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Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit

 

Herausgegeben von Manfred Holodynski, Dorothee Gutknecht und Hermann Schöler

Michael Glüer

Bindungs- und Beziehungsqualität in der KiTa

Grundlagen und Praxis

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026016-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026017-7

epub:    ISBN 978-3-17-026018-4

mobi:    ISBN 978-3-17-026019-1

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Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber

Die Lehrbuchreihe »Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit« will Studierenden und Fachkräften das notwendige Grundlagenwissen vermitteln, wie die Bildungsarbeit im Krippen- und Elementarbereich gestaltet werden kann. Die Lehrbücher schlagen eine Brücke zwischen dem aktuellen Stand der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungen zu diesem Bereich und ihrer Anwendung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern.

Die einzelnen Bände legen zum einen ihren Fokus auf einen ausgewählten Bildungsbereich, wie Kinder ihre sozio-emotionalen, sprachlichen, kognitiven, mathematischen oder motorischen Kompetenzen entwickeln. Hierbei ist der Leitgedanke darzustellen, wie die einzelnen Entwicklungsniveaus der Kinder und Bildungsimpulse der pädagogischen Einrichtungen ineinandergreifen und welche Bedeutung dabei den pädagogischen Fachkräften zukommt. Die Reihe enthält zum anderen Bände, die zentrale bereichsübergreifende Probleme der Bildungsarbeit behandeln, deren angemessene Bewältigung maßgeblich zum Gelingen beiträgt. Dazu zählen Fragen, wie pädagogische Fachkräfte ihre professionelle Responsivität den Kindern gegenüber entwickeln, wie sie Gruppen von Kindern stressfrei managen oder mit Multikulturalität, Integration und Inklusion umgehen können. Die einzelnen Bände bündeln fachübergreifend aktuelle Erkenntnisse aus den Bildungswissenschaften wie der Entwicklungspsychologie, Diagnostik sowie Früh- und Sonderpädagogik und bereiten für den Einsatz in der Aus- und Weiterbildung, aber ebenso für die pädagogische Arbeit vor Ort vor. Die Lehrbuchreihe richtet sich sowohl an Studierende, die sich in ihrem Studium mit der Entwicklung und institutionellen Erziehung von Kindern befassen, als auch an die pädagogischen Fachkräfte des Elementar- und Krippenbereichs.

Mit dem vorliegenden Buch »Bindungs- und Beziehungsqualität in der KiTa« legt Dr. Michael Glüer ein informatives und übersichtlich gegliedertes Lehrbuch vor, in dem der Stand der Forschung zum Thema »Bindung« empirisch fundiert aufgearbeitet und verständlich formuliert ist. Mit diesem Buch wird eine Diskussion aufgegriffen, die insbesondere im Bereich der Betreuung von Kindern unter drei Jahren (Kinderkrippe) zum Teil zu heftigen Auseinandersetzungen geführt hat und immer noch führt. Kann eine Beziehung zu einer pädagogischen Fachkraft genauso sein und gestaltet werden wie zwischen einer Mutter und ihrem Kind?

Michael Glüer versucht im Rahmen seiner bisherigen und aktuellen Forschungen, Erkenntnisse über die Mutter-Kind-Beziehung und deren Bedeutung für die kindliche Entwicklung auf die Erzieherin-Kind-Beziehung oder, wie es heute zutreffender formuliert werden müsste, auf die pädagogische Fachkraft-Kind-Bindung zu übertragen. Er kennt daher auch sehr genau die Umsetzungsschwierigkeiten bindungstheoretischer Ansätze in den KiTa-Alltag. Zum anderen sind sich die hier vorgestellten bindungstheoretischen Vorstellungen schon seit Längerem explizit oder implizit in den KiTa-Alltag übertragen worden. So basieren die gängigen Modelle der Eingewöhnung von Kleinkindern in die Kinderkrippe auf bindungstheoretischen Annahmen, wie beispielsweise das bekannte Modell des »infans«-Institutes.

Die Darstellung der Bindungstheorie, die Bindungstypen, die Bedingungen und Folgen sind sehr kompakt und fundiert dargestellt – ein gut geschriebener und sachkompetenter Überblick. Auch die Bedeutung der Beziehung des Kindes zur Erzieherin, die Frage, inwiefern das eine Bindungsbeziehung ist oder nicht, wird unter Rückgriff auf den Stand der Forschung, die Kontroversen und vor allem auf der Basis von nachvollziehbaren Kriterien diskutiert und beantwortet. Auf diese Weise bekommt die Diskussion um die Bindungsqualität zur Erzieherin zu ihren Kindern Substanz und empirischen Gehalt. Wichtig sind die Erläuterungen zu den Konstituenten, die eine gute Beziehungsqualität einer Erzieherin zum Kind aufbauen helfen. Diese Erläuterungen haben direkte praktische Relevanz.

Das letzte Kapitel ist eine Zusammenfassung der Inhalte des Buches und liest sich wie eine Rekapitulation über die wichtigsten Botschaften des Buches.

Mit der Herausgabe dieses Buches verfolgen wir zumindest zwei Ziele: Zum einen wollten wir für diese Diskussion die theoretischen Erkenntnisse und die bisher vorliegende empirische Evidenz von bindungstheoretischen Annahmen von einem ausgewiesenen Experten vorstellen lassen.

Mit diesem Buch wird von Michael Glüer – zugegeben aus einer bindungsorientierten Perspektive – zum einen der aktuelle Stand der Forschung und die bislang vorliegende empirische Evidenz für bindungstheoretische Modelle und Anwendungen dargestellt und teilweise auch kritisch in Bezug auf die doch oft fehlende empirische Evaluierung der bindungsorientierten Programme betrachtet. Der Autor zeigt aber sehr detailliert, welche Bedürfnisse vor allem Kleinkinder haben, wenn sie aus dem Schutz der Mutter heraustreten und sich die Welt aneignen wollen, welche Hilfestellungen dann notwendig sind. Auf welche konkreten Verhaltensweisen der Kinder muss die pädagogische Fachkraft achten? Wie beeinflusst sie selbst durch ihre eigene Biografie, ihre Einstellungen und ihr Verhalten die Erziehung und Bildung eines Kindes? Wie kann und muss sie dazu beitragen, damit der Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsauftrag in der KiTa erfolgreich verlaufen kann, für den neben einer angenehmen Atmosphäre und entwicklungsangemessenen Bildungsangeboten eben auch die Beziehung zwischen der pädagogischen Fachkraft und dem Kind von hoher Bedeutsamkeit ist. Dazu wird eine Reihe konkreter Hilfestellungen für eine pädagogische Fachkraft gegeben.

Münster, Freiburg und Heidelberg

Manfred Holodynski, Dorothee Gutknecht und Hermann Schöler

 

Inhalt

  1. Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber
  2. Vorwort
  3. Teil I: Theorien und Konzepte der Bindungsqualität
  4. 1 Die Bindungstheorie
  5. 1.1 Der Bindungsbegriff
  6. 1.2 Die Funktion einer Bindung
  7. 1.3 Das Bindungssystem
  8. 1.4 Das Explorationsverhaltenssystem
  9. 1.5 Die sichere Basis – der sichere Hafen
  10. 1.6 Das Fürsorgesystem
  11. 1.7 Entwicklung einer primären Bindung
  12. 1.8 Die Bindungsqualität
  13. 1.8.1 Messung von Bindungsqualität: die Fremde-Situation
  14. 1.8.2 Die Bindungstypen
  15. 1.8.3 Prävalenz von Bindungstypen
  16. 1.8.4 Messung der Bindungsqualität im Vorschulalter: der Attachment Q-Set
  17. 1.8.5 Internes Modell der Bindungen
  18. 1.8.6 Bindungsstatus im Erwachsenenalter
  19. 1.8.7 Transgenerative Übertragung der kindlichen Bindungsqualität
  20. 1.8.8 Die Bedeutung einer sicheren Bindung für die kindliche Entwicklung
  21. 1.8.9 Stabilität von Bindungen im Lebensverlauf
  22. 2 Das Beziehungsqualitätsmodell nach Pianta
  23. 2.1 Die Schüler-Lehrperson-Beziehungsqualität
  24. 2.2 Beziehungsqualitätsfaktoren nach Pianta: die Student-Teacher Relationship Scale
  25. 2.3 Bedeutsamkeit weiterer Einflussfaktoren auf die Beziehungsqualität
  26. 2.3.1 Merkmale des Kindes
  27. 2.3.2 Merkmale der Lehrperson
  28. 2.3.3 Externe Faktoren
  29. 2.4 Eine Bewertung des Beziehungsqualitätsmodells
  30. Teil II: Bindungs- und Beziehungsqualität im Vorschulsetting
  31. 3 Bindung zu sekundären Bezugspersonen: Kriterien und Befunde
  32. 4 Besonderheiten sekundärer Bindungen in KiTas
  33. 4.1 Entwicklungsalter
  34. 4.2 Dauer und Stabilität der Betreuung
  35. 4.3 Betreuungskontext
  36. 4.4 Geschlecht des Kindes
  37. 5 Entwicklung von Erzieherin-Kind-Bindungen
  38. 6 Die erste Trennung – Transition in die Fremdbetreuung
  39. 6.1 Die Trennung als Belastungssituation
  40. 6.1.1 Kindliche Belastung in der Transition: die physiologische Ebene
  41. 6.1.2 Kindliche Belastung in der Transition: die Verhaltensebene
  42. 6.1.3 Kindliche Belastung in der Transition: die Bedeutung der Eingewöhnungsgestaltung
  43. 6.2 Übergangsobjekte und Objektbeziehungen
  44. 7 Die Funktionen einer Bindung in der KiTa
  45. 7.1 Schutzfunktionen: Zuwendung, Sicherheit und Stressreduktion
  46. 7.1.1 Zuwendung
  47. 7.1.2 Sicherheit
  48. 7.1.3 Stressreduktion und emotionale Regulation
  49. 7.2 Unterstützungsfunktionen: Explorationsunterstützung, Assistenz
  50. 8 Einflussfaktoren auf sekundäre Bindungen
  51. 8.1 Feinfühligkeit
  52. 8.2 Bindungsstatus
  53. 8.3 Mind-Mindedness
  54. 8.4 Emotionale Verfügbarkeit
  55. 9 Erfassung und Beobachtung der Bindungsqualität in der KiTa
  56. 9.1 Die Fremde Situation (FS) in der KiTa
  57. 9.2 Der AQS für Erzieherinnen (AQS-E)
  58. 9.3 Die Student-Teacher Relationship Scale
  59. 9.4 Verfahren zur Erfassung der Prozessqualität
  60. 10 Die Bedeutung einer sekundären Bindung für die kindliche Entwicklung
  61. 10.1 Bindungen als Schutz gegen widrige Lebensumstände
  62. 10.2 Erzieherin-Kind-Bindung und die Qualität der Peer-Interaktionen
  63. 10.3 Bindung und Kooperations- und Bildungsbereitschaft
  64. 10.4 Bindung und akademische Fähigkeiten
  65. Teil III: Bindungsqualität in der KiTa-Praxis
  66. 11 Übergang in die Fremdbetreuung: die Kinderkrippe
  67. 11.1 Bindungsorientierte Eingewöhnung in der Krippe: das infans-Modell
  68. 11.2 Literaturempfehlungen
  69. 12 Bindungsfunktionen in der KiTa-Praxis
  70. 12.1 Schutz: der »sichere Hafen« und die »sichere Basis«
  71. 12.2 Drei Säulen der Zuwendung
  72. 12.3 Stressreduktion durch Emotionsregulation
  73. 12.4 Unterstützung beim Explorationsverhalten
  74. 12.4.1 Unterstützung in Spielinteraktionen
  75. 12.4.2 Professionelle Gestaltung der Interaktionen durch die pädagogische Fachkraft
  76. 12.5 Literaturempfehlungen
  77. 13 Feinfühligkeit, Mind-Mindedness und Emotionale Verfügbarkeit in der KiTa
  78. 13.1 Feinfühliges Handeln in der KiTa
  79. 13.1.1 Das Feinfühligkeitsprogramm »Video Interaction Guidance«
  80. 13.1.2 Das Feinfühligkeitstraining »Tuning-in«
  81. 13.2 Mind-Mindedness in der KiTa
  82. 13.3 Emotionale Verfügbarkeit in der KiTa
  83. 13.4 Literaturempfehlungen
  84. 14 Beobachten und Erkennen von sekundären Bindungen
  85. 14.1 Beobachten und Erkennen von Bindungs- und Explorationssicherheit
  86. 14.2 Die Anwendung von Verfahren zur Feststellung der Bindungsqualität in der KiTa
  87. 14.2.1 Die Fremde Situation und die FS-Skalen in der Ausbildung und zur Beobachtung von Trennungs- und Wiedervereinigungssituationen
  88. 14.2.2 Nutzung des »Attachment Q-Set für Erzieherinnen« in der KiTa
  89. 14.2.3 Die Student-Teacher Relationship Scale zur Reflexion der Wahrnehmung einer sekundären Bindung in der KiTa
  90. 14.3 Reflexion der pädagogischen Fachkraft über ihre Bindungserfahrungen
  91. 14.4 Literaturempfehlungen
  92. 15 Bildung und Erziehung von Kindern mit unterschiedlichem Bindungsverhalten
  93. 15.1 Kinder mit sicherem Bindungsverhalten
  94. 15.2 Kinder mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsverhalten
  95. 15.3 Kinder mit einem unsicher-ambivalenten Bindungsverhalten
  96. 15.4 Kinder mit instabilem Bindungsverhalten
  97. 15.5 Eine abschließende Einschätzung und Zusammenfassung
  98. Literatur

 

Vorwort

Seit den umfangreichen vergleichenden Schulleistungsuntersuchungen wie PISA (Program for International Student Assessment) und den darauf folgend damit verbundenen Reformen von Vorschuleinrichtungen wurde zunehmend die besondere Bedeutung einer positiven Beziehung zwischen Fachkräften und Kindern in Vorschuleinrichtungen für das kindliche Wohlbefinden und kindliche Lernprozesse postuliert. Mittlerweile unterstreichen viele Forschungsergebnisse die Bedeutung der Erzieherin-Kind-Bindung1 für die kindliche Entwicklung. Dabei wird allzu häufig das Wissen zur Eltern-Kind-Bindung mit dem Wissen zur Erzieherin-Kind-Bindung vermischt. So entstehen leicht Fehlannahmen hinsichtlich der Natur der Erzieherin-Kind-Bindung. In vielen Fällen ist die Forschung aber auch noch nicht so weit, dass fundierte Aussagen zu spezifischen Aspekten der Erzieherin-Kind-Bindung getroffen werden können, z. B. zur Bedeutung des Bindungsstatus der Erzieherin für die Bindungsentwicklung des Kindes. Da noch oft die Befunde zur Eltern-Kind-Bindung auf die Erzieherin-Kind-Bindung übertragen werden, ist bedeutsam, dass zwischen den Annahmen, Theorien und fundiertem Wissen zur Eltern-Kind- oder Erzieherin-Kind-Bindung differenziert wird.

Im vorliegenden Buch wird diese Differenzierung vorgenommen. In Teil I werden daher zunächst die grundlegenden Theorien dargestellt. Zum einen ist dies die Bindungstheorie von John Bowlby. Aufbauend auf dieser Bindungstheorie entwickelte Pianta eine Theorie, mit der die Beziehung von Lehrpersonen und Kindern im Vorschul- und Schulbereich beschrieben werden kann. Beide Modelle sind in Forschung und Praxis weit verbreitet. In Teil II werden die Theorien hinsichtlich ihrer Relevanz für die Bindungsentwicklung in vorschulischen Institutionen überprüft: Inwieweit unterscheidet sich eine Erzieherin-Kind-Bindung von einer Eltern-Kind-Bindung? Nach welchen Kriterien kann eine Erzieherin-Kind-Bindung definiert werden? Welche Ergebnisse liegen bisher zur Bindungsgestaltung im Vorschulbereich vor? Darüber hinaus werden die Entwicklung, die Besonderheiten sowie die Funktionen und Einflussfaktoren einer Bindung bei einer Fremdbetreuung (Krippe und Kindergarten) beschrieben und diskutiert.

Die Darstellung in Teil I ist dabei vor allem an den Arbeiten von Bowlby (2006a) und Mary Ainsworth (z. B. Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978) orientiert. Neben traditionellen Konzepten (z. B. Feinfühligkeit) werden auch neuere Konzepte wie beispielsweise die Emotionale Verfügbarkeit und deren Bedeutung für die Bindungsentwicklung dargestellt. In Teil III werden die vorher dargestellten Befunde auf ihre Anwendungsmöglichkeiten geprüft. Dabei geht es um die Eingewöhnung, die Bindungsfunktionen, die Erfassung von Bindungsstrategien in der Praxis sowie den Umgang mit spezifischen Bindungsmustern.

Die drei Teile bauen aufeinander auf, sodass der Leser am Ende ein differenziertes Bild über die Grundlagen der Bindungs- und Beziehungsqualität, ihre Bedeutung und Anwendungsmöglichkeiten im Vorschulkontext entwickelt haben kann.

Michael Glüer

Bielefeld, im Januar 2017

1     Im weiteren Text wird auf die Unterscheidung von Erzieherinnen und Erziehern zugunsten einer besseren Lesbarkeit des Textes verzichtet. Aufgrund der vorwiegend weiblichen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen (KiTas) wird die weibliche Form verwendet.

 

TEIL I   THEORIEN UND KONZEPTE DER BINDUNGSQUALITÄT

 

 

Die Theorie ist die Mutter der Praxis.Louis Pasteur (1939)

1          Die Bindungstheorie

Die Bindungstheorie gilt seit ihrer Entwicklung durch den Psychoanalytiker John Bowlby in den 1960er Jahren als die anerkannteste Erklärung von Beziehungsmustern zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen. Zu Beginn wurde mit ihr die Bindung des Kindes an die mütterliche Bezugsperson beschrieben und erklärt. Bindung bei sogenannten sekundären Bezugspersonen wie Vätern, Großeltern, Erzieherinnen oder sogar Lehrern zu untersuchen, war damit noch nicht beabsichtigt, zunächst ging es darum, das Geheimnis der Bindung zu ergründen und zu erklären. Bowlby hat die Theorie aber nie ausschließlich auf primäre Bezugspersonen (Mütter) begrenzt. Schon bei ihrer Formulierung im ersten Band seiner Trilogie »Bindung« spricht er die Anwendbarkeit der Theorie auf sekundäre Bezugspersonen wie Großeltern, Erzieher oder Lehrer an (Bowlby, 2006a). Heute ist die Bindungstheorie fester Bestandteil in der Erziehung und Bildung, in der Paarberatung oder der Psychotherapie und findet Anwendung in Kindes- und im Erwachsenenalter, bei kindlichen Beziehungen zu Vätern, Adoptiveltern und Pflegeeltern, Freunden und Großeltern. Auch im vorschulischen und schulischen Kontext wird mittlerweile von Bindung gesprochen, wenn es darum geht, die Erzieherin-Kind-Beziehung zu beschreiben. Allerdings ist hier auch Vorsicht geboten, denn nicht alles, was die Bindung zu einer primären Bezugsperson (Mutter-Kind-Bindung) beschreibt, lässt sich auch auf Bindungen zu sekundären Bezugspersonen, wie sie beispielsweise in der Kindertageseinrichtung (KiTa) bestehen, übertragen. Unterschiede ergeben sich allein schon dadurch, dass die Bindung zu einer primären Bezugsperson (im Folgenden auch als primäre Bindung bezeichnet) eng mit der kindlichen Entwicklung verbunden ist. Wenn Kinder das erste Mal in Kontakt mit einer Erzieherin treten, haben sie meist schon eine primäre Bindung aufgebaut. In diesem Buch wird daher immer wieder zwischen Theorien und Forschungsergebnissen, die sich auf eine primäre Bindung beziehen, und denen, die sich auf die Erzieherin-Kind-Bindung (im Folgenden auch sekundäre Bindung) beziehen, unterschieden. Da große Teile des heutigen Wissens und der heutigen Annahmen zur Erzieherin-Kind-Bindung vorwiegend auf dem Wissen zur Mutter-Kind-Bindung aufbauen, ist diese Differenzierung nicht immer einfach. Es muss daher sorgfältig beachtet werden, welches Wissen sich von der Mutter-Kind-Bindung auf die Erzieherin-Kind-Bindung übertragen lässt, inwiefern die Übertragung einer Überprüfung und Anpassung bedarf und ob es sich dabei um gesicherte Forschungsergebnisse oder nur um Annahmen und Theorien handelt.

1.1       Der Bindungsbegriff

Bindung ist ein spezifisches Konstrukt, das innerhalb der Bindungsforschung definiert wurde. Bindung beschreibt ein emotionales Band zu einer bestimmten Person, welches nicht ohne Weiteres austauschbar ist, da dieses Band individuell abgestimmt ist (Zimmermann, Suess, Scheuerer-Englisch & Grossmann, 1999). Während mit Bindung in den frühen Kindesjahren ein spezifisches Verhaltenskonstrukt und im späteren Entwicklungsalter eine spezifische kognitive und emotionale Repräsentation bestimmt sind, wird der Begriff Beziehung in Abgrenzung davon als eine übergeordnete Bezeichnung für eine allgemeine menschliche Verbundenheit zu einer Person definiert. Beziehung oder Beziehungsqualität können sich dementsprechend auf unterschiedliche Konzepte und Vorstellungen beziehen, während mit Bindung immer das Konstrukt gemeint ist, wie es Bowlby (1969, 1973, 1980) in seiner Theorie formuliert hat und wie es später durch Mary Ainsworth grundlegend operationalisiert wurde (Ainsworth et al., 1978).

Kasten 1: Bindung

Bindung beschreibt ein emotionales Band zu einer bestimmten Person, welches nicht ohne Weiteres austauschbar ist, da dieses Band individuell abgestimmt ist.

1.2       Die Funktion einer Bindung

Die Bindung des Kindes an seine Bezugsperson kann als eine evolutionsbiologische Funktion beschrieben werden, die das Überleben des Kindes in seiner Umwelt sichern soll (Bowlby, 2006a). Es ist zunächst ein instinkthaftes Verhaltensmuster, das bei allen Kindern ungeachtet der vorhandenen Qualität der Fürsorge durch die Bezugsperson während des ersten Lebensjahres auftritt. Die wesentliche Funktion einer Bindung des Kindes an seine Bezugsperson ist es, Schutz und Sicherheit durch die Bezugsperson bei auftretender oder drohender Gefahr zu erhalten. Eine Bindung des Kindes an eine Bezugsperson erhöht die Wahrscheinlichkeit von körperlicher Nähe und steht damit mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Schutz in Zusammenhang. Mit der primären Funktion des Schutzes in Form von Geborgenheit und Nähe sind dabei vielfältige sekundäre Funktionen verbunden. Durch die Bindung des Kindes an die Bezugsperson werden das Verhalten, die Erwartungen, die Emotionen und Gefühle des Kindes (z. B. in Belastungssituationen) durch die Bezugsperson reguliert, welche sich in unterschiedlichen Organisationen des Bindungsverhaltens niederschlagen. Die Bindung bietet dabei nicht nur Schutz bei Gefahr, sondern auch Sicherheit bei der Erkundung der Umwelt. Durch die unmittelbare Nähe zur Bezugsperson profitiert das Kind auch weiterhin, indem es z. B. durch soziale Interaktionen lernt, Nahrung erhält und gepflegt wird.

Kasten 2: Die Funktion von Bindung

Eine Bindung des Kindes an eine Bezugsperson sichert das Überleben des Kindes, indem es dem Kind bei unmittelbarer oder drohender Gefahr Schutz und Geborgenheit gewährt.

1.3       Das Bindungssystem

Der Bindung eines Kindes liegt ein angeborenes System zugrunde. Eine Bindung kann sich zu einer oder mehreren Bezugspersonen entwickeln (Bowlby, 2006a). Die Bindung des Kindes an eine Bezugsperson ist dabei durch vier Verhaltenssysteme bedingt, die sich teilweise ergänzen, aber auch gegenüberstehen (image Tab. 1). Mit diesen Systemen werden die Verhaltensweisen motivdienlich (d. h. nach den Bedürfnissen des Individuums) gesteuert. Aufseiten des Kindes existieren zwei Systeme, das Bindungsverhaltenssystem und das Explorationsverhaltenssystem (Bowlby, 2006a). Beide Systeme verhalten sich antithetisch: Das Bindungsverhaltenssystem kann nicht gleichzeitig mit dem Explorationsverhaltenssystem aktiviert sein. Das Verhältnis beider Systeme kann man sich als eine Wippe vorstellen. Wenn das Bindungsverhaltenssystem aktiv ist (die Wippe auf dieser Seite hochgeht), wendet sich die Wippe auf Seite des Explorationsverhaltenssystem auf den Boden, wird also inaktiv. Ist das Explorationsverhaltenssystem aktiv, wendet sich die andere Seite der Wippe zu Boden, das Bindungsverhaltenssystem wird inaktiv. Die Übergänge zwischen einem aktivierten Bindungsverhaltenssystem und einem aktivierten Explorationsverhaltenssystem sind fließend. Durch das Bindungsverhaltenssystem wird die Nähe zur Bezugsperson hergestellt und aufrechterhalten, um dem Kind bei Gefahr Schutz durch die Bezugsperson zu ermöglichen. Im Kleinkindalter ist das Bindungsverhaltenssystem zunächst nur auf der Verhaltensebene beobachtbar: bei den sogenannten Bindungsverhaltensweisen. Mit zunehmendem Alter bilden Kinder dann interne Repräsentationen von Bindung aus, d. h. verinnerlichte, motivdienliche Arbeitsmodelle, mit denen das Verhalten und die Erwartungen des Kindes gesteuert werden. Jedes Verhalten, das Nähe zur Bezugsperson herstellt, kann dabei als Bindungsverhalten bezeichnet werden (ebd.).

Tab. 1: Die vier Verhaltenssysteme einer Bindung zwischen Kind und Mutter

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Verhaltenssystem des KindesVerhaltenssystem der Mutter

Zwei Formen von direkten Bindungsverhaltensweisen lassen sich unterscheiden: Signalverhalten und Annäherungsverhalten (Bowlby, 2006a). Signalverhalten, wie z. B. Schreien oder Weinen, bewirkt, dass sich die Bezugsperson dem Kind annähert, um die Distanz zwischen Kind und Bezugsperson zu reduzieren und dem Kind Schutz und Geborgenheit zu bieten (image Tab. 2). Beispiele für Annäherungsverhalten sind alle Formen der Fortbewegung, die Nähe zur Bezugsperson bewirken. Je nach Alter und Entwicklungsstand des Kindes heißt das: zur Bezugsperson robben, krabbeln oder laufen. Aber auch das Anklammern an die Mutter ist eine Form des Annäherungsverhaltens, indem das Kind dafür sorgt, dass die Nähe zur Bezugsperson und somit auch der Schutz aufrechterhalten werden. Während sich das Bindungsverhalten nur dann zeigt, wenn das Bindungsverhaltenssystem durch Gefahr, Angst, Unwohlsein oder Stress aktiviert wird, besteht eine Bindung immer unabhängig von Ort und Zeit auch dann, wenn die Bezugsperson nicht in der Nähe ist und das Kind kein Bindungsverhalten zeigt. Dies äußert sich z. B. in differenzierten Verhaltensweisen wie Anlächeln oder der Art der Begrüßung. Das Bindungsverhaltenssystem kann dabei nicht nur von tatsächlichen Gegebenheiten ausgelöst werden, sondern auch aufgrund subjektiver Empfindungen oder Erfahrungen (z. B. Erinnerungen an erlebte, bindungsrelevante oder belastende Situationen; Grossmann & Grossmann, 2014). Die aufgeführten Bindungsverhaltensweisen können selbstverständlich auch anderen Systemen des Kindes zugeordnet sein. Daher ist entsprechendes Wissen über die Situation und das Kind erforderlich, um Bindungsverhalten als solches bei einem Kind identifizieren zu können.

Tab. 2: Bindungsverhaltensweisen

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SignalverhaltenAnnäherungsverhalten

1.4       Das Explorationsverhaltenssystem

Durch das Explorationsverhaltenssystem wird die Neugier des Kindes befriedigt und dem Kind ermöglicht, Erfahrungen in der Umwelt zu sammeln. Damit stellt dieses System ein bedeutendes Motivsystem in der kindlichen Entwicklung dar. Es wird bei einem geringen Schutzbedürfnis des Kindes aktiviert und bei einem hohen Schutzbedürfnis zugunsten des Bindungssystems deaktiviert (Bowlby, 2006a). Das Explorationsverhaltenssystem wird durch die Neugier des Kindes gegenüber neuen, unbekannten und interessanten Objekten oder Personen ausgelöst. Ist der Reiz des Neuen zu hoch, löst dieser Reiz beim Kind Angst, Gefahr und damit eine Vermeidung der Gefahrenquelle aus, was wiederum das Bindungsverhaltenssystem aktiviert. Ist der Reiz zu gering, schwindet das Interesse des Kindes, bzw. es sucht nach neuen Erkundungsquellen. Eine optimale Erkundung ergibt sich damit durch einen mittleren Reiz von etwas Neuem, der weder Angst auslöst, noch Desinteresse hervorruft (Schölmerich & Lengning, 2014). Da das Bindungsverhaltenssystem und das Explorationsverhaltenssystem sich ergänzende, komplementäre Systeme darstellen, sollten Bindungsverhaltensweisen idealerweise auch immer in Abhängigkeit von Explorationsverhaltensweisen des Kindes beobachtet und analysiert werden.

1.5       Die sichere Basis – der sichere Hafen

Bei der Exploration wird die Bezugsperson vom Kind als »sichere Basis« genutzt, um die Umgebung angstfrei erkunden zu können. Die sichere Basis dient dem Kind somit einerseits als Ausgangspunkt, um die Umwelt zu erkunden (»sichere Basis«), und andererseits als Rückzugsort, wohin es sich bei Belastung und Gefahr schützend hinwenden kann (»sicherer Hafen«; image Kasten 3; Ainsworth et al., 1978). Die sichere Basis ist ein wesentliches Konzept der Bindungstheorie und insbesondere in der kindlichen Entwicklung von Bedeutung, wenn es darum geht, dem Kind neue Erfahrungen zu ermöglichen. Die Nutzung der sicheren Basis kann je nach Alter und Situation unterschiedlich sein. Sowohl im Kleinkindalter als auch im Vorschulalter kann die Nutzung z. B. mithilfe einer visuellen Rückversicherung, dem sogenannten sozialen Referenzieren, erfolgen (Lohaus & Vierhaus, 2015). Dabei nutzt das Kleinkind die affektiven Informationen des Gesichtsausdruckes der Mutter, um eine unbekannte oder unsichere Situation einzuschätzen. Signalisiert die Bezugsperson beispielsweise Freude oder Neugier, wird das Kind die Situation als ungefährlich einschätzen, und dementsprechend würde das Explorationssverhaltenssystem des Kindes aktiviert werden. Bei besorgtem oder ängstlichem Ausdruck der Bezugsperson wird das Kind hingegen von einer weiteren Exploration Abstand nehmen, und das Bindungsverhaltenssystem wird aktiviert.

Kasten 3: Die »sichere Basis« und der »sichere Hafen«

 

Die sichere Basis (secure base)

Die sichere Basis dient dem Kind bei der Exploration von Neuem und Unbekanntem als Quelle der Sicherheit, von dem aus es seine Erkundung starten kann.

 

Der sichere Hafen (secure haven)

Der sichere Hafen dient dem Kind bei aktiviertem Bindungsverhaltenssystem als Zufluchtsort in Form von Schutz, Geborgenheit und Zuspruch.

1.6       Das Fürsorgesystem

Zum Bindungssystem zählt auch das Verhalten der Bezugsperson (image Tab. 1). Das sogenannte Fürsorge- oder Pflegeverhalten der Bezugsperson steht in einem reziproken Verhältnis zum Bindungsverhalten des Kindes. Es dient dem Schutz und der Pflege des Kindes und soll damit das Überleben des Kindes garantieren (Bowlby, 2006a). Dazu zählen Verhaltensweisen wie die Zuwendung gegenüber dem Kind (emotionale und soziale Versorgung) oder das Zurückholen des Kindes, um die Nähe zum Kind wiederherzustellen. Pflegeverhalten bei der Bezugsperson wird bei einer drohenden Gefährdung des Kindes, einer zu großen Distanz oder durch das Bindungsverhalten des Kindes ausgelöst. Pflegeverhalten kann durch Verhalten und Lebenssituationen der Bezugsperson, beispielsweise Krankheit, Lebenssituationen wie Tod eines Angehörigen oder Depressionen, eingeschränkt oder sogar verhindert werden. Solche Ereignisse können die Wahrnehmung der kindlichen Signale verhindern und damit das erforderliche Pflegeverhalten der Bezugsperson einschränken (Brumariu & Kerns, 2011).

1.7       Entwicklung einer primären Bindung

Die Entwicklung einer Bindung zu einer primären Bezugsperson (Primäre Bindung) ist eng verbunden mit der körperlichen, kognitiven und sozialen Entwicklung des Kindes. Bowlby unterscheidet vier Phasen der Entwicklung einer primären Bindung.

1.             Bindungsvorphase (Orientation and signals with limited discrimination of figure)2

In der ersten Phase (null bis drei Monate) hat der Säugling noch keine oder nur geringe Fähigkeiten, Personen voneinander zu unterscheiden, und kann sich somit noch keiner spezifischen Bezugsperson zuwenden. Der Säugling orientiert sich und richtet seine Signale zunächst an alle Personen. Er differenziert zwar schon von früh an zwischen der Mutter und anderen Personen (z. B. anhand des Geruches), richtet aber sein Verhalten an alle Personen und lässt sich problemlos von unterschiedlichen Personen versorgen und pflegen. Kurze Zeit nach der Geburt ist der Säugling aber schon in der Lage, erste Differenzierungen sowohl zwischen Personen und Objekten als auch zwischen Personen rudimentär wahrzunehmen. So gelingt es ihm schon wenige Tage nach der Geburt, das Gesicht seiner Bezugsperson von anderen Gesichtern zu unterscheiden (Bartrip, Morton & de Schonen, 2001). Insbesondere bevorzugen Säuglinge Gesichter, die dem Geschlecht der Hauptbezugsperson entsprechen (Quinn et al., 2008). Das zunehmend differenzierte und individuelle Erkennen stellt eines der ersten vorbereitenden Merkmale einer Bindung dar (Bowlby, 2006a). Die ersten Lebensmonate des Säuglings sind dabei durch lange Schlaf- und kurze Wachphasen geprägt, was den kommunikativen Austausch zunächst noch begrenzt. Mit zwei bis drei Monaten werden die Wachphasen deutlich länger, das Schreien des Säuglings wird zunehmend differenzierter und damit auch kommunikativ (Rauh, 2002). Dadurch entwickelt sich auch die Fähigkeit, mit Personen durch Laute, Blicke und Mimik zu kommunizieren (ebd.). Eine besondere soziale Fähigkeit reift mit ca. 6 bis 10 Wochen heran: Der Säugling beginnt, bevorzugt bestimmte Personen anzulächeln (Lohaus & Vierhaus, 2015). Auf das Lächeln von Personen reagiert er ebenfalls mit Lächeln und tritt auf diese Weise in Interaktion mit anderen. Bis zum dritten Lebensmonat hat der Säugling erste Fähigkeiten erworben, zunehmend effektiver mit seiner Umwelt zu kommunizieren. Die zunehmende differenzierte Kommunikation mit den Bezugspersonen stellt dabei ein weiteres grundlegendes Merkmal einer entstehenden Bindung dar.

2.             Bindungsanbahnungsphase (Orientation and signals directed towards one (or more) discriminated figure(s))

Mit ca. drei Monaten erreicht der Säugling die zweite Phase (ca. 3.–6. Monat), in der die Interaktionen zunehmend auf die Bezugsperson(en) gerichtet und abgestimmt werden. Verlässt die Bezugsperson den Raum, beginnt der Säugling zum Beispiel, der Person nachzusehen, gibt aber das Suchen nach der verschwundenen Person relativ schnell auf. Zudem ist er im vierten Lebensmonat nun auch in der Lage, der Blickrichtung einer Person zu folgen. Dadurch können Bezugsperson und Kind einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus nutzen, was das gemeinsame Erkunden der Umwelt ermöglicht (geteilte Aufmerksamkeit). Der Säugling richtet seine Signale zwar schon differenziert an eine oder mehrere Bezugspersonen. Aber erst, wenn er auch entsprechende Bindungsverhaltensweisen zeigt, um die Nähe zur Bezugsperson herzustellen oder aufrechtzuerhalten, kann von einer Bindung ausgegangen werden.

3.             Bindungsphase (Maintenance of proximity to a discriminated figure by means of locomotion as well as signals)

Mit ca. sechs bis acht Monaten kann der Säugling gezielt die Nähe zur Bezugsperson aufsuchen. Verlässt die Bezugsperson den Raum, protestiert er. Er klammert sich an die Bezugsperson und sucht bei drohender Gefahr, Stress, Krankheit oder Schmerzen ihre Nähe. Verschiedene Entwicklungen bedingen dieses neue Verhalten:

a)    Mit ca. acht Monaten versteht der Säugling, dass ein Objekt auch außerhalb seines Wahrnehmungsfeldes weiter existieren kann. Dies ist eine kognitive Voraussetzung dafür, dass eine Person vermisst werden kann. In der Entwicklungspsychologie spricht man von der Objekt- bzw. Personpermanenz. Diese entwickelt sich bis zum Alter von 24 Monaten noch weiter.

b)    Mit sieben Monaten zeigt der Säugling in aller Regel erstmals Angst als eine ausdifferenzierte Emotion. Durch die zunehmende Differenzierung zwischen Bezugsperson und anderen Personen zeigt das Kind gegenüber Fremden (Fremdeln) sowie bei drohender Trennung von der Bezugsperson deutliche Anzeichen von Angst (Trennungsangst). Das Fremdeln zeigt sich beispielsweise in milder Form durch aufgerissene Augen, starres Anblicken der fremden Person mit wiederholter Blickabwendung. Die Kinder klammern sich an ihre Bezugsperson und beobachten dabei aufmerksam die fremde Person. In ausgeprägter Form zeigt sich starke Erregung in Form von Weinen, Schreien und körperlicher Versteifung (Rauh, 2002). Diese Reaktionen und Verhaltensweisen können als Anzeichen dafür interpretiert werden, dass sich beim Säugling eine Bindung zu einer Bezugsperson gebildet hat. Die Trennungsangst des Kindes wird deutlich, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt und das Kind durch Klammern, Festhalten und Protest das bevorstehende beängstigende Ereignis einer Trennung zu vermeiden versucht. Säuglinge in dieser dritten Phase begrüßen ihre primären Bezugspersonen, die nun auch als Bindungspersonen (bzw. Bindungsfiguren) bezeichnet werden können, durch differenzierte Vokalisationen, Lächeln, körperliche Erregung und Gestik wie das Armeausstrecken oder das Armehochheben (image Tab. 2).

c)    Auch die Motorik des Kindes hat sich so weit entwickelt, dass der Säugling nun in der Lage ist, auch durch eigene Anstrengung die Nähe zur Bezugsperson herzustellen. Mit ca. acht Monaten beginnen manche Säuglinge beispielsweise damit, sich durch Krabbeln fortzubewegen. Diese neue Errungenschaft wird dann vor allem dafür genutzt, die Umwelt zu erkunden. Die Mobilität des Kindes bedeutet aber auch eine räumliche Distanz zur Bezugsperson, die aufseiten des Kindes das Bindungsverhaltenssystem und aufseiten der Mutter das Fürsorgeverhaltenssystem aktivieren kann. Die Bezugsperson wird von nun an als »sichere Basis« zur Erkundung der Umwelt und als »sicherer Hafen« bei Belastung genutzt.

In der dritten Phase verfestigt sich das »individuelle Band« an die Bezugsperson. Das Kind lernt, das Verhalten der Mutter einzuschätzen und aufgrund des Fürsorgeverhaltens sein eigenes Verhalten zu organisieren und anzupassen. Dies geschieht in einem wechselseitigen Austausch.

4.             Zielkorrigierte Partnerschaft (ab ca. drei Jahren; Formation of a goal-corrected partnership)

Seine bisherigen Erfahrungen und die kognitive Entwicklung führen nun dazu, dass das Kind die Intentionen und Pläne, die Gefühle und Motive der Mutter in der Beziehung nachvollziehen kann und seine eigenen Motive und sein eigenes Verhalten darauf abstimmt. Mit den ab etwa dem zehnten Lebensmonat beginnenden sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten ist das Kind in dieser vierten Phase auch sprachlich in der Lage, die Motive der Mutter so zu verändern und so zu manipulieren, dass diese den eigenen Wünschen entsprechen. Oder wie es K. Grossmann und Grossmann (2014) ausdrücken:

Da sie (die Kinder) jetzt die Absichten und Ziele der Bezugsperson in ihr Denken und Planen einbeziehen, spricht man von einer entstehenden ›zielkorrigierten Partnerschaft‹. (S. 79)

In der vierten Phase können auftretende Konflikte, die unterschiedlichen Motiven und Zielen des Kindes und der Bezugsperson geschuldet sind, nun durch eine wechselseitige Anpassung dieser Motive und Ziele auch durch das Kind gelöst werden (Bretherton & Munholland, 2008). Möglich wird dies dadurch, dass Kinder nun auch beginnen zu verstehen, dass andere Personen individuelle Überzeugungen, Wünsche und Bedürfnisse haben und nach diesen ihr Handeln ausrichten. In der Entwicklungspsychologie spricht man von einer Theory of Mind3. Diese ist bei den meisten Kindern mit ca. vier Jahren nachweisbar (Smith, Cowie & Blades, 2011).

Auch wenn sich während der Bindungsentwicklung viele Variationen zeigen, tritt erst in der dritten Phase eine qualitative Veränderung des kindlichen Verhaltens auf, das von einer beginnenden Bindung zeugt. Mit dieser vierten Phase der Bindungsentwicklung ist die Entwicklung von Bindungen aber noch nicht beendet. Wie Waters und Cummings (2000) beschreiben, entwickelt sich auch eine Feinabstimmung von Bezugsperson und Kind: Im Laufe der Jahre lernen Kind und Bezugsperson, eigene Ziele, Motive und Bedürfnisse gegenseitig besser abzustimmen. Aufgrund neu erworbener Kompetenzen, Bedürfnisse und auch der sich ergebenden Entwicklungsaufgaben steht mit zunehmendem Alter auch die Bindung von Kind und Bezugsperson vor neuen Herausforderungen.

1.8       Die Bindungsqualität

Die Bindung eines Kindes kann sich in Abhängigkeit von den Wechselwirkungen zwischen mütterlichem Fürsorgeverhalten und kindlichen Eigenschaften und Fähigkeiten in unterschiedlichen Qualitäten entwickeln. Man spricht dabei von Bindungsqualitäten, Bindungstypen oder auch von Bindungsorganisationen (image Kasten 4, S. 55). Aufgrund der verschiedenen Qualitäten werden verschiedene Typen unterschieden, die jeweils einer prototypischen Organisation von Verhalten entsprechen, wenn das Kind auf Schutz der Bezugsperson angewiesen ist, also einer Situation, in der das Bindungssystem aktiviert ist. Dieses Verhalten ist in Abhängigkeit der Erfahrung mit einer bestimmten Bezugsperson individuell organisiert: Je nach Bezugsperson kann ein Kind unterschiedliche Bindungsstrategien entwickeln, die sich einem spezifischen Bindungstyp zuordnen lassen. Eine Bindungsstrategie zeigt sich auf der Verhaltensebene darin, wie sich ein Kind aufgrund seiner Bindungsqualität verhält, um beispielsweise Schutz bei Belastung zu erhalten (image Kasten 1). Die Organisation des kindlichen Verhaltens weist auf eine äußerst systematische und intelligente Anpassung des Kindes an den vorhandenen Kontext, sprich dem mütterlichen oder auch väterlichen Fürsorgeverhalten hin. Das Kind hat aufgrund des Fürsorgeverhaltens der Bezugsperson gelernt, wie es sich bei aktiviertem Bindungssystem am besten ihr gegenüber verhält, um Schutz zu erhalten bzw. den Stress, der durch die wahrgenommene Gefahr ausgelöst wurde, zu regulieren. Aussagen, dass eine Bindungsqualität damit schlechter oder besser ist, sind daher zunächst einmal unzutreffend. Jede Bindungsqualität stellt die optimale Verhaltensorganisation eines Kindes hinsichtlich der gegebenen Umweltbedingungen dar. Unterschiedliche Bindungstypen können aber durchaus zu unterschiedlichen Entwicklungsresultaten führen bzw. mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Kompetenzen assoziiert sein (image Kap. 1.8.8).

1.8.1     Messung von Bindungsqualität: die Fremde-Situation

Die Erfassung der Bindungsqualität erfolgt in der frühen Kindheit vom ca. 12. bis ca. 20. Monat mithilfe der sogenannten Fremden-Situation (FS, Strange Situation; Ainsworth & Wittig, 1969). In der FS wird das Bindungsverhaltenssystem des Kindes durch zwei aufeinanderfolgende Trennungssituationen aktiviert, wobei die Belastung für das Kind mit jeder Trennung intensiviert wird (image Tab. 3). Das diagnostische Verfahren FS besteht insgesamt aus acht Episoden, wobei die ersten zwei Episoden der Eingewöhnung des Kindes und der Bezugsperson dienen (Episode 1 und 2). In der dritten Episode betritt eine (weibliche) nicht bekannte Person (Fremde) den Raum, die sich zunächst mit der Bezugsperson unterhält und anschließend den Kontakt zum Kind durch ein gemeinsames Spiel aufsucht (Episode 3). Am Ende der dritten Episode verlässt die Mutter den Raum, und die vierte Episode, die erste Trennungssituation, beginnt. Die fremde Person dient in der ersten Trennungssituation dazu, dass das Kind nicht alleine im Raum zurückbleibt. Dadurch kann sichergestellt werden, dass das Kind bei der Wiedervereinigungssituation nicht die Nähe zu irgendeiner Person aufgrund der erfahrenen Einsamkeit benötigt, sondern die Nähe zur Bezugsperson, zu der die Bindungsqualität erfasst werden soll (Episode 4). Nach drei Minuten oder, wenn das Kind deutliche Anzeichen von Stress aufzeigt, bereits früher, kommt die Mutter wieder in das Zimmer (1. Wiedervereinigungssituation, Episode 5). Das Weinen des Kindes in der Trennungssituation ist dabei noch kein Hinweis auf den Bindungstyp. Erst die Wiedervereinigungssituationen ergeben Hinweise auf das Bindungsverhalten des Kindes. Während die Mutter den Raum betritt, verlässt die fremde Person leise den Raum. Nach weiteren drei Minuten verlässt die Mutter wiederum den Raum (2. Trennungssituation, Episode 6). Die zweite Trennungssituation dauert wiederum drei Minuten. Das Kind ist nun alleine im Raum. Weist das Kind deutlichen Stress auf (z. B. durch Weinen), kann auch die zweite Trennungsphase verkürzt werden. Anschließend kehrt die fremde Person zurück in das Zimmer und versucht, das Kind bei Bedarf zu trösten oder mit ihm zu spielen. Auch hier geht es nicht darum, das Kind durch die fremde Person zu ängstigen, sondern darum sicherzustellen, dass sich das Verhalten ausschließlich auf eine spezifische Bezugsperson bezieht und nicht nur als Reaktion auf das Allein-gelassen-Werden zu interpretieren ist (Episode 7). Nach weiteren drei Minuten erscheint dann die Mutter für die zweite Wiedervereinigungssituation (2. Wiedervereinigungssituation, Episode 8). Das diagnostische Verfahren dauert ca. 20 Minuten. Entscheidend für die Beurteilung der Bindungsqualität ist das Verhalten des Kindes in den beiden Wiedervereinigungssituationen (Episode 5 und 8), wenn die Mutter das Zimmer wieder betritt. Daraus lässt sich schließen, welchem Bindungstyp das Kind zugeordnet werden kann. Beobachtet werden dabei das unmittelbare Begrüßungsverhalten sowie das Verhalten, bis sich das Kind von dem entstandenen Stress erholt hat. Dabei wird das kindliche Verhalten hinsichtlich der Suche nach Nähe, der Intensität der Kontakterhaltung, des Vermeidungsverhaltens und hinsichtlich des Kontaktwiderstands gegenüber der Bezugsperson jeweils anhand einer siebenstufigen Skala bewertet, mit denen die Intensität des kindlichen Verhaltens detailliert beschrieben ist (Ainsworth et al., 1978).

Tab. 3: Episoden der Fremden Situation nach Ainsworth et al. (1978)

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Nr.EpisodeAnwesende PersonEpisodenbeschreibung

1.8.2     Die Bindungstypen

Aus der Beobachtung des kindlichen Verhaltens in den beiden Wiedervereinigungssituationen der FS lassen sich drei basale/prototypische Bindungsorganisationen unterscheiden: die unsicher-vermeidende Bindung (Typ A), die sichere Bindung (Typ B) und die unsicher-ambivalente Bindung (Typ C). In den 1980er Jahren wurde noch ein weiterer Bindungstyp gefunden: die desorganisierte oder hochunsichere Bindung (Typ D). Die drei Bindungstypen A, B und C lassen sich anhand der Dimensionen Bindungssicherheit (unsicher bis sicher) und Aktivierung der Bindungsverhaltensweisen (Deaktivierung bis Hyperaktivierung) in acht Subtypen differenzieren (image Abb. 1): unsichere (Subtypen A und C) und sichere Bindungstypen (Subtypen B). Der Subtyp B3 weist die höchste Bindungssicherheit und eine angepasste Aktivierung des Bindungsverhaltens auf. Die unsicheren Subtypen A1–A2 verweisen auf eine Bindungsunsicherheit und eine Deaktivierung des Bindungsverhaltens, während die Subtypen C1–C2 ebenfalls als unsicher gelten, aber eine Hyperaktivierung des Bindungsverhaltens aufweisen. Nachfolgend werden die drei basalen/prototypischen Bindungstypen, deren Subtypen sowie die desorganisierte Bindung anhand des Auftretens in der FS beschrieben.

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Abb. 1: Die Bindungsqualitäten im ersten Lebensjahr nach Grossmann und Grossmann (2014)

Der unsicher-vermeidende Bindungstyp (Typ A)

Verhalten des Kindes in Trennungs- und Wiedervereinigungssituationen

Bei Wiedereintreten der Mutter (Wiedervereinigungssituation) verhält sich das Kind mit einer unsicher-vermeidenden Bindungsorganisation zurückhaltend, begrüßt die Mutter nicht und setzt seine Aktivitäten fort (Waters, 2002). Es zeigt kein offenes Bindungsverhalten, versucht, mit der Stresssituation alleine fertig zu werden, und nutzt die Bezugsperson nicht als sicheren Hafen. In der Trennungssituation zeigt ein Kind mit einer unsicher-vermeidenden Bindungsorganisation kaum oder keinen Kummer. Es behandelt Bezugsperson und Fremde fast gleich und wirkt in seinem Verhalten selbstständig und unabhängig. Durch sein selbstständig wirkendes Verhalten besteht der Eindruck, dass dieses Kind die Situation ohne Bezugsperson stressfrei bestehen könnte. Ruft man sich das Alter und die entwicklungsbedingten Fähigkeiten eines zwölfmonatigen Kindes vor Augen, wird aber schnell deutlich, dass ein Kind in einer solchen Situation Stress erfahren muss. Kinder sind im Alter von zwölf Monaten bei Belastung auf den Schutz, den Zuspruch und die Regulation der eigenen Emotionen durch die Bezugsperson angewiesen. Auch wenn das Kind nach außen hin keinen offensichtlichen Stress aufweist und sehr unabhängig und »stark« wirkt, lässt sich die Belastung anhand der physiologischen Reaktionen des Kindes nachweisen. So zeigen sich bei einem Kind des Typs A in der FS ein erhöhter Wert des Stresshormons Cortisol, eine Erhöhung der Herzfrequenz, des Blutdrucks und eine Veränderung des Hautwiderstandes (Spangler, 2015).

Die unsicher-vermeidende Bindung lässt sich in zwei weitere Subtypen differenzieren. Subtyp A1 zeichnet sich durch eine sichtbar auffällige und aktive Vermeidung der Bezugsperson aus, während Subtyp A2 aus einem eher gemischten Verhalten besteht (z. B. Vermeidung mit der Tendenz, die Mutter zu begrüßen).

Mögliche Erklärungen für das Verhalten

Ein Kind, das in der FS als vermeidend klassifiziert wird, hat gegenüber seiner Bezugsperson die Erfahrung gemacht, dass es mit der Belastung alleine klarkommen muss. Wenn es Trost, Schutz oder Zuneigung benötigte, hat die Bezugsperson beispielsweise die Belastung bagatellisiert, die kindliche Suche nach Nähe ignoriert oder zurückgewiesen. Oder das Kind hat auf eine andere Weise gelernt, dass von ihm erwartet wird, bei Belastung nicht die Nähe zur Bezugsperson aufzusuchen. Auch wenn die Bezugsperson besonders die Autonomie des Kindes fördern möchte, können die kindlichen Bedürfnisse nach Nähe und Schutz abgewiesen werden. Ein Kind mit einer unsicheren Bindung kann also gelernt haben, seine Emotionen und Bindungsbedürfnisse zu unterdrücken. Anstatt die Bezugsperson bei Stress aufzusuchen, versucht es, sich durch die Exploration mit Objekten zu beschäftigen und abzulenken. Gegenüber dem mütterlichen Verhalten ist dies für das Kind zunächst eine sehr intelligente und adaptive Lösung, um mit Belastungssituationen umzugehen. In der weiteren kindlichen Entwicklung wird dann aber deutlich, dass die fehlende Integration der eigenen erlebten Emotionen und der autonome Umgang mit der Belastung mit vielen Entwicklungsrisiken verbunden sein können.

Der sichere Bindungstyp (Typ B)

Verhalten in Trennungs- und Wiedervereinigungssituationen

Ein Kind, dessen Bindungsverhaltensorganisation als sicher eingestuft wurde, begrüßt seine Bezugsperson beim Eintritt in den Raum (Wiedervereinigungssituation) mit Freude (Waters, 2002). Die Begrüßungsreaktion ist deutlich zu erkennen. Es sucht aktiv die Nähe zur Bezugsperson und versucht, den Körperkontakt zur Bezugsperson aufrechtzuerhalten. Beim Absetzen protestiert es oder zeigt, dass es von der Bezugsperson weiter gehalten werden möchte. Bei einem als sicher gebunden eingestuften Kind zeigt sich deutlich das Interesse an der Mutter. Der Kontakt zur Mutter ist für es bedeutsamer als zur fremden Person. In der Trennungssituation kann ein solches Kind deutlichen Stress in Form von Weinen, Schreien und Protest zeigen. Für eine Klassifikation als Bindungstyp B ist dies aber keine hinreichende Bedingung, denn ein sicher gebundenes Kind kann in der Trennungssituation auch neutraleres Verhalten zeigen.

War in einer der beiden Trennungssituationen der FS-Stress in Form von Weinen, Schreien oder Wimmern zu beobachten, beruhigt sich das Kind in der Wiedervereinigung mit der Bezugsperson wieder recht schnell. Ein sicher gebundenes Kind kann seine Mutter effektiv nutzen, um den entstandenen Stress zu regulieren. Daher ist es auch schnell wieder in der Lage, sich von der Bezugsperson zu lösen, um das Spielzeug weiter zu erkunden.

Bei den sicher gebundenen Kindern lassen sich vier Subtypen unterscheiden, wobei die Subtypen B1 und B2 eher durch ein mäßigeres Bindungsverhalten und der Subtyp B4 eher durch ein ausgeprägtes Bindungsverhalten auffällt. Der Subtyp B3 gilt als der eigentlich sichere Bindungstyp.

Mögliche Erklärungen