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Für Tessa

Übersetzung aus dem Englischen von Rita Seuß, Thomas Wollermann und Helmut Reuter

ISBN 978-3-492-97429-5

September 2016

© 2003, 2007 Martin Cohen

Titel der amerikanischen Originalausgabe »101 Ethical Dilemmas«, Routledge, Tailor & Francis, USA / Kanada 2003 und 2007

Deutschsprachige Ausgabe:

© 2004 Campus Verlag GmbH, Frankfurt / Main

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Quint Buchholz / Hanser

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Es ist nicht so, dass sie die Lösung nicht sehen.

Sie sehen das Problem nicht.

G. K. Chesterton,

Skandal um Pater Brown

Ans Werk!

In der Ethik geht es um die wirklich wichtigen Entscheidungen, und solche Entscheidungen präsentieren sich meist als Zwickmühlen. Manchmal fragt man sich, für welche von zwei möglichen Alternativen man sich entscheiden soll: ja oder nein, Sein oder Nichtsein, wahr oder falsch. Doch oft genug ist die Lage nicht so übersichtlich. Aber vielleicht geht es tatsächlich auch nur darum: Wie findet man den Weg zwischen den Alternativen hindurch?

99 moralische Zwickmühlen – das hört sich nach einer ordentlichen Menge an. Genug jedenfalls, um die wichtigsten Themen abzudecken, sollte man meinen. Und tatsächlich wird hier einiges abgehandelt. Aber der Brunnen der Ethik ist tief, und wer einmal seinen Schöpfeimer hinabgelassen hat, wird erfahren haben, dass er nie den Grund erreicht. Man bekommt ein Gespür dafür, was es heißt, die Abgründe der menschlichen Seele auszuloten. Wahrhaftig nicht immer eine schöne Erfahrung. Wäre jedes Rätsel ein Eimer Wasser, und würden wir mit unseren 99 Zwickmühlen die Sahara besprengen, es würde diese dürstende Landschaft nicht in einen blühenden Garten verwandeln. Ebenso wenig kann man von diesem Buch erwarten, es würde für die zahllosen Probleme unserer nach Moral dürstenden Welt Lösungen liefern.

Was gibt es zu der uralten Frage nach der Natur des Menschen zu sagen – ist er nun von Grund auf gut oder schlecht? Das weiß niemand. Zu welchem Zeitpunkt beginnt das Leben, wann endet es? Je nachdem. Gibt es absolute ethische Grundsätze? Das wollen wir hoffen. Fördert unser Eimer wenigstens die wichtigsten Themen zu Tage? Eher nicht. Er liefert uns nicht einmal die richtigen Fragen. Am Ende werden wir trotz der »epischen« Breite dieser Untersuchung feststellen müssen, dass weite Gebiete der Moral unberücksichtigt geblieben sind.

Das ist alles nicht sehr ermutigend. Aber so darf man die Sache nicht sehen. Es ist nicht der Sinn der Ethik – und noch viel weniger dieses Buchs – ein Regelwerk aufzustellen oder gar ein erbauliches Traktat zu liefern. Es geht in der Ethik vielmehr darum, unsere Orientierungsfähigkeit zu stärken, damit wir das finden, was die alten Chinesen das »Tao« nannten, was wir gewöhnlich mit »der Weg« wiedergeben. Da ist es gewiss kein Zufall, wenn in Platons ausführlichster Erörterung des Wesens der »Gerechtigkeit« derjenige, der die Antwort weiß, als ein Reisender beschrieben wird, welcher den Weg zum Ziel kennt im Gegensatz zur großen Masse der Menschen, die wie Fremde in einem unbekannten Land auf unzuverlässige Wegzeichen und halb verstandene Hinweise angewiesen sind.

Wenn die Ethik aber eine Reise ist, so gewiss nicht eine, bei der sich jeder auf eigene Faust zu einem selbst gewählten Bestimmungsort aufmachen sollte, auch wenn viele mit dieser Illusion aufbrechen. Schon die Philosophen der Antike wussten, dass man hier ganz anders vorgehen muss. Ethik war für sie das Nachdenken darüber, wie man die Welt organisieren müsse, um größtmögliche Harmonie zu erreichen. Die Welt verstanden sie als Organismus, den es in die »richtige Ordnung« zu bringen gilt, um Gesundheit und Wohlergehen zu sichern. In diesem Sinne handelte es sich um eine ganz und gar praktische, ja sogar eine politische Bemühung. Das Aufgabengebiet der Ethik war die Suche nach der Gerechtigkeit – dikaiosyne auf Griechisch –, Gerechtigkeit mehr im moralischen als im juristischen Sinne verstanden und in enger Verbindung mit der Vorstellung von Weisheit.

Solche Ideen sollten den Marxisten eigentlich zusagen, und doch haben Marx und Engels die Moral als den Mythenproduzenten des Überbaus und als Lügenlieferant der Bourgeoisie diskreditiert. Marx meinte ein wenig verächtlich: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« Dieser skeptischen Haltung gegenüber den Philosophen begegnen wir bis heute, von rechts so gut wie von links. Allerdings war Marx hier im Irrtum – wie in anderen Dingen auch. Die Moral ist nicht bloß eine Folge von etwas anderem. Die Moral gehört selbst zu den Grundtatsachen dieser Welt.

Nicht dass Marx und Engels als Erste Kritik angemeldet hätten. Schon Sokrates konnte sich über die Bemühungen der »Moralexperten« seiner Tage lustig machen. Hobbes erklärte im 17. Jahrhundert, es gäbe keinen noch so absurden Gedanken, der nicht von dem einen oder anderen großen Philosophen vertreten worden wäre. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erklärten die logischen Positivisten, schon allein die Vorstellung von Moral sei »unhaltbar«. So haben die Philosophen ihr ureigenstes Thema auf die unterschiedlichste Weise derart zerredet, dass die Ethik heutzutage allgemein bloß noch als Hindernis für ernsthafte Versuche gilt, ein privates oder politisches Leitbild zu entwickeln.

Freilich gibt es neben der wenig zuverlässigen Führerin Philosophie viele andere Quellen, denen sich Lebensregeln entnehmen lassen. Da ist die Religion und nicht zu vergessen das Orakel, im Grunde die älteste Form von Moral. (Der älteste Führer zum »tugendhaften Leben« ist das I Ging). Es gibt die zahllosen moralischen Welten, die in der Literatur eingefangen sind, es gibt die mit wissenschaftlichem Anspruch betriebene Analyse der gesellschaftlichen Konstruktion von Werten, und es gibt die materialistischen Methoden, welche in der Wirtschaft die höchste Entscheidungsinstanz über das Richtige und Falsche sehen. Doch sie alle erreichen nicht die Tiefe der Philosophie.

So oft Philosophen auch versucht haben, Politik und Moral zu trennen, sie bilden zwei Seiten einer Medaille. Aristoteles erklärte die Politik zur Wissenschaft vom höchsten Guten für den Menschen. Sollte jemandem »diese Wissenschaft ungeheuer kontrovers, tendenziös und parteiisch« vorkommen, schreibt Susan George, »kann man nur hoffen, dass er Recht hat«. Schließlich geht es in der Ethik nicht um Platituden und schon gar nicht um Tautologien, Logik oder Mathematik, sondern um schwierige Entscheidungen – Zwickmühlen eben. Heutzutage ist die Überzeugung weit verbreitet, man müsse sich in Bezug auf das Wahre und Falsche vollkommen wertneutral verhalten. Viele sehen in der Ethik bloß eine rein technische Zergliederung von Begriffen oder versuchen gar, eine neue Ebene in die ethische Diskussion einzuführen, eine »Metaethik«. Doch wie wollen sie eine solche »Überethik« schaffen, wenn sie nicht einmal eine einfache Ethik zustande bringen? Die Loslösung der Frage nach dem Wahren und Falschen von der Welt ist in jedem Fall eine eitle Bemühung. Es gibt im Leben echte Probleme zu lösen und wirkliche Entscheidungen zu treffen.

Wie echt? Welche Art von Entscheidungen? Große oder kleine? Die großen ergeben sich oft genug aus den kleinen. »Ich war immer der Überzeugung, dass gerade die unscheinbaren Dinge die wichtigsten sind«, meint Sherlock Holmes in Ein Fall von Identität. Gewiss, der Mann, der im August 1945 die Enola Gay mit der Atombombe belud, traf damit eine kleine Entscheidung, die ganz am Ende einer langen Reihe anderer kleiner Entscheidungen stand, und ein paar Stunden später waren 100 000 Menschen tot. Und doch war es nur eine kleine Entscheidung, die man nicht eindeutig als »richtig oder falsch« bezeichnen kann. (Er belud jeden Tag Flugzeuge!) Allzu oft geht die akademische Ethik an den eigentlichen Fragen völlig vorbei.

Schauen wir uns die Sache einmal genauer an. Vielleicht war es die schwerwiegendste Entscheidung, die je getroffen wurde – sollte man die Atombombe einsetzen oder lieber nicht? Sollte man sie auf eine Stadt werfen, bewohnt von Männern, Frauen und Kindern? Auf Jugendliche, Schulkinder und selbst auf Babys? Auf Greise, Behinderte und Kranke? Auf alle?

Im Frühjahr 1945 hatte die US Air Force nahezu die Lufthoheit über sämtliche japanische Städte. Mit zigtausend Napalmbrandbomben entfachte sie Feuerstürme, die über die Holzhäuser Tokios und einer Reihe kleinerer Städte hinwegfegten. Die Japaner hatten sich als grausame und gnadenlose Feinde gezeigt. Ihren Opfern, häufiger Zivilisten als Soldaten, begegneten sie gleichgültig und mitleidlos – sie behandelten sie, man kann es nicht anders sagen, wie Tiere. In Minoru Matsuis Film Japanische Soldaten des Teufels (2001) schildern ehemalige japanische Soldaten Massaker an Männern, Frauen, Kindern und sogar Babys. Doch mit einem Mal sah es so aus, als wären die Sieger des Zweiten Weltkriegs moralisch keinen Deut besser als die Besiegten.

Jetzt, wo das japanische Volk buchstäblich am Boden lag, wäre es für die Sieger an der Zeit gewesen, ihre überlegenen Werte, ihr Mitgefühl und ihre Menschlichkeit unter Beweis zu stellen. Stattdessen trat unter dem Vorsitz des Verteidigungsministers zum ersten Mal so etwas wie eine militärische Ethikkommission zusammen, um den Einsatz einer neuen Bombe zu erwägen. Die bis heute namentlich unbekannten Mitglieder der Kommission hatten ein Memorandum der am Manhattan Project beteiligten Wissenschaftler vorliegen, die vor dem Einsatz warnten: Die USA würden damit die Büchse der Pandora öffnen. Im Unterschied zur amerikanischen Öffentlichkeit war der Kommission bekannt, dass Japan militärisch besiegt war und sich keineswegs auf einen Endkampf bis zum letzten Kamikazeeinsatz vorbereitete, sondern bereits über die Kapitulation verhandelte. Und in dieser Situation riet sie zum Einsatz der Bombe.

Nicht einfach irgendwo natürlich. Das wäre unmoralisch gewesen. Doch wollte man sie auch nicht etwa bloß an einem Berg verschwenden. Besser, so befand man, sei der Abwurf »… auf eine wichtige Rüstungsfabrik, die viele Arbeiter beschäftigt und dicht von Arbeitersiedlungen umgeben ist«.

Ralph Bards, Unterstaatssekretär der amerikanischen Marine, trat damals aus Protest zurück. Zumindest hätte man die Japaner vor der verheerenden Wirkung der neuen Waffe warnen sollen, meinte er. Am 17. Juli 1945, einen Tag nach dem erfolgreichen Test der Bombe in der Wüste von New Mexico, wandten sich die Atomwissenschaftler in einer Petition an den Präsidenten und sprachen sich gegen den Einsatz aus. (Möglicherweise hat Präsident Truman das Schreiben nie zu Gesicht bekommen – es ging den militärischen Dienstweg. Unterwegs waren dann wieder Entscheidungen zu treffen …) Gerade zum rechten Zeitpunkt sprachen die USA und Großbritannien dann im Rahmen des Potsdamer Abkommens auch die Drohung aus, Japan müsse mit »umgehender und völliger Zerstörung« rechnen, wenn es nicht »bedingungslos« kapituliere – ein Ultimatum, das wie eine leere Drohung klingen musste und umgehend zurückgewiesen wurde.

Und am 6. August 1945 explodierte die erste Atombombe zur morgendlichen Rushhour ungefähr 600 Meter über dem Shima-Krankenhaus von Japans fünftgrößter Stadt. Ein gewaltiger Feuerball tötete innerhalb von 60 Sekunden 100 000 Menschen.[1]

Präsident Truman verkündete, die neue Bombe sei »auf eine wichtige Militärbasis« gefallen, die man ausgewählt habe, um die Zivilbevölkerung zu schonen. Ein ganz anderes Bild vermittelte ein Bericht, der einen Monat später, als Japan bereits von den Alliierten besetzt war, aus dem Land geschmuggelt wurde.

… die Patienten siechten dahin und starben. Dann wurden Menschen, … die nicht einmal hier gewesen waren, als die Bombe explodierte, krank und starben. Ohne erkennbaren Grund ging es ihnen schlecht. Sie verloren den Appetit, die Haare fielen ihnen aus, ihr Körper bekam blaue Flecken, und sie begannen aus Nase, Mund und Augen zu bluten. Wir verabreichten ihnen Vitaminspritzen, doch das Fleisch verfaulte um die Einstichstelle der Injektionen. Alle diese Patienten starben.

Die USA verbreiteten eine andere Sicht der Lage. Ein regierungsnaher Journalist, Zeuge der Explosion, beschrieb sie enthusiastisch als »Erscheinung von solcher Lebendigkeit und Herrlichkeit, dass jeder Bildhauer darauf hätte stolz sein können«; sie sei beseelt gewesen von einer seltsamen Kraft, die ihm das Gefühl vermittelt hätte, »etwas Übernatürliches zu erleben«. Ein General versicherte dem Kongress, ein Team von Wissenschaftlern hätte in Hiroshima keinerlei radioaktive Verseuchung feststellen können, und überhaupt sei der Strahlentod »eine sehr angenehme Art zu sterben«. Fakten werden nicht selten geleugnet, weil sie leicht Werte im Schlepptau führen. Doch gerade in kritischen Zeiten sind auch Werte schwierig zu fassen, sie lassen sich nur schwer ausmachen, und noch schwerer wird man sich über sie einig.

Schauen wir uns stattdessen einmal an, wie sich der berühmte amerikanische Golfer Bobby Jones in folgender Situation verhielt. Er wurde schon als Sieger eines Turniers gefeiert, obwohl er an einem Loch seinen Ball beim Ansprechen mit dem Schläger versehentlich berührt hatte, ein kaum wahrnehmbarer Vorfall, den niemand sonst bemerkt hatte. Aber er hatte es gemerkt. Er bestand darauf, dass man seinem Gesamtscore zwei Strafschläge hinzurechnete, was ihn den Sieg kostete. Bei der Überreichung des zweiten Preises lobten ihn die Turnierveranstalter für seine unerschütterliche Ehrlichkeit. Doch was antwortete er darauf? »Papperlapapp! Genauso gut könnten Sie jemanden dafür loben, dass er keine Bank ausraubt!«

Hat sich Bobby Jones für das Richtige entschieden? Ja – und dreimal hurra! Aber halt, nein, er hat doch gesagt, niemand verdiene ein Lob dafür, dass er das Falsche unterlässt. Die meisten Menschen tun meistens das Richtige, aus den richtigen Gründen, und zwar ohne großes Aufheben davon zu machen. So gesehen ist es Unfug, dass die Ethik sich so oft nur mit dem »falschen Handeln« befasst – warum Menschen sich so verhalten, worin dieses falsche Handeln besteht, ob es so etwas wirklich gibt. Dies ist eine Folge der Fixierung auf »ethische Schlussfolgerungen«, die auf Kosten der praktischen Moral geht, der echten Moral, einer Moral des Handelns. Hier wird mehr gefordert: zuhören, antworten, sich einfühlen, Kompromisse finden.

Die Ethik der strikten Regelbefolgung andererseits, wie sie uns die Philosophen über Jahrhunderte schmackhaft gemacht haben, hat sich weniger als Mittel erwiesen, das die Menschheit voranbringt, sondern als ein Vehikel der Bigotterie, der Intoleranz und des Leidens. »Für Moralisten ist es ein Hochvergnügen, anderen mit gutem Gewissen Grausamkeiten zuzufügen«, schrieb Bertrand Russell. Wenn daher dieses Buch den Lesern keine klaren Verhaltensregeln zu bieten hat und sie auch nicht in die Lage versetzt, Probleme »von Fall zu Fall« zu lösen, so habe ich doch, wenn ich mir die Unbescheidenheit erlauben darf, die Hoffnung, dass sie es mir danken werden.

Wie Sie mit diesem Buch am besten umgehen

Philosophie ist eine Tätigkeit. Ein Gedankenexperiment, wenn man will. Daher sollten Sie die hier vorgestellten Zwickmühlen nicht passiv hinnehmen, noch viel weniger ihre Erörterungen. Zwar könnte man sich eine solide Grundkenntnis in philosophischer Schlagfertigkeit und ein gutes Basiswissen an philosophischen und ethischen Themen aneignen, indem man die Zwickmühlen stur auswendig lernt – mit Philosophieren hätte das aber nichts zu tun. Dazu ist es nötig, das Buch mit kritischem Geist zu lesen, die aufgestellten Behauptungen zu hinterfragen und die Argumente in Zweifel zu ziehen. Das zeichnet den echten Philosophen aus – aber nicht weniger den Sophisten und den Pedanten (das sind jene, die mit ihrer aufgeblasenen Sprechweise Eindruck schinden wollen oder sich durch Herumkritteln an Kleinkram wichtig tun). Daher hier einige kleine Vorsichtsmaßregeln.

1. Erliegen Sie nicht der Versuchung, in ethischem Erkenntnishunger das ganze Buch auf einmal verschlingen zu wollen. Nähern Sie sich den Zwickmühlen mit Muße, einer nach der anderen, bestenfalls einer Gruppe nach der anderen.

2. Versuchen Sie nie, die einzelnen Themen auf ihre »logische« Form herunterzubrechen, wie es ein Freund von mir getan hat. Es hat den armen Kerl völlig verwirrt, er ist zu nichts mehr zu gebrauchen und muss jetzt Kurse in »Unternehmensführung« geben.

3. Und strapazieren Sie Ihre Studenten, Kinder oder Ihren Hund nicht allzu sehr mit diesen Problemen, noch weniger sollten Sie ihnen das ganze Buch als ermüdende Übung aufzwingen. Der Philosophie kommt man mit Neugierde näher als mit Druck und Langeweile.

99 moralische Zwickmühlen ist eine Mischung aus wahren und erfundenen Geschichten, eine Mischung aus philosophischer Theorie und philosophischen Anekdoten. Es handelt sich nicht um eine Sammlung kniffliger Fragen mit anschließender Auflösung – so etwas hat mit Ethik nichts zu tun. Nehmen Sie es tatsächlich als 99 Einfälle oder Gedankenspielereien. Alle können für sich gelesen, für sich bedacht werden. Wenn Sie das Buch mit Gewinn lesen wollen, lassen Sie sich Zeit und scheuen Sie sich nicht, die Problemdiskussionen am Schluss völlig zu übergehen. Diese Erörterungen sollen keine Lösungen vorstellen, auch wenn sich dieser Eindruck nicht immer vermeiden lässt, sondern wollen zu einem Dialog anregen, dessen zweite Stimme der Leser ist. Sollten Sie also eine »politische« Aussage oder Behauptung finden (möglicherweise als beiläufige Nebenbemerkung getarnt), die Ihnen gegen den Strich geht, so müssen Sie das Buch deshalb nicht gleich angewidert in die Ecke werfen. Schließlich wäre das unmoralisch, abgesehen davon, dass kaum etwas weniger bringt und mehr von Schwäche zeugt, als wenn die Ethik sich auf einen scheinheiligen Austausch von Nettigkeiten einlässt, die weder praktischen Nutzen haben noch in der Praxis eine Rolle spielen. Menschen zu helfen ist sicher gut, Menschen zu schaden dagegen schlecht, aber einfach festzustellen »gut ist gut« und »schlecht ist schlecht« klingt vielleicht prima, wird aber außerhalb der Philosophie niemanden befriedigen, weshalb auch wir uns nicht damit zufrieden geben sollten. In echten ethischen Debatten muss man über solcherlei »analytische« Wahrheiten hinauskommen.

Den größten Nutzen ziehen Sie also aus diesem Buch, wenn Sie die Zwickmühlen als die Vorspeise und die entsprechenden Erläuterungen als die Nachspeise betrachten, sich die Auflösung aber als Hauptgang selbst vorbehalten. Besteht doch hierin nicht nur der wichtigste, sondern auch der interessanteste Teil der Aufgabe.

1
Das Rettungsboot

Das Schlachtschiff Northern Spirit hat einen Torpedotreffer in den Maschinenraum bekommen und beginnt rasch zu sinken. »Alle Mann von Bord!«, ruft Kapitän Flintheart. Aber nur wenige Rettungsboote sind einsatzbereit. Eines, hoffnungslos überladen, schafft es, von dem sinkenden Schiff wegzukommen, Kapitän Flintheart am Heck. Rundherum tönen die verzweifelten Schreie der Ertrinkenden über die kalten, grauen Wogen des Atlantiks.

Sollen trotz der Gefahr, das kleine Rettungsboot zum Kentern zu bringen und dadurch das Leben derer aufs Spiel zu setzen, die bereits an Bord sind, weitere Matrosen aufgefischt und gerettet werden?

2
Tiefer hinab

Flintheart murmelt auf Lateinisch etwas Unverständliches in seinen Bart und gibt dann barsch den Befehl: »Nicht anhalten!« Auch einige der Bootsinsassen murmeln etwas vor sich hin – »Blanker Mord«, »Erbarmungsloser Schuft« und sogar »Ein anständiger Käpt’n geht mit seinem Schiff unter«, aber allen sitzt die Gewohnheit des Gehorsams in den Knochen. Da kämpft sich einer der Ertrinkenden an die Seite des Bootes heran. Es ist Tom, der Schiffsjunge, und er schafft es tatsächlich, sich mit seinen halb erfrorenen Händen am Dollbord festzuklammern (was immer das auch ist). Mit der Kraft der Verzweiflung versucht er sich hineinzuhieven und bringt dabei das Boot in eine bedrohliche Schräglage.

»Stoß ihn zurück!«, brüllt Flintheart vom Heck des Bootes zu Bert, dem Schiffskoch, der dem Jungen am nächsten steht.

Soll Bert gehorchen?

3
Eine Psychologengeschichte

Der Psychologe Dr. Philip Zimbardo von der Universität Stanford führte im Jahr 1971 ein Experiment durch, um herauszufinden, welche psychischen Auswirkungen es hat, ein Gefangener oder Strafvollzugsbeamter zu sein. Dazu teilte er ganz normale Studenten, die sich freiwillig für die Teilnahme an der Studie gemeldet hatten, in zwei Gruppen ein. Die eine Gruppe übernahm im Experiment die Rolle der »Häftlinge«. Sie wurde in einem für diese Zwecke improvisierten »Gefängnis« untergebracht und »entpersonalisiert« – sie erhielten Nummern, mussten Laborkittel tragen und ihre Haare unter einem Nylonstrumpf verbergen. Auch die andere Hälfte wurde entpersonalisiert, sie bekamen khakifarbene Uniformen. Das waren die »Wärter«.

Es blieb den Wärtern überlassen, wie sie ihre »Häftlinge« unter Kontrolle hielten, und nachts, wenn sie unbeobachtet waren (wie sie zumindest glaubten), nutzten sie ihre Macht weidlich aus. Sie rissen die Gefangenen aus dem Schlaf und ließen sie zum Zählappell antreten oder führten Strafen wie das Reinigen der Toiletten mit bloßen Händen ein. Tagsüber schrien sie die Gefangenen an oder stellten ihnen zu ihrer Belustigung einfach mal ein Bein.

Nach nur sechs Tagen ließen die Videoaufnahmen keinen Zweifel mehr zu: Das Verhalten der Wärter hatte einen solchen Grad von Sadismus und Rohheit erreicht und alle Beteiligten hatten sich so in ihre Rollen hingesteigert, dass das Experiment in aller Eile abgebrochen werden musste. Zimbardo selbst kam durch die Exzesse seiner studentischen Freiwilligen in die Kritik. »Sie hatten alle gegen Vietnam demonstriert«, sagte er später zu seiner Entschuldigung, »aber sie benahmen sich wie Nazis.«

Man kann sich ja schon mal daneben benehmen, aber verroht
man tatsächlich so schnell?

4
Der Brauch ist König

Der griechische Historiker Herodot stellte nicht nur fest, dass der Brauch König ist, er meinte auch, dass es so sein solle, dass der Brauch über andere Erwägungen gestellt werden müsse. Die moderne anthropologische Forschung hat einige Konstanten im Verhalten der Menschen zu Tage gefördert. Die Ethik geht letztlich aus dem Regelwerk von Rechten und Pflichten hervor, die jedes Mitglied einer Gemeinschaft den anderen gegenüber zu beachten hat. Was wäre also naheliegender, als aus der langen Geschichte der Menschheit einige grundlegenden ethische Regeln abzuleiten, »durch Brauchtum bestätigte Grundsätze«, die man der Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen entgegensetzen kann?

Durch Brauchtum bestätigte Grundsätze für das menschliche Zusammenleben

1. Wir erkennen das grundlegende Recht an, andere Menschen auf alle nur erdenklich grausame Weise zu foltern und zu töten.

2. Wir erkennen das unveräußerliche Recht an, Sklaven zu besitzen und erklären hiermit, dass einige Menschen zu nichts als Sklaven taugen.

3. Wir fordern als natürliches Recht, Neugeborene aus jedem beliebigen Grund zu töten.

4. Weiter verlangen wir das Recht, Alte und Behinderte zu töten und sie anschließend aufzuessen.

Als Grundsatzerklärung ist das natürlich noch ein bisschen mager – aber es ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Oder ist es ein Rückschritt?

5
Das Internet-Schnäppchen

Sie haben sich in einem ausgesprochen chaotischen Internetshop einen neuen Computer gekauft, und als er geliefert wird, stellen Sie fest, dass auf der Rechnung »bezahlt« vermerkt ist, obwohl Sie gar nicht bezahlt haben. Sie hatten die Option »Zahlbar per Verrechnungsscheck« gewählt, dann aber vergessen, einen zu schicken. Was machen Sie jetzt:

Hoffen Sie, dass niemand etwas merkt und sagen nichts … oder greifen Sie sofort zum Telefon, um die Sache zu regeln?

6
Der Toaster

Sams Lebenspartnerin hat einen Hang zu teurem Schnickschnack – solche Sachen wie Toaster, die ein Symbol für das aktuelle Wetter in die Brotscheibe brennen, oder solarstrombetriebene Springbrunnen für den Gartenteich. Der Toaster steht schon lange unbenutzt im Küchenregal, weil er immer die Mitte der Brotscheibe verbrannt hat, der Springbrunnen ist nach einem Tag verstopft auf den Grund des Teichs gesunken.

Unaufgefordert flattert ein Prospekt von einem Versandhaus mit sehr ausgefallenen – und teuren – Artikeln durch den Briefkastenschlitz, von einem Computer an Sams Partnerin adressiert.

Darf Sam die Postsendung stillschweigend entsorgen, bevor seine Freundin wieder auf etwas hereinfällt – oder muss er sie herausrücken und ergeben auf die nächste Katastrophe warten?

7
Der Lügner

Arme Zjamel. Ihr Freund scheint neuerdings mehr Zeit mit Ethel statt mit ihr zu verbringen. »Habt ihr vielleicht was miteinander?«, fragt sie ihn, mehr zur Erinnerung, dass sie auch noch da ist, als weil sie dies wirklich befürchtet.

Doch Bernard hat tatsächlich eine Affäre mit Ethel, in seinen Augen ist es allerdings nichts »Ernstes«. Ethel ist verheiratet, außerdem fühlt er sich Zjamel gegenüber verpflichtet, die gerade eine schwere Zeit durchgemacht hat. Er möchte ihr nicht wehtun, auch wenn er nur ungern lügt. Daher beißt er die Zähne zusammen und antwortet eingedenk des Nietzsche-Wortes, dass die Lüge »nötig ist, um zu leben«, und einfach »zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins« gehört: »Natürlich nicht, Liebling«, und gibt ihr einen dicken Kuss.

Zjamel fällt ein Stein vom Herzen. Ein paar Monate später haben Bernard und Ethel genug voneinander, und alle vergessen die Geschichte.

Hat Bernard richtig gehandelt?

8
Dilemma in der Organspenderklinik

Doktor Wohlhabend vom Organhandelshaus Hintertür hat fünf Patienten mit lebensbedrohlichen Krankheiten, die mit unterschiedlichen versagenden Organen zusammenhängen. Der eine benötigt ein Herz, der andere einen Magen, einer eine Lunge und ein anderer etwas anderes. Worum es geht, wissen Sie also. Weil alle Patienten Organe benötigen und tragischerweise keine verfügbar sind – zumindest nicht rechtzeitig –, werden alle sterben, wenn nicht … Dr. Wohlhabend hat noch einen Patienten, den er soeben geheilt hat, und der nun friedlich in der Aufwachstation döst. Für den guten Doktor gibt es eine Möglichkeit – es ist in der Tat die einzige –, die fünf Patienten zu retten: Er muss den sechsten Patienten als Notfall-Organbank verwenden. (Wenn er das tut, stirbt der Patient natürlich.)

Dr. Wohlhabend ist sehr besorgt um das Schicksal der fünf Patienten, die alle sehr nette Leute sind, hat aber Bedenken, dass es »unangemessen« sein könnte, einen Patienten auf diese Art zu nutzen.

Offensichtlich werden da fünf Leute mit dem Preis des einen verrechnet, aber ist das ethisch?

9
Die berühmte Zwickmühle auf der Fußgängerbrücke

Auf dem Heimweg geht Fred immer über eine kleine Fußgängerbrücke, die eine Bahnlinie überquert. Eines Tages schaut er über das Geländer und sieht eine Draisine (einen kleinen Arbeitswaggon), deren Bremsen sich irgendwie gelöst haben und die führerlos mit erschreckender Geschwindigkeit über die Strecke rollt. In wenigen Sekunden wird sie unter der Brücke durchfahren und in eine Gruppe von Bahnarbeitern rasen, die (dank der Privatisierungspolitik der Regierung – ist das vielleicht ethisch?) schlecht ausgebildet sind und ihre Mittagsbrote aus Plastikbehältern essen. Innerhalb von Sekunden wird der Waggon unter der Brücke durchzischen und sie überrollen!

Nun kann Fred von seinem Standort aus den Stellwerkswärter in seiner Kanzel sehen, der von dem sich anbahnenden Drama nichts mitbekommt und ganz ruhig dasitzt. Fred erkennt, dass der Waggon, wenn er den Stellwerkswärter alarmieren und dazu bringen kann, eine Weiche umzustellen, genau rechtzeitig auf ein anderes Gleis ausweichen würde. Die Sache hat aber, wie Fred ebenfalls sieht, den Haken, dass sich auf dem anderen Gleis auch jemand aufhält: Eine alte Dame, die auf nichts anderes achtet als auf die Schmetterlinge, die sie in einem Glas sammelt.

Sollte Fred den Stellwerkswärter dazu bringen, den führerlosen Waggon auf das Gleis zu lenken, auf dem er »nur die alte Dame« überrollt, oder nichts unternehmen und zusehen, wie die fünf Bahnarbeiter beim Mittagessen sterben?

10
Die menschliche Kanonenkugel

Ja! Ja! Ja! Für Fred ist die Sache sonnenklar. Er ruft und winkt dem Stellwerkswärter in der Kanzel, doch – verdammt! – der Mann kann ihn nicht verstehen (was nicht besonders überraschend ist) und unternimmt gar nichts. Außerdem reicht die Zeit nicht, um in das Stellwerk zu laufen und die Weiche selbst zu stellen. Wenn er bloß etwas Großes wie einen großen Steinklotz hätte, den er auf die Schienen stürzen könnte! Dadurch würde der Waggon entgleisen, und alle wären gerettet. Doch natürlich ist kein Felsblock zu finden. Nur ein dicker Jugendlicher, der mit eingeschaltetem Walkman auf dem Geländer der Fußgängerbrücke sitzt – zufällig genau über dem Gleis – und sich eine Zigarette dreht. Jetzt, als er Fred sieht, bittet er ihn um Feuer, was Fred die passende Gelegenheit bietet, den Jugendlichen, wenn er es denn wollte, von der Brücke auf das Gleis zu stoßen!

Fred befindet sich in einer erschreckenden und grässlichen Zwickmühle.

Wäre er aber wirklich berechtigt, jemanden von der Brücke auf die Schienen zu stoßen und ihn zu töten – um alle Bahnarbeiter zu retten?

11
Das erste Stadium der Grausamkeit

»Tiere sind nur Maschinen« lautet der Titel der heutigen Vorlesung …

Dr. Descartes zieht sich einen weißen Kittel über und wetzt ein langes Messer. Ein großer Affe, ein Schimpanse, ist vor ihm auf einem Tisch festgeschnallt.

»Damit man … sehen könne, wie ich diese Materie behandele, so will ich hier die Theorie von der Bewegung des Herzens und der Arterien geben. Denn da diese Bewegung die erste und allgemeinste ist, die man an den Tieren beobachtet, so wird man leicht beurteilen können, was man von den anderen zu denken hat. Und um das Folgende leichter zu verstehen, mögen die in der Anatomie gar nicht Bewanderten … sich die Mühe nehmen, das Herz irgendeines großen, mit Lungen begabten Tieres vor ihren Augen zerschneiden zu lassen, denn es ist dem des Menschen in allen Punkten ähnlich; sie mögen sich die beiden darin befindlichen Kammern oder Höhlungen zeigen lassen …«

Mit diesen Worten senkt Dr. Descartes sein Messer in die Brust des panisch schreienden Tieres, um ihm triumphierend das noch zuckende Herz herauszuschneiden.

»Übrigens damit diejenigen, welche die Stärke der mathematischen Beweise nicht kennen [hier seufzt er leicht auf] und nicht gewöhnt sind, die wahren Gründe von den wahrscheinlichen zu unterscheiden, dieser meiner Erklärung nicht auf gut Glück hin widersprechen, ohne sie zu prüfen, so will ich bemerken, daß diese soeben von mir erklärte Bewegung bloß aus der Ordnung der Organe, die man mit seinem Auge im Herzen sehen, und der Wärme, die man mit seinen Fingern dort fühlen …«

Descartes lässt das Organ unter den Zuhörern herumreichen »… und der Natur des Blutes, die man erfahren kann, ebenso notwendig folgt, wie die Bewegung eines Uhrwerks aus der Kraft, der Lage und der Gestalt seiner Gewichte und Räder.« Descartes schreitet zur Tafel, wischt sich kurz die Hände an seinem Kittel ab und kritzelt sie energisch voll, ohne seinen Vortrag zu unterbrechen.

»Ich hatte alle diese Dinge in der Abhandlung, die ich vordem veröffentlichen wollte, eingehend genug entwickelt. Und dann hatte ich gezeigt, worin die Einrichtung der Nerven und der Muskeln des menschlichen Körpers bestehen müsse, damit die darin befindlichen Lebensgeister die Glieder desselben bewegen können, so wie man sieht, daß Köpfe, bald nachdem sie abgeschlagen worden, sich noch bewegen …«

Descartes macht einen Schritt in Richtung des Affen, als wolle er seine Behauptungen erneut anschaulich belegen, überlegt es sich dann aber anscheinend anders.

»… und in die Erde beißen, obwohl sie nicht mehr beseelt sind; dann welche Veränderungen im Gehirn stattfinden müssen, um Wachen und Schlaf und Träume zu verursachen; wie Licht, Töne, Geruch, Geschmack, Wärme und alle die übrigen Beschaffenheiten der äußeren Gegenstände durch die Vermittlung der Sinne dort verschiedene Ideen einprägen, wie Hunger, Durst und die übrigen inneren Empfindungen auch die ihrigen dorthin senden können; was man unter dem Gemeinsinn verstehen muß, der diese Ideen empfängt, unter dem Gedächtnis, das sie aufbewahrt, unter der Phantasie, die sie mannigfaltig verändern und neue daraus bilden und eben dadurch mit Hilfe der Lebensgeister, die sie in den Muskeln verteilt, die Glieder dieses Körpers auf so viele verschiedene Weise sich bewegen lassen und auch bei Gelegenheit der äußeren Sinneswahrnehmungen wie der inneren Empfindungen machen kann, daß sich unsere Glieder bewegen …«

Alles sehr interessant, insbesondere die Idee, dem Tier das Herz herauszuschneiden, um zu zeigen, wie es schlägt. Da hebt ein Student die Hand:

Müssten Ihre Überlegungen, Dr. Descartes, nicht gleichermaßen für den Menschen gelten?

12
Das zweite Stadium: die Freiheit, sich anders zu verhalten

Dr. Descartes scheint irritiert. Ob es ihm erlaubt sei, fortzufahren, meint er sarkastisch: »… die Glieder dieses Körpers auf so viele verschiedene Weise sich bewegen lassen und auch bei Gelegenheit der äußeren Sinneswahrnehmungen wie der inneren Empfindungen machen kann, daß sich unsere Glieder bewegen … ohne daß der Wille sie leitet …«

Die Zuhörer atmen erleichtert auf. Mit dem Begriff des »freien Willens«, diesem Grundpfeiler der Moral, sind sie vertraut, so schwer er zu fassen ist. Descartes ist nun ganz offensichtlich in seinem Element, er zeichnet unter der Überschrift »Der Mensch als Maschine« eine komplizierte Skizze des Blutkreislaufs an die Tafel und zischelt dabei vor sich hin wie die noch nicht erfundene Dampfmaschine.

»Dies wird denen nicht seltsam erscheinen, die wissen, wie viele Automaten oder sich bewegende Maschinen verschiedener Art der menschliche Kunstfleiß herstellen kann aus sehr wenigen Stücken, im Vergleich mit der großen Menge Knochen, Muskeln, Nerven, Arterien, Venen und aller der übrigen Teile jedes tierischen Körpers – und die deshalb diesen Körper als eine Maschine ansehen werden, die als ein Werk Gottes unvergleichlich besser geordnet ist und bewundernswürdigere Bewegungen in sich hat als irgendeine, welche Menschen haben erfinden können.«

Nicht dass irgendjemand es wagen würde, den Einwand zu bringen, aber wenn es tatsächlich so etwas wie einen »freien Willen« gar nicht gäbe, was wäre dann der Unterschied zwischen Mensch und Tier?

William Hogarth, Das erste Stadium der Grausamkeit (1751).

Doch welche sind die zweiten, dritten und vierten Stadien …?

© Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin (Photo: AKG London)

13
Vorletztes Stadium: zwei Kriterien

Aber Dr. Descartes ist erst halb durch mit seiner Vorlesung. Er hat mehr auf Lager, um den Menschen vom Tier zu unterscheiden als nur den schwer fassbaren Begriff der Freiheit. Er fährt mit der Kreide in seinem Tafelbild herum, schnauft von Zeit zu Zeit und setzt fort:

»Ich hatte mich gerade bei diesem Punkte besonders aufgehalten, um zu zeigen, daß, wenn es solche Maschinen gäbe, welche die äußere Gestalt eines Affen oder irgend eines anderen vernunftlosen Tieres hätten, wir nicht imstande sein würden, sie in irgend etwas von jenen Tieren zu unterscheiden; während, wenn es unseren Körpern ähnliche Maschinen gäbe, die sogar, soweit es moralisch möglich wäre, unsere Handlungen nachahmten, so würden wir doch stets zwei ganz sichere Mittel haben, um zu erkennen, daß sie deshalb nicht wirkliche Menschen seien. Das erste ist,

• daß sie niemals Worte oder andere von ihnen gemachte Zeichen brauchen können, wie wir es tun, um anderen unsere Gedanken mitzuteilen.

Denn es läßt sich wohl begreifen, wie eine Maschine so eingerichtet ist, daß sie ihre Worte hervorbringt und sogar bei Gelegenheit körperlicher Handlungen, die irgendeine Veränderung in ihren Organen verursachen, einige Worte ausstößt, wie beispielsweise, wenn man sie an irgendeiner Stelle berührt, daß sie frägt, was man ihr sagen wolle; wenn man sie anderswo anfaßt, daß sie schreit, man tue ihr weh, und ähnliche Dinge; nicht aber, daß sie auf verschiedene Art die Worte ordnet, um dem Sinn alles dessen zu entsprechen, was in ihrer Gegenwart laut wird, wie es doch die stumpfesten Menschen vermögen. Und das zweite ist,

• daß, wenn sie auch viele Dinge ebensogut oder vielleicht besser als einer von uns machten, sie doch unausbleiblich in einigen anderen fehlen und dadurch zeigen würden, daß sie nicht nach Einsicht, sondern lediglich nach der Disposition ihrer Organe handeln.

Denn während die Vernunft ein Universalinstrument ist, das in allen möglichen Fällen dient, müssen diese Organe für jede besondere Handlung eine besondere Disposition haben, und deshalb ist es moralisch unmöglich, daß in einer Maschine verschiedene Organe genug sind, um sie in allen Lebensfällen so handeln zu lassen, wie unsere Vernunft uns zu handeln befähigt.«

Dr. Descartes lässt den Blick selbstzufrieden über seine mit großem Ernst lauschende Zuhörerschaft gleiten.

»Dadurch läßt sich auch der Unterschied zwischen den Menschen und den Tieren erkennen. Denn es ist sehr bemerkenswert, daß es keine so stumpfsinnigen und dummen Menschen gibt, sogar die sinnlosen nicht ausgenommen, die nicht fähig wären, verschiedene Worte zusammenzuordnen und daraus eine Rede zu bilden, wordurch sie ihre Gedanken verständlich machen; wogegen es kein anderes noch so vollkommenes und noch so glücklich veranlagtes Tier gibt, das etwas Ähnliches tut. Das kommt nicht von der mangelhaften Beschaffenheit ihrer Organe, denn man sieht, daß die Spechte und Papageien ebensogut Worte hervorbringen können wie wir, und doch können sie nicht ebensogut reden, das heißt zugleich bezeugen, daß sie denken …«

Descartes beugt sich vor.

»… während Menschen, die taubstumm geboren, also ohne die Organe sind, die anderen zum Sprechen dienen, ebenso oder mehr als die Tiere einige Zeichen von selbst zu erfinden pflegen, um sich denen verständlich zu machen, die im täglichen Zusammensein mit ihnen Muße haben, ihre Sprache zu lernen. Dies beweist nicht bloß, daß die Tiere weniger Vernunft als die Menschen, sondern daß sie gar keine haben. Denn wie man sieht, gehört nur sehr wenig dazu, um sprechen zu können.«

»Irgendwelche Fragen?«, schnarrt Descartes. Alles schweigt. Einige besonders hartschädelige Studenten haben jedoch immer noch ihre Zweifel. Sie finden, dass Tiere sehr wohl miteinander kommunizieren. Auch Descartes’ zweites Argument, dass Tiere spezifisch angepasste Leistungen vollbringen, der Mensch aber allgemeine Fähigkeiten besitzt, scheint eher auf schwachen Füßen zu stehen.

Können solch zweifelhafte Ausführungen einen unüberbrückbaren Graben zwischen der Menschheit und dem Tierreich begründen?

14
Endstadium: das unsterbliche Mitglied

Eine Karte hat Descartes noch im Ärmel – und sie ist sein Trumpf:

»Und da man unter den Tieren einer und derselben Art ebenso wie unter den Menschen Ungleichheit findet …, so ist es unglaublich, daß ein Affe oder ein Papagei, die zu den vollkommensten ihrer Art gehören, darin nicht einem der dümmsten Kinder oder wenigstens einem Geisteskranken gleichkommen würden, wenn ihre Seele nicht von einer ganz anderen Art wäre als die unsrige …«

Descartes wendet sich wieder der Tafel zu und fährt fort.

»Sodann hatte ich die vernünftige Seele beschrieben und gezeigt, daß sie unmöglich wie die anderen Wesen, von denen ich geredet, aus dem Vermögen der Materie herrühren könne, sondern daß sie ausdrücklich geschaffen sein müsse, und wie es nicht genug sei, daß sie im menschlichen Körper wohne, … etwa nur um dessen Glieder zu bewegen, sondern daß sie enger mit ihm verbunden und vereinigt sein müsse, um auch den unsrigen ähnliche Empfindungen und Triebe zu haben und auf diese Weise einen wirklichen Menschen zu bilden. Übrigens habe ich mich hier über das Thema der Seele ein wenig verbreitet, weil es zu den wichtigsten gehört.

Denn nach dem Irrtum der Gottesleugnung … gibt es keinen, der schwache Gemüter mehr vom rechten Wege der Tugend entfernt, als wenn sie sich einbilden, die Seele der Tiere sei mit der unsrigen wesensgleich, und wir hätten daher nach diesem Leben nichts zu fürchten noch zu hoffen, nicht mehr als die Fliegen und die Ameisen. Weiß man dagegen, wie sehr beide sich unterscheiden, so begreift man die Beweisgründe weit besser, wonach unsere Seele ihrem geistigen Wesen nach vollkommen unabhängig vom Körper und also der Notwendigkeit nicht unterworfen ist, mit ihm zu sterben; … so kommt man zu dem Urteil, daß die Seele unsterblich sei.« Moment mal! Nun soll der Mensch doch nur eine Maschine sein, kontrolliert von einer Seele, die ganz und gar unabhängig existieren kann?

Wenn das so ist, warum sollte man dann nicht ebenso unbekümmert Menschen töten, wie man Tiere tötet?

15
Platon: Die Geschichte vom Ring des Gyges

Gyges war ein Schäfer, ein einfacher und braver Bursche. Er war völlig zufrieden, seine Schafherde im Dienst des Königs von Lydien zu hüten. Das Leben, das er führte, war zwar hart, aber klar und übersichtlich. Eines Tages erhob sich ein gewaltiger Lärm, und die Erde erzitterte unter einem mächtigen Beben. Als sich Lärm und Staub gelegt und Gyges sich wieder aufgerappelt hatte, sah er vor sich eine Erdspalte klaffen. Genau an der Stelle, an der seine Herde eben noch friedlich gegrast hatte. Und als er rasch nachzählt, stellt er fest, dass eines der Schafe des Königs fehlt!

Ängstlich späht er über den Rand des Abgrunds und sieht tief unten das verlorene Schaf, das klagende Laute von sich gibt. Gyges fasst sich ein Herz und steigt vorsichtig hinab, doch das verschreckte Schaf läuft in einen unterirdischen Gang davon, Gyges hinterher. Da erblickt er im Halbdunkel etwas Großes, das wie ein Pferd aussieht – offenbar vom Erdbeben freigelegt. Gyges vergisst das Schaf und besieht sich die Sache aus der Nähe. Es ist tatsächlich ein Pferd mit langen, kräftigen Beinen, vollständig aus Bronze gemacht und mit Augen, die blind ins Dunkle starren. Auf einer Seite des bewegungslosen Streitrosses entdeckt er Türen. Als es ihm mit Mühe gelingt, eine aufzustemmen, fällt ihm ein Leichnam entgegen. Er sieht aus wie ein Mensch, nur größer. Am Finger trägt er einen schweren Ring.

Bei all seiner Angst besitzt Gyges doch die Geistesgegenwart, den Ring vom Finger des Mannes abzuziehen, um einen Beweis für seine Entdeckung zu haben. Dann klettert und stolpert er nach oben. Kaum angekommen, beginnt sich die Erde wieder zu regen und der Spalt schließt sich. Nun überkommt Gyges ein Schreck, weil er das Schaf zurückgelassen hat. Was soll er dem König sagen, wenn er mit den anderen Schäfern über seine Herde Rechenschaft ablegen soll?

Voller Unruhe wartet er am nächsten Tag mit den anderen Schäfern auf den König. Dabei spielt er nervös mit seinem Ring und dreht daran. Mit einem Mal ist ihm, als ob ihn niemand mehr sehen könne, wenn er ihn in einer besonderen Weise dreht – die anderen reden über ihn, als wäre er weggegangen. Verwundert versucht er ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, fuchtelt mit den Armen, doch vergebens. Kein Zweifel, er ist unsichtbar geworden.

Diese neue Möglichkeit, sich mit Hilfe des Rings unsichtbar zu machen, lässt den Schäfer, der so kleinlaut und reumütig in den Palast geschlichen ist, dreist und gierig werden. Er stiehlt sich in der Küche des Königs ein Festmahl zusammen und plündert die Schmuckschatullen des Palastes. Schließlich wagt er es sogar, sich in die königlichen Schlafgemächer zu schleichen und die Königin zu verführen. Er findet in ihr eine bereitwillige Verbündete, und die beiden hecken einen Plan aus, den König zu stürzen, der dem armen Schäfer ein solch ehrlicher Herr gewesen ist. Am nächsten Tag begeht Gyges unter dem Schutz seiner Unsichtbarkeit das schlimmste Verbrechen: Er wird zum Mörder, um seiner Eitelkeit die höchste Befriedigung zu verschaffen – den Thron.

Es gibt keine Zauberringe – das ist eine Schwäche solcher Gedankenexperimente. Aber wenn es sie doch gäbe, würden dann die Menschen weiterhin schuften und ehrlich bleiben, oder würden sie sich so schändlich verhalten wie Gyges?

16
Augustinus: Die verbotenen Früchte

In seinen Bekenntnissen erzählt uns Augustinus (354–530 nach Christus) anrührend die teils mit Rechtfertigungen, teils mit Selbstanklagen gespickte Geschichte, wie er als Junge einmal Birnen stahl: Im vollen Bewusstsein, dass es verboten war, und, ja schlimmer noch, wie er uns mit tiefem Ernst berichtet, er hatte seine Freude daran. Wehe! Uns Sterblichen ist nur eine begrenzte Zeit auf Erden beschieden, trotzdem hier ein Ausschnitt aus der Erzählung des Augustinus.

»Gedenken will ich meiner Befleckungen und des Verderbens meiner Seele im Fleisch, nicht weil ich sie liebe, sondern daß ich dich liebe, mein Gott. Liebe zu deiner Liebe ist es, die mich noch einmal die schändlichen Wege durchwandern läßt im Geiste mit der Bitterkeit der neu auflebenden Erinnerung, auf daß du mir süß werdest, o Süßigkeit, die nicht trügt, o Wonne, die zu Glück und Frieden führt …

In der Nähe unseres Weinberges stand ein Birnbaum, mit Früchten beladen, die jedoch weder durch ihr Aussehen noch ihren Geschmack reizen konnten. Diese abzuschütteln und fortzutragen, begaben wir ruchlosen Jünglinge uns in später Nachtstunde, bis zu der wir in Spielhäusern nach schändlichem Brauche das Spiel herausgezogen hatten, dorthin und trugen große Massen hinweg, nicht um sie zum Mahle zu genießen, sondern um sie den Schweinen vorzuwerfen, nachdem wir ein wenig davon gekostet hatten, nur um nach unserem Geiste Unerlaubtes zu tun.

Siehe mein Herz an, o mein Gott, siehe mein Herz an, denn du hast dich seiner erbarmt, da es in der Tiefe des Abgrundes schmachtete. Und was es dort suchte, das sage dir jetzt mein Herz, daß ich um nichts böse war, ohne irgend etwas dadurch erreichen zu wollen; boshaft war ich, nur um boshaft zu sein. Schändlich war es und ich liebte es, ich liebte das Verderben, ich liebte meinen Abfall (von dir), nicht das Objekt meines Abfalls, sondern meinen Abfall selbst: schändliche Seele, die sich, von deiner Himmelsfeste trennend, selbst verbannt, die nicht etwas durch Schande, nein die Schande selbst begeht.

Schön waren jene Früchte, die wir stahlen, weil du sie geschaffen, du Schönster von allen, du Schöpfer des Alls, gütiger Gott, du mein höchstes, du allein wahres Gut. Schön waren jene Früchte, aber nicht sie waren es, die meine elende Seele begehrte, denn bessere hatte ich in Menge; jene pflückte ich nur, um zu stehlen. Denn das abgepflückte Obst warf ich hinweg, und die Speise, die mich ergötzte, war einzig und allein die Sünde. Aß ich auch etwas davon, so wurde es mir doch nur durch die Sünde gewürzt. Und nun, mein Herr und mein Gott, frage ich dich, welche Freude mir der Diebstahl gewährte …

Wer löst diesen verworrensten und verwickeltsten Knoten? Doch hinweg, ich mag ihn nicht fest ins Auge fassen, ich will ihn nicht sehen. Dich nur will ich sehen, die Gerechtigkeit und Unschuld, schön und herrlich in erhobener Klarheit und von einer Sättigung ohne Ende. Groß ist die Ruhe bei dir und ein Leben ohne Trübsal. Wer eingeht zu dir, geht ein zu seines Herrn Freude, keine Furcht macht ihn erzittern, und am besten wird ihm sein bei dem Besten. Von dir bin ich gewichen und in die Irre gegangen, mein Gott, auf Abwegen, allzu fern von deiner Feste in meiner Jugend, und wurde zu einer Stätte des Darbens.«

Eine gar erschröckliche Geschichte. Aber hat Augustinus überhaupt Recht mit der Behauptung, er habe mit voller Absicht das Böse gewählt, als er die verbotenen Früchte pflückte?

17
Epikur: Eine Geschichte von der Lust