Christoph Held

BEWOHNER

Aufzeichnungen

DÖRLEMANN

Autor und Verlag danken der Stadt Zürich, dem Kanton Zürich
und der Paulie und Fridolin Düblin-Stiftung für die
Unterstützung dieser Publikation.

eBook-Ausgabe 2017
Alle Rechte vorbehalten
© Copyright 2017 by Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-950-8
www.doerlemann.com

Vorwort

In Boston hatte ich das Glück, eine Vorlesung bei Professor Antonio Damasio zu hören, einem berühmten Neurologen, der mit leiser, fast geheimnisvoller Stimme sprach, was die angestrengte Aufmerksamkeit der Zuhörer erforderte. Er dozierte über die Anosognosie bei Demenz, das Nichterkennenkönnen der eigenen Krankheit.

Der Professor berichtete von einem Philosophen, dessen intellektuelle Brillanz seinen geistigen Zerfall nicht nur vor den anderen Menschen, sondern auch vor sich selbst verborgen hatte. »Wer bin ich?«, fragte dieser Patient, aber das war nun, im Gegensatz zu früher, keine philosophische Frage mehr. Die Krankheit war so weit fortgeschritten, dass er seine eigene Person nicht mehr erinnern konnte, und es half ihm nicht, wenn seine Studenten sagten: »Sie sind doch der und der, Sie haben doch das und das erforscht und Sie haben doch den und den Preis gewonnen.«

Beeindruckt von dieser Vorlesung begann ich, Angehörige nach Anzeichen von Anosognosie bei den Patienten zu befragen, denn die Betroffenen, wie es Professor Damasio gelehrt hatte, konnten mir nicht mehr mitteilen, wie sie sich verändert hatten. Bei ehemaligen Arbeitskollegen oder Chefs erkundigte ich mich nach dem Verhalten der Betroffenen, lange vor Ausbruch der Krankheit. Bei Kioskverkäuferinnen, Ladenbesitzern oder Kellnern fragte ich nach veränderten Gewohnheiten, zum Beispiel in Restaurants, in denen die Betroffenen regelmäßig gespeist hatten. Viele hatten sich oft gewundert über Veränderungen, aber sie hatten, wie die Betroffenen selbst, nichts geahnt.

Das Manuskript wurde größer und größer und umfasste schließlich einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten, während denen ich in den Pflegeheimen arbeitete. Nun ist daraus ein Buch geworden.

Die Angehörigen und Pflegenden werden erkennen, dass es sich bei diesen Aufzeichnungen nicht um Bewohner handelt, die wirklich so gelebt haben – und doch wäre ein Wiedererkennen möglich. Der Erzähler dieses Buches ist lediglich Chronist einer langjährigen Veränderung und Ahnungslosigkeit, die zu Leid und Not führten. Davon ist nichts erfunden.

Zürich, im August 2017           Christoph Held

 

Von den vielen Namen, die meine Patienten in den Pflegeheimen bekommen haben, gefällt mir Bewohner am besten, weil viele von ihnen in ihren langjährigen Krankheiten wie heimisch geworden sind.

Eine Bewohnerin war Schauspielerin gewesen und sie hatte Brecht noch persönlich gekannt. Sie besaß Bücher von ihm, die mit ins Pflegeheim gekommen waren. An den Buchrücken war ein Bild des Stückeschreibers angelehnt neben Fotos von Theateraufführungen, in denen sie gespielt hatte. Über dem Bett hing ein Porträt, das den Kopf eines Wehrmachtsoffiziers mit Mütze zeigte. In der Mitte des Zimmers stand ein kleiner Tisch, der von Zigarettenpackungen, Bürsten, alten Zeitungen, Papieren und Lesebrillen zugestellt war.

»Der Offizier war ihr Vater«, erzählte uns ein Theaterinspizient, der diese Bewohnerin besuchte. Wenn er ihr Zimmer betrat, freute sie sich und schien ihn bis zum Ende der Krankheit zu erkennen. Der Inspizient forderte sie zum Spazieren im Park auf. Nachdem die Pflegenden ihr eine ausgebeulte Jacke angezogen und ihr Lippenstift aufgetragen hatten, schritt sie zusammen mit ihm dem Ausgang zu. Die Pflegenden, die eben noch geholfen hatten, ihre Füße in braune, geschnürte Schuhe zu stecken, wichen mit Ehrfurcht zurück. Auf einmal schien sich die Bewohnerin wieder in die Schauspielerin zu verwandeln und sie bewegte ihre Lippen, als ob sie gleich aus ihrem Repertoire rezitieren wollte.

Nach dem Spaziergang rund um einen Teich mit Enten blieb der Inspizient mit ihr in der Eingangshalle, in der ein ähnlicher Kaffeeautomat stand wie in der Kantine des Schauspielhauses. »Werden sie mich wieder besetzen?«, fragte sie ihn, während er die Münzen einwarf und im Entnahmeschlitz ein Kartonbecher herausrutschte, in den mit summendem Geräusch der Kaffee lief. »Ich weiß es nicht, meine Liebe«, antwortete er vorsichtig, »ich denke mal, diese Spielzeit noch nicht, vielleicht die nächste«, und reichte ihr den Becher.

In seinen Augen und in den Augen vieler Mitarbeiter am Theater war diese Schauspielerin keine einfache Kollegin gewesen. Wenn sie Vorstellung hatte, erschien sie schon am Nachmittag in der Kantine und versetzte mit ihrer Anwesenheit die Bühnenarbeiter in Angst und Schrecken, sodass diese ihre Biergläser nur noch behutsam auf die Tische stellten und sich bedeutungsvolle Blicke zuwarfen. In ihrer Garderobe wartete die Schauspielerin ungeduldig auf die Maskenbildnerin und machte vor dem Spiegel laute Sprechübungen: »Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid«, und dazwischen schimpfte sie vor sich hin: »Ich muss Ihnen leider sagen, Brecht, hier herrschen gleichermaßen Ahnungslosigkeit und Disziplinlosigkeit.«

Auf den Proben hielt sie Disziplin. Setzten sich andere Schauspieler auf einen Stuhl oder den Bühnenboden, wenn der Regisseur etwas erklärte oder mit den Beleuchtern sprach, blieb sie in ihrer Rolle stehen und herrschte ihre Kollegen an. Sie drang unangemeldet in das Büro der Dramaturgen und mischte sich in Auswahl und Interpretation der Stücke ein. Als ein Streit entstand, ob es sich bei Kleists Zerbrochenem Krug wirklich um eine Komödie handle, ergriff sie ungefragt das Wort: »Der Richter Adam kann niemals lustig sein«, schleuderte sie einem berühmten Schauspieler entgegen, »Sie müssen in dieser Rolle die korrupten Verhältnisse zeigen, die ein Verbrechen wie das Ihrige überhaupt zulassen.« Der berühmte Schauspieler schwieg.

Debütanten und Debütantinnen konnte sie vernichten, um sie danach mit Brecht wieder aufzubauen. Auf deren verzweifelte Frage »Was ist dann ein guter Schauspieler?« gab sie zur Antwort: »Ein guter Schauspieler hat etwas Mechanisches. Man ist ja nicht das, was man spielt.« Dann hob sie ihren Finger. »Und genau diesen Unterschied muss ein guter Schauspieler zeigen können, aber das ist völlig aus der Mode gekommen.«

Obwohl sie so viel über Theater wusste, wurde sie selten mit großen Rollen besetzt. Ein Theaterkritiker schrieb, dass sie sich wie selber im Wege stehe. Bei ihrem spröden Spiel gab es wenig berührende Momente, selten kam ein unerwarteter Ton aus ihr heraus. Wenn es doch einmal geschah, drehten die Kollegen überrascht den Kopf zu ihr und sagten: »Das ist stark!« Dieses Lob beleidigte sie eher, als dass es sie zufrieden stellte.

Im Rückblick machte sich ihre Krankheit, wie uns der Inspizient erzählte, nicht auf der Bühne, sondern viel früher, auf einer Fahrt nach Bonn, bemerkbar, wo die Schauspielerin, zusammen mit einigen Mitgliedern des Ensembles, an einer Demonstration gegen die Stationierung amerikanischer Atomwaffen in Europa teilnahm. Eine Fotografie auf dem Büchergestell zeigte sie vor einem Podium, auf dem Heinrich Böll, in einen hellen Regenmantel gekleidet, mit sorgenvollem Blick in die Menschenmenge schaut. Auffällig auf diesem Bild war die Kleidung der Schauspielerin. Obwohl an jenem Tag im Oktober ein kalter Wind blies und alle Teilnehmer in Mäntel oder Jacken gekleidet waren, trug sie einen Hosenanzug aus dünnem Wollstoff. »Sehen Sie eigentlich nicht«, hatte sie bei den Bühnenkollegen für diese Demonstration geworben, »was sich wieder in Europa zusammenbraut?«

Als die Gruppe auf dem Rückweg durch die Fußgängerzone marschierte, in der die Schaufenster und Türen der Geschäfte mit Holzplatten zugenagelt worden waren, bemerkte der Inspizient, dass ihre Hose durchnässt war – aber er wagte es nicht, die Schauspielerin darauf anzusprechen.

Auf der Rückreise steuerte der Inspizient das Auto an den mit Heimkehrern gefüllten Bussen vorbei, als in der Dämmerung die blauen Leuchtbuchstaben einer Raststätte zu sehen waren. »Bitte anhalten«, sagte die Schauspielerin in einem kindlich drängenden Ton, der ihm auffiel, und er bog auf einen großen Parkplatz ein. Die Schauspielerin verschwand auf der Toilette, während der Inspizient an der Theke eine Tasse Kaffee nach der anderen in sich hineinschüttete. Zu seiner Verwunderung erschien der Geschäftsführer der Raststätte und bat ihn in einen Empfangsraum, wo die Schauspielerin auf einem Stuhl saß. Sie schien beleidigt. »Wie können Sie es wagen, eine Schauspielerin in der Toilette zu stören!«

»Ihre Begleiterin«, sagte der Geschäftsführer, »hat die Toilettenschüssel mit Papier verstopft und laut um Hilfe gerufen. Das Wasser ist bis in den Gang hinausgeflossen.«

»Hören Sie, es muss ihr ein Missgeschick passiert sein«, rief der Inspizient, »meine Großmutter ist von der Reise völlig erschöpft und wir müssen noch weit fahren; was bekommen Sie von uns für die Reinigung?«

Vor dem Auto drehte sich die Schauspielerin um und stieg zu einer schmalen Fußgängerbrücke hoch, welche die lärmige Autobahn überquerte und zur Ostseite der Raststätte führte. Der Inspizient folgte ihr. In der Mitte der Brücke blieb sie stehen, krallte sich mit beiden Händen am dünnen Geländer fest und einen Moment lang glaubte er, sie würde sich hinunterstürzen.

Er hatte diese Schauspielerin so oft auf die Bühne geleitet und wusste doch so wenig über sie. Seit vielen Jahren lebte sie allein. Er wusste nicht einmal, wie alt sie war – niemand am Theater getraute sich, sie danach zu fragen. Sie sprach alle Schauspieler und Bühnenarbeiter mit Sie an und erwartete auch, gesiezt zu werden. Allgemein bekannt war, dass sie vor dem Krieg als Elevin an einem großen Theater in Berlin gespielt hatte. Einmal hatte sie ihm erzählt, dass sie in einem Kaufhaus, wo sie als Verkäuferin gearbeitet hatte, mehrere Haubitzenangriffe überlebt habe. Von ihrer Gefangenschaft in einem russischen Lager für Frauen war ebenso wenig bekannt wie von ihrer Rückkehr nach dem Krieg ans Theater. Im Gefolge von Regisseuren kam sie ans Schauspielhaus, wo sie erst viele Jahre später den um viele Jahre jüngeren Inspizienten kennen lernte.

»Komm jetzt von dieser Brücke herunter«, rief der Inspizient. Die Schauspielerin hob nicht einmal den Kopf bei dieser vertraulichen Anrede. »Wir wickeln dich in eine Decke ein und fahren nach Hause.« Sie gab ihm die Hand und ließ sich zum Auto führen.

In der Spielzeit, die jener Autofahrt folgte, sollte die Schauspielerin dann eine von den beiden Mägden in Kleists Zerbrochenem Krug spielen. Sie musste in einer kleinen Szene gleich zu Beginn des Stücks auftreten, in welcher der Dorfrichter Adam, aufgescheucht von der Ankunft des Gerichtsrates, hastig mit seinen beiden Mägden die Amtsstube von Schinken, Würsten und Flaschen räumen will. »He! Lies! Was hast du da?«, sollte der berühmte Schauspieler, der den Richter spielte, rufen und die Schauspielerin antworten: »Braunschweiger Wurst, Herr Richter.«

»Das sind Pupillenakten. Die kommen wieder zur Registratur.«

»Die Würste?«, musste sie dann fragen und der Richter würde sie anschreien: »Würste! Was! Der Einschlag hier.«

Das war nur wenig Text für eine erfahrene Schauspielerin, aber beim Spielen erwies sich die kleine Szene als überaus kompliziert. Zu ihrem Ärger waren auf der Probe lediglich zwei schwere Wurstattrappen aus Plastik vorhanden, welche ihr zu Boden fielen oder welche ihr der Richter aus der Hand riss, noch bevor sie ihren Satz zu Ende gesprochen hatte. »Sie haben alle Zeit der Welt«, sprang ihr der Regisseur zur Seite. Doch auch im langsamen Tempo gab es ein Durcheinander von Händen, Worten und Würsten und das geschah auf jeder Probe von neuem. Manchmal unterbrach die Schauspielerin die Szene von sich aus. »Das sind Vormundschaftsakten, verstehen Sie, in die er die Würste verpackt hat«, sagte sie, »das ist eine wichtige Szene. Ist es nicht ungeheuerlich, dass die Mächtigen eine streichfähige Wurst in die Akten von Schutzbefohlenen einschlagen?«

Als der Inspizient, der ihr seit jener abenteuerlichen Autofahrt freundschaftlich verbunden war, sich eines Abends in der Garderobe von der Schauspielerin verabschieden wollte, fand er sie in einem ähnlichen Zustand vor wie damals auf der Toilette in der Autobahnraststätte. Sie flehte ihn an, ihre kleine Szene im Geheimen zu üben. »Niemand darf es wissen, verstehst du, niemand, bitte, versprich es mir!«, bettelte sie, »sie wollen mir nämlich die Rolle wegnehmen.«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte der Inspizient.

Sie übten die Szene in einem Park und umrundeten dabei einen Teich, wo sie den Enten so lange »Braunschweiger Wurst, Herr Richter« zurief, bis diese wegschwammen. Wenn der Inspizient die Probe eines anderen Stücks betreute, wartete sie in der Kantine des Schauspielhauses auf ihn. »Ich bin nur zufällig vorbeigekommen«, sagte sie zu den erstaunten Kollegen.

Am Abend vor der Premiere schlug sie dem Inspizienten eine letzte Probe vor, und zwar in ihrer Wohnung, zu der, wie er vermutete, noch keiner vom Theater jemals Zutritt erhalten hatte. In gespannter Erwartung stieg er die Treppe zu ihrer Dachwohnung hoch. Die Wohnungstüre stand offen. Im Morgenrock saß die Schauspielerin im Wohnzimmer und war bei seinem Eintreffen noch dabei, ihr Gesicht mit einer Crème einzureiben. Es roch unangenehm in dieser Wohnung, aber er wagte nicht, die Fenster zu öffnen. Auf den Bücherregalen waren Fotos von Brecht und von Theateraufführungen angelehnt, die sie in früheren Rollen zeigten. Ein Porträt zeigte den Kopf eines Wehrmachtsoffiziers mit Mütze. Er nahm es in die Hand. »Der Offizier auf dem Bild war mein Vater«, erklärte sie, während sie die Tube verschloss, »er ist in den Ardennen gestorben.«

Sie machte einen Stuhl von Briefen frei. Offenbar führte sie eine ausgedehnte Korrespondenz. »Setz dich«, befahl sie, holte eine Flasche Whiskey aus dem Schrank und schenkte in zwei Gläser ein.

Er hatte ihr die Tageszeitung mitgebracht. Sie nahm die Zeitung in die Hand, betrachtete wie abwesend die Titelseite und fragte dann, ob die Zeitung von heute sei. Irritiert von dieser Frage antwortete der Inspizient: »Schau, jetzt demonstrieren ja noch mehr Menschen als bei uns.«

Noch einmal – wie um sich zu vergewissern – betrachtete sie lange die Fotos in der Zeitung, aber seine Bemerkung über die Demonstration im Vorjahr schien sie verwirrt zu haben. Am Tisch sprachen sie dann die Szene aus dem Zerbrochenen Krug noch ein letztes Mal durch. Als er aufbrach, schenkte sie ihm ein Buch. »Es ist von Brecht signiert«, betonte sie beim Abschied.

Auf der Fahrt nach Hause schlug der Inspizient in der Tram das Buch auf, schweifte aber bald in Gedanken ab. Er hätte gerade bei dieser Schauspielerin, die bei der Arbeit stets so diszipliniert war, nicht ein solches Durcheinander erwartet. Auf dem Sofa, dem Tisch und den Stühlen lagen angebrauchte Zigarettenpackungen, mehrere Feuerzeuge, Bürsten, eine Menge offener Tuben verschiedener Crèmes, alte Zeitungen und verschiedene Lesebrillen herum. Die Wohnung, in der Wände und Möbel vom Nikotin bräunlich verfärbt waren, schien ihm heruntergekommen und überall lag Staub. Erst jetzt erinnerte er sich, dass die Türen zu Küche und Bad geschlossen waren.

An der Premiere trat die Schauspielerin in einem langen Rock mit einer Schürze und mit geschnürten braunen Schuhen auf. Ihr Gang und die Bewegungen ihrer Arme mit den eingewickelten Würsten zogen wie ein gewaltiger Sog die Aufmerksamkeit des ganzen Parketts auf sich. Diese Magd schien anzudeuten, dass sie angesichts der gefährlichen Weltlage nicht mehr wusste, was sie zu tun hatte und ob sie überhaupt noch irgendeiner Autorität gehorchen wollte. Der Richter, dem der Mund vor ihrer Erscheinung offen stehen geblieben war, hätte sie gerne gefragt: »Um Himmels willen, was ist denn mit dir los?« Erschrocken fragte er: »He, Lies, was hast du da?« »Braunschweiger Wurst, Herr Richter«, antwortete sie mit einer tonlosen Stimme, fast hauchte sie diese Ungeheuerlichkeit in die Amtsstube.

»Das ist stark«, sagte der Regisseur, der mit dem Inspizienten in der Seitenbühne stand und die Szene beobachtete.

Am Schluss des Stückes wurde von der Technik die gesamte Dekoration in den Bühnenhimmel hochgefahren und alle Schauspieler hatten langsam von der leeren Bühne zu gehen, aber die Magd blieb einfach mitten auf der Bühne stehen. Nach einigen Sekunden drückte der Inspizient auf einen Knopf und der rote Vorhang glitt mit einem Kratzen über den Bühnenboden. »Das ist stark, das behalten wir«, sagte der Regisseur, noch bevor der Applaus losbrach.

Erstaunlicherweise wurde über ihren Auftritt in den Zeitungen berichtet. »Für diese kleine Szene«, hieß es da in einem Feuilleton, »lohnt es sich, das Theater als Kunstform noch zu verteidigen.«

Zerbrochenen Krug

Der Stadtpräsident würdigte ausgiebig das Wirken der Schauspielerin. »Ich bin glücklich, Ihnen begegnen zu dürfen«, schloss er seine Rede. Das Publikum klatschte Beifall, als der Magistrat auf die Bewohnerin zutrat, und von der ersten Reihe aus konnte ich hören, dass der Stadtpräsident die Schauspielerin im Lärm des Applauses fragte: »Sind Sie zufrieden?«

»Sind Sie zufrieden?«, echote die Bewohnerin, aber die meisten Zuschauer im Mehrzwecksaal hatten bloß gesehen, wie sie ihre von den Pflegenden geschminkten Lippen ein wenig bewegt hatte. Geschwind übergab der Stadtpräsident dem Pfleger Blumen, die dieser vor das Gesicht der Schauspielerin hielt. Sie würdigte den Strauß keines Blickes und schaute geradeaus ins Publikum, das sich erhob. Sie machte eine fahrige Bewegung mit beiden Armen und der Inspizient ergriff ihre Hände.