image

Hans Drawe

Griebnitzsee

Thriller

Image

Dieser Roman ist eine Fiktion.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen

wären rein zufällig.

Copyright: © 2017 Hans Drawe

Lektorat: Dr. Ina Schikorsky

Mein besonderer Dank gilt auch Renate Wullstein und Horst Ruprecht

Umschlag & Satz: Erik Kinting / buchlektorat.net

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Hans Drawe wurde 1942 in Königgrätz geboren und ist Autor mehrerer Filme, Theaterstücke, dem Roman Kopfstand und dem Lyrikband Seelengesichter. Er schrieb außerdem mehrere Hörspiele, Features und Funkerzählungen für den Hessischen Rundfunk, für den er von 1978 an auch als Regisseur arbeitete. Für das Drehbuch Ein Mädchen aus zweiter Hand erhielt er den Bundesfilmförderungspreis, für das Stück Der Englische Pass (Regie: Horst Ruprecht) den Preis der Bayrischen Theatertage und den Deutschen Hörbuchpreis als Regisseur für König der Könige von Ryszard Kapuscinsky.

Nach einem Gespräch mit der Staatssicherheit, die den DEFA-Dramaturgen Enders für eine Mitarbeit als Spitzel zu erpressen versucht und seine Karriere in Frage stellt, beschließt er, mit seiner Frau und seinem siebenjährigen Sohn über die Mauer zu flüchten. Da er im Grenzgebiet wohnt, scheint das einfach… Doch drei Tage vor der Flucht wird die Villa neben der Mauer geräumt, in der nun ein Scharfschütze lauern könnte. Verantwortungsvoll wäre es, den Plan aufzugeben. Doch Enders hat sein Auto verkauft und sein Konto leergeräumt. Die Staatssicherheit würde misstrauisch werden und ihn und seine Familie wegen versuchter Republikflucht verhaften. Zudem wird er von seinem Freund Moritz unter Druck gesetzt, der sich mit seiner Frau bei der Flucht an seine Fersen heften will. Dieser neue Umstand führt zu einem Wettlauf mit der Zeit und einem Kampf auf Leben und Tod.

Wer sich den Gesetzen nicht fügen lernt, muss die Gegend verlassen,

wo sie gelten.

Goethe

Prolog:

DAS VERHÖR

„Ich lass euch mal allein, Genossen, ja?“ sagte Groeben, winkte allen zu und verließ das Personalbüro.

Der kleine dicke Blonde mit dem Babyface ging zur Tür und schloss sie ab. Sein Haar stand am Hinterkopf hoch, als ob er ein Nickerchen gemacht hätte.

Das ist das Ende, dachte Enders.

Der schlanke Rothaarige, der ein schwarzes Kunstlederjackett und einen grünen verfilzten Pulli trug, starrte ihn an.

Im Büro war es stickig. Enders' Hände schwitzten. Es roch nach Klebstoff. In einem Nebenraum klapperte Geschirr. Dann klingelte ein Telefon.

Enders fuhr sich mit der Hand in den Kragen und überlegte, welchen politischen Witz er in letzter Zeit erzählt oder was er wo gesagt haben könnte. Doch es fiel ihm nichts Belastendes ein. Er starrte Babyface an, der sich vor ihm aufgebaut hatte. Erst jetzt bemerkte er die graue Strickjacke mit dem Häschenmusterstreifen auf Brusthöhe.

Babyface schob seine rechte Hand in die Hosentasche und zog sie mit einer Plakette der Firma wieder heraus. „Was das ist, weißt du ja“, sagte er mit ernstem Gesicht und setzte sich auf Groebens Stuhl. „Kannst du dir denken, warum wir mit dir sprechen wollen, Genosse Enders??“

Enders schluckte. Sein Mund war trocken. Sein Herz schlug unregelmäßig. Das Gesicht von Babyface verschwamm; war aber gleich wieder vor dem weißen Hintergrund sichtbar. „Ehrlich gestanden, nein“, sagte Enders, in dessen Hals sich ein Kloß gebildet hatte.

„Nein?“ Babyface lächelte. „Wir haben sehr viel Gutes über dich gehört.“

„Ja?“

„Ja.“

Enders fühlte sich erleichtert wie früher bei der Kommunion, wenn er den Leib Christi auf der Zunge gespürt oder ihm Pfarrer Gruber übers Haar gestrichen hatte.

„Wie lange bist du jetzt schon beim Genossen Gönner und an der Hochschule für Filmkunst?“

Eine affige Frage, da die Firma mit Sicherheit wusste, wie lange er bei Gönner tätig war.

„Anderthalb Jahre.“

„Eine Vertrauensstellung.“

„Vertrauensstellung?“

„Ihr macht immerhin Filme für das oberste Gremium der Partei, wenn wir richtig informiert sind.“

„Nicht nur dafür, aber auch.“

„Und an der Hochschule für Filmkunst, was ist da deine Aufgabe?“

„Dramaturgische Betreuung der Diplomfilmprojekte von Gönners Studenten.“

„Wie hast du den Genossen Gönner eigentlich kennen gelernt?“ fragte der Rothaarige.

„Durch Moritz Schiffke.“

„Ihr seid befreundet?“ fragte Babyface und zupfte sich am Ohrläppchen.

„Ja.“

„Seit wann?“

„Seit meiner Zeit als Lehrer in Poswick.“

Babyface nickte und blätterte in seinen Unterlagen.

Dann sah er Enders wieder an.

„Du kennst auch seine Frau?“

„Natürlich.“

„Gut?“

„Wie soll ich diese Frage verstehen?“

„Kannst du dir das nicht denken?“

„Nein.“

Babyface grinste. „Dann wollen wir das auch nicht weiter vertiefen.“

Enders spürte, dass auch sein Körper zu schwitzen begann. Sie wissen auch das, dachte er.

„Und in der Partei bist du seit wann?“

„Seit der Schriftstellerschule.“

„Also ungefähr zwei Jahre.“

„Ja.“

„Und was hat dich damals bewogen einzutreten?“

Enders starrte auf die schmale Narbe am linken Auge von Babyface und das schütter gewordene blonde Haar. – Ja, was hatte ihn bewogen? Nach dem 11. Plenum hatte ihm Steinhuder, der Lyrikdozent und Parteisekretär des Literaturinstituts, die Pistole auf die Brust gesetzt, als er sich mit seinem Prosa-Dozenten Breuer solidarisch erklärt hatte, der wegen eines kritischen Produktionsromans in die Schusslinie der Partei geraten war und die Schriftstellerschule verlassen musste. Alle, die sich mit ihm solidarisch erklärt hatten, waren relegiert worden, außer, wenn sie in die Partei eingetreten waren oder ihr Engagement öffentlich bereut hatten. Enders wollte damals nicht wieder zurück in den Lehrerberuf und hatte sich gefügt.

„Also?“ fragte Babyface mit seiner einschmeichelnd sanften Stimme.

„Meine Überzeugung.“

Babyface machte ein Gesicht wie ein Angler, der einen großen Fisch gefangen hat.

Enders wusste nicht, wo er hinsehen und seine Hände lassen sollte.

„Das heißt, dass du mit beiden Beinen auf dem Boden unseres Staates stehst.“

„Das könnte man so sagen, ja.“

„Du bist nicht bei der Armee gewesen? Warum?“

„Wegen des Studiums an der Schriftstellerschule.“

„Ah ja. Also in gewisser Weise von unserem Staat privilegiert.“

„Darf ich rauchen?“

„Natürlich. Kein Problem. Wir beide rauchen zwar nicht, aber tu dir keinen Zwang an, Genosse Enders.“

„Nein, dann rauche ich auch nicht.“

Babyface erhob sich und ging langsam auf und ab. „In deiner Tätigkeit als Dozent an der Hochschule für Filmkunst kommst du doch mit ausländischen Studenten zusammen, richtig?“

„Das bleibt nicht aus.“

„Für uns wäre es wichtig, ihre Stimmungslage zu kennen. Wie sie sich bei uns fühlen, was sie über uns denken. Du verstehst?“

Enders nickte.

„Wir würden dich in dieser Beziehung gern hin und wieder konsultieren. Diskret, versteht sich. Was meinst du dazu?“

Enders erschrak und dachte einen Augenblick nach.

„Ich glaube, das kann ich irgendwie nicht.“

„Du kannst das irgendwie nicht?“ fragte Babyface erstaunt. „Warum?“

„Irgendwas sperrt sich.“

„Sperrt sich? Du meinst, du möchtest uns keine Auskünfte geben, obwohl du ein Mitglied unserer Partei bist, in die du – wie du uns versichert hast – aus Überzeugung eingetreten bist.“ Babyface blätterte wieder in seinen Unterlagen. „Du hast auf Kosten unseres Staates zweimal studiert und beziehst – wie ich sehe – ein hohes Gehalt. Man hat dir an der Hochschule für Filmkunst die Promotion angeboten und eine Professur in Aussicht gestellt. – Glaubst du nicht, dass du der Partei auf Grund dessen zu Dankbarkeit verpflichtet bist?“

„Natürlich. Ich… das kommt nur ziemlich überraschend. Ich meine… ich müsste mich mit diesem Gedanken erst einmal vertraut machen.“

„Die Frage ist, ob du für oder gegen uns bist“, sagte der Rothaarige.

„Wieso? Natürlich für…“

„Dann dürfte dir die Mitarbeit bei uns keine moralischen Bedenken bereiten. Es sind doch moralische Bedenken, nicht?“ fragte Babyface.

„In gewisser Weise ja“, sagte Enders und kam sich wie ein in einem Netz gefangenes Tier vor.

„Falls du Zicken machen solltest, Genosse Enders, müssten wir uns natürlich auch mal über deine Karriere unterhalten“, sagte der Rothaarige und warf Babyface einen triumphierenden Blick zu, als wollte er sagen: So macht man das.

„Wir kämen mal zu dir, du mal zu uns“, sagte Babyface.

Dafür bin nicht der Typ, wollte Enders erwidern, doch wer weiß, was sie dann ausgeheckt hätten. „Ihr werdet mir doch sicher eine Bedenkzeit einräumen. Zumal so eine Entscheidung…“

„Bedenkzeit?“ fragte der Rothaarige. „Wenn deine Einstellung zu unserem Staat klar ist – warum dann noch Bedenkzeit?“

„Schon gut“, sagte Babyface. „Natürlich sollst du eine Bedenkzeit haben. Wir sind ja keine Unmenschen. Wenngleich ich das auch nicht recht verstehe, wenn man mit unserer Gesellschaft so verwurzelt ist wie du. Aber… nun ja. Wie viele Tage brauchst du denn, um zu bedenken?“

„Vierzehn?“

„Ein bisschen lang. Aber auf die paar Tage kommt es nun auch nicht mehr an. Also: In vierzehn Tagen rufen wir dich an. Bis dahin wünschen wir dir viel Erfolg in deiner Arbeit.“

Babyface stand auf und reichte Enders die Hand. Dann ging er zur Tür und schloss sie auf. „Überleg‘s dir gut, Genosse Enders.“

DIE VERGESSENEN PAPIERE

Um kurz nach Sieben schreckte Enders aus dem Schlaf. Er fühlte sich fiebrig. Die Angst krallte sich in seinen Nacken. Was machst du, wenn dem Jungen oder Hanna was passiert? dachte er und richtete sich auf.

Draußen krächzte der Rabe auf dem Strommast neben der Mauer. Kurz darauf war das Rattern des Interzonenzuges zu hören, der ohne Halt die Grenze passierte.

Es war die letzte Nacht in diesem Zimmer! Vor drei Tagen war ihm die Flucht noch sicher erschienen. Jede Aktion war genau geplant, bis die Grenzer die Villa neben der Mauer räumten.

Du bist zu unbedacht gewesen, sagte seine innere Stimme, und hast nun auch das Leben von Tommy und Hanna gefährdet!

In letzter Zeit suchten ihn häufig Stimmen heim, die sich als moralisches Gewissen aufspielten, ihn mit Vorwürfen überschütteten oder auf Grund seiner mangelnden Vorbereitung und Zerstreutheit verhöhnten.

Sein Hals schmerzte. Im letzten halben Jahr hatte er dreimal Angina mit hohem Fieber gehabt. Er brauchte unbedingt Penicillin! Wenn du es heute nicht schaffst, fliegt der Schwindel auf, ist es aus, dachte er.

Durch das Fenster sickerte das Morgenlicht. Der alte Jude auf dem Chagall-Poster über dem schwarzen Kunstledersessel schwenkte einen grünen Fisch und schrie seinen Schmerz in die Welt. Die gelben Wände wirkten fahl; der Raum spröde und eigentlich schon verlassen.

Im Nebenraum bereitete Hanna das Frühstück vor. Die Dielen knarrten. Hoffentlich dreht sie zu guter Letzt nicht noch durch, dachte Enders und betrachtete das Pappstück in der linken unteren Fensterkassette, das wie die Fensterscheiben mit Eiskristallen überzogen war, da der Elektroofen gegen die Kälte nicht mehr ankam.

Hanna öffnete die Tür und stellte ihm wie jeden Morgen eine Tasse Kaffee auf den Rauchtisch. Sie trug ihre Rentiermütze, Wollhandschuhe und die pelzgefütterte Jacke. Durch die schwarzen Ringe unter den Augen wirkte sie um Jahre gealtert. Die nächtlichen Wachablösungen und Schulstunden in den letzten vierzehn Tagen hatten sie zermürbt.

„Unser Elektroofen hat den Geist aufgegeben“, sagte sie.

„Dann nehmt ihr meinen. Ich kann zur Not auch in der Küche arbeiten. – Was Besonderes?“

„Um Vier kamen sie drei Mal hintereinander.“

„Und danach?“

„Eine Stunde lang nichts. – Kurz nach fünf kamen zwei im Jeep, gingen zur Villa und kamen erst nach zehn Minuten zurück.“

„Hatten sie irgendwas dabei?“

„Zwei Kisten.“

„Munition?“

„Wie soll ich das wissen?“

„Dann musst du heute Nachmittag nochmal zur Schubert.“

„Die Frau zieht mich zusätzlich runter. Spricht dauernd von ihrem Mann, der sie betrügt.“

„Da musst du jetzt durch, Hanna.“

„Ja, ja, ja.“

„Sei nicht sauer.“

„Mir ist, als ob mir alle Kraft aus dem Körper gesaugt wurde.“

„Morgen ist alles vorbei. Morgen können wir uns ausschlafen.“

„Oder sind für immer tot.“

„Wir gehen nur, wenn's sicher sind.“

„Sicher? Das Ganze ist ein Vabanquespiel, das einzig und allein vom Glück abhängt. Und das weißt du genau.“

Vierzehn Tage vorher, als ihn die Firma anzuwerben und zu erpressen versuchte, war ihnen die Flucht noch einfach erschienen. Abwarten bis die Patrouille vorüber war, Leiter an die Mauer, hochklettern. Doch durch die vor drei Tagen geräumte Villa neben der Mauer hatte sich ihre Fluchtabsicht in ein tödliches Unterfangen verwandelt. Waren die Bewohner getürmt oder verhaftet? Hatte man sie zwangsevakuiert, um den vorderen Mauerabschnitt und das Westgelände dahinter besser sichern zu können?

„Wenn Tommy was passieren sollte…“, sagte Hanna und hielt sich die Hände vors Gesicht. „Dann weiß ich nicht…“

„Es wird alles gut werden, Hanna.“

„Und wenn wir's uns nochmal überlegen?“

„Du weißt, was uns erwarten würde. Denk an das leergeräumte Konto; deinen ablaufenden Passierschein. Kein Mensch weiß, ob sie ihn verlängern. Nicht mal Gönner. Machado hat meine Manuskripte und Karteikästen. Das Auto ist verkauft. Wer verkauft ein neues Auto, auf das er zwölf Jahre lang gewartet hat und angewiesen ist? Außerdem sitzt mir die Firma im Nacken. Die machen uns fertig und lochen uns ein. Tommy käme in ein Heim oder würde zur Adoption freigegeben. Willst du das? Es bleibt uns nur noch, alles auf eine Karte zu setzen und so vorsichtig wie möglich zu sein. Wenn die Villa nicht besetzt ist, sind wir auf der sicheren Seite.“

Enders’ ließ sich auf das Kissen fallen und starrte an die Decke.

Hanna zog ihren Handschuh aus und legte ihm die Hand auf die Stirn. „Du hast ja Fieber!“

„Mach dir keine Gedanken, ich schaff‘ das schon.“

„Wir sollten messen.“

„Nicht nötig. Ich hab‘ dir doch gesagt, dass ich es schaffe.“

Hanna nahm die Hand von seiner Stirn und sah ihn prüfend an. „Okay, wie du willst.“ Ihr Blick fiel auf die graue Karte auf dem Rauchtisch.

„Wenn du um zehn bei der DHZ sein willst, musst du jetzt aufstehen.“

„Ja, ja.“

Beim Verkauf des Wagens hatte er vergessen, die Fahrzeugpapiere abzugeben und die Aufforderung erhalten, sie um zehn Uhr morgens bei der DHZ vorbei zu bringen. Gott sei Dank hatte Hanna die Karte einen Tag vorher vom Postboten abfangen können, da sie erst zwei Stunden später in die Schule musste. Wäre sie der Bindenfein in die Hände gefallen, hätte es mit Sicherheit einen Skandal gegeben.

„Wenn wir es nur schon hinter uns hätten“, sagte Hanna und wandte sich zur Tür.

„Nimm den Ofen mit.“

„Zieh du dich erst mal an.“

Enders zog sich den Bademantel über den Trainingsanzug, den er über seinem Schlafanzug trug. Kurz darauf hörte er das Motorgeräusch eines Jeeps und schmolz mit dem Daumen ein Loch in die Eisblumen.

Im West-Haus putzte sich ein Mann hinter einer Riffelglasscheibe die Zähne. Über dem Dach hing grauer Dunst, durch den nur matt das Licht der Laternen von der Westseite schimmerte. Irgendwo kläffte ein Hund.

Der Jeep hielt vor der Mauer. Auf der rechten Seite beleuchteten Scheinwerfer den Maschendrahtzaun und die Villa des berühmten Filmregisseurs.

Die beiden Grenzer trugen schmutzigweiße Schneeanzüge und Maschinenpistolen. Ihr Blick schweifte über die Mauer und den Drahtzaun, der sie nach oben hin abschloss. Der Grenzverlauf war absurd. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße standen alle Villen im Osten, nur das eine Haus, das sich gegenüber der Arbeitsgruppe befand, lag – von der Mauer abgegrenzt – im Westen.

Hanslick wies zur leergeräumten Villa. Der andere Grenzer nickte. Sie betraten den Pfad, der am Schubertschen Wintergarten vorbei zur geräumten Villa führte. Jetzt bemerkte Enders auch die zweite Patrouille, die hinter der Regisseursvilla auftauchte und mit einem Spürhund den Pfad am Maschendraht absuchte. Bislang hatte er in diesem Abschnitt nie Hunde gesehen. Vor der Mauer machte die Patrouille kehrt und ging in entgegengesetzter Richtung.

War jemand über Nacht geflüchtet? Das würde die Aufmerksamkeit der Grenzer erhöhen und wäre eine zusätzliche Gefahr. Möglicherweise kämen die Posten auch in kürzeren Abständen oder würden sich direkt vor der leergeräumten Villa postieren.

Enders beugte sich vor und betrachtete den Jeep. Der Rabe saß auf dem Telegrafenmast und krächzte. Die reifbedeckten Drähte bewegten sich nur leicht in der eisigen Luft. Hoffentlich erwische ich Moritz noch, dachte er. Wenn er bei der Abnahme fehlt, gibt’s Zoff und wenn er hier auftauchen sollte ebenfalls.

Husten und Schritte auf dem Flur! Wer konnte das sein? Die beiden Ingenieure und der Dirigent, die ebenfalls im ehemaligen Gästehaus der DEFA untergebracht waren, schliefen um diese Zeit meistens noch.

„Grüß dich“, sagte Koschwitz, der seinen Kopf durch den Türspalt schob. Er hatte ebenfalls einen Bademantel über seine Kleidung gezogen und trug eine Kulturtasche unter dem Arm. Er besaß eine Zweizimmerwohnung in der Hauptstadt, schlief jedoch in der Arbeitsgruppe, wenn er früh zum Dreh fuhr oder eine Endmischung bevorstand. Er musste spät in der Nacht zurück gekommen sein und war weder von Enders noch von Hanna bemerkt worden. Wie konnte das passieren?

„Könntest du mich in einer Stunde zur Schranke fahren?“ fragte Koschwitz. „Heiner hat noch immer keinen Passierschein.“

„Tut mir leid. Mein Wagen ist zur Durchsicht und außerdem hab’ ich Angina.“

„Hatt‘ ich vor drei Tagen auch. Dorle hat ein fantastisches West-Präparat. Ich frag‘ sie mal, ob sie noch was übrig hat.“

„Sehr nett. – Kommt ihr gut voran?“

„Die Kälte hat jetzt auch die zweite Taktstraße lahmgelegt. Wir machen nur die Interviews mit dem Direktor und dem Meister.“

„Dann kommst du heute also wieder zurück?“

„Am liebsten nein bei der Kälte hier. Aber du weißt ja, wie das ist. Wenn Heiner keine Lust hat, setzt er mich hier ab.“ Er lachte. „Fürchtet ihr euch etwa ohne mich?“

„Es ist nur wegen deinem Ofen. Unserer im Wohnzimmer hat den Geist aufgegeben. Und wenn der Junge Schularbeiten macht… Er kann ja vor Kälte kaum schreiben. Und wenn ich ihm meinen…“

„Nimm ihn ruhig. Wenn ich ihn brauchen sollte, hol‘ ich ihn mir. – Schon was wegen dem Rohr gehört?“

„Nee, nix.“

„Dann friert der Laden hier bald zu.“ Koschwitz hob die Hand zum Gruß und ging.

Wenn er nachts zurückkommen sollte, wäre es gut, die Sicherungen raus zu schrauben! dachte Enders. Der Schlüssel für den Sicherungskasten befand sich in einem Schrank in Gönners Büro, das nach Dienstschluss abgeschlossen wurde. Er musste versuchen, ihn während der Strategiebesprechung zu stibitzen, wenn Gönner zur Toilette gehen sollte.

Der Rabe flatterte auf, überflog das Drahtgeflecht und ließ sich auf dem Giebel des West-Hauses nieder. Er reckte den Kopf und krächzte, als ob er sich zu seinem Flug beglückwünschen wollte.

Der Mann hinter der Riffelglasscheibe löschte das Licht. Das Haus sah nun abweisend und unbewohnt aus, zumal auch kein Rauch aus dem Schornstein aufstieg.

An der Abzweigung zur Stadt tauchte Gönners Wagen auf. Er brach hinten aus, kam aber wieder in die Spur und fuhr langsam auf die Arbeitsgruppe zu.

Gönner sprang aus dem Wagen und öffnete die linke Garage. Er trug einen Kamelhaarmantel und eine schwarze Wollmütze mit roter Bommel, durch die er lächerlich wirkte. Er sah zur Sonnenuhr über der Garage, als ob er die Zeit ablesen wollte, dann zur leergeräumten Villa.

Er wird mich verfluchen, dachte Enders. Die Parteileitung wird ihn absetzen. Wer weiß, ob Thalheimer dann noch seine Hand über ihn halten kann?! Gönner hatte sich ihm gegenüber immer großzügig verhalten. Ihm verdankte er die Regie am Scheberkahnfilm und die dramaturgische Betreuung der Kybernetikprojekte, die fürs ZK der Partei gedreht werden sollten. Gönner hatte ihm erlaubt, Hanna und Tommy ins Grenzgebiet zu holen und nur durch ihn war es ihm möglich gewesen, den Lehrerberuf an den Nagel zu hängen.

Der obere Teil der Villa war eigentlich den Regisseuren vorbehalten. Manche Zimmer dienten auch als Abstellräume für Gerätschaften und Filmmaterial. Im unteren Bereich befanden sich die Schneideräume, die Küche und die Büros von Gönner, Bosskopp und das Sekretariat der Bindenfein.

Enders’ Blick fiel auf den Schreibtisch. Die rechte Tür hing nur noch an zwei Schrauben. Die Platte war zerkratzt; der Schirm der Lampe verbeult und die Zugfedern verrostet. Auf der Schreibplatte lagen eine grüne Schreibunterlage und zwei Einschätzungen des Jubiläumsfilms.

Neben dem Schrank, in dem noch alle Kleider hingen, stand sein Campingbeutel mit seinen Papieren, Zeugnissen und Ausweisen.

Erneut war das Klappen von Autotüren zu hören. Enders lief zum Fenster und stierte durch das Loch, das schon wieder zuzufrieren begann.

Ein schwarzer Wolga! Personalchef Groeben und ein Fremder stiegen aus. Wer mochte das sein? Ein Mitarbeiter der Firma? Wenig später hörte er Schritte auf der Treppe. Er presste sein Ohr an die Tür und hielt den Atem an. Sie bewegten sich in die andere Richtung. „Einen Ofen haben wir leider nicht mehr übrig“, hörte er Gönner sagen. „Sie müssen sich vorübergehend in der Küche aufwärmen. Aber Sie sind ja noch ein junger Spund mit Hitze.“ Lachen. „Für die Nacht nehmen Sie sich einen aus den Schneideräumen.“ Öffnen einer Tür. „Sehen Sie sich das Zimmer erst mal an, danach treffen wir uns in meinem Büro.“

Warum sich dieser Typ wohl ausgerechnet am Wochenende einquartierte? Sollte er sie beobachten, bis Hannas Passierschein abgelaufen war? Oder war der Firma von irgendjemandem in der Arbeitsgruppe gesteckt worden, dass sie Fluchtabsichten hatten? Wollte die Firma Beweise sammeln oder sie in flagranti ertappen? Enders stellte sich vor, wie der Typ seine Waffe zog und auf ihn richtete. Schlimm war, dass dieser Umstand Hanna noch mehr beunruhigen würde. Wenn alle Stricke reißen, muss ich ihn erledigen, dachte er und hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Er warf zitternd die Nachtbekleidung ab und zog sich an. Die Berührung mit den Jeans war unangenehm. Er beschloss, sich die Zähne nicht zu putzen. Allein der Gedanke an die kalte Toilette und das eisige Wasser löste Schüttelfrost aus. Er rasierte sich mit dem Elektrorasierer und fuhr sich mit der Hand über die Wangen. Er sah nun frischer aus, doch seine Augen schimmerten fiebrig.