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WISSEN IM NORDEN

Fritz Petrick

RÜGEN

Die Geschichte einer Insel

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© 2017 Wachholtz Verlag – Murmann Publishers, Kiel/Hamburg

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlagfoto: © akg-images

ISBN 978-3-529-09230-5

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Inhalt

Karte

1Deutschlands größte Insel

2Entstehung und Gestaltung der Insellandschaft

3Rügens Stein-, Bronze- und Eisenzeit

4Die »ruani« des Widukind von Corvey, ihre Burgwälle, Kultstätten und Handelsplätze

5Unterwerfung und Christianisierung durch die Dänen 1168/69

6Reformation und Einbeziehung in Pommerns Kirchenregiment

7Schwedenzeit 1 – vom Großen Deutschen bis zum Großen Nordischen Krieg

8Schwedenzeit 2 – von der Erneuerung bis zur friedlichen Abtretung der Herrschaft

9Preußenzeit – vom glanzvollen Beginn in Putbus zum chaotischen Ende in Sassnitz

10Nachkriegszeit – Remilitarisierung und Demilitarisierung, Sozialismus und Tourismus

Literatur

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Entwurf Dr. Peter Meißner (Bergen auf Rügen) 2015.

1 Fährinsel

2 Öhe

3 Heuwiese

4 Liebitz

A Vitter Bodden

B Rassower Strom

C Wieker Bodden

D Breetzer Bodden

E Breeger Bodden

F Lebbiner Bodden

1. Deutschlands größte Insel

Die Ostseeinsel Rügen liegt unmittelbar vor der Küste Vorpommerns. Vom »Land am Meer« trennt sie lediglich der 1 – 2 km breite und 33 km lange Strelasund. Zusammen mit dem nordwestlichen Teil Vorpommerns sowie einem Gebietsstreifen westlich der Recknitz und seiner nördlichen Fortsetzung, dem Fischland, bilden Rügen und seine Inseln seit 2011 den Landkreis Vorpommern-Rügen. Dieser ist mit einem Areal von 3188 km2 der fünftgrößte in Mecklenburg-Vorpommern und der ganzen Bundesrepublik. Am Kreisgebiet ist Rügen allein mit 930 km2 (≈ 29 %) beteiligt. Eine größere Insel hat Deutschland, abgesehen vom längst vergangenen Kolonialreich der Wilhelminischen Zeit in der Südsee, nie besessen. Sylt, Deutschlands größte Nordseeinsel, ist mit einer Fläche von 99 km2 erheblich kleiner. Unter den Inseln der Ostsee zählt Rügen zu den zehn größten. Die größte Insel ist Sjælland (Seeland) mit 7031 km2, an neunter Stelle steht Rügen. Mit dem ca. 161 m hohen Piekberg befindet sich auf Rügen der zweithöchste Berg aller Ostseeinseln. Zu Rügen zählen etwa zwanzig kleinere, darunter geradezu winzige Inseln sowie einige Werder, die der Hauptinsel zumeist westwärts vorgelagert sind und seit 2005 vom Amt West-Rügen in Samtens verwaltet werden:

Ummanz (19,7 km2) mit einer ganzen Handvoll sehr kleiner und heutzutage unbewohnter Inseln, die Heuwiese, Liebes, Mährens, Wührens und Urkevitz heißen,

Hiddensee (18,5 km2) mit der kleinen Fährinsel (0,4 km2), dem Gänsewerder, der Tedingsinsel und dem Werder Plathe,

Öhe (0,8 km2) und Liebitz (0,4 km2).

Südwärts ist der rügenschen Boddenküste nur die Insel Vilm (0,9 km2) vorgelagert, die als Ortsteil zu Putbus, der drittgrößten Stadt Rügens, gehört. Die beiden größeren Städte heißen Bergen und Sassnitz, eine kleinere Garz. Außer diesen vier Städten zählt Rügen zur Zeit 38 Gemeinden. Sassnitz und Putbus sowie 16 Gemeinden sind als Seebäder bzw. Erholungsorte anerkannt. Es gibt insgesamt 53 Hafenanlagen unterschiedlicher Art und Größe sowie den kIeinen Inselflugplatz Güttin.

Um die gesamte Insel(-gruppe) zu überblicken, lohnt sich bei klarer Sicht ein Rundflug. Erst ein Blick aus der Vogelperspektive und/oder auf die Karte offenbart, wie Rügen »bevloten is mit deme solten watere«, um die geradezu klassische Formulierung aus einer Urkunde aus dem 14. Jahrhundert zu zitieren. Die Ostsee trennt Rügen und die dazugehörigen kleineren Inseln voneinander und vom Festland. Sie dringt zudem, Lagunen bildend, weit in die Landschaft der Hauptinsel ein und bestimmt deren Struktur. Die Lagunen heißen Bodden. Das größte dieser Gewässer ist der Greifswalder Bodden, der Rügen im Südosten vom Festland trennt und dessen nördlicher Teil mit der Insel Vilm auch als Rügischer Bodden bezeichnet wird. Der Strelasund verbindet ihn mit dem Kubitzer Bodden im Westen, der seinen Namen einem der ehemaligen rügischen Fährorte verdankt. An den Kubitzer schließen sich im Norden zunächst der Schaproder und dann der Vitter Bodden an. Sie sind ebenfalls nach alten Fährorten Rügens bzw. Hiddensees benannt, die es als solche noch immer gibt. Zu dieser Außenboddenkette, die Hiddensee von Ummanz und Rügen trennt, gehört auch der kleine Varbelvitzer Bodden zwischen Ummanz und Rügen. Mit Rügen ist Ummanz seit 1901 durch eine Straßenbrücke verbunden.

Der Rassower Strom verbindet den Vitter Bodden mit der Rügenschen Binnenboddenkette, die zunächst in östlicher und dann in südlicher Richtung verläuft. Wieker, Breetzer, Breeger, Lebbiner sowie Großer und Kleiner Jasmunder Bodden trennen den zentral gelegenen Hauptteil Rügens, der im Volksmund »Muttland« genannt wird, von den beiden großen Halbinseln im Norden bzw. Nordosten: Wittow mit dem Kap Arkona und dem nördlichsten Punkt Rügens (Gellort) sowie Jasmund mit dem Piekberg und dem vom Buchenwald gekrönten aktiven Kreidekliff der Stubnitz. Der 118 m steil über der See aufragende Königsstuhl ist zum bedeutendsten natürlichen und wohl auch bekanntesten Wahrzeichen Rügens geworden. Sein Pendant, der Dronningestolen (Königinnenstuhl) auf Rügens dänischer Schwesterinsel Møn, überragt ihn noch um zehn Meter.

Wittow und Jasmund sowie Jasmund und Muttland sind jeweils durch eine schmale Nehrung (Schaabe bzw. Schmale Heide) verbunden, so dass der Verkehr zwischen Muttland und den beiden Halbinseln seit jeher mit Fähren erfolgte. Die Lietzower Fähre von Jasmund zum Muttland wurde bereits 1869 durch einen Damm mit Brücke ersetzt, der den Kleinen vom Großen Jasmunder Bodden zwar nicht völlig, aber doch erheblich abschottete. Die Wittower Fähre wird dagegen immer noch betrieben. Das um 1900 erwogene Projekt einer Überbrückung der Landenge und einer damit verbundenen zumindest teilweisen Abschottung des Breetzer, Breeger, Lebbiner und Großen Jasmunder Boddens vom Wieker Bodden ist seinerzeit von Rügens Kreistag abgelehnt worden.

Rügens drittgrößte Halbinsel Mönchgut liegt ganz im Südosten und wird vom Muttland durch Nebengewässer des Greifswalder Boddens (Having, Baaber Bek und Selliner See) weitgehend getrennt. Sie trägt ihren deutschen Namen Mönchgut erst seit dem 14. Jahrhundert, als sie in den Besitz des Zisterzienserklosters Eldena gelangt war. Damals erhielt ein vom Selliner See in Richtung Meeresküste angelegter Wallgraben die Bezeichnung Mönchgraben. Mönchguts Bevölkerung hat auch nach der Aufhebung der Klosterherrschaft noch lange Zeit ein vom übrigen Rügen abgesondertes Leben geführt und viel von ihrer Eigenart bewahrt. Seit 2003 begrüßt dort, wo die heutige Bundesstraße 196 im Ostseebad Baabe den Mönchgraben quert, ein weithin sichtbares „Mönchguttor“ die Besucher. Auf Mönchgut befindet sich mit dem Nordperd bzw. Göhrener Höft der östlichste Punkt Rügens.

Zudar heißt die viertgrößte Halbinsel Rügens, die wie Mönchgut nicht zum Muttland zählt. Sie liegt am Übergang des Greifswalder Boddens zum Strelasund, der durch den Palmer Ort markiert wird, der zugleich der südlichste Punkt der gesamten Insel ist. Zwischen Zudar und Festland, d. h. zwischen Glewitz und Stahlbrode, besteht eine der ältesten Fährverbindungen über den Strelasund.

Von weiteren acht Halbinseln gehören fünf zum Muttland, zwei zu Mönchgut und eine zu Wittow. Die zu Wittow gehörige Halbinsel heißt Bug und diente der Kaiserlichen Marine, der Wehrmacht und der Volksmarine der DDR als militärischer Stützpunkt. Zudem befand sich an der Spitze dieser westlichsten Landzunge Rügens seit dem Ende des 17. bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts ein Posthaus mit Schiffsanleger für Fahrzeuge der Seepost. Rügens Westend selbst ist viel weiter südlich auf Muttland zu verorten, und zwar am Gelben Ufer, einem Geschiebelehmkliff unmittelbar westlich von Altefähr. Dieses Dorf verdankt seine Entstehung und seinen deutschen Namen der wohl ältesten und wichtigsten vom Festland ausgehenden Fährverbindung über den Strelasund. Dort hatten sich schon im 12. Jahrhundert Fernhandelsleute etabliert, aus deren Niederlassung Stralsund, die heutige Kreisstadt des Landkreises Vorpommern-Rügen, hervorgegangen ist. Die Hanse- und Weltkulturerbe-Stadt Stralsund ist die viertgrößte Stadt Mecklenburg-Vorpommerns. Sie gilt inoffiziell auch als »Tor zur Insel Rügen«.

Noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein pendelten zwischen Stralsund und Altefähr Fährboote. Heute fährt noch das Fahrgastschiff »MS Altefähr« als Touristenattraktion, aber für den Straßen- und Bahnverkehr gibt es längst schon feste Strelasundquerungen: seit 1936/37 den Rügendamm für Eisenbahn, Kraftfahrzeuge, Radfahrer und Fußgänger und seit 2007 die weithin sichtbare Rügenbrücke für den Kraftverkehr.

2. Entstehung und Gestaltung der Insellandschaft

Die für Rügen charakteristische Kreide ist in der letzten Periode des Erdmittelalters, der Kreidezeit, entstanden und an die 70 Mio. Jahren alt. Überreste abgestorbener Planktonorganismen (Coccolithen) sowie von Arm- und Kopffüßern (»Donnerkeile«) bildeten auf damaligem Meeresgrund ein ausgedehntes und bis zu 500 m mächtiges Sediment, das später infolge tektonischer Bewegungen in verschiedengroße Schollen zerbrach, die emporgehoben wurden und trocken fielen. Mit vereinzelten Hochlagen wie Jasmund, Arkona und Møn besaß diese kreidezeitliche Landoberfläche ein ausgeprägtes Relief, das im folgenden Eiszeitalter (Pleistozän) den aus dem Norden vordringenden Inlandeis Bewegungsbahnen vorgegeben hat.

Das Eiszeitalter währte insgesamt etwa 300 000–500 000 Jahre. Das Eis schob massenhaft Gesteine mit sich. Sie sind auf ihrem Weg in Stücke gebrochen, wurden glatt und rund geschliffen oder zermahlen. Dieser Geschiebemergel blieb, wenn das Eis wegtaute, als Ablagerung auf der kreidezeitlichen Landoberfläche zurück. Immer wenn erneute Gletschervorstöße erfolgten, wurde der Geschiebemergel wiederum abgetragen, mitbewegt und mit weiterem Gesteinsschutt angereichert. Das Sediment erlangte auf diese Weise bei erheblichen örtlichen Unterschieden eine mittlere Mächtigkeit von 50 m. Da das Sediment die Kreide überlagert, findet diese sich im Norden Hiddensees erst in einer Tiefe von 50 m unter NN.

Als das nordische Inlandeis das Gebiet der späteren Insellandschaft vor etwa 13 000 Jahren endgültig freigab, hinterließ es mit Lehm und Sand vor allem auch Steine, darunter riesige Brocken. Steine mit einem Volumen von über 1 m3 heißen Findlinge. Der mit Abstand größte bisher in Norddeutschland ausgemachte Findling liegt 350 m nördlich vom Nordperd in der Ostsee. Hier ragt er bei einer Meerestiefe von 6 m noch 1,5 m aus dem Wasser. Dieser »Buskam« hat nach jüngster Vermessung eine Masse von 550 t und ein Volumen von 206 m3. Wie die meisten Findlinge ist dieser Bornholmer Granitbrocken vom Eis nur über eine relativ kurze Strecke transportiert worden (ca. 150 km). Mindestens 100 km mehr dürfte der aus Karlshamn-Granit bestehende viertgrößte Findling Rügens zurückgelegt haben, der »Söbenschniedersteen«, der etwa 30 m vor dem Kliff des Gellort am Strand liegt und dort den nördlichsten Punkt Rügens markiert. Er wird auf eine Masse von über 165 t und ein Volumen von über 60 m3 geschätzt.

Den Gletschern des Eiszeitalters verdankt Rügen sein markant gestaltetes Relief. In seiner Bewegung von Nordost nach Südwest wurde das nordische Inlandeis von dem aus wesentlich älterem und festerem Gestein bestehenden Hochgebiet Bornholms und dem steil aufragenden Kreideblock Jasmunds in zwei mächtige Ströme geteilt, den Belt- und den Oder-Eisstrom. Das Relief des zwischen ihnen ausgespart bleibenden Bereichs, veränderten sie kaum, zumal die letzten Vorstöße der Gletscher in der Ältesten Tundrenzeit (Dryas I, vor 14 000–13 000 Jahren) nur noch den Norden und Osten Rügens betrafen. Wie der Belt-Eisstrom im Norden vor Wittow so stieß der Oder-Eisstrom im Südosten Muttlands auf ein – allerdings weniger großes – Hindernis. Die davor wiederholt abgelagerten Geschiebe wurden zu einem ganzen Komplex großer Stauchmoränen verpresst. Auf der nunmehr weit landeinwärts gelegenen und mit 107 m höchsten Erhebung der Granitz, dem Tempelberg, hat Malte, Fürst und Herr zu Putbus (1783–1854), in den Jahren 1838–46 ein repräsentatives Jagdschloss im Stil der Tudorgotik mit einem weithin sichtbaren 38 m hohen Mittelturm errichten lassen, das zum kulturgeschichtlich dominierenden Wahrzeichen Rügens geworden ist.

Als weitere, Rügens Relief in besonderem Maße prägende Stauchmoränen, haben die Gletscher der »Nordrügen-Staffel« mit ihren insgesamt fünf südwestwärts ausgreifenden Vorstößen den Dornbusch auf Hiddensee, die bis zu 45 m hohen Banzelvitzer Berge am Westufer des Großen Jasmunder Boddens, die Hügel um Bergen mit dem 91 m hohen Rugard und um Putbus sowie Nordperd und Südperd geschaffen. Die Banzelvitzer Berge und die Hügel um Bergen bestehen aus Geschiebemergel, der vom zwischen Wittow und Jasmund bzw. zwischen Jasmund und Granitz vorgedrungenen Gletschereis (Tromper bzw. Prorer Gletscherlobus) zu Endmoränen gestaucht wurde. Südlich der Granitz konnte das Gletschereis (Mönchguter Gletscherlobus) zwar weniger gehindert vordringen, aber dabei teilte es sich in einzelne Gletscherzungen auf. Zwischen sich formten sie die langgestreckten Endmoränenrücken, die jetzt auffallend weit in den Rügischen bzw. Greifswalder Bodden hineinragen.

Die Bodden existierten zu jenen Zeiten freilich noch nicht. Nachdem die Eiszeit für die heutige Insellandschaft allmählich geendet hatte, existierten hier als Gewässer allein Schmelzwasser-Seen und -Rinnen. Das insgesamt relativ hochgelegene Gebiet gehörte ebenso wie die dänischen Inseln einschließlich Bornholm zum ganz allmählich absinkenden Festland. Lediglich bis Møn erstreckte sich der vor etwa 12 000 Jahren entstandene und weit ausufernde Baltische Eisstausee. Aus ihm ist dann über mehrere Zwischenstadien die heutige Ostsee hervorgegangen, die im Laufe ihrer Entwicklung zunächst den Archipel und dann die Insel Rügen mit ihren Bodden geschaffen hat und Rügens Küste auch weiterhin gestaltet.

Infolge des vor etwa 7900 Jahren einsetzenden Ansteigens des Meeresspiegels dehnte sich die Ostsee aus. Vor etwa 5700 Jahren hatte sie vor Rügen eine Küstenlinie erreicht, die etwa 13 m unterhalb der heutigen und entsprechend weiter seewärts vom Dornbusch über Wittow, Jasmund und die Granitz bis zum Nordperd verlief. Als der Meeresspiegel vor etwa 3900 Jahren auf sein heutiges Niveau angestiegen war, ragten nur noch höher gelegene Teile der Landschaft darüber hinaus: der Dornbusch, Wittow und Jasmund, ein Territorium, das sich damals noch vom Gebiet der Fährinsel und dem noch weit nach Westen ausgreifenden Ummanz bis zur Granitz im Osten erstreckte, sowie die Insel Vilm und die Gruppe der kleinen Inseln zwischen Nordperd und Südperd. Letztere sollten in der Folge mit der Granitz und miteinander zu Mönchgut zusammenwachsen. Da die Ostsee zudem das tiefe Schmelzwassertal des Strelasunds geflutet hatte, war Muttland zu einer relativ weitläufigen Insel und Rügen insgesamt zu einem Archipel geworden.

An dessen Steilküsten nagt seither die See, wie sich an den aktiven Kliffs des Dornbuschs, Wittows, Jasmunds, der Granitz und Mönchguts beobachten lässt. Dort rutschen und stürzen hoch anstehende Geschiebemergel und Kreide hinab auf den Strand. Immer wieder kommt es zu spektakulären Abbrüchen ganzer Formationen. Steine, von denen die Brandung nur die kleinsten etwas bewegen kann, bleiben auf dem Strand liegen. Mehr oder minder große Brocken gestalten ihn zu einem Blockstrand. Feinkörniges Material wird vom Wellenschlag sukzessive in Strömungsrichtung versetzt, bis es abgelagert werden kann. Auf diese Weise erhielten die Inselkerne Sandhaken und die Inseln verbindende Nehrungen.

Aus vom Inselkern Dornbusch abgetragenen Material ist die insel Hiddensee entstanden, die übrigens von den Wikingern Hithims öe (=Insel) genannt wurde. Noch 1923 hieß sie offiziell Hiddensöe. Das dem Inselkern südwärts wieder angelagerte Material bildete zunächst die Sandfläche der Dünenheide und anschließend mit dem Gellen ein Sandhaken, der im Lauf von 1500 Jahren bis heute eine Länge von 5 km erreicht hat und sich wohl noch weiter nach Süden ausgedehnt hätte, wenn die Fahrrinne der Stralsunder Westansteuerung nicht durch Baggerarbeiten offengehalten würde.

Ohne regelmäßiges Freispülen der Stralsunder Nordansteuerung hätten Sandhaken auch Hiddensee mit Wittow verbunden. Dort existierte längst Rügens größter Sandhaken (der Bug), als am Nordostende des Dornbuschs vor etwa 500 Jahren ein erster und seit 1890 ein zweiter Sandhaken zu entstehen begannen. Alter und Neuer Bessin sind heute beide über 3 km lang und dem über 8 km langen und bis zu 1,5 km breiten Bug recht nahe gekommen. Dem Inselkern Wittow hat der Wellenschlag der Ostsee außer dem Bug im Südwesten noch einen zweiten Sandhaken im Südosten angelagert. Der wuchs zur Schaabe genannten Nehrung, die Wittow mit Jasmund verbindet und den Großen Jasmunder Bodden von der Tromper Wiek trennt. Die früher Schmale Wittower Heide genannte Schaabe ist immerhin 1,2 km lang und bis zu 1,2 km breit. Als Schmale Heide wird die Nehrung bezeichnet, die Jasmund mit der Granitz – mithin Muttland – verbunden und den Kleinen Jasmunder Bodden von der Prorer Wiek abgetrennt hat. Sie ist 9,5 km lang und bis zu 2 km breit. Die Granitz wiederum wurde durch die zwar nur 2 km lange aber bis zu 3 km breite und Baaber Heide genannte Nehrung mit Mönchgut verbunden. Mönchguts kleine Inselkerne sind durch insgesamt 8 km lange Nehrungen miteinander zusammengefügt worden.

Der Mensch greift in die natürliche Küstendynamik und damit in die Küstengestaltung ein. Auf Rügen sind, soweit es um Schifffahrt geht, Anlegestellen und Liegeplätze zunächst an von vornherein geeigneten Stellen der Boddenküste entstanden. Ralswiek gilt als Rügens frühester Hafen- und Handelsplatz von überregionaler Bedeutung. An Rügens Ostseeküste mit ihren Kliffs und Stränden fand sich jedoch kein günstiger Platz für einen Hafen. Ein Fischereischutz- und Postdampferhafen ist auch erst in den Jahren 1889–97 unterhalb der Dörfer Sassnitz und Crampas errichtet und 1908–12 zum Eisenbahnfährhafen ausgebaut worden. Überdies ist kaum 5 km weit davon entfernt in Mukran, einem Ortsteil von Sassnitz, in den Jahren 1982–86 der größte deutsche Eisenbahnfährhafen entstanden. Satellitenaufnahmen zeigen, wie die beiden Außenmolen der Eisenbahnfährhäfen die natürliche Küstendynamik vor der Schmalen Heide beeinträchtigen.

Um die erodierende Wirkung der natürlichen Küstendynamik zu mindern, sind Buhnen errichtet worden. Auf dem Bug betrifft das einen 2–3 km langen Strandabschnitt, auf Hiddensee den gesamten fast 9 km langen Badestrand. Hier wurden erstmals 1868 in einem Abstand von jeweils 60–80 m rechtwinklig vom Strand in die See bis zu 2 m Wassertiefe hölzerne Pfahlreihen gerammt, um den Sandabtrag zu verzögern. Verhindern können ihn die Buhnen allerdings nicht. Als der für den Badebetrieb unverzichtbare Strand immer schmaler wurde, ist er auf Hiddensee seit 1962 wiederholt durch aufgespülten Baggersand verbreitert worden, zuletzt Anfang 2016. An den völlig irreparablen Kliffküsten wurden hie und da, wie insbesondere am Fuß von Nord- und Südperd bereits in den 1880er Jahren, Steinwälle angelegt. Vor dem westwärts exponierten Kliff des Dornbuschs (die Hucke) ist 1938/39 sogar ein 440 m langer und fast 3 m hoher Damm aus importierten schwedischen Diabasblöcken aufgeführt worden. Dieser Hucke-Damm bewirkte in der Tat, dass die Erosion an der etwa 25 m hohen Steilwand zum Stillstand kam und ein bewachsener Böschungsabhang entstand. Südwärts davon nahm die Erosion allerdings in einem Maße zu, dass bereits 1941/42 und dann in den 1960er und 1970er Jahren Lausitzer Granodioritblöcke zu einem über 1200 m langen Steinwall mit Durchgangslücken für die Badenden aufgeschichtet wurden, der im Unterschied zum Hucke-Damm keine Krone hat und nicht begehbar ist.