnt.

Nichts für ungut

Harlan

– Ein Brief, den ich Vincent schrieb, als er sieben war

{14}2

Ich muß stockbesoffen gewesen sein, um einen so ernüchternden Brief zu schreiben. Es war erbärmlich spät, gegen halb drei morgens vielleicht, und ich schrieb ihn als letztes, bevor ich ins Bett ging. Das Gefühl mußte einfach raus, solange ich es noch spürte, also setzte ich mich hin und rotzte den ganzen Sermon auf Hotelbriefpapier.

Dieser Brief gab Vincent eine Ahnung von den kommenden fünfzehn Jahren unserer gemeinsamen Arbeit. In diesen Jahren litt er unter unglücklicher, nicht erwiderter Liebe, unter Krankheit und Depression, neben anderem Kummer, für den meistens ich verantwortlich war, direkt oder indirekt. Eine innovationsfreudige Firma der Unterhaltungsbranche namens New Renaissance stellte mich ein, um ihm dieses Leid zuzufügen, damit Vincent stets inspiriert war, große Kunst zu schaffen.

Am Tag nachdem ich diesen Brief geschrieben hatte, ließ ich ihn mir von Vincent laut vorlesen. Wir waren zu dritt: er, ich und der Welpe, den ich später töten würde, im Wohnzimmer des Hauses, das ich später niederbrennen würde. Der Junge war zwar erst sieben, konnte den Brief aber fehlerfrei vorlesen und jedes Wort richtig aussprechen, die »Genitalien« eingeschlossen. Wenn er manchmal ins Stocken geriet, so lag das an meiner besoffenen Klaue.

Ich hätte so einen Brief nicht schreiben dürfen. Hätte Mr. Lipowitz davon Wind bekommen, wäre ich gefeuert worden, mindestens. Aber wegen jenes Briefs kann ich immer sagen, Vincent habe von Anfang an gewußt, was ihn erwartete. Die meisten Kinder erfahren solche Ehrlichkeit von {15}Erwachsenen nie. Ich wünschte, mir hätte jemand so einen Brief geschrieben, als ich ein Kind war.

Aber ich glaube nicht, daß die Warnungen in meinem Brief eine echte Chance hatten, sich Vincents bemerkenswertem Gehirn einzuprägen. Kaum hatte er zu Ende gelesen, warf er das Blatt achtlos neben sich auf das Secondhandsofa und fing an, wie närrisch um mich herumzutanzen. Er wollte mich mit aller Macht zum Lachen bringen, weil er merkte, daß ich jeden Moment weinen würde, denn ich hatte aus einem Kindermund die bedrückenden Worte eines verbitterten alten Mannes vernommen. Eines verbitterten alten Mannes von damals achtundzwanzig.

3

Ich war wohl doch nicht so gefühllos, wie ich gehofft hatte, wenn mich der kleine Mistkerl schon am ersten Tag unserer Bekanntschaft fast zum Weinen bringen konnte. Doch damals grübelte ich besonders gern über folgende Frage: Was ist trauriger: ältere Menschen wegen allem, was sie gesehen, gehabt und verloren haben? Oder Kinder ohne jeden blassen Schimmer von allem, was sie sehen, haben und verlieren werden? Das hier war noch trauriger: ein Kind mit der bedrückenden Weisheit eines alten Menschen. Und genau das machte mich fertig, als Vincent meinen Brief vorlas. Aber geweint habe ich nicht.

Zum letzten Mal habe ich mit achtzehn geweint. Das hatte ich Rachel Hanks zu verdanken, dem ersten Mädchen, das ich zu lieben glaubte.

{16}Rachels Lieblingsband war The Cure, ihre Lieblingsfernsehserie war Twin Peaks, ihr Lieblingsfilm Beim Sterben ist jeder der erste.

Wir waren etwa ein halbes Jahr zusammen, als ich Zeuge der niederschmetternden Enthüllung wurde, daß sie anderen Jungs den Penis gemolken hatte. Als ich sie wegen dieser heimlichen oralen Liebesdienste zur Rede stellte, erklärte sie unsere Beziehung für beendet. Allerdings war ich darauf vorbereitet, weil meine erste Band, The Botchilisms, sich gerade aufgelöst hatte und Rachel folglich wenig Neigung zeigte, bei mir zu bleiben.

Ich war aber noch nicht bereit, wieder in meine frühere Einsamkeit zu verfallen. Ich wollte Rachel nach wie vor. Sie hatte gelogen und betrogen und wollte nichts mit mir zu tun haben – sie war begehrenswerter denn je. Und so saßen wir bei ihr in dem abgedunkelten Wohnzimmer und führten ermüdende Gespräche; meine durchsichtigen Einwände folgten in endlosen Runden ihren kalt berechneten Verweigerungen, bis sie schließlich sagte: »Na schön, Harlan. Wenn du mich wirklich so sehr liebst, dann weine um mich.«

»Wie war das?«

»Weine um mich. Zeig mir, wie viel ich dir bedeute. Drück dir nur eine einzige Träne ab, und ich gehöre für immer dir.«

Sie meinte es ernst. Damals hatte ich nicht mehr geweint, seit ich ein kleiner Junge mit aufgeschürf‌ten Knien gewesen war. Nicht einmal beim Tod meines Vaters ein paar Jahre zuvor hatte ich geweint, und nun stand sie da, wickelte eine Locke um ihren Zeigefinger und verlangte einen Tropfen {17}Trauer nur für sie.

Ich sah hinüber zu diesem erbarmungslosen Säugetier am anderen Ende der Couch, sah die Falten im Fleisch ihrer übereinandergeschlagenen Beine und merkte, daß ich weinen wollte. Ich dachte an ein Leben ohne sie, doch das machte mich nicht traurig genug. Unsere Trennung hatte ja noch nicht stattgefunden; ich mußte Erfahrungen heraufbeschwören, Bilder, Erinnerungen, die Vergangenheit, die ich eigentlich lieber vermieden hätte.

Deshalb dachte ich an Weihnachten in einem Pflegeheim und an hirntote Neugeborene. Ich dachte an Flaggen auf Halbmast und geschmacklose Denkmäler neben der Straße. An JFK junior, wie er vor dem Sarg seines Vaters salutierte. Ich dachte an den letzten Abend der Sommerferien meiner Kindheit. An Zeit der Zärtlichkeit. An einen alten Mann, der in einem Schnellimbiß Pommes ißt. Ich dachte an meinen Vater, jung, vital und witzig, wie er dann ans Bett gefesselt langsam verreckte. Ich dachte an eine fast leere Bierflasche. Ich dachte an meine Kindheit, vor allem an die guten Zeiten. Und mit dieser Parade bedrückender Bilder vor meinem inneren Auge löste sich doch tatsächlich eine Träne.

Sie rann meine Wange hinunter, und dieses Mädchen, das meine erste Liebe hätte sein sollen, leckte sie auf.

»Ich liebe den Salzgeschmack von Tränen«, sagte Rachel, wohl wissend, daß sie am nächsten Tag mit mir Schluß machen würde.

{18}4

Aber vor Vincent weinte ich an jenem Tag nicht. Er ließ es nicht zu. Statt dessen brachte er mich zum Lachen, jodelte wie der kleine Bergsteiger aus Der Preis ist heiß und rieb seine Beine wie eine Katze an meinen, versuchte alles, um mich glücklich zu machen. Und es gelang ihm. Ich setzte mein Pokerface auf und spielte meine Rolle.

Die bestand darin, Vincents Manager zu sein. Er sollte mich als kompetent und professionell sehen, als einen wichtigen Erwachsenen, dem er gehorchen und vertrauen mußte. Ich zog mich entsprechend an, trug die alten Sportsakkos meines Vaters (die mit den Ärmelschonern über den Ellbogen), ein oben offenes weißes Hemd, einen schlichten dunklen Schlips, eine graue Hose und schwarze englische Schuhe, die ich selten putzte. Ich sollte Intelligenz, Weltgewandtheit und beruf‌liche Kompetenz ausstrahlen, obwohl das ganze Unterfangen lachhaft war.

Selbst mit achtundzwanzig hätte ich lieber zerrissene Jeans und ein T-Shirt getragen. Doch für diesen Job versuchte ich, kultiviert zu wirken, hart an der Grenze zum Saloppen, gepaart mit einem Schuß pfiffiger Eleganz. Mein Haaransatz wurde durch die perfekt nach hinten gestylte Gelfrisur mit den Geheimratsecken (das Wichtigste an meiner Maskerade) noch betont. Mein Gesicht mit den kantigen Zügen war immer glattrasiert. Mit meinen Segelohren und der Plattnase war ich, was das Aussehen betrifft, deutlich diesseits von George Clooney. Man könnte mich bestenfalls hübsch häßlich nennen, was ich durch etwas kompensierte, das manche Stil nennen.

{19}Es war jedoch egal, wie ich aussah, weil es Vincent egal war.

Auch was er selbst trug, war ihm egal. Der unordentliche, zerzauste Siebenjährige würde sich nie ändern.

»Vincent, verstehst du, was ich mit dem Brief sagen will?«

»Ja«, antwortete er, sank zurück auf das Sofa und nahm seinen Welpen auf den Arm, einen winzigen braunen Terrier, der aussah wie Toto aus Der Zauberer von Oz.

»Was steht in meinem Brief?«

»Da steht, daß alle gemein sein werden und ich traurig.«

»Genau. Also, ich kann dir helfen, ein bedeutender Schriftsteller zu werden und deine Bücher überall an den Mann zu bringen. Okay? Aber ich sag’s dir gleich, es wird hart für dich. Es wird garantiert nicht leicht.«

Vincent starrte mich an und nickte, dabei kraulte er dem Welpen den Bauch. Eines Tages würde er einen Song über seinen Hund schreiben, einen Hit, von dem jeder annahm, er handele von einer Frau.

»Dann hör zu«, fuhr ich fort. »Wenn du willst, daß ich dich in Ruhe lasse, sag’s einfach. Sag einfach, ich soll sofort abhauen, schon geh ich, und du kannst ein nettes einfaches Leben ohne mich führen.«

Er kraulte dem Welpen weiter den Bauch.

»Also, willst du, daß ich dich in Ruhe lasse?« fragte ich nach langer Pause.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Du bist nett zu mir.«

»Nein, bin ich nicht. Du hast doch gerade den Brief vorgelesen. Das war kein netter Brief, oder?«

{20}»Aber mir hat noch nie jemand einen Brief geschrieben.«

»Na ja, mir schreibt auch keiner. Ich bin der einzige Mensch, den ich kenne, der tatsächlich noch Briefe schreibt.«

»Warum?«

»Wegen der E-Mails. Und weil sich keiner wirklich darum schert.«

»Ich hab auch noch nie so eine E-Mail gekriegt.«

»Hast nicht viel verpaßt. Ich mag keine E-Mails. Ich lese sie gar nicht mehr.«

»Wieso nicht?«

»Das hat verschiedene Gründe. Wirklich zum Kotzen finde ich, wenn man fünfzig ungelesene Mails hat, und neunundvierzig davon sind Spam, meist mit echt dreckigem Inhalt. Jedenfalls … soll ich dich wirklich nicht in Ruhe lassen?«

Zwei Paar Welpenaugen starrten mich an. Das war Vincents Standardmiene, traurig und besorgt. Sein ganzes weiteres Leben würden die Leute ihn fragen: »Alles in Ordnung, Vincent?«, nur damit er antworten konnte: »Was soll die Frage?«

»Magst du mich nicht?« erwiderte er.

»Teufel, natürlich mag ich dich. Verdammte Scheiße … ich meine, verflucht noch mal, du bist mein Idol.«

Vincent lachte und hielt seinem Welpen die Ohren zu. Ich hatte nicht gewußt, wie ordinär ich sein konnte, bis ich mit einem Kind zusammen war. So wie mir nicht klar war, wie oft ich vom Tod sprach, bis ich ein Bestattungsinstitut aufgesucht hatte.

»Die Sache ist die, Vincent: Du bist genial. Und ich will {21}sichergehen, daß du alles, aber auch alles von deinem Genie dafür einsetzt, so vielen Menschen wie möglich zu helfen, indem du sie unterhältst, ohne sie zu verdummen. Nur darum geht es bei New Renaissance. Aber wenn wir das tun wollen, wenn wir aus deinem Genie soviel wie möglich herausholen wollen, werden wir nicht viel Spaß dabei haben. Vor allem du nicht.«

»Aber du magst mich?«

»Klar. Ich mag dich wirklich. Darum sag ich dir das alles und lasse dir die Wahl, auch wenn ich das nicht tun sollte. Also, sag mir einfach, ich soll dich in Ruhe lassen, und ich tu’s.«

»Ist schon in Ordnung. Ich könnte ja am Ende glücklich sein.«

»Doch das wirst du nicht.«

»Werd ich doch.«

»So sicher wie das Amen in der Kirche, das wirst du nicht.«

»Werd ich doch.«

»Nein!«

»Doch!«

»Nein!«

»Doch!«

Das ging noch eine Weile so weiter, bis ich aufgab.

»Na gut, Vincent. Du hast gewonnen.«

Eigentlich wollte ich sagen: »Du hast es nicht anders gewollt«, verkniff es mir aber und sagte statt dessen: »Warum stellst du nicht die große alte Glotze da für uns an, damit wir uns ansehen können, wie schlimm es wirklich ist?«

Als er sich umdrehte und nach der Fernbedienung griff, {22}schnappte ich mir den Brief, den ich ihm gegeben hatte, und stopf‌te ihn in meine Jackentasche.

Meine Lieblingsband sind die Dead Milkmen, meine Lieblingssendung ist Saturday Night Live, und mein Lieblingsfilm ist Punch-Drunk Love.

Vincent stellte den Fernseher an, und ich streckte die Hand aus, damit er mir die Fernbedienung geben konnte.

»Und außerdem, wer weiß?« fuhr ich fort. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht beweist du mir das Gegenteil und lebst am Ende so glücklich wie jeder andere auch.«

Das war das erste Mal, daß ich Vincent belog. Und mit dieser Lüge begann meine merkwürdige Laufbahn als zwielichtiger Schutzengel eines jungen Künstlers, als fürsorglich-grausamer Eindringling, der sich zwischen dessen Gegenwart und Zukunft schob. Mit dieser Lüge impf‌te ich ihm etwas ein, das sich als ebenso schädlich erweisen konnte wie jenes Gift, das ich später in seinen Drink schmuggeln sollte. Ich ließ diesem vaterlosen, dem Untergang geweihten Menschen die Illusion einer Hoffnung und sah ihm dabei sogar in die Augen.

{23}II. VERONICA

5

Minute für Minute, Nacht für Nacht, spukte ihr Bild durch die Köpfe von mindestens einem Dutzend liebestoller Männer. Die Erinnerung an ihre umwerfende Schönheit ließ sie nicht los und machte sie zu lüsternen, das Telefon anstarrenden Schwächlingen. Ich weiß es, denn ich war einer von ihnen.

Wie ein so unscheinbarer Ort ein so herrliches Menschenkind hervorbringen konnte, ist mir ein Rätsel. Doch irgendwie entstieg Veronica elegant einem trüben Kleinstadt-Genpool, und seither bricht sie Herzen.

Selbst ihr Name schien für ein so häßliches Kaff zu lieblich, er klang viel zu anmutig und glamourös, um unter der versauten männlichen Bevölkerung von Kramden im südlichen Illinois permanent die Runde zu machen. »Veronica. Veronica. Veronica.« Wie ein Traum schwebte der Name in den Köpfen dieser Typen und ließ sie ihre angeschlagenen, abgearbeiteten Körper für einen Augenblick vergessen. Ich nehme an, daß sie ihn vor sich hin flüsterten, nur um ihn zu hören: »Veronica.« »Fer-ron-ik-ka.«

Ihr Gesicht war genau so, wie man es sich wünschte, nichts war zu groß, nichts schief, kein Paar von irgend {24}etwas war asymmetrisch geraten. Die sinnlichen Lippen wiesen nicht den geringsten Makel auf. Kein Karies verunstaltete ihr bezauberndes Lächeln. Keine Spur von Akne auf ihrer Sahnehaut. Und das perfekte Make-up war ganz und gar überflüssig.

Es tat weh, ihren zierlichen Körper zu betrachten. Es war ein Vergnügen, ihn in Bewegung zu sehen. Veronicas betörende Gestalt entlockte ihren ergriffenen männlichen Betrachtern leise Flüche (»Donnerwetter!«) und vernehmliches Stöhnen. Sie maß nur knapp eins fünfundfünfzig, aber ihr Körper war von Kopf bis Fuß an den richtigen Stellen gerundet, und die ihr straffes Fleisch umgebende Haut schien zu schimmern.

Ihre Schönheit war so machtvoll, daß sie selbst das störrischste Glied dazu brachte, der Schwerkraft zu trotzen. Jeder mußte sie haben. Jeder wollte sie insgeheim, irgendwie sogar die Mädchen. Manche wollten sie um jeden Preis. Die lüsternen Blicke verliehen Veronicas Schönheit Autorität, die gierigen Augen sandten Strahlen unterdrückter Energie aus, die Veronicas helle Haut durchdrangen und sogar die Organe darunter erreichten.

Sie war zweiundzwanzig und im dritten Monat mit ihrem fünf‌ten Kind schwanger. Um ihr ungeborenes Kind loszuwerden, dröhnte sie sich gerade mit Alkohol und Ecstasy zu. Ihr war nicht nach Schwangersein. Sie wollte nicht wieder Wehen durchmachen, denn allmählich lohnte das Gebären die Schmerzen nicht mehr. Die Schmerzen waren seit ihrer dritten Geburt, die nicht komplikationslos verlaufen war, schlimmer geworden. Den Ärzten fiel es schwer, Vincent aus ihr herauszubekommen.

{25}6

IUI/Globe-Terner wurde zum absatzträchtigsten Medienkonzern der Welt, als in den Neunzigern die International United Internet Company mit der Globe Terner Entertainment Corporation fusionierte. IUI war seinerseits das Resultat eines Zusammenschlusses zweier mächtiger Computerfirmen, und Globe-Terner entstammte dem Zusammenschluß zweier Medienkonzerne. Da kleinere Firmen in der neuen globalisierten Wirtschaft nicht so lebensfähig waren, betrat IUI/Globe-Terner die Bühne als Konzern, in dem wir Konsumenten uns zwangsweise wiederfanden. Daraus wurde ein Medienimperium, das wir unterstützten, ohne es zu wissen, und das für uns so allgegenwärtig und doch so unauf‌fällig war wie Kohlendioxid in der Atmosphäre.

Ab einem bestimmten Punkt erzielte der Konzern Einnahmen, die mehr als fünfzig Prozent über denen seiner größten Konkurrenten lagen. Zu seinem allumfassenden Imperium gehörten eines der weltgrößten Verlagshäuser, der größte Musikkonzern der Welt, die Mehrheit der Kabelfernsehkanäle (einschließlich der meisten Nachrichtensender), Fernsehshows bei allen großen Sendern, mehr als eintausendzweihundert Radiostationen, mehr als einhundert Konzerthallen und ein beliebtes Videospielsystem. Der Konzern wirkte bis in die US-Regierung hinein, denn im Kongreß vertraten sowohl demokratische wie republikanische Abgeordnete die Unternehmensinteressen.

Und obwohl der Konzern eine gigantische Geldmaschine ist, die von Tausenden und Abertausenden Managern und {26}Angestellten am Laufen gehalten wird, war eigentlich nur ein einzelner dafür verantwortlich, daß der Konzern zu dem Geschäftsimperium wurde, das er heute ist. Anfangs träumte jener findige Raubritter namens Foster Lipowitz vom Aufbau eines globalen Satellitenimperiums; am Ende des Jahrhunderts war er soweit.

Als Vincent geboren wurde, hielt Mr. Lipowitz einen so großen Anteil an IUI/Globe-Terner, daß niemand ihn mehr feuern konnte. Und dank des von ihm aufgebauten globalen Oligopols war er so mächtig, wie ein einzelner Mensch nur sein kann. Er konnte tun, was er wollte, was gewöhnlich bedeutete, in seinem riesigen Büro mit Plasmafernsehschirmen an den Wänden zu sitzen und Pläne zu schmieden – unerreichbar, wenn man nicht Monate vorher einen Termin mit ihm vereinbarte.

Als Mr. Lipowitz siebzig wurde, hatte der Krebs bereits begonnen, seine Eingeweide wegzufressen, und dabei seine Sichtweise verändert, was Tausenddollarscheine und teure Nutten anging. Dies galt auch für die Tricks, mit denen er bisher buchprüfende Bundesbehörden und klagende Anteilseigner hingehalten hatte, und auch für das jahrzehntelange Betrügen und brutale Abschlachten seiner Konkurrenten. Er begann eine umfassende Inventur seines großen Unternehmens, und was er sah, gefiel ihm gar nicht. Er machte sich allmählich Sorgen, was er hinterlassen würde, und aus dieser Sorge, aus Schuld und Ekel, erwuchsen die Ideen, aus denen schließlich New Renaissance entstehen sollte (eine Tochtergesellschaft von IUI/Globe-Terner).

{27}7

Als ich Vincent kennenlernte, hatte er erst drei Geschwister, und alle lebten sie unter demselben rußgeschwärzten Dach, spielten mit Plastikkauzeug für Hunde und aßen Erdnußbutter, die ihre Mom vorsorglich auf dem untersten Regalbrett aufbewahrte.

Das älteste der drei Geschwister hieß Dylan. Sein Vater war ein mutmaßlicher Drogendealer, seinerzeit zwanzig, als Veronica dreizehn gewesen war.

Samenspender Nr. 2 war entweder ein Footballstar an der örtlichen High-School oder einer seiner besten Freunde. Ein kränklicher Sohn namens Vincent starb keine zwei Wochen nach der Geburt.

Wer sich hinter Samenspender Nr. 3 verbirgt, bleibt ein Rätsel, allerdings geht Veronicas Vermutung dahin, daß das Kind »irgend so einem Gefälligkeitsfick« entstammt, den sie als Fünfzehnjährige gewährt hatte. Dieser Säugling, obwohl ebenfalls kränklich, überlebte, und Veronica versuchte es noch einmal mit dem Namen Vincent.

Samenspender Nr. 4 war vermutlich ein wohlhabender Chirurg, Ehemann und zweifacher Vater. Dieser uneigennützige Spender war so gütig, der achtzehnjährigen Veronica und seinem neugeborenen Töchterchen Sarah ein kleines Eigenheim zu spenden. Ein Haus, in dem Vincent aufwachsen und das ich später bis auf die Grundmauern niederbrennen sollte. Es lag so weit draußen auf dem Lande wie möglich.

Samenspender Nr. 5 war möglicherweise ein wortgewandter fünfunddreißigjähriger Einwanderer auf {28}Durchreise, der Veronica heiratete, bevor er die Kleinstadt fluchtartig verließ. Er lieferte Veronica nicht nur einen dritten Sohn, Ben, sondern seinen Namen gleich mit: Djapushkonbutm.

Veronica Djapushkonbutm.

8

Jahrzehnte unersättlicher Gier und sündiger Geschäftspraktiken machten nur einen Bruchteil dessen aus, was Mr. Lipowitz so beschämte. Was den älteren, weiseren, kränkeren Mann an sich selbst wirklich anwiderte, das waren jene Schandtaten, die er durch seine Gier erst ermöglicht hatte – wertlose Werke, die für immer öffentlich zugänglich waren, nur weil sie wahrscheinlich massenweise Geld einbringen würden.

In einem Jahr zum Beispiel wurden mehr als zwei Drittel der Kinoeinnahmen von IUI/Globe-Terner mit nur drei Filmen erwirtschaftet, die im Juni oder Juli anliefen. Alle drei waren opulent ausgestattete Special-Ef‌fects-Streifen, nur gelegentlich von Dialogen unterbrochen: Death 2, dem ein nicht totzukriegender Comic zugrunde lag, Auf dem Highway ist die Hölle los 2069, eine futuristische Version des Siebzigerjahrefilms mit Ashton Kutcher in Burt Reynolds alter Rolle, und Extremers 3 über verführerische Vampiragentinnen mit einem Hang zu Extremsportarten.

In den Jahren bevor die Genies von New Renaissance die Märkte infiltrierten, gab es auch im Fernsehen nichts, worauf Mr. Lipowitz hätte stolz sein können. Reality-Shows {29}beherrschten den Bildschirm. Diese Shows waren billig zu machen, weil sie weder Drehbuchschreiber noch Schauspieler benötigten. Sie waren oft unmoralisch, dümmlich und abartig, dennoch sah ich sie mir ganz gern an. Dank der Reality-Shows konnte ich miterleben, wie junge Leute sich allein und untereinander verhalten, ohne mich wirklich mit ihnen abgeben zu müssen. Doch abgesehen davon, daß ich mich über die Teilnehmer lustig machen konnte, ohne daß sie sich wehren konnten, waren diese Shows fast sinnfrei.

Eine dieser Sendungen (von Empire Television produziert, ebenfalls eine IUI-Tochter) verfolgte das Leben einer widerlich reichen Prominenten, die ihren Ruhm irrsinnig großen Brüsten verdankte und ihren Reichtum der Heirat mit einem milliardenschweren – inzwischen verstorbenen – Hundertjährigen. In einer anderen Show wurden zwölf vermeintlich attraktive Lesben gezwungen, in einer Zweizimmerwohnung zusammenzuleben. Von den Sendungen, die tatsächlich ein Drehbuch erforderten, sind kaum welche erwähnenswert. Die meisten überlebten nur eine halbe Saison. Die großen Sender katapultierten die Shows auf den Bildschirm, und wenn sie nicht binnen drei, vier Wochen eingeschlagen hatten, flogen sie raus, ungeachtet ihrer Qualität.

Aber nichts war so verabscheuungswürdig wie das seit Jahren von IUI kontrollierte Radio. Die Rockmusik hatte einen historischen Tiefstand erreicht und war so eintönig, daß es nur noch eine einzige Gruppe zu geben schien – die mit dem überproduzierten Sound, dem falsch geschriebenen Namen, dem düsteren Gesang, den seichten Melodien und gelegentlichen Raps. Rap, ebenfalls keimfrei wie H-Milch, {30}war unter männlichen Jugendlichen äußerst beliebt. Offenbar gab es einen ganz guten Markt für ein Genre, das sich in erster Linie auf Machogehabe, Entwürdigung von Frauen und die Verherrlichung von Drogen und von gewaltsamem Tod verließ.

Pop im Radio war ein Totalausfall. Wenn nicht die oben erwähnten öden und unverständlichen Rock- oder Rapgruppen gespielt wurden, waren die Alternativen nur beängstigend öde Boy Bands oder spärlich bekleidete Schlampen. Weder die einen noch die anderen konnten ein Instrument spielen oder ihre Songs selber schreiben. Diese »Interpreten« wurden von Terner-eigenen Musiklabels erschaffen, und außer aufreizenden Tanzschrittchen entschädigte nichts für ihren Mangel an musikalischem Talent. Und R&B ließ sich nicht mehr von Pop unterscheiden. Countrymusic ebenso.

Anscheinend nahm die Öffentlichkeit im allgemeinen jedes Stück Scheiße bereitwillig hin, das ihr per Massenproduktion über den Äther untergeschoben wurde. Und auch wenn es dort wirklich gute Künstler gab, entweder aus früheren Jahrzehnten oder knapp unter der Oberfläche des Mainstreams von heute, wußte Lipowitz doch, daß seine leicht zufriedenzustellende Öffentlichkeit sie womöglich nie finden würde. Er würde die Kunst zu ihnen bringen müssen. Er würde die hirnlose Unterhaltung, mit der sich die Masse zur Zeit abspeisen ließ, durch Werke von Gehalt ersetzen müssen.

Sein Lieblingskomponist war Hector Berlioz, seine Lieblingsfernsehshow Es bleibt in der Familie und sein Lieblingsfilm La dolce vita.

{31}Lipowitz hoffte, vor seinem Tod noch zu erleben, daß sich die Waagschale der Mainstream-Unterhaltung eher zur Kunst als zum Kommerz hin neigte. Sein Krebs wuchs nur langsam, sein Ziel konnte er genauso langsam verfolgen. Er wollte nichts weniger als Kunst heranzüchten, durch jahrelange Ausbildung und Konditionierung seiner jungen Rekruten. Er war reich genug, sich die neuesten experimentellen Verfahren zur Wachstumshemmung seines Tumors leisten zu können, was hilfreich war, da er reichlich Zeit brauchte. Vincent war ja noch nicht einmal von einer Frau das Herz gebrochen worden.

9

Der sechsjährige Vincent war eines von 457 Kindern, die ausgewählt wurden, auf die New Renaissance Academy in Kokomo, Indiana, zu gehen. Jedes dieser Kinder hatte ein Vollstipendium erhalten, das Unterkunft und Verpflegung einschloß. Tausende von Eltern hatten gebührenfrei angerufen, nachdem eine Annonce mit folgendem Wortlaut erschienen war:

ELTERN AUFGEPASST:

 

ZEIGT IHR SOHN ODER IHRE TOCHTER (IM ALTER ZWISCHEN 5 UND 12 JAHREN) AUSSERGEWÖHNLICHES KÜNSTLERISCHES TALENT?

 

{32}WEIST ER ODER SIE EINE UNGEWÖHNLICHE BEGABUNG IM SCHREIBEN, MUSIZIEREN ODER ANDEREN KÜNSTLERISCHEN AUSDRUCKSFORMEN AUF?

 

FALLS JA, KÖNNTE IHR KIND MITHELFEN, DIE WELT DER UNTERHALTUNG ZU VERBESSERN.

 

RUFEN SIE JETZT AN: 1-800-555-4297

Dieser ganzseitige Aufruf erschien ein halbes Jahr lang in allen 1535 Zeitungen und Zeitschriften des IUI/Globe-Terner-Konzerns. Veronica rief an, nachdem sie ihn im Boulevardblatt National Intruder gelesen hatte. Die Telefonistin erklärte ihr, New Renaissance gründe gerade eine Akademie für hochbegabte Kinder, und Spitzenkräfte des Landes aus Kunst und Unterhaltung würden dort lehren.

Die Telefonistin vergewisserte sich, daß Vincent die Altersvorgaben erfüllte und Talent im Schreiben wie auch im Musizieren zeigte. Dann bat sie, mit ihm sprechen zu dürfen. Den Kindern wurde stets eine einfache Frage gestellt, nämlich wie sie folgende Leerstelle ausfüllen würden: Ich schreibe, weil           .

Sie schrieb Vincents Antwort auf: »Ich schreibe, weil ich bleibe.«

Daraufhin schickte die Telefonistin Veronica eine Bewerbung ins Haus, in der von Vincent eine Schreibprobe verlangt wurde.

{33}10

Der Herrscher der Erde
von Vincent

Es war einmal ein kleiner Junge, der insgeheim die ganze Erde beherrschte. Er war krank und konnte sonst nichts anderes. Krank muß er geworden sein, weil er Staub abgeleckt oder Dreck gefressen oder in Kloschüsseln gebadet hatte. Außerdem ließ er Pilzviecher auf sich herumkrabbeln. Er blieb einfach zu Hause und herrschte über den Planeten. Er kontrollierte die Welt von seinem Bett aus, und zwar mit Papier und Stift.

Nicht mal seine Mom wußte davon. Seine Mom rauchte vor allem gern. Sie rauchte so viele Zigaretten, daß man aus der Asche eine Freiheitsstatue hätte machen können.

Der Name des kleinen Jungen war Malgo-Dalgo. Eines Tages fand Malgo-Dalgos Mom heraus, daß er die Welt kontrollierte, weil sie sich hinter den Gardinen versteckt hatte und sah, wie er es tat. Sie erzählte anderen Leuten davon und sagte Malgo-Dalgo, er müsse nun ihre und seine Träume erfüllen.

Am nächsten Morgen erwachte Malgo-Dalgo in einem Haus, das größer war als alle Erdteile zusammen. Dann kamen drei Männer zu ihm. Sie sagten: »Sir, Ihr seid der Herrscher der Welt. Löst unsere Probleme.« Das erste Problem war Malgo-Dalgos Haus, das so schwer war, daß die Erde sich nicht mehr drehen konnte. Also wurde sein Haus auf gewöhnliche Größe geschrumpft. Das zweite Problem waren seine Spielsachen, die so hoch aufgetürmt waren, daß sie {34}die Sonne verdunkelten. Also hatte er auf einmal nur noch elf Spielsachen. Dieselben Spielsachen wie vorher. Das dritte Problem war, daß manche Leute sich nicht mehr bewegen konnten, wegen seines Geldes. Also wurde ihm das Geld weggenommen, und er hatte nur noch zehn Dollar. Dieselben zehn Dollar wie vorher.

Das war furchtbar! Malgo-Dalgo war nicht mehr Herrscher der Erde. Er war ein ganz normaler Junge. Aber halt! Das war toll! Glücklicherweise kamen keine Männer mit ihren Problemen mehr zu ihm. Unglücklicherweise kamen ein paar andere Männer, steckten seinen Kopf in eine Guillotine und brachten ihn um. Glücklicherweise war das allen egal, weil er jetzt nur ein ganz normaler Junge war. Unglücklicherweise konnte er nun nicht mehr denken, schreiben oder auf‌lecken. Glücklicherweise hatte er keine Kopfschmerzen mehr.

ENDE
   N
   D
   E

– Die Textprobe, die Veronica an New Renaissance schickte

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Foster Lipowitz ließ die New Renaissance Academy in Kokomo bauen, weil diese Kleinstadt mitten in Nordindiana von den Einflüssen New Yorks und Hollywoods weit entfernt war. Er nahm an, New Renaissance sei für die Medien {35}in einem Staat des Mittleren Westens nicht so leicht zu finden und würde deshalb wahrscheinlich auch nicht so leicht zu einer Art Happening oder Hype verkommen.

Die Akademie war ein langes, zweigeschossiges Gebäude aus braunem Backstein. Hinter dem Gebäude, jenseits eines Feldes, standen zwei große Wohnheime, eins für Jungen und eins für Mädchen. Vor der Akademie standen keine Schilder, kein Zierat, nicht einmal ein Fahnenmast. Keiner, der auf dem Highway daran vorbeifuhr, würdigte sie eines zweiten Blicks. Sie wirkte wie ein beliebiges Bürogebäude, in dem Papierkram erledigt wurde, weiter nichts.

In der Eingangshalle waren Wände und Boden aus weißem Marmor, die Decke war goldfarben. Die geräumigen Klassenzimmer hatten schimmernde Parkettböden, an den Wänden hingen Gemälde älterer und moderner Kunst. An den Stirnseiten der Klassenzimmer hingen große Computermonitore, und zwar nicht nur als neumodischer Tafelersatz; die Flachbildschirme dienten auch dazu, Kinofilme, Fernsehsendungen und Dias zu zeigen. Jedes Klassenzimmer war bestens mit modernster Technik ausgestattet, was einen optimalen Zugang zu jeglicher Form von Kultur gewährleistete.

Sporthalle und Aula fehlten in dieser Schule ganz. Die jüngeren Kinder durf‌ten während der Pausen nach draußen, man zwang sie aber nicht. Bis auf eines gab es nur Wahlfächer. Das einzige Pflichtfach hieß »Grundwissen« und umfaßte die vier Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Division und Multiplikation, Elemente der Sprachlehre und andere Rudimente akademischer Bildung. Höhere Mathematik gab es nicht. Bemerkenswerterweise gelang es Foster {36}Lipowitz, die nötige behördliche Genehmigung für die Akademie zu erlangen. Wie ich hörte, war das nicht ganz billig.

An der Akademie hießen die Klassenstufen »Jahrgänge«. Die Schüler konnten nach jedem abgeschlossenen Jahr frei entscheiden, ob sie die Akademie verlassen wollten. Irgendwann befanden die Lehrer, sie seien reif für die Abschlußprüfung, wonach sie sich einer Karriere in der von ihnen gewählten Unterhaltungssparte widmen konnten. Abgesehen von der Unterteilung der Klassen in Altersstufen, waren die Schüler keinen äußeren Zwängen unterworfen. Die Schüler besuchten den Unterricht einfach nur, um ihre Fähigkeiten zu vervollkommnen und soviel wie möglich über die Künstler zu lernen, die vor ihnen gelebt hatten.

Vincent sollte später diese Schule als Schauplatz für einen Film namens Heartbreak Academy wählen, für den er das Drehbuch schrieb. Der Film basierte auf seinen Schwierigkeiten, sich in diese Gemeinschaft einzufügen. Heartbreak Academy wurde schließlich zu einem Teenagerklassiker wie John Hughes Das darf man nur als Erwachsener oder Breakfast-Club – der Frühstücksclub.

Sein Stundenplan war nicht so einfach wie der eines Durchschnittsschülers an der New Renaissance Academy, weil Vincent sich für mehr interessierte als andere. In seinem Stundenplan konnte der Schwerpunkt nicht nur auf Musik oder Film oder Fernsehen liegen, weil er für alle drei Fächer in Frage kam – ein weiterer Grund, warum wir Vincent auswählten. Hier sein Stundenplan im ersten Jahr:

{37}10:00 h – 10:50 h: Geschichte des Rock ’n’ Roll

11:00 h – 11:50 h: Amerikanische Romanklassiker

12:00 h – 12:50 h: Mittagessen/Pause

13:00 h – 13:50 h: Grundwissen

14:00 h – 14:50 h: Schreiben I

15:00 h – 15:50 h: Sitcoms

16:00 h – 16:50 h: Mißlungenes Kino

»Grundwissen« war nicht nur das einzige Pflichtfach, dieses Fach zeichnete sich durch noch etwas aus, das in keinem Lehrplan oder Schulbuch stand: Jeder Pflichtfach-Lehrer war gehalten, am Ende des Schuljahrs über jeden einzelnen Schüler einen Verhaltensbericht zu schreiben. Die Schüler ahnten nicht, daß ihr Verhalten aktenkundig wurde, und die Lehrer wußten nicht, warum sie es dokumentierten.

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Den Schüler zeichnet eine für sein Alter geradezu unheimliche Intelligenz aus. Ganz klar ein Wunderkind. Schreibt auf erstaunlich hohem Niveau. Beängstigend phantasievoll und kreativ. Für sein Alter ausgesprochen aufgeweckt. Lernt schnell und eifrig. Der weitaus fleißigste in seiner Klasse, hinkt in seiner persönlichen Entwicklung allerdings etwas hinterher.

Sein Sozialverhalten läßt sehr zu wünschen übrig. Schlecht gekleidet, ungepflegt, wirkt ungesund. Wegen offensichtlicher geistiger Überlegenheit und Neigung zu Selbstisolation bei Gleichaltrigen unbeliebt. Mangelndes {38}Selbstwertgefühl, vermutlich auf Armut zurückzuführen. Geht ungern ins Freie, bleibt lieber drinnen und liest Bücher. Kontaktscheu, wird abgelehnt. Schüchtern. Wird aufgrund seines ängstlichen Auf‌tretens und seiner schmächtigen Statur zum Mobbingopfer. Mitschüler werfen seine Bücher zu Boden und skandieren spöttisch seinen Namen. Kehrt seinen Peinigern den Rücken zu, versteckt sich manchmal und weint im stillen. Schafft sich durch das Schreiben offenbar eine Phantasiewelt.

Gelegentliche Aufsässigkeit des Schülers während des Unterrichts wird durch seine Leistungen und seine starke Arbeitsmotivation kompensiert. Höf‌lich und rücksichtsvoll, stellt jedoch oft Beurteilungen durch seine Lehrer in Frage. Wird er getadelt, zieht sich der Schüler noch mehr in sich zurück. Seine Arbeiten sind fehlerfrei und werden kontinuierlich besser. Am häufigsten wird beanstandet, daß er vergißt, seinen Namen über Arbeiten zu schreiben.

Schüler läßt sich am besten als hypersensibel bezeichnen. Das wirkt sich positiv auf sein Schreiben aus – in geradezu verstörendem Ausmaß, wenn man sein Alter bedenkt. Insgesamt beweist der Schüler außerordentliches Talent als Künstler, ist aber als funktionierendes Mitglied der Gesellschaft problematisch. Katastrophale Entwicklung möglich. Ein ausgesprochen trauriger Fall.

 

– Beurteilung durch die New Renaissance Academy, Vincents Gutachten, erstellt nach seinem ersten Jahr auf der Schule

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Als die Akademie nach dem ersten Unterrichtsjahr über die Sommerferien schloß, schickte man 457 Gutachten per Kurier an den Filmstar Steven Sylvain. Der schaffte es, jede einzelne Akte zu lesen. Aus den 457 sortierte er vierzig aus, und diese vierzig gingen per Kurier an Foster Lipowitz.

In seinem riesigen Büro im einunddreißigsten Stock des IUI/Globe-Terner-Turms in Los Angeles saß Mr. Lipowitz hinter seinem gewaltigen Schreibtisch und studierte jedes der vierzig Gutachten eingehend. Am Ende hatte er die vierzig auf sieben reduziert, die per Kurier an mich weitergeleitet wurden, einschließlich einer Liste mit E-Mail-Adressen und Telefonnummern, woraufhin ich Gespräche mit sieben Vätern oder Müttern führte, um den Schüler herauszufiltern, der am besten zu unseren Zielen paßte.

Hallo?

Hi. Könnte ich bitte Veronica Djapushkonbutm sprechen?

Am Apparat.

Mein Name ist Harlan Eif‌f‌ler. Ich arbeite für New Renaissance.

Oh. Was gibt’s?

Wir sind dabei, unseren vielversprechendsten Schülern Manager zuzuweisen. Und Vincent ist ganz sicher einer von ihnen.

Manager – äh, was soll’n das heißen?

Also, wir wollen unseren Genies jemanden zur Seite stellen, der sich um ihre weitere Karriere kümmert, damit sie sich ganz auf ihre kreative Arbeit konzentrieren können.

{40}Also einer, der ihnen Verträge verschafft und so was?

Ja. Das heißt, mit Hilfe eines unserer Agenten. Ich würde Vincent sehr gern selber managen. Sieht so aus, als stünde ihm eine große Zukunft bevor.

Wen hatten Sie vorher?

Na ja, als Manager noch niemanden. Doch New Renaissance betritt mit diesem Projekt Neuland, da ist es eigentlich nicht so –

Aber wenn Vinny angeblich so großartig ist, könnte man ihm doch vielleicht einen richtig tollen Manager geben, oder?

Klar. Tja, wenn Ihnen das etwas sagt, ich habe für Steven Sylvain gearbeitet.

Hm.

Jedenfalls möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen, damit wir mehr über Vincent erfahren.

Meinetwegen.

Könnten Sie mir kurz Vincents Lebensgeschichte erzählen?

Scheiße, er ist grade erst sieben geworden. Da gibt’s nich viel zu erzählen.

Nur das Wesentliche.

Na gut, Moment mal … Hätt ihn lieber nie zur Welt gebracht. Ist mein zweites Kind – na ja, mein drittes, wenn man den ersten Vincent mitzählt.

Den ersten Vincent?

Ja. Den, wo ich vor diesem Vincent hatte. Der hat nur zwei Wochen gelebt oder so.

Weiß Vincent, daß er einen toten Bruder gleichen Namens hat?

Klar. Hat mich deswegen gelöchert, seit ich denken kann.

{41}Sehr gut. Warum haben Sie den Namen Vincent zweimal gewählt?

Hat mir einfach so gut gefallen. Ich hab ihn aus diesem Song von Tha Dawg Pak. Der hieß »Vincent«.

Das paßt perfekt. Der Song ist über van Gogh.

Wo?

Van Gogh. Der Künstler.

Ach so. Hab mir den Text nie richtig angehört. Ich mochte einfach den Beat.

Eigentlich haben Tha Dawg Pak Teile eines Songs von NOFX gesampelt, die wiederum haben den Originalsong von Don MacLean gecovert.

Sie wissen ja wirklich ’ne Menge über Musik.

Danke. Vor diesem Job habe ich Platten rezensiert. Wie lautet Vincents zweiter Vorname? Er steht hier nicht.

Er hat auch keinen. Hab den Kindern keine gegeben, nicht vor Sarah Michelle.

Wie war Vincents Geburt?

Schwer. Fast vierundzwanzig Stunden Wehen, aber schließlich haben sie ihn rausgeholt. Die glaubten auch, er würde sterben. Sein ganzes Leben lang ist er krank gewesen.

Was hatte er denn?

Ach, wissen Sie, was? Eigentlich ist er gar nicht so krank gewesen. Überhaupt nicht. Vergessen Sie’s.

Ms. Djapushkonbutm, wir würden Vincent wegen seiner Gesundheit nicht fallenlassen. Bitte beantworten Sie die Fragen ehrlich. Das ist nur zu Ihrem Vorteil.

Also gut, na, dann isser ein schwaches kränkliches Kerlchen. [Lacht.]

Was hatte er denn?

{42}Er kann nicht richtig atmen. Muß schlimme Allergien haben. Und dann ist er so klein.

Seine Augen?

Weiß nicht.

Andere gesundheitliche Probleme?

Nee. Einmal hat er überall Ausschlag gekriegt. Der Arzt meinte, er wär allergisch oder so, gegen das Kodein in seiner Medizin.

Allergisch gegen Kodein. Alles klar. Fahren Sie fort.

Hmm, ich weiß nicht. Das war’s mehr oder weniger schon. Er hat sich selber das Lesen beigebracht, ist ’ne Weile her, ein Ex von mir hat ihm geholfen, glaub ich. Und wenn er zu krank war zum Spielen oder so, hab ich ihm Papier und Stift gegeben, und dann hat er nur da rumgelegen und stundenlang geschrieben. Ohne Pause. Und da hab ich die Anzeige gesehen, und er kam auf diese Schule von euch, und das ist das Größte, was er bis heute erlebt hat. Vielleicht könnt ihr da ja noch mehr draus machen.

Gab es noch andere wichtige Ereignisse in seinem Leben?

Nö. Nicht, daß ich wüßte.

Was ist mit Vincents Vater?

Keine Ahnung, was ich Ihnen dazu sagen soll.

Kennt er ihn?

Scheiße, nein. Kannte ihn ja selber nicht richtig.

Hat Vincent einen Stiefvater?

Ja, aber er weiß nichts mehr von ihm. Mushtaque hat mich ganz schnell wieder verlassen.

Könnten Sie Ihre Beziehung zu Vincent beschreiben?

Wie jetzt?

Sind Sie zwei sich nah?

{43}Ja, klar. Es ist so: Ich hab vier Kinder, noch eins ist unterwegs. Er ist mir so nah wie die andern.

Streiten Sie beide sich viel?

Eigentlich nicht.

Halten Sie Ihren Erziehungsstil für streng oder nachgiebig?

Streng. Er tut, was ich ihm sage, sonst …

Sonst was?

Sonst … Na eben sonst.

Was machen Sie beruf‌lich?

Hausfrau und Mutter.

Gibt es Geisteskrankheiten in Ihrer Familie?

Keine Ahnung. Ich glaube, meine Mom hat ’nen Dachschaden, aber mit der hab ich nichts mehr zu tun.

Und Selbstmorde?

Ja. Mein Dad hat sich umgebracht, als ich klein war. Ich glaube, sein Dad hat sich auch umgebracht, als er klein war.

Gibt es Homosexualität in der Familie?

Glaub ich nicht.

Hat Vincent jemals Make-up oder Kleider von Ihnen ausprobiert?

Mein Sohn ist keine Schwuchtel!

Okay! Ist ja gut.

Wenn Sie mir nicht glauben, sehen Sie sich meine Zeitschriften an. Alle Mädchen haben jetzt blaue Lippen, von seinem Geschlabber, als er sie abgeknutscht hat. Er liebt Mädchen jetzt schon. Soviel kann ich Ihnen sagen.

Gut. Meine nächste Frage wäre damit schon beantwortet.

Welche?

{44}Zeigt Vincent ein starkes Interesse am anderen Geschlecht?

Herrgott, ja. Ich glaube, das ist das einzige, was er wirklich mag. Außer Schreiben und seiner Musik.

Das ist toll. Irgendwelche Bemerkungen zu seinem Sozialverhalten?

Nö, so was hat er nicht.

Ist Ihnen aufgefallen, daß er gern allein ist?

O ja. Er guckt fast lieber der Schwester und den Brüdern zu, als daß er was mit ihnen macht. Meistens hängt er nur mit seinem Hündchen ab.

Sehr schön. Mehr Fragen habe ich zur Zeit nicht. Danke also, daß Sie sich die Zeit genommen haben.

Werden Sie nun sein Manager oder was?

Anscheinend paßt er perfekt zu uns, aber erst muß ich Sie und ihn kennenlernen. Ich würde ihn gern zu Hause besuchen und mir einige Arbeitsproben von ihm besorgen. Außerdem brauche ich ein paar Blut- und Stuhlproben.

Is ja schräg.

Ja. Also der typische Manager werde ich nicht sein, glaube aber, das wird schon klappen, weil ich Ihren Sohn nicht für einen typischen Jungen halte. Und Sie und ich, Ms. Djapushkonbutm, müssen dafür sorgen, daß er auch weiterhin untypisch bleibt, damit er es mit unserer Hilfe möglichst weit bringt.

Nennen Sie mich Veronica. Also, wann wollen Sie vorbeikommen?