Über Kat Kaufmann

Foto: A. Barkovskaya/K. Kaufmann

Kat Kaufmann, geboren 1981 in St. Petersburg, lebt als Schriftstellerin, Komponistin und Fotografin in Berlin. Für ihren Roman Superposition erhielt sie 2015 den ZDF-aspekte-Literaturpreis für das beste literarische Debüt des Jahres.

Fußnoten

Außer Frank Lentini. Aber er hatte auch vier Füße und zwei Penisse und stellte somit eine ganz eigene Gattung dar, die mit seiner Geburt begann und mit seinem Tod ihr Ende fand.

 

 

»Das sind nicht wir, die so sind. Das ist das Leben, was so ist.«

Бумер

Prolog

Es ist wichtig, zu erwähnen, mit wem wir es zu tun haben, denn einzig allein das ist die Instanz, an der sich alles hier auf dem Planeten misst: Es ist diese auf zwei, auch mal weniger, jedoch nie mehr Beinen laufende, hochnäsige, gottverdammte Spezies.1 Und keiner könnte es ihm verübeln, diesem Gott, wenn es ihn denn gäbe, dass er die Schnauze voll hätte von seiner missratenen Schöpfung. Würde es ihn geben, diesen Gott der Zwei-(auch mal weniger, jedoch nie mehr)beiner, müsste er sich eingestehen, dass er an den fünf Tagen vor dem entscheidenden sechsten irgendwie besser drauf war und am siebten lieber noch mal nachkorrigieren hätte sollen, statt zu chillen. Fünf Tage alles cool, was er so klebte und gedeihen ließ – und dann das: der Mensch. Fehlgeleiteter als jedes Insekt, irrationaler als der Wurm, dem klar ist, was er auf Erden soll, törichter als der Fuchs, der Schwan, ja selbst der Eber, die alle ohne Bücher auskommen, die ihnen die Welt erklären müssen.

Jedenfalls, natürliche Selektion haben sie auch kaputtgespielt, diese Menschen. Und deshalb hüpfen nun fröhliche Degeneraten in überdimensionierter Populationsdichte über den Erdball, und Präparate halten sie extra lang gesund, und Institutionen, Ärzte, Pillen und Spielkonsolen geben acht auf ihre Nachkommen, da sie durch ihr eigenes Verschulden, das sie gern der eigenen Kindheit in die Schuhe schieben, oft nicht imstande sind, sich selbst genug zu kümmern.

Der gute Mensch, der denkende/der sich nicht in sich selbst verirrt, als wäre er Kabelsalat/der präzise Trug von Wahrheit unterscheiden kann/der nicht durch seine Irrnis auch noch andere mit in den Abgrund reißt – der ist so selten, ist eine solche Ausnahme wie der Elefant, der sich selbst, den Pinsel im Rüssel haltend, porträtieren kann. Doch bald ist auch der hin, dieser seltene Mensch. Zu leise, sich dem schreienden Mob entgegenzustellen. Da wird man umgenietet und zertrampelt. Lieber schön die Füße still halten, lieber gar nichts sagen und in Ruhe sterben, als auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen oder an ’nem Kreuz zu hängen, mit Nägeln durch Hände und Füße. Und immer noch verfechten sie in großen blutigen Kämpfen ihren Glauben, anstatt sich wie das Getier, der Eber, der Schwan, der Fuchs, der Wurm, dem Leben einfach zu ergeben.

Wie Ameisen bauen sie Tunnel zwischen den durchsichtigen Scheiben aus Glas. Und nur der, der hinter dieser Scheibe steht, kann erkennen, dass die Begrenzungen, denen das Ameisenleben unterliegt, so eng sind, dass sie selbst ja kaum dazwischen passt, die Ameise, die man Mensch genannt hat. Nur steht da keiner, der es der menschlichen Ameise sagen könnte. Und selbst erkennen will sie es nicht. Es ist ja alles, was sie hat. Und so ist die Würde der Ameise unantastbar! Schaut, was sie tragen kann, die Ameise! Sie trägt ihre Aufgabe durch die Welt, zehnmal so groß wie sie selbst: ein Blatt, ein Stückchen irgendwas. Die moralischen Werte der Ameise sind gut, und ihre Religion gut. Macht bloß keine Witze. Die Ameise schickt eine Kapsel in die Umlaufbahn der Erde, in der Hoffnung, dass sie nicht da schon verbrennt und zum großen, weiten Kosmos durchstößt, auf dass sie jemand später finden möge, ihre Nachricht. Sich mitteilen, sich verewigen will sie, die süße Ameise.

Und hier, wo diese Kapsel auf ewig ziellos herumschwirrt, hier, wo die kleinen, ängstlichen Geschöpfe – die sich nach einem übergroßen Vater sehnen, der besser ist und klüger als der zu Haus am Küchentisch – gemeinhin den Himmel vermuten, hier ist nur ein Chaos, eine Lotterie des Zufalls.

Gewinner gibt es nicht, und auch kein Herrgotthalleluja, keine Errettung. Nix von dem, was sie erhoffen, gibt es hier.

Hier ist es meistens unerträglich laut, nur eben in Frequenzen, die das menschliche Gehör nicht deuten kann, nicht fassen. Sonst wüssten sie ja längst Bescheid.

Ja, hier oben, hier fragt man sich, was mit euch los ist eigentlich, dass ihr so simple Gedanken habt, trotz all der Teleskope und Mikroskope, die ihr – und da muss man tatsächlich mal loben – wenigstens schon in die richtige Umgebung gerichtet habt. Ihr seht das Größte, das sich im Kleinsten wiederspiegelt. Das Universum. Aber ihr seht es nicht.

Ihr sprecht, aber hört nicht. Ihr sucht, und findet nur Verwirrung.

Der Mensch ist nur Unsinn, solange er denkt, dass er ist. Und erst, wenn er vergeht, wird er endlich, was er immer war – das All, das große unendliche Alles und Nichts und Oder.

Aber das nur am Rande. Genug gesagt. Sehen wir uns lieber all dies Wuseln an.

Zoom in:

Dunkelheit

Kometen

Milchstraße

ein Sonnensystem

Erde

Atmosphäre

sehr dünne Ozonschicht, bald hin

wir kommen näher, dauert nicht mehr lange

Meere

Felder

Lichter, mehr Lichter

ein Meer aus Lichtern in einer großen, modernen

Stadt

Straßen

Häuser

Fenster

eine Party

»Das sind die Tibet-Boys«, sagte das eine Mädchen zum anderen.

»Wer?«

»Tibet. Der links ist Robert, der rechts Philip.«

Das hübsche Mädchen schaute ihre Freundin fragend an.

»Vielleicht waren sie ja oft dort, was weiß ich, machen so Reisen, Backpacker …«, erklärte die andere.

Während die zwei die hübschen Tibet-Jungs von der Seite mit den Augen aussaugten, schüttelten diese schnell und routiniert Drinks zusammen, einen nach dem anderen, und reichten sie den bereits heiter in der Gegend herumschielenden jungen Menschen, die sich um die Bar wie Scheißfliegen drängten. Das Semester war zu Ende. Jetzt kam noch die Prüfungsphase. Aber dazwischen durfte man ja wohl eine schöne Zäsur machen. Alle waren da.

Irgendwann bekamen auch die zwei Mädchen ihre Drinks gereicht. Irgendwann erfuhren sie, dass die ›Backpacker‹ gar keine waren und – man hört ja schlecht bei lauter Musik hier – dass man sie, die Mädchen, eigentlich warnen wollte, von den beiden lieber mal keine Getränke zu holen, weil sie nicht Tibet-, sondern Tea-Bag-Jungs hießen und liebend gern unter dem Tresen unbemerkt ihre Pimmel in die Getränke reinhängten, bevor sie, charmantes Lächeln inklusive, das kontaminierte Flüssige den Durstigen und nach Exzess Gierenden aushändigten, Hier bitteschön.

Jedenfalls Jonas war hier nicht. Und es wartete auch niemand darauf, dass er noch aufkreuzte.

Und in den Strings des Universums spielte er keinen Ton.

Am Leben. Existent. Aber nicht wirklich da.

Und davon, dass er schon bald umringt vom Schnee auf kaltem Boden liegen würde, wie eine Kröte, in der sich das Profil der Reifen eines Autos verewigt hat, und ahnen, dass es jetzt vielleicht für alles zu spät ist – davon weiß er noch nichts.

Gerade tickt es. Mitten in seinem Kopf. Jemand zählt für ihn den Countdown runter. Er fühlt es.

Doch was bedeutet das alles für den großen galaktischen Wahnsinn? Nichts. Und auch das fühlt er.

1 T. Rex, Tiger und Ernst

Du versuchst, wieder Blut in deine abgefrorenen Finger zu pumpen. Dein Atem sieht aus wie Rauch in der sich nicht erwärmen wollenden Luft des U-Bahn-Schachts. Oben, in den Straßen, laufen sie alle herum wie aggressive Insekten und wuseln sich was ab. Und alle packen sich warm ein, weil der Wind immer kälter weht. Und du beneidest die, die niemals vergessen, die Handschuhe einzustecken oder eine Mütze aufzusetzen.

Oben, in den Straßen, sind alle Farben weg, und die Vögel sind aus dem Stadtbild verschwunden, ausgeflogen, erobern sich irgendein Paradies und kommen dann ja doch wieder hierher ins Betongrau zurück. Wie dumm. Nur die Tauben, die für dich alle wie du, Jonas, heißen, seit du deinen Namen gegooglet hast, und die ebenfalls so grau und matt sind wie du und wie der Asphalt, auf dem sie hungrig herumspazieren, die bleiben immer hier. Genau vor einem Jahr hat sie es gesagt, deine Mutter, dass dein Name Geschenk Gottes bedeutet. Weil du genau das für sie bist. Das Internet aber sagte: ›Jaja, Jo-nas heißt Geschenk Gottes, aber eben auch Taube und Zerstörer. Such dir was aus.‹ Klar, denkst du dir und guckst auf deinen von dem bisschen Gipswand zerschlagenen Handknöchel: ZERSTÖRER! Der verfickte Antichrist persönlich, gekommen, um Unglück über alle zu bringen. Der verpeilteste Antichrist, den die Welt je zu sehen bekommen hat. König der Schwachmaten. Dich hätte man in der Konstruktion so nicht raussenden sollen an die Welt. Aber nun bist du da. Vollidiot auf Betablockern. Vielleicht reicht ja deine bloße sinnlose Anwesenheit auf diesem Planeten, damit alles auseinanderfliegt. Vielleicht bist du wirklich schuld. Vielleicht passiert ja alles, weil du sie dir alle wegwünschst, die Menschen. Warum, wenn du mit all dem nichts zu tun hast, freut es dich denn sonst so, wenn neben, über und unter dir die Welt in die Luft geht? Weil es dann endlich sauber sein wird. So richtig sauber. Könnte schon morgen so weit sein. You never know.

Ein Betrunkener drischt auf den Fahrkartenautomaten ein, als wäre er im Casino und der Automat ein Einarmiger, der seinen Jackpot nicht ausspucken will. Er ist außer sich, tritt nach einer der Tauben, die hier unten was Essbares zu finden hoffen, tritt sie mit seinen dreckigen Füßen weg von den kleinen Krümeln, die jemandes Brötchen hinterlassen hat. Wie Abfall tritt er sie. Weil er auch mal jemanden treten will. Weil er sonst niemanden treten kann, ohne ’ne gebrochene Nase oder Ausnüchterungszelle als Quittung zu bekommen.

Du wartest, während jemand durchsagt, dass dein Zug wegen Störung fünfzehn Minuten Verspätung hat. Und du würdest auch gern jemanden vermöbeln. Den, der sich dein Leben ausgedacht hat. Aber du kannst ja nicht mal ’ne Wand schlagen, ohne dass es dir sofort leidtäte. Eine Frau zieht ihr müdes Kind und ihren für den Abflug gepackten Reisetrolley hinter sich her. Auf dem Koffer liest du: Financial/Crisis/Bust/Crash!/Profit/Down/Feargrows/Dollar/Worldwide.

Und du fragst dich, wie es sein kann, dass jemand sich hat einfallen lassen, diese bunten Buchstaben da zu diesen Worten zu formen und sie fröhlich auf ein Plastikferienutensil zu drucken und in Großproduktion zu gehen. Und du fragst dich, ob diese Frau da, die diesen bekloppten Koffer und ihr Kind, als wäre es nur ein weiteres Gepäckstück, hinter sich her zieht, Legasthenikerin ist. Oder ein Zombie. Oder ein sehr unerwartet gestalteter, genervter Reiter der Apokalypse, der keinen Bock mehr hat, laut Säbel zu schwingen, und seine Message lieber in fröhlichen Lettern durch die Welt schiebt.

Profit, Feargrows, Crash. Das alles juckt dich kein Stück. Das ist das gute daran, keine Wertanlagen zu besitzen. Man kann sie nicht verlieren. Soll doch alles den Bach runter. Sollen die sich doch alle gegenseitig abschlachten, wenn es denen so sehr gefällt. Das Leben als Terrorsupershow.

Wenigstens haben jetzt – seit nach jüngsten Erkenntnissen Bomben magnetisch auf Gotteshäuser reagieren und die alle unbetreten herumstehen – die Penner endlich ein Dach überm Kopf. Ein ziemlich schönes sogar.

Terror. Hört mit Error auf. Ist schon lange alles Error.

Irgendwelche verfetteten Wichser trinken Tee, ganz kultiviert, von adretten Sekretärinnen serviert mit einem netten Knicks, und einen Blowjob gibt’s sicher auch obendrauf, so statt Keks. Dreckig auf der Vorstandstoilette. Müssen nicht mal wichsen, die Wichser.

In der Hosentasche fühlst du diesen verdammten Umschlag. Was machst du jetzt damit? Du wolltest nie wieder darüber nachdenken, und jetzt fragst du dich doch wieder, ob etwas dran sein könnte. Wenn du gehst, bringt sich deine Mutter vor Sorge um. Wenn du bleibst, drehst du selbst durch. Du willst aufstehen, zu Ernst fahren, Sturm klingeln und ihn anschreien, was das denn bitte alles soll, und Ernst würde dich reinbitten und das Schachbrett aufbauen, einen Korn auf den Tisch stellen und dich auslachen, dass du dir schon wieder so ins Hemd machst. Nein, du würdest ihn gar nicht anschreien. Du würdest ihn einfach nur umarmen und nichts sagen. Nur so zusammen stehen oder sitzen und aus dem Fenster gucken. Wie früher. Aber das kannst du nicht mehr.

Vielleicht solltest du ihn lieber verlieren, diesen Umschlag. So tun, als hätte es ihn nie gegeben. Oder du nimmst das Geld und spendest es Bedürftigen und erschießt dich einfach. Aber womit überhaupt.

Auf dem Plakat gegenüber strahlt dich die Ankündigung eines neuen animierten Blockbusters an, ein T. rex und ein Säbelzahntiger, lächelnd Arm in Arm. Sind auch einfach ausgestorben, wie Opa Ernst, dessen Nachricht und das Geld jetzt im Umschlag unter deiner Hand in der Hosentasche warm liegen. Moskau. Finde diesen Mann! Finde ihn und …, steht dort, in dieser Notiz, in zittriger Schrift. Genau diese Wortreihe. Ab dem und wird es unlesbar. Wie eine Kritzelei, langgezogene Fäden, die man unmöglich zu Buchstaben zurechtdenken kann. Wer soll das überhaupt sein? Ernst hat diesen Namen niemals vorher erwähnt. Hat er nicht. Du würdest dich erinnern. Du würdest dich erinnern.

Du stellst dir vor, dass der T. rex vor dem Aussterben auch ’ne Nachricht hinterlassen hat. In deinem Kopf löst er sich von der Plakatklebewand und beginnt in deinem Schädel zu den Menschen, den panzerlosen, felllosen Idioten, die nach ihm kommen, zu sprechen:

Hey yo, liebe Schwachmaten.

Wir sitzen hier, philosophieren ein wenig. Zu schlafen trauen wir uns nicht. Zu essen gibt es nichts. Da dachte ich mir, ich schreib euch was. Ich muss gestehen, langsam spüre ich meine Finger nicht mehr.

Egal. Zum Thema: Was soll denn das?

Was sammelt und spart ihr euch da an? Was ihr wirklich braucht, ist Funktionswäsche und eine gute Campingausrüstung. Weil gleich wieder Völkerwanderung ist. Und wenn dann erst mal der Strom ausgefallen ist, dann bringen euch eure Booties, Elektroautos, Eigentumswohnungen, Flugzeuge und der ganze Schnickschnack so viel wie mir die Legalisierung der Masturbation. Versteht ihr? Kurze Arme? Nee, nicht lustig? Ja gut, war nicht der Beste jetzt. Ist auch zu kalt für gute Witze. Ich hätte jedenfalls gerne Booties. Hab ich aber nicht. Und anziehen hätte ich sie auch nicht können.

Und da kommt ihr also, der verdammte KÖNIG der Zivilisation, Herrscher der Exegese, und habt ALLES! Mitten im Telefon Zugriff auf die gesamte Erdkugel, alle Karten, alle Daten, alle Informationen, Deformationen, Notationen, Stationen, Milliarden von Jahren Entwicklung – und ihr deren Krönung! Und was macht ihr damit? Euch fragen, welche Tracks man kennen muss, was man trägt, ob sich das Betriebssystemupdate lohnt, weil – macht zwar das Telefon lahm, aber die Emojis so geil. Und was als dünne Laufschrift unter den bunten Bewegtbildern eurer gescripteten Realität entlangläuft – Zahlen, Tote, neue Anschläge. Da zuckt ihr nicht? Da lernt ihr nicht, wie man Möhren züchtet oder eine Kuh hält? Ihr glaubt, das wird schon irgendwie. Alles nur ein Videospiel. Oder seid ihr gar nicht die Krönung der Schöpfung, sondern ein Laborunfall, nach dem man die Fabrik schließen musste, um ein weiteres Fiasko zu vermeiden?

Kann doch alles nicht euer scheiß Ernst sein?!

Apropos Ernst, Jonas: Machst du’s? Ist er schon gaga gewesen, als er dir diesen Zettel gekrakelt hat? So wie ich? So wie du? Fragst du dich das gerade wieder? Ob es diesen Butzukin überhaupt gibt? Ob du jetzt endlich mal deinen Arsch bewegst und den suchen fährst? Du verkackst es doch eh, guck doch, wie du überlegst – ›ah, mimimi, und wenn ja, und wenn nicht und überhaupt, und wer soll dir denn, und so kalt ist es dort auch noch …‹

Weako, Alter. Sind doch nur minus dreißig im schlimmsten Fall. Und Schuhe hast du und sogar Thermounterwäsche, die vom Skifahren, du weißt schon. Und deine Arme sind lang genug. Just fucking do it.

REVOLTE!, schreit der Tiger. Ich glaub, der halluziniert schon …

So.

Und am Ende auch egal, weil: Es wird folgendermaßen laufen: Ihr seid alle nur kleine Kackhaufen, alles geht eh unter, die Natur siegt.

Uuuh, Spoileralarm.

Viel Spaß, ihr seid bald dran.

Sincerely yours,

Tyrannosaurus Rex.

PS: Tiger sagt Tschüssi

PPS: Hahahahaha

Und während T. rex und Tiger in deinem Kopf endgültig von einer Lawine bedeckt im ewigen Eis verschwinden und man das Lachen des T. rex’ immer leiser werden hört, bis es schließlich ganz verklingt, denkst du länger darüber nach, dass der Rex und die Säbelzahnkatze überhaupt nicht zusammen abgehangen haben können wie auf dem Plakat, weil sie etwa 50 Millionen Jahre voneinander trennten.

So robuste Kreaturen. Und dann einfach weg. Wie Ernst.

Was ist geworden mit der Evolution, dass immer die Falschen draufgehen? Dass es der Auslese nicht auch mal langsam reicht, dass sie nicht mal kurz um sich schlägt und vielleicht mal zur Abwechslung nur die Idioten aussterben lässt? Die Evolution so von der Bühne, hält das Mic ins Publikum: »Und jetzt nur die Idis! Put your hands in the air!« Und die so: »Yeeeah!« Und die Evolution so: Zack.

Du hättest dann auch die Hände hochreißen müssen, wenn man die Sache ehrlich betrachtet. Du machst da keine Ausnahme. So einer wie du, der die Luft verbraucht und nichts taugt und trotzdem kackt und pisst. Wenn du dich eh weigerst, mitzuspielen, und auf deinen vollen Batterien rumhockst, kannst du auch weg. Ein Siebenkommaviermilliardstel leichter dann die Last der Welt.

Vielleicht ja einfach noch mal Eiszeit. Oder diesmal Heißzeit. Like ice in the sunshine. Alles wegschmelzen. Den Song dazu über die ganze Welt auf Maximumlautstärke. Weil das Lied so kacke ist, dass jedes Leben davon abstirbt. Man könnte chirurgisches Besteck so reinigen: das Lied in Dauerschleife und fertig. Du denkst nur schwachsinnigen Schwachsinn. Du willst gar nicht denken, ist deinem Gehirn aber schon immer ziemlich egal gewesen. Es braucht dich dazu nicht. Du kannst es nicht abschalten, deine Gedanken rennen chaotisch übereinander und stolpern wie einbeinige Blinde im Staffellauf durch deinen Kopf.

Und seit du den Doc gebeten hast, deine Dosis hochzusetzen, ist eh alles gleitend. Driftet so gut, dass du selbst nicht hinterherkommst. Woohoo – just slide, schreit dein Hirn und winkt dir noch im Vorbeifahren zu, während es die Lawine hinabrauscht, unter der T. rex und Tiger jetzt liegen.

Dachtest du, große Boxertypen wie Ernst sterben nicht? Auch nicht mit Mitte achtzig? Dachtest du, du kannst für immer bei ihm rumsitzen und so tun, als wäre alles andere, die ganze Welt drumherum, nur ein irrer Witz?

Jetzt musst du ihn allein ertragen, diesen Witz.

In einer Urne, zu Asche zerfallen, liegt alles, was noch von ihm übrig ist.

Du kannst es dir immer noch nicht vorstellen. Du siehst ihn jetzt, vor Lebendigkeit nur so strotzend, Opa Ernst mit einem beschirmten Longdrink in der Hand auf den Bahamas, in einem sehr, sehr lange andauernden Urlaub. So wie alle anderen, die dem Grau der Stadt entflohen sind. So schön dort, dass er eben nie wieder zurückkommt, weil er es klüger anstellt als die dummen Zugvögel.

Wenn du dir das vorstellst, ist es leichter zu ertragen, dass da niemand mehr in der Buchenallee wartet, um dich mattzusetzen. Und auch im Krankenhaus nicht mehr. Urne in einer Wand aus Urnen. Deine Eltern, du. Und wie es regnete. Du konntest nicht mal weinen. Nicht eine scheiß Träne kam aus dir heraus, und du hast dich gehasst. Weil du dich lieber wieder vollgepumpt hattest mit den Tabletten, sodass alles schön dumpf war. Du hättest weinen sollen, so sehr, bis sich dein nasses Gesicht zu einer Fratze verformt, die es nie wieder verlässt.

Du bist lieber ziellos durch die Stadt geirrt, während Ernst im Sterben lag. Du warst nicht da, bei ihm, in diesem kalten Scheißzimmer mit den immer viel zu hellen Röhren und diesen Robotern, die vorgeben, Menschen zu sein und die ihre Kanülen gleichgültig in seine gebrechlichen Arme gestochen haben.

Du siehst auf deine zerschlagenen Knöchel, da hat sich Schorf gebildet, und du spannst deine Faust jetzt an, und die Kruste bricht, und es blutet wieder. Du bist untrainierte Muskelmasse und darüber gespannte dünne, helle Materie. Fast durchsichtig, blaue Adern. Und du erinnerst dich an Ernsts Haut, auf der die braunen Altersflecken immer mehr wurden, als würde sie verhornen, die Haut, als würde Ernst zum Rhinozeros verkrusten. Ernsts Hände, die die ewigen Schwielen vom Boxen als permanenten Zustand angenommen hatten, obwohl sie doch nie wieder boxen würden, diese Hände, die längst zu zitterig waren, um ein gefülltes Glas Korn vom Tisch zum Mund zu führen, ohne die Hälfte zu verschütten.

Als du noch ganz klein warst, hat er dich zu den Boxkämpfen mitgenommen. Aber du wolltest lieber die Esel streicheln im Zoo. Dann hat er umgeplant, euch beiden Jahreskarten gekauft und sich wahrscheinlich schweren Herzens damit abgefunden: Jonas, mein einziger Enkel, ist eine Sissi.

Am Anfang hast du es noch lustig gefunden, dass er alle Zeitungsartikel als Chiffren des Weltuntergangs las. Direkter Empfang für die Wellen der ganzen Galaxis. In eh schon brüchiger Denkmasse fetzen so Breaking News final alles auseinander. Ernst, im Dschungel seiner Gedanken, kämpfte sich durch sein eigenes 3-D-Kopfkino. In einer Sekunde von normal zu crazy eyes. Anfangs erzählte er noch schöne Geschichten. Er erzählte gern vom Sultan und seinem Palast, von einer Frau, die nur singend sprach, von zwei Brüdern, die niemals von der Seite des anderen wichen, weil ihr Herz dann aufhören würde zu schlagen. Geschichten eben. Irre, aber gut. Und du hast zugehört und genickt.

Und dann wurde es immer schlimmer. Von Monat zu Monat. Wie in Trance schlug er um sich, schrie: Holt die Schweine ab! Holt diese Schweine ab. Und du hast versucht, ihn zu beruhigen, und du hast gesagt: Opa, wir haben keine Schweine. Aber anstatt es als den schlechtesten Joke aller Zeiten zu würdigen und zu sich zu kommen, hörte er einfach nicht mehr auf. Und der letzte Sommer, der fiel dann auf ihn wie ein Stein, anstatt ihn auf sanften Wellen ins Morphiumparadies zu spülen.

Bald ist es so weit, sie werden kommen und sie alle wegholen …, war das Letzte, was er zu dir sagte, und verschwand für immer in seinem Dschungel. Und die Sanitäter kamen und holten ihn ab, statt diese ›alle‹, von denen Ernst halluzinierte. Schoben ihn in ihren Wagen und fuhren davon. Und du bist wie ein Irrer tanzend über die leere Straße hinter dem Krankenwagen hergesprungen und hast rumgebrüllt, dass sie dich gleich mitnehmen können. Und dann kamen welche und haben auch dich abgeholt, erst mal aufs Revier wegen Ruhestörung und dann auch ins Krankenhaus, wo Ernst auf Station lag, und dort auf Sedativa gesetzt. Und dann bist du zu ihm an sein Krankenbett.

Ihn so zu sehen, so schrumpelig und eingefallen, fast leblos, mit leicht offenem Mund, dessen Lippen von Mutter mit einem kleinen nassen Handtuch befeuchtet wurden, damit sie nicht austrocknen. Das hat dich zerfetzt. Durch Schläuche pumpte man Nahrung in ihn hinein. Und durch Schläuche wieder raus. Du hast es nicht hingekriegt. Du warst danach nie wieder dort. Mutter jeden Tag. Und du dämlicher Sack hast Ernst zu Ehren lieber die Knöchel deiner Hand an der Wand zerhauen, Delle im Gipsbeton, ein paar Bücher fielen aus dem Regal – Sinnlosigkeit, anstatt bei ihm zu sein, im Krankenhaus … Weil du nicht sehen wolltest, wie ihm der Speichel aus dem Mund läuft und die Augen sich nicht mehr regen, wie er dich nicht mehr erkennt. Weil du dich an ihn erinnern wolltest, wie er war, wenigstens so wie er war, als in seinem Kopf noch die abgefahrenste Zirkusvorstellung aller Zeiten stattfand und als Hauptattraktion: die Welt selbst, die sich verkrümmte und verbog, wie man es sonst nur auf einem LSD-Trip zu sehen bekommt. Vielleicht wäre er noch mal kurz zu sich gekommen und hätte es dir erklären können, was das alles zu bedeuten hat. Ob es wirklich das sein kann, was du denkst? Finde diesen Mann …

Du drückst den Knopf, hinter dem dir immer die nette AI-Dame in deinem Telefon bereitwillig Rede und Antwort steht. Du sagst: »Was mach ich denn jetzt, sag ma? Findest du das nicht auch übertrieben irgendwie? Jetzt? Plötzlich? So? Und wo find ich überhaupt jetzt jemanden, der für so was zuständig is?«

»Tut mir leid. Ich habe dich nicht verstanden«, antwortet sie kalt.

Klar hat sie dich nicht verstanden. Wer versteht dich schon.

Gerade weißt du nicht so genau, ob die drei Gestalten, die sich neben dich gestellt haben und jetzt ein schreckliches Lied von Erlösung und Paradies aus ihren Stimmbändern wringen, echt sind oder doch nur in deinem Schädel.

Gottlob, der Heiland, unser Segen, unsre Hoffnung

Und wieder vibriert dein Telefon. Wieder eine Nachricht von Sina. Die fünfte.

Wo bist du? Warum meldest du dich nicht?

Was solltest du jetzt schreiben? Dass da in deinem Kopf eine Urzeitechse mit ihrem Kumpel mit dem leicht überproportionierten Gebiss der Nachwelt Warnungen hinterlässt, während dazu drei Wandermusketiere Gottes, die vielleicht gar nicht real sind, mit einem Halleluja von rechts dein Ohr penetrieren? Und du, wenn es nach Ernst geht, gleich einen Mann suchen fährst, den es wahrscheinlich gar nicht gibt?

Neben dem Plakat, auf dem die Eiszeitfreunde jetzt wieder freundlich von der beleuchteten Pixelfläche lächeln, ist eine Kondomwerbung, auf der eine Frau in Ekstase schreit. Du ersetzt den Kopf der Frau mit Sinas Gesicht, und in der Sprechblase steht jetzt Oh ja … Oh ja … Oh ja, Darling! Noch mehr! Ignorier mich noch mehr! Ja! Genau so! Antworte gar nicht auf meine Nachrichten! Das macht mich richtig geil … Du willst Sina keine ausweichende Grütze schreiben, die würde nur einen Strudel aus sinnlosen Folgenachrichten provozieren. Warum quälst du sie mit deiner Scheiße? Du hättest es besser wissen müssen. Gerade als du deinen Tindergarten löschen wolltest. Ein Slot von vier Minuten, bis die App Geschichte gewesen wäre – und ausgerechnet da schrieb sie dir. Beschissenes Timing, Sina.

Schöne Postmoderne, Dein Gesicht. Und dann konntest du halt nicht anders, hast ihr zurückgeschrieben. Weil du lachen musstest über das Postmoderne-Gesicht. Und das passiert so selten, dass du mal lachst.

Du wolltest diese Sina kennenlernen, sie mal in Wirklichkeit sehen, sie dir genau anschauen. Weil sie nicht so war wie diese anderen Mädchen, die am liebsten mit ihren Haustieren und Schmollmund posierten. Diese phantastischen Minuten verwirrten Schweigens, wenn beim Treffen mit diesen Mädchen du eröffnet hast mit Weißt du, warum es fast keine Telefonzellen mehr gibt? Weil die nicht wollen, dass wir die Matrix verlassen … Wolltest nur versuchen, einen Start hinzulegen, der noch gestörter wäre als die Situation selbst. ›Funny‹ sein, aber eben einen natürlichen Selektor zwischenschalten, der dir mit sofortiger Wirkung zeigen würde, ob sie was taugt.

Und sie taugten alle nichts. Haben überhaupt nicht verstanden, was du von ihnen wolltest mit dem Spruch. Und dabei hättest du es belassen sollen. Aber nein, du wolltest mehr. Wolltest das Mädchen kennenlernen, das zuerst den dummen Spruch gemacht hat. Wolltest ihr dein postmodernes Gesicht wenigstens ein Mal in natura zeigen, und bevor sie verstehen würde, was für ein Idiot du bist, wenigstens noch sehen, was sie noch für Sprüche draufhat. Wer hätte ahnen können, dass sie dich auch nach dem zweiten, dritten, vierten Treffen noch will?

Jetzt, fünf Monate später, weißt du ziemlich genau, dass es besser für Sina gewesen wäre, wenn ihr euch verpasst hättet. Hätte sie nur ein paar Minuten später den Algorithmus gestartet, hätte es dich dort nicht mehr gegeben … Sie tut dir leid. Du hättest schneller sein sollen. Dich schneller überall löschen und so profillos im Netz sein, wie du es jetzt bist, wie es auch deine sonstige Profillosigkeit hervorragend ergänzt.

Hey! Boi! Happy Dings! Sag Bescheid, wennde was machst!, blinkt auf dem Display auf. Pollsen und Julian.

Das war alles, was sie zustande bekommen haben. Nicht einmal angerufen. Was erwartest du, wenn du seit Jahren lieber bei deinem senilen Opa abhängst, als mit denen Mädchen zu klären oder bis in die Nacht zu zocken? Gras und Playsi, Gras und Playsi, Gras und Alk, Gras und Amphi, Gras und dumme Filme, Gras und schlechte Nudeln Carbonara.

Du würdest dich an deren Stelle auch nicht anrufen. Sag Bescheid, wennde was machst! Du wirst etwas machen. Und es wird unter Garantie was richtig Dummes sein. Und weder Pollsen noch Julian wirst du Bescheid sagen.

Noch acht Minuten, sagt die Anzeige. Noch acht Minuten dieses schiefe Herrgottimhimmel von rechts.

Wer schreibt diese Anzeigen eigentlich? Sitzt der irgendwo in einem winzigen Raum und tippt diese Hinweise? Acht Stunden am Tag? Jeden Tag? Mindestens 330 Tage im Jahr? Oder wechseln die sich ab, die Bahnfahrer, wer den High-Quality-Job machen muss, machen Schnick-Schnack-Schnuck? Wär ein Job für dich.

Du, gebaut aus Doppelhelix, Wasser und so Zeug, der sich täglich zu Milliardsteln von Einzelgedanken aufspaltet, die alle, wirklich alle in ihrer Dämlichkeit dem gleichen, wie du aussiehst, wenn du nachts im blauen Licht des Bildschirms erstarrt mit offenem Mund dasitzt und so Sachen überlegst, wie auf Frutarier umsteigen. Seit du gelesen hast, dass Pflanzen Angst und Schmerz empfinden können und man eigentlich nur noch Äpfel und Birnen essen kann, ohne dass einem der Gedanke an die Schmerzen der Pflanzen quälend im Nacken sitzt. Äpfel und Birnen sind safe. Weil die freiwillig in den Selbstmord stürzen.

»Glauben Sie an den Herrgott, den Allmächtigen?«

Jetzt stehen sie doch direkt vor dir und scheinen echt zu sein, die drei singenden Wanderprediger, die so freundlich lächeln, so selig wie weidende Kühe alle drei.

Ein hoch gewachsener milder Anfangvierziger, eine kleine ältere Dame mit dunklen Haaren und eine noch kleinere, aber jüngere, zartere Kahlrasierte. Sie sieht dich an und wiederholt es. Ihre Stimme zaghaft und zart. Ob du an den Herrgott glaubst.

»Interessante Frage. Glauben Sie, dass die Menschheit meinetwegen zugrunde gehen könnte? Dass ich der Antichrist bin? Wie wahrscheinlich erscheint Ihnen das?«

»Wir wollten mit Ihnen lieber über den Schöpfer sprechen …«

»Okay. Gut, von mir aus«, sagst du. »Wie ist denn das so, kommen in der Bibel oder sonst wo eigentlich Dinosaurier vor?«

»Ähm … tja«, sagt der Anfangvierziger, »nicht direkt.«

»Nicht direkt? Das bedeutet doch gar nicht, richtig?«

»Ähm … ja«, gibt der Vierziger widerwillig zu.

»Aber euer lieber Herrgott hat die Erde gemacht und dann ein Buch für euch dagelassen und sieht doch auch alles, oder nicht?«

Ja, nicken die drei unsynchron, ja, nicken sie enthusiastisch, natürlich! Mit euch will ja sonst niemand so richtig reden, denkst du dir. Jetzt will einer. Aber ob ein Gespräch mit dir ein Grund zur Freude ist? Fraglich.

»Und wieso steht dann nirgends, nicht in einer der Schriften was von Dinosauriern?! Wieso nicht? Wieso war unter allen Rassen, die es zweimal gab auf Noahs Schiff, kein verdammter Dinosaurier?!«

Jetzt beginnt die Brünette mit ihren Broschüren in der Hand dir zu erklären, dass Gott ja den Menschen nur das Wissen gegeben habe, was in dem Moment nötig war.

»Herrlich«, sagst du.

»Aber …«

»Nein, nein, bleiben wir doch dabei. Ist doch gut. Wo hängt denn Gott zum Beispiel jetzt gerade ab? Wieso schickt er nicht mal wenigstens einen Mitarbeiter, der das Dinosaurierding hier löst, dass wir das mit der Schöpfungsgeschichte ein für alle Mal vom Tisch haben?! Dass Gott nämlich erst die Echsen und anderes Zeug gemacht hat und dann erst mal ein paar Millionen Jahre hart ausgeruht, einen geraucht, alles vergessen. Und dann ist es ihm wieder eingefallen, was er vorhatte, und damit es nicht auffällt und ihr ihm nichts vorhalten könnt, hat er dann so gesagt: ›Nö, was vorher war, gilt alles nicht. Wir fangen die Rechnung jetzt nochmal von vorn an einfach‹? Oder sind wir immer noch nicht so weit, die simpelsten Dinge zu begreifen? Oder steht Gott drauf, dass sich alle deshalb abmetzeln, oder was? Ist das hier so’n Actionfilm für den vielleicht, für euren Gott?!«

»Aber … aber wollen Sie vielleicht eine Broschüre mitnehmen?«, sagt die Kleine mit ihrer zarten Stimme.

»Nee! Will ich nich. Wir können wieder reden, wenn Dinos in eurem Buch stehn.«

Hättest du doch auch so ’ne geile Broschüre jetzt, denkst du, dann würdest du ihr die jetzt geben, über Dimensionen, das Weltall, kosmische Nebel – und dann soll sie da mal schön Himmel und Hölle einzeichnen. Der Vierziger schweigt und tut so, als würde er in seiner Tasche nachprüfen, wie viele Exemplare von Errettung durch Glauben er noch dabei hat. Du stehst jetzt auf und steigst in die einfahrende Bahn.

Muss noch zu Eltern, komme danach, tippst du in die Tastatur und steckst Sina, die in deinem Telefon ist, wieder in die Hosentasche.

Die Bahn rollt los. Du winkst den drei am Gleisbett stehenden Gestalten, die dir stumm nachblicken. Werden sicher gleich erst mal einen Gesprächszirkel bilden, um das ihnen Hingeworfene durchzukauen, es wieder für sich geradezurücken.

Und während du mit der Bahn in den Tunnel fährst, denkst du wieder daran, dass dein Lieblingsdinosaurier, Ernst Glogau, mit einem Rätsel unwiederbringlich von der Erde verschwunden ist.

–––

13.7.2012

»Hast du keine Freunde, Junge? So schönes Wetter. Was bist du denn hier drin bei deinem alten Sack, anstatt draußen zu sein, da wo das Leben ist. Reisen, Ruderboot fahren. Oder wenigstens in einen Biergarten gehen … Oder macht man so etwas nicht mehr heutzutage?«

»Ich kann die Menschen nicht leiden, Opa.«

»Warum nicht?«

»Weil sie dumm sind.«

»Aber Junge, doch nicht alle …«

»Aber so unfassbar viele.«

»Also, als ich beim Sultan war, da hat er mir Geschichten erzählt, die das Gegenteil beweisen.«

»Welcher Sultan, Opa?!«

»Im goldenen Palast. Hab ich dir davon etwa noch nie erzählt? Unglaublich. Dabei hatte ich dem Sultan versprochen, die Geschichte allen, die ich treffe … Komisch … Jedenfalls: Es war ein heißer Monat, die Luft stand zitternd wie ein glasiger Nebel über der Erde, ich wurde eingeladen zu Tee und Gebäck. Dem Sultan tanzten seine sieben Frauen vor der Nase rum, aber das interessierte ihn kein Stück. Ob du es glaubst oder nicht – er fand es sogar lästig, wollte doch nur seinen Tee trinken und mich, seinen seltenen Gast, gebührend empfangen …«

»Opa? Dein Auge. Was ist damit?«

»Was soll damit sein?«

»Es zuckt so … Fühlst du das denn nicht?«

–––

Du ziehst mit zwei Fingern ein rundes rotes Stückchen Papier aus deinen Haarsträhnen. Sie hatte doch tatsächlich eine Konfetti-Kanone gekauft und sie knallen lassen, sodass diese ganzen runden, bunten Papierteilchen sich über deinem Kopf entluden und auf dich herunterregneten, als sie dir in ihrem hübschesten Kleid die Tür aufgemacht hat – deine Mutter. Im Mund hatte sie eine Tröte, und im Flur hing von der rechten zur linken Wand eine Buchstabenschlange, die sagte: Welcome Home!

»Happy Birthday war ausverkauft«, hatte sie sich entschuldigt, und ihr trauriges Gesicht zeigte sich wieder hinter dem versuchten fröhlichen. Genauso wie heute Mittag, nachdem ihr das Büro des Notars verlassen habt, nachdem der Notar euch allen fest die Hände gedrückt und sein Beileid bekundet hatte. Und wie Mutter dann die Mundwinkel hochgezogen hat, als würden sie an Scharnieren hängen, und dir gesagt, dass du vorbeikommen sollst, dass sie mit Kuchen auf dich warten.

Und jetzt bist du hier. Und jetzt ist der Happy Teil mit Konfetti vorbei. Ein beschissenes Jahr. Ein beschissener Monat. Und dieser Tag ist ein absoluter Scheißhaufen. Wie sehr es Mutter gekümmert hatte, wie du heute vor dem feinen Herrn Notar auftauchen würdest. Diese Hose, die du ihr zuliebe angezogen hast – jede normale Bewegung wird behindert, der Stoff reibt an der Haut.

Diese verdammte Kuckucksuhr tötet jeden Nerv. Klick. Klick. Klick. Peter scheint es nicht zu stören. Peter. Hat es vorhin geschafft, dir zweimal auf den Rücken zu klopfen – alles Gute. Jetzt sitzt Peter direkt neben dir und schweigt sich einen ab. Peter sieht in den Fernseher, der genauso stumm wie Peter irgendwelche Bilder seltener Vogelarten präsentiert.

Es ist erbärmlich, dass du am liebsten einfach wieder zurück in deine Wohnung fahren würdest, dich wieder schlafen legen. Du stellst dir vor, wie sie dich erst finden, wenn sich Spinnweben über deiner Leiche türmen.

Aber du würdest ja doch wieder aufwachen. In einer Welt, die einfach noch beschissener sein würde, als sie es war in dem Moment, in dem du dich schlafen gelegt hast. Jedes Mal noch ein Stück beschissener.

Dein Psychologe hatte recht. Dass du einen an der Waffel hast und nicht die anderen. Du hast kein Problem. Du bist das Problem.

Du bist ein Kind, ohne Kleidung, sagte der damals, der Psychodoc, als er noch Hoffnung hatte, dich wieder hinzukriegen, Du sitzt an einem menschenleeren Strand. Du hast kein Ziel. Musst nicht kacken, musst nicht essen, kein Ziel. Da siehst du eine Eidechse, eine Muschel, ein Papierstück, ein Loch. Nach welchem Prinzip entscheidest du über deinen weiteren Entscheidungsverlauf?, hatte er gefragt. Also zum Beispiel fällst du über trial and error in das Loch und schaust nach, was da ist?, hatte er gesagt und dich mit seinem Blick aufgespießt. Oder fasst du vielleicht die Eidechse an? Schaust, ob sie wegrennt? Entscheidest spontan, ob du ihr hinterher solltest?

Nein, hast du dir damals gesagt, vielleicht, vielleicht kombiniere ich auch: stecke die Eidechse in das Papier und werfe sie in das Loch und setz mir die Muschel auf den Kopf … Vielleicht sehe ich das alles aber auch nicht, hast du dem Psychologen geantwortet, und stattdessen was ganz anderes.

Du denkst wirklich immer was ganz anderes. Und es ist exakt nie zielführend. Erst recht nicht, seit sie dich tanzend von der Straße geholt haben, auf der Ernst im Krankenwagen davonfuhr, während du ein Kleidungsstück nach dem anderen von dir warfst und sich hinter dir eine Spur deines zuckenden Dilemmas bildete, hast du wieder Anspruch auf ein Rezept. Das macht nichts besser, nur egaler. Immerhin. Aber nicht egal genug, wie du gerade merkst.

Und jetzt sitzt du hier und fühlst dich genau wie dieses Kind, das nicht weiß, was es mit Eidechse, Papier, Muschel und Loch anstellen soll. Die Informationen, die du hast, sind dünn und wirr, die Umstände scheiße, du fühlst dich nackt und klein.

Geräuschlos kommt Mutter jetzt ins Zimmer, geräuschlos stellt sie den Kuchen auf den Tisch. Diese verdammte Stille. Noch nie war sie lauter. Alle nebensächlichen Geräusche werden darin unerträglich. Mutters Kratzen mit dem Messer auf dem Teller, auf dem sie den Kuchen in symmetrisch perfekte Teile schneidet. Peters aneinanderreibende Finger, die klingen, als wären sie aus Papyrus. Diese trockenen Papyrusfinger, die man kriegt, wenn man alt wird und die Hände trotzdem zum Arbeiten zwingt, die Autos im Werk zusammenbauen, unzählige Teile anschrauben, abschrauben. Jetzt sitzt er da in freudiger Erwartung, eines der symmetrischen Stücke auf seinen Teller platziert zu bekommen.

»Können wir nicht wenigstens was im Radio anmachen, den Fernseher vielleicht wenigstens mit Ton an laufen lassen? Irgendwas?«

»Aber dann kann man sich nicht unterhalten«, sagt Peter und schaltet um.

Wer unterhielt sich denn hier? Über Ernst? Über irgendetwas? Die paar Sätze, die hier jeder von euch verliert, kann man sich auch sparen. Weil es immer die gleichen sind. Und wenn du etwas gefragt wirst zu deinem Leben, in dem sich auch nicht besonders viel bewegt, und wenn doch, dann wohl eher rückwärts, sind auch deine Antworten so lahm, dass du fast einschlafen könntest, wenn du dich selbst reden hörst. Also gut. Dann eben Schweigen. Wie immer.

»Jonas! Mit oder ohne Sahne?«

Auf dem Kuchen steht mit buntem Zuckerguss: Unser Jonas. Darunter: 25. Eine Kerze in der Mitte. Auf dem seit jeher gleich zubereiteten Bienenstich verformen sich die naiv kindlichen, von Mutters nervöser Hand gezogenen Zuckergussbuchstaben vor deinen Augen von Unser Jonas zu Und? Was ist? Gehst du!?

»Mama, ohne … Das fragst du jedes Jahr.«

»Ach Kind«, Mutter legt das Kuchenstück auf deinen Teller und gibt ihn in deine Hände. »Und du, Peter?«, fragt sie.

Ihre Stimme klingt enttäuscht und leise.

»Ich nehme mit! Wir feiern ja heute immerhin, nicht wahr?!«, sagt Peter.

Du siehst ihn dir an. Peter. Wie er langsam kauend seinen Kuchen isst, wie er seine müden Augen senkt. So ein verdammt liebenswerter und trauriger Mann. Peter hätte im Paket, das er sich auflud, als er deine Mutter heiratete, sicher auch was Besseres verdient als dich. Jemanden, für den es sich gelohnt hätte, so hart zu schuften.

Du zählst jetzt wieder die Bilder an den Wänden, zählst die Vasen, die kleinen Figürchen im Setzkasten. Du zählst die Lampen – Tischlampe, Deckenlampe, Leselampe. Vor dem Fenster ein Baum. Gegenüber, bei Tante Helga, brennt Licht. Wie sie dir immer winkt, wenn du an ihrem Haus vorbeigehst auf dem Weg zu deinen Eltern. Wie sie dir dann zuruft, dass du doch mal wieder auf einen Kakao vorbeikommen sollst. Als wärst du immer noch zwölf. Als hätte sie es vergessen. Hat sie wahrscheinlich auch. Du nicht. Dass Peter eben nur Peter ist, und gar nicht Papa. Dass du ihm bis heute nicht gesagt hast, dass du es weißt. Es fällt dir nur immer schwer, ihn zu begrüßen, weil du Peter nicht sagen kannst, ohne ihn zu verletzen, und Papa nicht, weil es eine Lüge wäre. Also sagst du Hey … du oder gar nichts.

Welcome Home!