Aus dem Englischen von Jürgen Martin

Impressum

© dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-436-2

www.Festa-Verlag.de

Inhalt

Impressum

Der unsichtbare Wächter

Die Tür nach drüben

Das Haus im Lorbeerdickicht

Das pfeifende Zimmer

Unerwünschter Besuch

Das Geisterpferd

Der Spuk auf der Jarvee

Ein Fund

Der Schweinefürst

H. P. Lovecraft: Das unheimliche Werk von William Hope Hodgson

Mark Valentine: Gegen den Abgrund – Carnacki the Ghost-Finder

Originaltitel

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Der unsichtbare Wächter

Carnacki war also zurückgekehrt in sein Haus am Cheyne Walk in Chelsea, denn wie sonst hätte ich diese Postkarte in den Händen halten können? Die übliche Karte, die ich nun wieder las und die mich knapp und doch auch förmlich für den heutigen Abend einlud: Mein Erscheinen sei gewünscht, wenn es mir denn genehm wäre – und zwar für nicht später als sieben Uhr.

Carnacki hatte die letzten drei Wochen in Kent verbracht, so viel war mir und den anderen aus dem kleinen Kreis guter Freunde bekannt. Aber das war schon alles, was wir wussten, denn Carnacki war – bei aller Freundschaft – wortkarg und verschwiegen, und niemand brachte auch nur eine Silbe aus ihm heraus, bevor er die Gelegenheit für gekommen hielt.

Doch dann traf ganz unvermeidlich eine Karte oder ein Telegramm ein, und wir vier machten uns ebenso unvermeidlich auf den Weg. Wir, das waren außer mir noch Jessop, Arkright und Taylor, und keiner von uns hat je aus freien Stücken eine solche Einladung ausgeschlagen. Das Dinner war stets leicht und unaufwendig, mit Bedacht, und gewöhnlich hob der Hausherr die Tafel alsbald auf, um es sich in seinem großen Lehnsessel gemütlich zu machen. Er zündete die Pfeife an, wartete noch, bis wir anderen unsere Plätze rund um den Kamin eingenommen hatten – dann redete er.

An diesem Abend nun traf ich als Erster ein und fand Carnacki über seiner Zeitung sitzend, die Pfeife in der Hand. Er erhob sich kurz, begrüßte mich mit festem Händedruck und zeigte auf einen Stuhl, ohne dass wir ein einziges Wort gewechselt hatten. Und da ich ihn kannte, verkniff ich mir jedwede neugierige Frage und nahm mir stattdessen eine Zigarette. Bald erschienen auch die drei anderen Freunde, und so verbrachten wir eine angenehme und nicht im Mindesten langweilige Stunde beim Essen.

Doch jetzt war es so weit. Wie gewohnt ließ sich Carnacki in seinen Lehnstuhl sinken, stopfte die Pfeife und paffte eine Weile vor sich hin, den Blick nachdenklich auf das Kaminfeuer gerichtet. Auch wir suchten uns jeder einen bequemen Sitzplatz und warteten gespannt auf seinen Bericht. Langatmige Vorreden waren Carnackis Sache nicht, schon mit dem ersten Satz war er mitten in der Geschichte angelangt: »Ich komme soeben aus Burtontree im Süden Kents, dem Landsitz Sir Alfred Jarnocks«, sagte er, ohne den Blick vom Feuer abzuwenden. »Dort hat sich etwas sehr Merkwürdiges zugetragen, sodass Mr. George Jarnock – der älteste Sohn des Hauses – sich veranlasst sah, mich telegrafisch zu Hilfe zu rufen. Und weil ich glaubte, etwas für ihn tun zu können, machte ich mich auf den Weg.

Es gibt dort, in einem Seitenflügel des Schlosses, eine alte Kapelle, von der seit jeher behauptet wird, dass es darin ›spuke‹. Man war sogar ein bisschen stolz darauf, wie sich herausstellte, bis nun diese unschöne Sache passierte und jedermann daran erinnert wurde, dass – unbescheidenerweise – Schlossgespenster sich nicht immer nur als hübsche Dekoration verstehen wollen.

Ich weiß, es klingt fast schon albern, wenn sich eine uralte Geschichte, die man für ein Märchen hält – außer vielleicht in mondlosen Nächten, während der Wind ums Schloss pfeift –, plötzlich als wahr erweisen soll, als eine reale Gefahr … Doch wie dem auch sei: Der Spuk (oder wenn es euch lieber ist: die übernatürliche Macht) hatte sich eines anderen besonnen und war zur Tat geschritten, und so wurde eines Abends in der Kapelle mit einem ganz bestimmten Dolch auf den alten Butler eingestochen, dass er nur um Haaresbreite dem Tod entging.

Es ist ebendieser Dolch, auf dem der Spuk beruhen soll. Zumindest spielt er eine wichtige Rolle, denn die Überlieferung der Jarnocks besagt, dass diese Waffe ›jedermann blutig strafen wird, der des Nachts in böser Absicht die Kapelle betritt‹. So heißt es, und bis dato hatte man dies ebenso wenig ernst genommen wie andere Spukgeschichten auch; allerdings ist anzumerken, dass den meisten Leuten selbst nicht klar ist, wie ernst sie das Übernatürliche und seine Macht eigentlich nehmen, und gewöhnlich haben sie auch nie Gelegenheit, hier etwas dazuzulernen. Ihr wisst nun, dass ich, was die Geisterwelt angeht, der geborene Skeptiker bin – mit einer wesentlichen Einschränkung jedoch: Ich bin ein unvoreingenommener Skeptiker. Und es ist nicht meine Art, etwas ›aus Prinzip‹ für möglich oder unmöglich zu halten, denn solche Prinzipien sind Sache von Ignoranten, die sich dessen meist auch noch rühmen. Ich dagegen betrachte einen Fall von ›Spuk‹ zunächst einmal als unbewiesen, um mich dann mit meinen Untersuchungen Schritt für Schritt dem Kern der Sache zu nähern, und ich muss zugeben, dass es sich in 99 von 100 Fällen um Hirngespinste oder einfach nur dummes Zeug handelt. Aber das 100. Mal! … Na ja – wenn das nicht wäre, dann gäbe es an Abenden wie diesem nicht viel zu erzählen, oder?

Natürlich war nach der Attacke auf den Butler klar, dass an der Geschichte von dem Dolch ›etwas dran‹ sein musste, und jedermann im Hause Jarnock war geneigt zu glauben, dass das antike Stück rätselhafterweise aus eigener Kraft oder in der Hand eines unsichtbaren Wesens nicht von dieser Welt seinen Streich geführt hatte. Aber natürlich war es weitaus wahrscheinlicher, dass das von niemandem gesichtete Wesen ein ganz und gar diesseitiger Übeltäter war – dafür sprach meine nicht geringe Erfahrung in solchen Dingen.

Das war der Punkt, den es als Erstes zu klären galt, und so machte ich mich daran, alle Augenzeugen und sonst wie Beteiligte aufs Peinlichste zu befragen.

Über das Ergebnis war ich gleichermaßen überrascht und erfreut, denn ich hatte nun guten Grund zu glauben, dass es sich tatsächlich um eine der seltenen Manifestationen des Übernatürlichen handelte – volkstümlich ausgedrückt: um einen Spuk.

Doch zunächst einmal die Fakten: Es ist fast zwei Wochen her, dass sich die Familie Jarnock samt Gesinde wie gewohnt am Sonntagabend zum Gottesdienst in der Kapelle versammelt hatte. Abgehalten wird er vom Pfarrer der nahen Gemeinde, der sich nach Erledigung seiner übrigen Pflichten auf den Weg ins Schloss macht, immerhin drei Meilen.

Hinterher standen Sir Alfred Jarnock, sein Sohn George und der Pfarrer noch einige Minuten beisammen, während der alte Butler, Bellett, die Runde machte, um die Kerzen zu löschen. Zwischen den Bankreihen standen sie, nicht weit vom Ausgang, als dem Pfarrer einfiel, dass er sein kleines Gebetbuch auf dem Altar hatte liegen lassen. Also rief er dem Butler zu, es bei seinem Gang durch den Chor doch mitzunehmen.

Alle diese Einzelheiten bitte ich genau zu beachten, ebenso dass der Pfarrer sich dabei dem Butler zugewandt hatte und so Sir Alfred Jarnock und dessen Sohn veranlasste, in dieselbe Richtung zu sehen. Was für ein Glücksfall, möchte man fast sagen, denn so wurden gleich drei Menschen Zeuge dessen, was dem Mann vorn im Mittelgang geschah, während der Chor noch hell erleuchtet war – denn genau in diesem Augenblick war es, dass der Dolch ihn traf.

Den Pfarrer wollte ich so bald als möglich befragen, gleich nach Mr. George Jarnock, der mich bat, auch für seinen Vater sprechen zu dürfen: Der sei offensichtlich noch sehr mitgenommen von dem Geschehenen und sollte nicht immer von Neuem daran erinnert werden.

Was der Pfarrer nun zu berichten hatte, ließ sich lebhafter gar nicht schildern, und es gab keinen Zweifel, dass Erstaunlicheres oder Erschreckenderes ihm nie in seinem Leben widerfahren war. Klar und deutlich sehe er den alten Bellett noch vor sich, sagte er, wie er auf die Pforte in der Chorschranke zuging. Ganz allein, niemand sonst zu sehen – und dann dieser gewaltige Hieb aus dem Nichts, der den alten Mann der Länge nach durch den Mittelgang schleuderte. Als ob ihn ein riesiges Pferd getreten hätte, meinte der Pfarrer, übermächtig und unsichtbar zugleich … Und das Leuchten in seinen großen, gütigen Augen verriet mir, wie sehr er noch im Bann eines Geschehens stand, das er bis dahin für schlechthin unmöglich gehalten hatte.

Als ich ging, nahm er das Blatt Papier wieder zur Hand, an dem er geschrieben hatte. Ich möchte wetten, dass er die erste unorthodoxe Predigt seines Lebens entwarf. Ein netter Bursche war er, und diese Kanzelrede hätte ich bestimmt nicht versäumt, wäre ich lange genug an jenem Ort geblieben.

Den Butler befragte ich zuletzt. Er war körperlich und seelisch in einem bedauernswerten Zustand, verständlicherweise, und auch seine Aussage deutete fast unvermeidlich auf das Wirken einer übernatürlichen Macht dort in der Kapelle hin. Bis ins kleinste Detail bestätigte er, was auch die anderen Zeugen gesagt hatten: Auf dem Weg in den Chor sei er gewesen, um die restlichen Kerzen zu löschen und das Gebetbuch des Pfarrers vom Altar zu holen, als er plötzlich einen gewaltigen Schlag gegen die Brust spürte und zurück in den Mittelgang geschleudert wurde.

Wie sich herausstellte, hatte ihn jener Dolch getroffen, der seinen Platz seit jeher an der Wand über dem Altar hat – doch davon später. Die Waffe verfehlte das Herz nur um eine Handbreit, als sie dicht unter dem Schlüsselbein eindrang, das durch die Gewalt des Stoßes brach. Glatt und sauber durchbohrte die Klinge den Brustkorb und trat neben dem Schulterblatt wieder aus.

Das Reden fiel dem armen Kerl schwer, und so belästigte ich ihn nicht lange, zumal ich in einem Punkt nun Gewissheit hatte: dass sich nämlich zum Zeitpunkt der Attacke in einem Umkreis von mehreren Metern kein menschliches Wesen befand.

Das Nächste war nun, sich diese Kapelle einmal genauestens anzuschauen. Klein ist sie und sehr alt – mit dicken Mauern aus schweren Steinquadern, ganz in der Bauweise unserer Vorfahren. Ihre einzige Tür führt direkt ins Hauptgebäude, und der einzige Schlüssel dazu wird von Sir Alfred Jarnock persönlich verwahrt, nicht einmal der Butler besitzt ein Duplikat.

Das Schiff hat einen länglichen Grundriss und ist wie üblich durch eine Schranke vom Chor getrennt. Zwei Gräber befinden sich im Schiff – nicht im Chor, wohlgemerkt. Der ist leer und kahl bis auf den Altar aus nacktem Marmor, mit vier Kerzen darauf und einigen fast mannshohen Kerzenständern zu beiden Seiten.

Und über dem Altar hängt nun dieser ›Blutdolch‹, wie er genannt wird. Der Name dürfte wohl aus einem alten Stück Pergament stammen, auf dem er beschrieben wird, auch hinsichtlich der angeblichen übernatürlichen Eigenschaften. Ich habe ihn zur Hand genommen und so gründlich untersucht, dass mir nicht einmal ein Staubkorn entgangen wäre. Zweischneidig ist die Klinge, 25 Zentimeter lang, am Heft fünf Zentimeter breit, und läuft in eine gerundete, aber sehr scharfe Spitze aus.

Kein Dolch, wie man ihn alle Tage sieht, aber noch eigenartiger ist die Scheide: Sie verzweigt sich T-förmig, sodass sie die Parierstange von unten her bedeckt, zieht sich an den Flachseiten aber noch weiter hinauf, bis über die Mitte des Hefts. Sie hat also, für sich genommen, die Form eines Kreuzes – und das keineswegs zufällig. Das beweist die Gravur auf einer Seite, die den Gekreuzigten darstellt. Auf der Rückseite aber findet man den Schriftzug: ›Die Rache ist mein, spricht der Herr …‹ Eine recht verquere Verknüpfung von Ideen, würde ich meinen. Auf der Klinge selbst ist, in altenglischen Lettern, zu lesen: ›Ich wache – ich strafe!‹ Oben auf dem Knauf ist ein Pentagramm eingeritzt.

So weit also die Beschreibung dieser alten Waffe, die die unheimliche Fähigkeit besitzen soll, aus eigener Kraft oder von einem unsichtbaren Wesen geführt den Feinden der Jarnocks mit mörderischer Gewalt zu begegnen, sollten sie denn des Nachts in der Kapelle auftauchen. Und was die Gefährlichkeit dieses Dings betrifft, so hatten sich meine Zweifel binnen Kurzem erledigt – so viel kann ich jetzt schon verraten!

Aber noch befand sich meine Untersuchung in einem Stadium, in dem das Wirken einer übernatürlichen Macht allenfalls vermutet werden konnte. Zunächst musste der Tatort bis ins Kleinste überprüft werden: Wände und Boden klopfte ich ab, nahm mir sozusagen jeden Stein einzeln vor und ließ auch die beiden Grabstätten nicht außer Acht.

Danach ließ ich mir eine Leiter bringen und inspizierte die Gewölbekonstruktion des Daches bis in den letzten Winkel. Drei ganze Tage verbrachte ich so, und am Abend des dritten stand für mich fest, dass es nirgendwo in dieser Kapelle ein Plätzchen gab, an dem ein lebendes Wesen sich verstecken konnte. Und die Tür, die direkt ins Hauptgebäude führte – die Tür, die immer verschlossen war und deren Schlüssel Sir Alfred Jarnock höchstpersönlich aufbewahrte, wie ich schon erwähnte –, war der einzige Ein- und Ausgang. Das soll natürlich heißen: der einzige Ein- und Ausgang für ein Wesen dieser Welt …

Aber selbst dann, wenn ich einen weiteren, vielleicht geheimen Zugang entdeckt hätte, wäre das ja keine Erklärung für den Anschlag auf den Butler gewesen. Schließlich hatte sich alles vor den Augen des Pfarrers, Sir Jarnocks und seines Sohnes abgespielt. Und der alte Bellett selbst bezeugte, dass niemand zu sehen gewesen war. Aus dem Nichts, so hatte der Pfarrer es beschrieben, war der Dolchstoß gekommen. Ein Angriff aus dem Nichts! – Da kann sich schon ein leicht flaues Gefühl einstellen, nicht wahr?

Aber es half nichts, ich hatte den Auftrag nun einmal angenommen. Und nach einigem Nachdenken glaubte ich auch zu wissen, wie ich es angehen konnte: Ich würde in der Kapelle Wache halten, eine ganze Nacht lang, um den Dolch und sein Treiben mit Argusaugen beobachten zu können. Aber Sir Alfred Jarnock, dem ich meine Idee vortrug, wollte davon ganz und gar nichts hören. Er ist ein schmächtiger und ängstlicher Mann, und er zumindest schien nicht den geringsten Zweifel zu haben, dass böse Mächte des Nachts in der Kapelle ihr Unwesen trieben. Und eben darum, sagte er, schließe er an jedem Abend die Kapelle ab, damit niemand aus Leichtsinn oder aus welchem Grund auch immer sich in Gefahr begab – und dass er mir, nach dem Vorfall mit Bellett, schon gar nicht erlaubte, auch nur das geringste Risiko einzugehen.

Es war ihm ernst, das stand fest, und zweifellos hätte er sich auch die Schuld gegeben, wenn er das Experiment zugelassen und ich dabei Schaden genommen hätte. So beharrte ich nicht weiter darauf, und ohnehin beendete er bald das Gespräch mit dem Hinweis auf die Ruhebedürftigkeit eines alten und gebrechlichen Mannes. Ein Gentleman, keine Frage, dessen Höflichkeit nur noch von seinem Hang zum Aberglauben übertroffen wurde.

Doch an diesem Abend – ich war im Begriff, zu Bett zu gehen – kam mir die Idee, wie ich auch ohne seine Hilfe zum Ziel zu kommen vermochte. Ich musste eine Nacht in der Kapelle verbringen, so viel stand fest, doch wenn Sir Alfred nichts davon erfuhr, dann konnte er sich auch nicht ängstigen. Ich brauchte ja nur am Morgen, wenn er mir den Schlüssel übergab, einen Abdruck zu machen. So konnte ich einen Nachschlüssel anfertigen lassen, den ich jederzeit zu meiner Verfügung hatte.

Gedacht, getan. Ich lieh mir den Schlüssel, weil ich eine Fotografie des Chorraums bei Tageslicht machen wollte, und verschloss die Kapelle anschließend wieder. Bevor ich Jarnock den Schlüssel zurückgab, nahm ich mit einem Stück Seife einen Abdruck. Die belichtete Fotoplatte hatte ich mitgenommen, doch ließ ich die Kamera am gleichen Platz in der Kapelle, denn ich wollte in der Nacht aus derselben Perspektive eine zweite Aufnahme machen.

Mit der Fotoplatte ging ich nach Burtontree hinüber, in der Tasche auch das Seifenstück mit dem Abdruck. Das brachte ich zu einem Eisenwarenhändler, der nebenbei noch Schlosser war und mir versprach, binnen zwei Stunden einen Nachschlüssel anzufertigen. In der Zwischenzeit fand ich einen Fotografen, bei dem ich die Platte entwickeln konnte. Ich ließ sie zum Trocknen dort – sagte, dass ich sie am andern Tag abhole – und machte mich nach Ablauf der zwei Stunden auf den Weg zum Schlosser: Der Schlüssel war fertig, und ich konnte zufrieden ins Schloss zurückkehren.

Nach dem Dinner spielte ich gute zwei Stunden lang Billard mit dem jungen Jarnock. Ich trank eine Tasse Kaffee und zog mich dann auf mein Zimmer zurück unter dem Vorwand, dass ich schrecklich müde sei. Jarnock nickte und sagte, es gehe ihm ebenso. Das war mir sehr recht, denn ich wollte, dass so bald wie möglich das ganze Haus in Schlaf gesunken war.

Ich verschloss meine Tür und zog unter dem Bett die Rüstung hervor, die ich früher an diesem Abend aus der Waffenkammer geholt hatte. Ein mehrteiliger Brustharnisch, außerdem noch ein Kettenhemd mit einer Art Kapuze aus einer doppelten Lage des Materials, die somit auch den Kopf schützte.

Ich legte mir den Harnisch um den Oberkörper, zurrte ihn fest – was wirklich unbequem war – und zog das Kettenhemd darüber. Ich weiß nicht viel über dieses Eisenzeug, aber ich muss wohl, wenn ich es recht bedenke, Teile von zwei verschiedenen Rüstungen übereinandergetragen haben. Und so fühlte es sich auch an, einfach schrecklich – als wäre man in einen Schraubstock eingespannt, die Arme und Beine ließen sich kaum noch bewegen. Aber mir war klar, dass ich diesem ›Ding‹ in der Kapelle nicht ungeschützt gegenübertreten durfte. Über die Rüstung zog ich den Morgenmantel und steckte meinen Revolver in die eine Tasche, das Blitzlicht für den Fotoapparat in die andere. In der Hand hielt ich meine Blendlaterne.

Endlich war ich so weit und trat auf den Korridor hinaus. Ich lauschte. Die Vorbereitungen hatten einige Zeit in Anspruch genommen, und von der Treppe zur großen Halle her drang nicht ein Lichtstrahl, nichts rührte sich im ganzen Haus. Ich schloss die Tür hinter mir. Langsam und so leise wie möglich schlich ich mich hinunter in die Halle und bog in den Gang ein, der zur Kapelle führte.

Dann war ich an der Tür. Nun kam es auf den Schlüssel an – er passte! Im selben Augenblick war ich auch schon drinnen und hatte die Tür hinter mir verschlossen. Um mich herum tiefe, niederdrückende Stille, wie sie solchen Orten eigen ist. Nur schwach zeichneten sich in der Höhe die Umrisse der bleigefassten bunten Fenster ab und verstärkten noch den Eindruck von Finsternis und Verlassenheit.

Es wäre dumm von mir, zu behaupten, dass mir nicht seltsam zumute war. Höchst seltsam, um genau zu sein. Stellt euch vor, ihr befändet euch allein und bei völliger Dunkelheit an einem Ort von solchem Ruf – und wüsstet auch, was kurz zuvor dort geschehen war: Kann man da so ohne Weiteres beiseiteschieben, dass womöglich doch ein unsichtbares Etwas im Dunkeln lauert? … Aber die Arbeit musste nun mal getan werden, und so nahm ich allen Mut zusammen – oder was davon noch übrig war – und machte mich ans Werk.

Ich öffnete die Blendlaterne und machte einen Rundgang durch das Schiff, bei dem ich jede Ecke, jeden Winkel inspizierte. Nirgendwo etwas Ungewöhnliches. Vor der Chorschranke hob ich die Lampe, um nach dem Dolch zu leuchten. Da hing er nun über dem Altar, wo er auch hingehörte, aber er hing nicht nur, er drohte – das jedenfalls war mein erster Eindruck bei diesem Anblick, auch wenn ich ihn rasch verscheuchte. Mein Bedarf an unangenehmen Gedanken war schließlich gedeckt.

Doch mit jeder Minute wurde das Gefühl von Kälte und Einsamkeit mächtiger. Trübsinn schien aus allen Ecken auf mich zuzukriechen, allein schon die Stille war entnervend. Kalt allerdings war es hier wirklich.

Ich beendete meine Runde bei der Kamera, die ich am Morgen im Mittelgang aufgebaut hatte, auf den Chor gerichtet. Aus der Zubehörtasche holte ich eine Kassette mit Platten und schob sie in das Kameragehäuse. Ich öffnete den Schieber und nahm die Linsenkappe ab, zog dann das Blitzlicht aus dem Morgenmantel und drückte den Auslöser. Ein greller Blitz erhellte den ganzen Raum mit einem Schlag und war auch schon wieder Vergangenheit. Im Licht meiner Lampe schloss ich dann den Schieber und drehte die Kassette um, sodass ich jederzeit auch die zweite Fotoplatte belichten konnte.

Das war also erledigt. Ich schloss die Lampenblende und setzte mich in eine Bank unweit der Kamera. Was genau ich nun erwartete, ist schwer zu sagen, doch war ich mir ziemlich sicher, dass etwas Ungewöhnliches, wenn nicht sogar Erschreckendes geschehen würde und dass ich nicht lange darauf warten musste. Es war, als ob ich es wusste.

Eine Stunde verging, eine Stunde in absoluter Stille. Das verriet mir das Schlagen der Glocke, das dünn und wie von fern vom Uhrtürmchen über den Stallungen herüberdrang. Der einzige Laut weit und breit. Verdammt kalt war es in diesen Mauern, einen Ofen oder gar Heizungsrohre gab es in der Kapelle nicht, so viel hatte ich längst herausgefunden. Zu meinem Gemütszustand jedoch passte dieses Klima hervorragend. Ich kam mir vor wie ein winterliches Immergrün in einem dicken Panzer aus Reif, auch wenn es eher die Angst war, die mich so fest im Griff hielt. Selbst die Dunkelheit spürte ich drückend und eisig auf meinem Gesicht. Und ich spürte noch mehr – war da nicht eine Bewegung, irgendwo um mich herum? Nicht dass ich etwas gehört hätte, aber mein Instinkt sagte mir, dass ich nicht allein war!

In einer einzigen Sekunde nur war das letzte Quäntchen Mut von mir gewichen. Voller Panik riss ich die vom Kettenhemd geschützten Arme hoch und barg das Gesicht darin. Mir war, als hätte sich dieses undefinierbare Etwas in der Dunkelheit vor und über mir aufgebaut, abwartend, lauernd – ich hätte schreien können vor Entsetzen … Und jetzt war da zweifellos ein Geräusch, vorn im Mittelgang: dumpf, metallisch wie der Tritt eines eisenbewehrten Fußes auf Stein. Steif und starr saß ich da; ich kämpfte mit mir, versuchte mit aller Kraft, die Fassung wiederzugewinnen. Ich musste die Arme vom Gesicht nehmen, ich musste mich überwinden. Und wirklich: Ich konnte sie beiseitezwingen, endlich, und wagte es, mein Gesicht offen und ungeschützt der Gefahr darzubieten. Und ich sage euch: Ich rechne mir das hoch an, denn ich glaubte tatsächlich in diesem Augenblick, dass mein Ende bevorstünde. Aber selbst jetzt war nicht das das Schlimmste, weit mehr bedrückte und beschämte mich der Gedanke an meine Feigheit – und vielleicht haben diese Gewissensbisse mir am meisten dabei geholfen, wieder zu mir selbst zu kommen.

Natürlich wäre zu wünschen gewesen, dass schierer Mut und Willensstärke es mir ermöglichten, der unbekannten Gefahr ins Auge zu blicken – und nicht die Befürchtung, vor mir und anderen als feige zu gelten. Aber ist es deshalb schon als Eigenlob zu verdammen, wenn ich mir diesen Akt der Selbstüberwindung zugutehalte? Ich glaube, nicht.

Aber wie dem auch sei: Nichts passierte, während ich so mutig in der undurchdringlichen Schwärze ausharrte. Und allmählich wurde ich wieder ruhiger, und ebenso wuchs meine Zuversicht, dass ich diese Arbeit wie ein Mann zu Ende brachte.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis das gedämpfte Klirren eiserner Sohlen erneut zu hören war, diesmal vom Chor her. Ich fuhr zusammen … Himmel!, dachte ich, könnte das Geräusch nicht auch von dem Dolch über dem Altar kommen? Eigentlich war das Unsinn, denn für einen eher leichten Gegenstand war es viel zu laut. Aber einen solchen Einwand wollte meine Fantasie auf ihrem wilden Ritt nicht gelten lassen. Allerdings, so viel weiß ich noch, habe ich keine Sekunde geglaubt, dass der Dolch sozusagen zum Leben erwachen und mich ›aus eigenem Entschluss‹ angreifen könnte. Keineswegs, eher dachte ich – wenn ich denn dachte! – an ein geheimnisvolles, unsichtbares Wesen, das die Waffe führte. Ein Angriff aus dem Nichts, so hatte der Pfarrer gesagt, und von so erstaunlicher Kraft war der Hieb gewesen, dass er ihn mit dem Tritt eines Riesenpferds verglichen hatte. Daran erinnerte ich mich, und man kann sich denken, wie beruhigend das wirkte.

Vorsichtig tastete ich nach meiner Lampe, die ich eine Armlänge entfernt auf der Sitzfläche der Bank abgestellt hatte. Hastig öffnete ich die Blende und ließ den Lichtstrahl über den Mittelgang wandern, dann zum Chor, den ich nach allen Seiten ausleuchtete: nichts. Nichts, wovor man sich hätte ängstigen müssen. Mit einem einzigen Ruck drehte ich mich um und leuchtete auch zum Ende des Schiffs, dann nach rechts und links. Über das Dachgebälk wanderte der Strahl, über den marmornen Fußboden, soweit er von meinem Standort aus zu überblicken war: nichts Bedrohliches, schon gar nichts, das einem Mark und Bein erschüttern konnte – nur kalter Stein und altes, totes Gemäuer.

Ich war inzwischen aufgestanden. Jetzt zog ich meinen Revolver aus der Tasche, als könnte er mir ein Gefühl der Sicherheit geben. Würde ich denn stark genug sein, das Licht wieder zu löschen und mich niederzusetzen? … Ich schaffte es schließlich, und so konnte es weitergehen mit meiner Wache in stockdunkler Nacht.

Da hockte ich nun, und eine halbe Stunde oder mehr verging, in der nicht das kleinste Geräusch die lastende Stille unterbrach. Die Anspannung hatte nachgelassen, nachdem die Welt ringsum sich im Schein der Lampe so vertraut gezeigt hatte. Ein trügerisches Bild, natürlich, und man sieht daran, wie unlogisch wir Menschen in solchen Situationen reagieren – auch erwachsen kaum anders als das ängstliche Kind, das die Bettdecke über den Kopf zieht und sich so sicher glaubt vor den Schemen der Nacht. Denn das, was hier lauerte – wenn es denn existierte – und den Butler angegriffen hatte, war eines gewiss nicht, nämlich sichtbar.

Ein trügerisches Gefühl von Sicherheit also, und keinem Beobachter wäre entgangen, wie es wirklich um das Menschlein stand, das, eingezwängt in ein Korsett aus Eisen, im Dunkeln kauerte und sich mit einer Hand an seinem Revolver festhielt, während die andere nach der Laterne ausgestreckt war. Und es währte auch nicht lange, nicht länger als bis zum nächsten winzigen Geräusch in der Kapelle. Alles in mir verkrampfte sich, für einen Augenblick dröhnten die Herzschläge nur so in meinen Ohren – doch dann hörte ich es wieder: Etwas bewegte sich, im Mittelgang, vorne bei der Chorschranke. Ich starrte in die Dunkelheit, als könnte ich Löcher hineinbrennen. Doch da war nichts als Schwärze, wohin ich auch sah, und selbst beim Blick nach oben, zu den bunten Fenstern, glaubte ich, nicht mehr zu erkennen als geisterhaft verschwommene Schatten, die geräuschlos vorbeizogen, ohne Ende. Still blieb es, eine ganze Zeit, aber diese Stille nun war schlimmer als alles andere … Und da war es wieder, das Geräusch – und noch einmal, und jedes Mal näher und so bemüht leise, als wolle sich jemand anschleichen. Mir war, als käme etwas mit verhaltenen, heimlichen Schritten den Mittelgang entlang.

Steif und starr saß ich da, kaum lebendiger als die Statuen auf den beiden Gräbern. Im einen Augenblick glaubte ich, Schritte überall in der Kapelle zu hören – im nächsten war ich fest überzeugt, es sei überhaupt nichts zu hören und dass ich nie dergleichen wahrgenommen hatte.

Einige sehr, sehr lange Minuten vergingen, und währenddessen musste ich mich ein wenig beruhigt haben, denn mit einem Mal konnte mein Körper sich wieder Gehör verschaffen: Ich spürte den stechenden Schmerz in der Schultermuskulatur, die ich in meiner starren Haltung aufs Äußerste angespannt hatte. Noch immer war ich ziemlich außer mir, aber die schlimmste Gefahr – so glaubte ich instinktiv zu wissen – schien vorüber zu sein. Es ist sicher schwer nachzuvollziehen, aber irgendetwas sagte mir, dass mir eine Ruhepause vergönnt war und die Bedrohung nachgelassen hatte, für eine Weile zumindest.

Ein Nachlassen, wie gesagt, und keinesfalls eine Gelegenheit, um wirklich aufzuatmen. Noch immer schlug mein Herz ziemlich rasch und zuweilen so laut, dass ich fürchten musste, alles andere zu überhören. Also lauschte ich in das Dunkel, spitzte die Ohren wie ein Luchs – und das nur, damit sich ein weiteres Mal dieses unsägliche Gefühl meiner bemächtigen konnte, dass sich in dem leeren Raum über mir etwas bewegte und stetig näher kam.

Ich war wie gelähmt. Eiskalt lief es mir über den ganzen Rücken. Schmerzhaft straffte sich die Kopfhaut, als würde sie gefrieren, bis die Kälte von einem Brennen abgelöst wurde, das sich immer nur steigerte und bald kaum noch zu ertragen war. Fast unwiderstehlich war das Bedürfnis, mit den gepanzerten Armen erneut das Gesicht zu bedecken, aber hätte ich dem ein weiteres Mal nachgegeben, dann hätte es kein Halten mehr gegeben: Losgerannt wäre ich und mit einem einzigen Satz aus der Kapelle gestürmt. Also zwang ich mich, sitzen zu bleiben, während mir der kalte Schweiß ausbrach und immer neue Schauer meinen Rücken herauf- und hinuntersausten …

Und plötzlich glaubte ich auch wieder die verstohlenen und doch kraftvollen Schritte auf dem Mittelgang zu hören – und diesmal in nächster Nähe. Dann herrschte Stille, eine scheußliche Stille und das Gefühl einer ebenso scheußlichen Gegenwart von irgendetwas unmittelbar vor mir. Es folgte ein leises, scharrendes Geräusch von der Stelle, wo ich meine Kamera aufgebaut hatte, das mit einem scharfen Knacken endete. Das war zu viel: Wie ein Ertrinkender das rettende Tau packte ich die Lampe und öffnete die Blende. Ich richtete sie nach oben, denn über mir musste doch etwas sein … nichts. Rasch leuchtete ich zur Kamera, dann den Gang entlang, aber auch dort war nichts zu sehen. Ich wirbelte herum, ließ den Lichtstrahl erst kreisen, dann in jähen Zickzacksprüngen durch die ganze Kapelle tanzen – nichts!

Ich war in dem Augenblick aufgestanden, als ich feststellte, dass in meiner unmittelbaren Umgebung keine Gefahr drohte. Nun beschloss ich, zum Chor zu gehen und nachzusehen, ob der Dolch noch an seinem Platz hing. Kaum aus der Bank getreten, blieb ich unvermittelt stehen: Der Gedanke, mich jenem Ende der Kapelle zu nähern, erzeugte einen solchen Widerwillen in mir, dass ich kaum noch fähig war, die Beine zu bewegen. Ich kämpfte, aber sobald ich die Angst für einen Moment überwunden glaubte, stürmte sie erneut auf mich ein. Brennend liefen die Schauer über meinen Rücken, konzentrierten sich unten im Kreuz zu einem vernichtenden Schmerz … Niemand, wenn er nicht selbst solche Erfahrungen gemacht hat – wenn er nicht in seiner Einbildung zumindest sich schon einmal dem Übernatürlichen gegenübersah –, kann sich vorstellen, welch intensiver körperlicher Schmerz mit Angst verbunden sein kann, das steht fest. Schmerz, der nichts weiter ist als ein Produkt größter nervlicher Anspannung. Einfach nur elend, richtig elend fühlte ich mich, als ich dastand. Aber ich konnte mich aufraffen, setzte mich langsam in Bewegung, mit Schritten so steif und eckig wie ein Aufziehmännchen. Ruckend ging auch die Lampe hin und her, nach den Seiten und über meinem Kopf. Die Hand, die den Revolver hielt, war so nass vor Schweiß, dass er mir beinahe aus der Hand geglitten wäre. Klingt alles andere als heldenhaft, nicht wahr?

So erreichte ich die Chorschranke und blieb vor der Pforte stehen, um nach dem Dolch über dem Altar zu leuchten. Alles in Ordnung, sagte ich mir gerade, als ich stutzte und noch einmal genauer hinsah. Ich beugte mich über die Pforte hinweg, hielt die Lampe in die Höhe, kniff die Augen zusammen – und tatsächlich: Der Dolch war verschwunden. Nur die kreuzförmige Scheide hatte ich da oben gesehen, und sie war leer.

Was mir in meinem Schreck als Nächstes durch den Sinn ging, war das Bild eines in der Luft schwebenden Dolches, der wie aus eigener Kraft in der Kapelle hin und her sausen konnte. Denn natürlich musste das Wesen, dessen Werkzeug er war, unsichtbar sein. Zögernd wandte ich den Kopf und stützte mich, während ich die Lampe nach hinten richtete und angstvoll in das düstere Schiff starrte, mit der rechten Hand gegen die Pforte. Und in diesem Augenblick war es, dass mich ein gewaltiger Schlag gegen die linke Brust traf, so heftig, dass ich durch die Luft wirbelte und von der Schranke weg in den Mittelgang flog. Das Blech, in das ich mich gehüllt hatte, schepperte entsetzlich laut in der Stille.

Ich war auf dem Rücken gelandet und rutschte noch eine ganze Strecke über den glatt polierten Marmorboden, bis ich mit der Schulter gegen eine Bank stieß und so halb liegend, halb sitzend zum Stillstand kam. Mit zittrigen Gliedern, die mir kaum gehorchen wollten, versuchte ich mich aufzurichten – und es ist schwer zu sagen, was mir in diesem Augenblick mehr zu schaffen machte: Schmerz und Benommenheit oder die panische Angst. Ich hatte den Revolver verloren, auch die Lampe, und ich wusste nicht im Mindesten, wo ich war. Und dennoch lief ich los, mit eingezogenem Kopf und auf unsicheren Beinen, in völliger Dunkelheit – doch nur, um gegen die nächste Bank zu rennen. Ich machte einen Satz rückwärts, stolperte, fasste mich wieder ein wenig und konnte an einer anderen Bank die Richtung des Gangs ertasten. Dann stürmte ich voran, die gepanzerten Arme vor dem Gesicht. Ich stieß gegen meine Kamera, dass sie zwischen die Bänke geschleudert wurde, prallte gegen den Taufstein, stand taumelnd da und wusste doch endlich, wo sich die Tür befand. Verzweifelt wühlte ich in den Taschen meines Morgenrocks, um den Schlüssel zu finden. Da war er – aber wo war das Schlüsselloch? … Ich probierte, fuhr kratzend hin und her über das Holz, fand es schließlich, drehte den Schlüssel, stieß die Tür auf und stand im Korridor – Gott sei Dank! Ich schlug die Tür hinter mir zu und warf mich dagegen – nur zur Sicherheit –, während ich mit keuchendem Atem dastand und wieder das Schlüsselloch suchte. Von außen diesmal, um das, was in der Kapelle umging, dort sicher einzuschließen. Nun war es geschafft, und ich tastete mich an der Wand entlang zurück in die große Halle. Wenig später war ich in meinem Zimmer.

Eine Weile saß ich nur da, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte. Schließlich begann ich, die Rüstung Stück für Stück abzulegen. Und jetzt bemerkte ich, dass sowohl Kettenhemd als auch Brustharnisch unterhalb des Schlüsselbeins durchbohrt waren, und es wurde mir klar, dass dieses unsichtbare Etwas auf mein Herz gezielt hatte.

Rasch zog ich mich aus, und nun entdeckte ich an der Stelle einen kleinen Schnitt in der Haut, gerade tief genug, um etwas Blut ins Hemd sickern zu lassen – das war alles. Doch war der Oberkörper von Prellungen nur so übersät, die mir große Schmerzen bereiteten. Nicht auszudenken, was ohne die Rüstung passiert wäre. Dass ich durch die Wucht des Hiebs nicht das Bewusstsein verloren habe, war allein schon ein kleines Wunder.

Schlafen ging ich nicht mehr in dieser Nacht. Ich blieb auf der Bettkante sitzen und dachte nach, wartete, dass der Morgen dämmerte. Ich musste ja mein Zeug in der Kapelle aufsammeln, bevor womöglich Sir Alfred Jarnock dort auftauchte, wenn ich nicht wollte, dass er von meinem Nachschlüssel erfuhr.

Beim ersten Morgengrauen, als eben die Umrisse des Zimmers sich abzeichneten, machte ich mich wieder auf den Weg zur Kapelle. Ganz leise (und nicht ohne Herzklopfen) öffnete ich die Tür. Das fahle Morgenlicht gab diesem Ort eine recht eigene, fremdartige Atmosphäre, irgendwie entrückt und auch ein bisschen gespenstisch. Ihr wisst, was ich meine? … Ich blieb einige Minuten bei der Tür stehen und wartete, dass es heller wurde – und dass mein Mut wuchs, würde ich sagen. Dann fiel ein Sonnenstrahl durch das große Ostfenster und breitete einen bunten Lichtteppich über die ganze Länge des Schiffs. Jetzt endlich überwand ich mich, mit einiger Mühe, weiterzugehen.

Ich ging den Mittelgang entlang bis zu der Stelle, wo ich bei meiner Flucht die Kamera über den Haufen gerannt hatte. Aus einer Bank ragten mir die drei Stativbeine entgegen, und ich war überzeugt, dass der Apparat in Stücke gegangen war. Aber abgesehen davon, dass die Mattscheibe gesprungen war, hatte er kaum Schaden genommen. Ich stellte ihn genau dort wieder auf, wo ich in der Nacht das Foto gemacht hatte. Die Kassette mit den Platten nahm ich heraus und steckte sie in die Tasche, denn die eine Blitzlichtaufnahme war sicher von Interesse. Ich ärgerte mich jetzt, dass ich in dem Augenblick, als ich die merkwürdigen Geräusche im Chor hörte, nicht auch die zweite Platte belichtet hatte.

Ich ging weiter nach vorn, um meine Lampe und den Revolver zu suchen, die mir bekanntlich aus der Hand glitten, als der Dolch mich traf. Erstere fand ich, hoffnungslos zerbeult und mit zerbrochenem Glas, unter der Kanzel. Den Revolver hatte ich wohl erst losgelassen, als ich gegen die Bank prallte – und vermutlich war es besagte Bank, neben der er jetzt lag, anscheinend unversehrt, was bei einem solchen Gerät nicht verwunderlich ist.

Nach dem Einsammeln meiner Utensilien wollte ich nachsehen, ob der Dolch wieder an seinen Platz über dem Altar zurückgekehrt war – oder musste man sagen: zurückgebracht worden war? … Doch als ich die vorderste Bankreihe passierte, durchfuhr es mich wie ein Blitz, denn auf dem Marmorboden vor der Chorschranke – schätzungsweise einen Meter von der Stelle, wo mich der Hieb getroffen hatte – sah ich den Dolch liegen, so harmlos und auch so selbstverständlich, als sei er schon immer dort gewesen. Ich war bei diesem Anblick, das muss ich gestehen, schon ein bisschen außer mir. In einem jähen, völlig widersinnigen Impuls machte ich einen Satz nach vorn und setzte den Fuß auf das Ding, damit es mir ja nicht entwischte. Und es dauerte tatsächlich eine Minute oder mehr, bis ich wagte, mich zu bücken und es mit beiden Händen zu ergreifen. Nur langsam legte sich meine Erregung, während ich den Dolch von allen Seiten betrachtete, und als ich wieder klar denken konnte, kam ich mir einigermaßen dämlich vor, auch wenn mein Verhalten entschuldbar sein mag: Denn die Art von Furcht, die ich in diesem Augenblick fühlte, war mir bis dahin völlig unbekannt gewesen und unvorstellbar dazu.

Prüfend wendete ich den Dolch hin und her – und hielt ihn die ganze Zeit, wie ich schließlich bemerkte, mit fast schmerzhaft festem Griff. Als ob ich, unbewusst, nicht glauben mochte, dass er sich ruhig und ohne Widerstreben meinen Händen überließ. Aber auch das ging vorüber, und so konnte ich mit der gebotenen Sachlichkeit feststellen, dass nichts an dieser eigentümlichen Waffe auf einen Gebrauch hindeutete, außer dass die gerundete Spitze, die sich in den Brustpanzer gebohrt hatte, ein wenig frischen Glanz bekommen hatte.

Mehr war dazu nicht zu sagen, und so ging ich weiter, durch die Chorpforte bis zum Altar hinüber. Ich stemmte mich daran in die Höhe, und konnte so kniend den Dolch in seine Scheide schieben. Als ich auf dem Rückweg die Pforte hinter mir schloss, dachte ich an nichts anderes mehr, als dass dieses schreckliche Ding nun wieder an seinem angestammten Platz hing. Insgeheim war ich wohl überzeugt, dass es ebendort, wo es sich die letzten 500 Jahre befunden hatte, am gefährlichsten war … Aber so recht befriedigend ist diese Erklärung doch wieder nicht, wenn ich mir vor Augen halte, wie verstörend der Dolch in seiner scheinbaren, geradezu herausfordernden Harmlosigkeit auf mich gewirkt hatte, als er noch am Boden lag. Jedenfalls war ich von dem Augenblick an, da er wieder an der Wand hing, ziemlich nervös, und so ergriff ich hastig meine Lampe, die ich auf einer Bank abgestellt hatte, und eilte durch den Mittelgang zur Tür. Hier wollte ich keine Sekunde länger als nötig bleiben.

Erst als ich hinter mir abgeschlossen hatte, spürte ich, wie sehr ich in diesen wenigen Minuten meine Nerven strapaziert hatte. Von nun an wollte ich den guten Sir Alfred nicht mehr belächeln, weil er die Tür zur Kapelle so sorgsam geschlossen hielt – und ich fragte mich auch, ob er nicht mehr wusste, als er sagen wollte, und ob es nicht schon früher gefährliche Zwischenfälle in der Kapelle gegeben hatte, mit tragischem Ausgang vielleicht.

Ich ging auf mein Zimmer, wusch und rasierte mich, kleidete mich an und las noch eine Weile. Schließlich ging ich nach unten und bat den Bediensteten, der als Butler aushalf, mir das Frühstück und eine Tasse Kaffee zu bringen.

unsichtbare

›Niemand außer meinem Vater hat einen Schlüssel … Darum ist es so gut wie ausgeschlossen, dass sonst jemand hereinkommen und an diesem Mechanismus herumspielen kann.‹

Unverwandt sah ich ihn an, aber er war offensichtlich noch nicht bereit, die nötigen Schlüsse zu ziehen. ›… Hören Sie, Mr. Jarnock‹, sagte ich dann womöglich schroffer, als es angesichts des Themas angebracht war, ›sind Sie sicher, dass Ihr Vater im Vollbesitz seiner Kräfte ist – geistig, meine ich?‹

Er sah mich an, ein wenig erschrocken, und errötete, aber auch das nur wenig. Erst jetzt wurde mir klar, wie ungeschickt ich mich anstellte.

Er zögerte. ›… Ich – ich weiß es nicht‹, sagte er und war nach ein paar leisen, unverständlichen Worten auch wieder verstummt.

›Seien Sie aufrichtig: Haben Sie sich das nicht hin und wieder selbst gefragt? Sie können ganz offen zu mir sein.‹

›Nun ja‹, kam es zögernd, ›ein bisschen seltsam fand ich Vater schon, das eine oder andere Mal. Aber immer hoffte ich, dass mir das nur so vorkam – und dass niemand sonst ebenso dachte … Sie müssen wissen: Ich schätze ihn sehr, unseren alten Capt’n.‹

Ich nickte. ›Natürlich – und es gibt ja auch keinen Grund, um die Sache viel Aufhebens zu machen. Aber geschehen muss etwas, ganz zweifellos, doch das lässt sich in aller Stille regeln. Zunächst sollten Sie einmal mit Ihrem Vater reden und ihm berichten, was wir hier gefunden haben.‹ Ich legte die Hand auf den zweigeteilten Pfosten.

Der junge Jarnock zeigte sich von meinem Vorschlag recht angetan, und nachdem er mir kräftig die Hand geschüttelt hatte, ließ er sich meinen Nachschlüssel geben und verschwand durch die Tür. Nach ungefähr einer Stunde kehrte er zurück, ziemlich aufgeregt. Was meine Schlussfolgerungen betraf, so hatte ich tatsächlich ins Schwarze getroffen. Es war wirklich Sir Alfred Jarnock, der die gefährliche Falle scharf gemacht hatte – beide Male: sowohl an dem Abend, an dem der Butler fast getötet worden wäre, als auch am Vorabend. Und nicht nur das: Offensichtlich tat der alte Herr dies an jedem Abend, seit vielen Jahren schon.

Von dem Mechanismus hatte er aus einem alten Manuskript in der Schlossbibliothek erfahren. Erdacht hatte man ihn in jenen Tagen – und auch benutzt –, um die goldenen Messgefäße vor Diebstahl zu schützen, die, wie ich nun erfuhr, früher in einer versteckten Nische hinter dem Altar aufbewahrt wurden.

Und Sir Alfred Jarnock kam das Versteck sehr gelegen; es war genau das Richtige für den kostbaren Schmuck seiner Frau. Etwa zwölf Jahre war sie nun tot, und seit damals sei der Vater nicht mehr derselbe, sagte Jarnock.

Doch eines an der Sache gab mir noch immer zu denken: dass nämlich die Falle an dem Abend, als das Unglück mit dem Butler passierte, schon vorbereitet gewesen war. Denn so, wie Jarnock es darstellte, würde sein Vater den Mechanismus doch wohl spät am Abend spannen und morgens, bevor noch jemand anders die Kapelle betrat, wieder sichern, nicht wahr? … Dazu meinte er, dass der alte Herr manchmal doch sehr vergesslich sei – um nicht zu sagen verwirrt – und am Morgen des fraglichen Tags wohl das Sichern vergessen habe, mit den uns wohlbekannten Folgen.

Und das ist eigentlich schon die ganze Geschichte. Der alte Herr weiß eben manchmal nicht so genau, was er tut … Er hat den Verlust seiner Frau nicht verkraftet. Der Schmerz und das Alleinsein haben seine Psyche erschüttert, ihn auch überängstlich gemacht. Jahre hatte er mit traurigen Grübeleien verbracht, war viel zu oft sich selbst überlassen. Es kam vor, sagte mir der junge Jarnock, dass sein Vater viele Stunden allein in der Kapelle verbrachte und betete.«

Damit schloss Carnacki und beugte sich vor, um einen Pfeifenanzünder zu nehmen.

»Aber du hast noch kein Wort darüber verloren, wie du den Trick mit dem zweigeteilten Pfosten und all das herausgefunden hast!«, protestierte ich, auch im Namen meiner Freunde.

»Ach das! …«, begann Carnacki, zwischendurch immer wieder kräftig an seiner Pfeife ziehend. »Ich bemerkte …, als ich die Fotos mit dem Zirkel verglich …, dass das am Tag aufgenommene … einen viel dickeren linken Pfosten zeigte als die Blitzlichtaufnahme … Das brachte mich auf den Gedanken, dass irgendein mechanischer Trick hinter dieser verrückten Geschichte steckte und gewiss nichts Übernatürliches. Ich musste mir nur noch den Pfosten genau ansehen, und der Rest ergab sich dann von selbst.

Übrigens«, fügte er noch hinzu, während er aufstand und zum Kaminsims ging, »wenn ihr diesen sogenannten ›Blutdolch‹ einmal mit eigenen Augen sehen wollt … Der junge Jarnock war so freundlich, ihn mir zu überlassen, zur Erinnerung an dieses Abenteuer.«

Er reichte uns das Stück, und während es von Hand zu Hand ging und eingehend begutachtet wurde, stand er schweigend vor dem Feuer und ließ gedankenverloren kleine Wölkchen aus seiner Pfeife aufsteigen.

»Jarnock und ich, wir haben dafür gesorgt, dass diese Todesfalle niemandem mehr gefährlich werden kann«, sagte er nach einer Weile. »Und der Dolch ist hier, wie ihr seht. Inzwischen ist auch der alte Bellett wieder auf den Beinen, sodass nichts dagegenspricht, über die ganze Sache den Mantel des Schweigens zu breiten. Ein verrufener Ort wird die Kapelle in der Meinung des Publikums wohl bleiben – und das ist, wenn man einen Schatz dort verwahren möchte, doch eher günstig, nicht wahr?«

»So leicht kommst du uns nicht davon! … Da sind zwei Punkte, über die du dich bisher ausgeschwiegen hast«, wandte ich ein. »Wie erklärst du dir jene metallischen Geräusche, die du bei deiner Nachtwache gehört hast? Und auch diese heimlichen Schritte – soll das alles nur Einbildung gewesen sein, ein Produkt der nervlichen Anspannung?«

»Das kann ich beim besten Willen nicht sagen«, meinte Carnacki. »Ich habe mir lange den Kopf darüber zerbrochen. Es könnte sein, dass die Feder, die den Pfosten betätigte, ein wenig Spiel hatte in ihrer Arretierung und nachgab. So etwas kann einen leisen Glockenton verursachen – und mitten in der Nacht, wenn man noch dazu mit ›Geistern‹ beschäftigt ist, hört sich das viel lauter an, als es tatsächlich ist … Könnte doch sein, oder nicht?«

»In der Tat«, pflichtete ich ihm bei. »Aber da waren noch andere Geräusche – wie steht es damit?«

»Ganz ähnlich – ich meine, dass die vollkommene Stille in der Kapelle einiges erklären kann. Vielleicht waren es ganz gewöhnliche Geräusche, die man normalerweise überhört, vielleicht nur Sinnestäuschungen. Unmöglich, mehr darüber zu sagen. Was jenes Scharren oder Knirschen im Mittelgang angeht, so bin ich ziemlich sicher, dass ein Stativbein meiner Kamera ein Stück weggerutscht ist und dabei auch die Linsenkappe vom Gehäuse fiel, was wiederum das nachfolgende Knacken erklärt.«

»Und was ist mit dem Dolch? Hast du ihn nicht an seinem Platz über dem Altar gesehen, als du deinen Kontrollgang gemacht hast?«, fragte ich. »Wie kann das sein, wo er doch zu diesem Zeitpunkt schon in dem Pfostenstück unter der Bodenplatte stecken musste?«

»Das war schlicht und einfach ein Irrtum«, sagte Carnacki. »Natürlich war er nicht in der Scheide, auch wenn ich das glaubte. Man muss sich doch nur einmal die seltsam geformte Scheide mit den T-förmigen Verzweigungen vorstellen: Ihr Umriss unterscheidet sich gar nicht so sehr von dem der Waffe. Schließlich ragt der Dolchgriff nur wenig über das obere Ende der Scheide hinaus. Das ist nicht nur sehr unüblich, sondern auch hinderlich, wenn man die Waffe rasch ziehen möchte!« Er nickte bedächtig, ein bisschen gelangweilt auch, und gähnte. Der Blick auf die Uhr war eigentlich unnötig.

»Und nun – raus mit euch!« Er sagte das nicht unfreundlich, und es war die übliche Formel, mit der er uns zu verabschieden pflegte. »Ich muss jetzt schlafen.«

Also erhoben wir uns, schüttelten ihm die Hand und gingen in die Nacht hinaus, jeder in eine andere Richtung. Es war still auf der Straße am Fluss entlang, als wir so davontrotteten.