2Pathisches, das uns widerfährt, erfordert Antworten, duldet aber kein endgültiges Schlußwort. Platonische Dialoge sind Zwischenreden, deren Ränder, Brüche und Abgründe sich in keiner Lehre resümieren lassen, wie Bernhard Waldenfels in seinem Platon-Buch zeigt. Dass die leibhaftige Praxis der Rede ihren Gehalt übersteigt, zeigt sich in den Motiven der sokratischen Geburtshilfe, der Polyphonie der Rede, der Verführung durch Worte, der Käuflichkeit der Lehre, der Triebkraft des Eros, der Heilung durch Besprechung, den Einbrüchen der Gewalt, der Gastlichkeit und den Tieren als Spiegel- und Zerrbildern des Menschen. Das Fremde ist ein Widerhall der sokratischen Atopie.

Bernhard Waldenfels ist emeritierter Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt Hyperphänomene (stw 2047) und Sozialität und Alterität (stw 2137).

3Bernhard Waldenfels

Platon

Zwischen Logos und Pathos

Suhrkamp

4Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2218

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

eISBN 978-3-978-75158-9

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorwort

I. Platons Dialogik, Bachtins Polyphonie und Nietzsches Polymachie

1. An den Rändern des Dialogs

2. Redner und Richter in einer Person

3. Dialog als versteckter Monolog

4. Der antilogische Aufstand

5. Polyphonie in Bachtins Romantheorie und in Dostojewskis Romanen

6. Nietzsches Polymachie

7. Die umstrittene Instanz des Dritten

II. Höhlengänge und Blickwanderungen

1. Zwei Welten?

2. Übergänge und Zwischentöne

3. Blickraum und Blickverkörperung

4. Klangraum

5. Blickwende

6. Befreiung der Befreier

7. Augenblick und Blickverzögerung

8. Blickverwandlung

III. Selbstbezüglichkeiten

1. Selbst und Selbes

2. Selbsterkenntnis

3. Selbstwissen und Sichwissen

4. Selbstbeherrschung

5. Selbstbewegung

6. Älter und jünger als man selbst

7. Göttlicher Selbstaufweis

IV. Der Grundton des Begehrens und die Macht des Eros

1. Notwendige und überquellende Bedürfnisse

2. Die Trias des Begehrens

3. Das Gute als Gipfel des Begehrens

4. Rätsel der Freundschaft

5. Wirkmacht des Eros

6. Fremde Züge des Eros

V. Lebensheilkunst

1. Das Auge als Leitorgan

2. Ganzheitliche Heilkunst

3. Die Quadriga der Künste

4. Krankheit und Gesundheit in der Polis

5. Natur als Gesundbrunnen?

6. Tödliche und todeswürdige Krankheiten

7. Heilbarkeit und Unheilbarkeit

VI. Die Rolle von Geld und Gold und die Vernunft als bare Münze

1. Wider die ethische Falschmünzerei

2. Das rechtschaffene Vermögen

3. Tauschhandel als Notbehelf

4. Göttliches und sterbliches Gold

5. Gezügeltes und ungezügeltes Gewinnstreben

6. Geld als Symptom psychischer und politischer Entartung

7. Sokratische Armut

8. Bezahlbares und Unbezahlbares

VII. Gefährdungen des Lebens: Angst, Mut und Hoffnung

1. Widerfahrnisse, Verwirrungen und Erschütterungen

2. Am Dreiweg

3. Angstbewältigung und Feindbekämpfung durch Tapferkeit

4. Das Muthafte in der Psyche und in der Polis

5. Mut, Zorn und Sanftmut

6. Zwischen Hoffnung und Befürchtung

7. Besprechen, Besingen und Bezaubern

8. Besprechen der Todesangst

9. Schwankende Hoffnung

VIII. Philosophisches Bestiarium

1. Mensch und Tier

2. Der Mensch im Wettbewerb mit den Tieren

3. Wilde und zahme Tiere

4. Das Tier im Schatten des Menschen

5. Rangordnung der Tiere

6. Tierisches im Menschen

7. Verwandlungen von Mensch und Tier

8. Hund und Pferd als edle Tiere

9. Geflügelte und beflügelte Wesen

10. Wilde Zoologie

IX. Fremdheit auf Griechisch

1. Vieldeutigkeit des Fremden

2. Fremdheitsformen im griechischen Denken

3. Relative Fremdheit

4. Radikale Fremdheit

Literatur

Autorenregister

Sachregister

9Vorwort

Nehmen wir Platon beim Wort, wenn er im Theaitet durch den Mund von Sokrates verkünden läßt, das Erstaunen sei der Ursprung der Philosophie, so bedeutet dies, daß Philosophen nicht kraft eigenen Entschlusses einen Anfang machen. Der Anfang ist kein Sagen oder Tun, vielmehr ein πάθος, ein Widerfahrnis, also auch kein bloßer Zustand, wie vielfach in Übersetzungen zu lesen ist. Es beginnt, damit, daß uns etwas anrührt, trifft, affiziert. Diese Urszene erweist sich als nicht ganz ungefährlich. Theaitet bekennt von sich, daß ihm schwarz vor Augen und schwindelig wird (155c). Wer so staunt, stolpert gleichsam in die Philosophie hinein, ähnlich wie Thales, der den Blick nach oben hin zu den Sternen richtet und dabei in den Brunnen stürzt, zum Gelächter der thrakischen Magd. Diese gilt zwar nicht als gedankenvoll, aber doch als ἐμμελής und χαρίεσσα, sie hat ihr eigenes Melos und ihre eigene Charis, ihren eigenen Ton und ihren eigenen Reiz (174a). Die fremdländische Magd antwortet auf das Mißgeschick des griechischen Gelehrten nicht mit Argumenten oder Belehrungen, aber auch nicht mit Erstaunen, sondern mit einem Ausdruck belustigten Unverständnisses für dessen Alltagsferne. Nicht Argumente stoßen aufeinander, sondern Welten, die von Platon in einem Kernstück der Politeia als das Innen und das Außen einer Höhle beschrieben werden. Wenn nun Sokrates als Dritter von dieser Urszene berichtet, so läßt er nicht seine gewohnte Begriffskunst spielen, sondern wechselt über zum Entwurf einer Genealogie, die dem Logos der philosophischen Rede eine Herkunft zuschreibt. Die übliche Was-Frage verwandelt sich im Anblick des Erstaunlichen in eine Frage nach dem Woher. Die Genealogie legt mythische Kleider an, indem sie das Verwunderliche (θαῦμα) mit dem Meeresgott Thaumas in Verbindung bringt; dieser wird sekundiert von seiner Tochter, der Götterbotin Iris, die in ihrem Namen den Regenbogen (ἶρις) als kosmisches Wappenzeichen mit sich führt. Diese knappe genealogische Skizze nähert sich unterderhand einer dichten Beschreibung, wie wir sie aus der Ethnographie kennen. Die Epistemologie, die mit der Leitfrage des Dialogs, mit der Frage nach dem Wesen der Episteme eine reflexive Form annimmt, stößt in der Herkunftsfrage an ihre innere Grenze.

10Die Passage aus dem Theaitet wurde oft genug zitiert und kommentiert, aber sie wird oft auch als bloßes Proömium abgetan oder als Anekdote an den Rand gedrängt. Verschämt entledigt sich der Logos seiner origo pudenda, seiner zweifelhaften Herkunft. Doch nimmt man Platons Herkunftsgeschichte beim Wort, so spricht daraus die Kunde von einer Geburt des Logos aus dem Pathos. Diese Geburt ist wie die leibliche Geburt mit Geburtswehen verbunden und bedarf der Geburtshelfer (148e-151d). Sokrates präsentiert sich selbst als Sohn einer berühmten Hebamme, der mit seiner Maieutik zur Geburt von Erkenntnissen beiträgt, aber zugleich deren Tauglichkeit überprüft. In ihm begegnen wir einer Schwellenfigur, die weder diesseits noch jenseits der Erkenntnisschwelle Fuß faßt. Er bezeichnet sich selbst als den wunderlichsten, wörtlich: den ortlosesten unter allen Menschen, der alle, die sich auf ihn einlassen, in Verwirrung stürzt (149a). Das Pathos, aus dem das Denken erwächst, wirkt ansteckend: Affektion geht in Infektion über. Der Gedanke, auch die Philosophie, die später als philosophia perennis gepriesen wird, unterliege einer Genealogie, hat in der Gegenwartsphilosophie neuen Anklang gefunden, so wenn Nietzsche sich um eine Genealogie der Moral, Husserl sich um eine Genealogie der Logik und Foucault sich um eine Genealogie historischer Formationen bemüht. Wenn diese Versuche bei aller Verschiedenartigkeit etwas gemeinsam haben, so ist dies, die Entschlossenheit, Geltung und Genesis der Ideen weder miteinander zu vermengen noch voneinander abzulösen.

Doch in dem Projekt einer solchen Genealogie steckt ein Paradox. Einerseits ist es so, daß der Logos eine Herkunft hat; andererseits wird diese Herkunft selbst einem Logos anvertraut. Genealogie hieße dann Geburt des Logos aus dem Pathos im Medium des Logos. Handelt es sich also um eine Art Urzeugung? Wenn etwas dieser Autologie, die auch als Autonomie auftritt und die heute in der Autopoiese technologische Züge annimmt, widersteht und den Stromkreis des Selben unterbricht, so scheint dies eben das Pathos als ein Widerfahrnis zu sein, das den Logos hervorruft, hervorlockt, bevor es ihm seinerseits gehorcht, unterliegt und widersteht. Das Pathos kommt nicht einfach früher, sondern zu früh. Ein Pathos, das erstaunlich, aber auch erschreckend auftritt, nimmt uns das Wort aus dem Mund; es bewirkt, daß uns mit einem Male Hören und Sehen vergehen und der Lebensatem stockt. Das Kuriose und 11Merkwürdige, das unsere Sinne reizt, entpuppt sich als Vorbote eines Erstaunlichen und Erschreckenden, das uns aus der Fassung bringt. Ziehen wir dazu in Betracht, daß diese Herkunftsgeschichte im Dialog erkundet und erzählt wird, so tritt sie ein in das wechselseitige Geben und Nehmen des Logos, das als Rechenschaftsabgabe den Rhythmus des platonischen Dialogs prägt. Ziehen wir weiterhin in Betracht, daß einer Äußerung, die über das Gewohnte und Normale hinausgeht, der pathische Ursprung anhaftet wie ein Geburtsfleck, so bedeutet dies, daß man gibt, was man nicht hat, so wie es von alters her der Liebe nachgesagt wird, in der sich das Selbst erneuert. Hinter den Satz, der Mensch sei ein Lebewesen, das einen Logos hat, tritt ein Fragezeichen. Nicht, als hätte umgekehrt der Logos den Menschen, vielmehr wird das Haben durch ein Erleiden oder Widerfahren unterhöhlt. Der Logos, der dem entspricht, was uns im Pathos widerfährt, ist kein aussagender (apophantischer oder prädikativer), sondern ein antwortender (apokritischer oder responsiver) Logos. Dies ist ein Logos, der nicht primär über etwas, sondern von anderem her spricht und auf etwas antwortet. Es ist dies ein Logos, der wie jede neuartige Antwort aus der Fremde kommt und sich nicht im Eigenen und Häuslichen aufhält. Als Antwort hat jedes Wort etwas von einem Fremdwort.

Doch der Logos neigt dazu, den Vorsprung des Pathos einzuholen, in dem er sich das Fremde aneignet und es beherrscht, indem er das Pathos logifiziert und hegemonisiert. Das Verhältnis zwischen Logos und Pathos erweist sich als zwiespältig. Einerseits neigt der Logos dazu, das Pathische als das Alogische, also als einen Mangel an Vernunft abzutun oder es zu bekämpfen als das Antilogische, das sich der Vernunft widersetzt. Andererseits zeigt sich jedoch, daß das Pathische als Prälogisches dem Wort vorauseilt, welches es hervorruft, und daß es als Heterologisches von der normalen Rede abweicht, als Hyperlogisches über das Wort hinausgeht. Der Gefahr, daß das Pathische in eine Schwärmerei ausartet, die sich des Logos zu entledigen sucht, widersetzt sich die Tatsache, daß der Logos in Form der Antwort über sich selbst hinausweist. Die Erfahrung des Erstaunens läßt sich mit Husserl begreifen als »noch stumme Erfahrung, die […] erst zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen ist« (Hua I, 77). Husserl, der wie manch anderer unsere Platon-Lektüre aus der Ferne begleiten wird, erneuert den Appell, der bei Platon von den »Sachen selbst (αὐτὰ τὰ πράγματα)« aus12geht, indem er sich nach eidetischen Anfängen einer genetischen Phänomenologie zuwendet, die mehr und mehr dem Pathischen und Passiven Raum gibt. Dies hat zur Folge, daß sich bei Husserl teilweise ähnliche Fragen stellen wie schon bei Platon.

Wie aber sieht es bei Platon selbst aus? Wie bereits angedeutet, geht unsere Lektüre von einem zwiespältigen Eindruck aus. Einerseits herrscht die Tendenz, das Pathos einer Ordnung des Logos zu unterwerfen, ausgehend von Richtmaßen wie dem Ganzen, dem Einen und dem Guten als dem Ersten und Letzten alles Strebens und gipfelnd in einer Ideenlehre. Andererseits stoßen wir immer wieder auf Momente des Überschüssigen und Abweichenden, wie sie im Begehren, im Eros, im Schönen, im Göttlichen, aber auch in der Gewalt hervorbrechen. Immerzu kommt etwas in die Quere, das im Ganzen nicht aufgeht, das sich nicht im Ganzen aufheben, aber auch nicht daraus tilgen läßt. Daraus erwächst nicht nur eine permanente Unruhe, es kommt auch zu kritischen Situationen, in denen die Ordnung auf dem Spiel steht. Das Faktum der Ordnung ist selbst nicht Teil der Ordnung; die gesuchte Ordnung ist nicht souverän. Somit tritt der teleologischen und holistischen eine hyperbolische Lesart gegenüber, die in allen Phänomenen Spuren eines Hyperphänomens entdeckt. Alles, was ist, ist mehr, als es ist. Dieses Mehr entspricht einer Ordnung, die nicht in sich selbst ruht, sondern Momente des Außerordentlichen und Fremdartigen aus sich entläßt und in sich einläßt. Dies entspricht den Voraussetzungen einer responsiv, pathisch und hyperbolisch angelegten Phänomenologie, die ihrerseits gewisse platonische Züge aufweist, ohne sich zu einem Platonismus zu versteigen oder zu verfestigen. Momente davon werden wir einblenden, wann immer die Sachen selbst es nahelegen.[1]

Eine hyperbolische Lesart, die in den Windungen und an den Bruchstellen der Texte Überschüsse und Übergänge ausfindig macht, widersetzt sich einer rein immanenten Auslegung, aber auch einer rein immanenten Kritik. Sie entspricht der linguistisch erprobten Differenz von Sagen und Gesagtem, von λέγειν und 13λεγόμενα, von dire und dit, die sich in bestimmten Rede- und Schreibweisen der λέξις niederschlägt und die »Realität des Diskurses« durchgehend prägt. Besagte Differenz läßt sich auch als Differenz von Schreiben und Geschriebenem, γράφειν und γράμματα, von écrire und écrit fassen. Doch die Differenz von performativem, inkorporiertem Ereignis und syntaktischen Formen, semantischen Gehalten und pragmatischen Regeln, auf die es uns in erster Linie ankommt, steht quer zum dem vielfältig erforschten Kontrast von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Was diesen Kontrast angeht, so plädiere ich für einen »Chiasmus von Wort und Schrift«, der zwischen Anteilen des Mündlichen und Schriftlichen zu unterscheiden erlaubt, aber eine säuberliche Abgrenzung zweier Stufen oder Phasen der Oralität und Skripturalität ausschließt. Was nun Platons Dialoge angeht, so hat die Auslegung mit zwei Extremen zu kämpfen. Einerseits gibt es eine Tendenz hin zum Gesagten ohne Sagen, die sich vorwiegend auf Wort- und Begriffsanalysen und Argumente verlegt und das Ereignis des Sagens und Schreibens bis hin zum bloß Faktischen ausdünnt. Was so zu kurz kommt, sind der leibliche Ausdruck, affektive Ausbrüche, szenische Arrangements, aber auch Zaungäste wie Frauen, Kinder und Tiere, sperrige Phänomene wie Krieg und Gewalt oder die Anziehungs- und Verführungskraft der Ideen. Was dabei herausspringt, ist eine gereinigte Form von Platonismus, gleich ob in geschriebener oder in ungeschriebener Form. Andererseits gibt es eine Tendenz hin zu einem Sagen ohne Gesagtes oder einem Ungesagten abseits des Gesagten, das eigenmächtige Ausleger gern als Alibi nutzen. Einer existentiellen oder gestischen Lesart dient der Text als Sprungbrett. Was unsere hyperbolische Lesart im Sinn hat, ist statt dessen ein Überschuß des Sagens und des Zu-Sagenden im Gesagten, ein Überschuß, der im Gesagten angezeigt, aber nicht eigens ausgesagt wird und dessen Realisierung auf die Sprache des Körpers und der Dinge, auf Gesprächsszenen und Gesprächsrahmen, auf Symbole und Rituale, auf Techniken und eben auch auf Schrift angewiesen ist. Dies umfaßt vieles von dem, was in den platonischen Dialogen zwischendurch auftaucht, aber vielfach als Beiwerk abgetan wird. Es kommt so zu einem Platonismus fragwürdiger Art, der sich als Werk ohne Beiwerk, als ἔργον ohne πάρεργον kennzeichnen ließe. Als Leser glauben wir vorweg zu wissen, was Hauptsache ist und was Nebensache. Daß umgekehrt die Fixierung auf das Beiwerk ins Verspielte 14und Beliebige ausarten kann, sei zugegeben. Die platonische Rede vom »Spiel als des Ernstes Bruder« (6. Brief, 323d) öffnet dagegen Raum für Seitenwege, abseits eines vorgeblichen Königswegs oder einer Heerstraße der Vernunft.

Die Einbettung des Gesagten und Geschriebenen in den Prozeß des Sagens und in das Gewebe der Texte öffnet Schleusen für eine Fülle von Kommentaren, die unentbehrlich sind, aber Gefahr laufen, die Pointe des Gesagten und Gedachten durch eine Überfülle von Umständen, Anspielungen und Textverweisen zu entschärfen. Die historische Gelehrsamkeit des 19. Jahrhunderts erzeugte als Nebeneffekt die Gefahr, daß das, worum es in den Dialogtexten geht, unter einer historistischen Überwucherung verschwindet. Wilhelm Windelband beschloß seine in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts erschienene Geschichte der neueren Philosophie in sehnsüchtiger Erinnerung an »das Bild jener goldenen Tage, in denen auch bei uns, wie einst in Hellas, die Wahrheit mit dem Lichte der Schönheit strahlte«. Kierkegaard und Nietzsche sind gegen eine Schwächung sachlicher Ansprüche und personaler Ansprechbarkeit zeitig ins Feld gezogen, Husserl sprach von bloßen Tatsachenwissenschaften, die »bloße Tatsachenmenschen« hervorbringen. In unserer Zeit droht eher eine kulturalistische Zerfaserung dessen, worum es geht. Man kann die Texte Platons als kulturell und interkulturell vernetzte Dokumente und Segmente behandeln und wird auf diese Weise vieles zutage fördern, das nur zwischen den Zeilen steht. Doch würde man dabei stehenbleiben, so würde man Gefahr laufen, alles Extraordinäre, Exzessive und Verquere einzuebnen; man würde die »großen Erzählungen« durch kleine ersetzen und von Museen zu Archiven oder Kulturdatenbänken überwechseln. Demgegenüber widmet eine hyperbolische Lesart sich dem Außerordentlichen im Ordentlichen, dem die Erfahrung ihr Relief und das Leben seinen Elan verdankt. Um nochmals auf unser Ausgangsmotiv zurückzukommen, das Pathos des Erstaunens lebt nicht außerhalb von Geschichte, Kultur, Wissenschaft oder Alltag, aber es erzeugt Momente des Transhistorischen, Transkulturellen und Außeralltäglichen. Es stellt immer wieder den Gang der Geschichte, die Errungenschaften der Kultur und den Common sense in Frage, so wie Sokrates die Überzeugungen seiner Mitbürger in Frage stellte. So unterliegt jede gründliche Lektüre eines philosophischen Textes einem Balanceakt. Auf die Fülle eines historisch, 15philologisch und interdisziplinär gewonnenen Hintergrundwissens zu verzichten hieße so tun, als stünden Lesende dem Autor von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Doch dies kann uns nicht davon abhalten, unser vorzügliches Augenmerk auf Fragen zu richten wie: Wovon werden die Figuren in Platons Dialogen angesprochen, wodurch fühlen sie sich in ihrem Denken und Handeln beunruhigt, wie antworten sie darauf, wie weichen sie den Antworten aus, wohinter verstecken sie sich? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Logos und Pathos? Was bedeutet dies für uns Leser? Der Spalt zwischen Pathos und Response wäre der Ort, an dem Einfälle kommen, an dem etwas zur Sprache kommt und nicht nur Gesagtes wiederholt oder endlos variiert wird. Wenn sich im Denken etwas wiederholt, so ist es das Unwiederholbare, das zu denken gibt.

Unser Buchtext legt sich nicht auf eine einheitliche Systematik fest. Erstaunliches, das sich in ein festes Schema einfügt oder einem Ziel dient, wäre wie ein Witz auf Abruf. Überraschungseffekte gehören zu dem, was uns widerfährt. Unser Text hält sich auch nicht an die Entstehungsfolge der Dialoge. Vielmehr werden in mehreren Anläufen Themenkomplexe herausgegriffen, in denen der Hiatus von Pathos und Logos auf je verschiedene Weise virulent wird. Es geht stets auch um das, was wir frei nach Foucault als Ordnung des Dialogs bezeichnen können. Eine derartige Querlektüre ist selektiv und nicht frei von eigenen Vorlieben; sie wird vieles auslassen, was weitere Beachtung verdient, sie ließe sich auf andere Weise fortsetzen. Kapitel I setzt an beim Logos, der den platonischen Dialog leitet. Dieser Dialog hat etwas Befreiendes, da er sich vom Meinungszwang löst. Es stellt sich jedoch die Frage, ob er eine wirkliche Zwischenrede zustande bringt, ob er nicht wohl oder übel auf einen Monolog der Vernunft hinausläuft, der sich mit der Fremdheit des eigenen wie des fremden Wortes nur teilweise verträgt. Bachtins Vielstimmigkeit der Rede und seine Interpretation Dostojewskis sowie Nietzsches Wortkampf werden uns als kritische Folie dienen. – In Kapitel II betrachten wir das Höhlengleichnis als ein Blickgeschehen, das sich zwischen Dunkel und Helle abspielt und als eine Form des Aufwachens und Aufweckens dem Halbdunkel des Pathischen entstammt. Es fragt sich, ob wir dem Halbdunkel der Höhle je entrinnen werden. Die »Höhlengänge« erinnern an Hans Blumenbergs »Höhlenausgänge«, doch die Gangart ist eine andere. – Kapitel III behandelt verschiedene For16men der Selbstbezüglichkeit, in denen sich Spalte öffnen, die einer Identifikation des Selbst widerstehen. Das Selbst wäre dann kein einheitliches Subjekt, sondern ein Patient im buchstäblichen Sinne dieses Wortes: jemand, dem etwas widerfährt, und ein Respondent, der darauf antwortet. Derart geteilt, wäre das Selbst seinen eigenen Impulsen und Abgründen ausgeliefert, sei es in der Selbsterkenntnis, der Selbstbeherrschung oder der Selbstbewegung. – Kapitel IV beleuchtet die Spannung zwischen einem Begehren, das im Guten zu sich selbst zurückkehrt, und einem Eros, der in der Antwort auf fremdes Begehren außer sich gerät und den Zirkel des Begehrens sprengt. Das Rätsel der Freundschaft stellt uns vor die Frage, ob es nicht eine Polyphilie gibt, die der Polyphonie im Dialog ähnelt. – In Kapitel V betreten wir den Boden einer Lebensheilkunst, worin das Pathische ins Pathologische ausschlägt und unser Antworten die Form einer responsiven Therapie annimmt. Mit der »Krankheit der Stadt« zeichnet sich eine Sozialpathologie ab, die allerdings mit der Singularität des Leidens in Konflikt gerät. Das Vertrauen in die Heilkräfte der Natur, das ein wichtiges Korrektiv bildet zur heutigen Euphorie einer ungehemmten Biotechnik, scheint die Orientierungskraft der Natur zu überfordern. Leidtragende wären jene, die als Unheilbare, als Todkranke, aber auch als Todeswürdige, aus der Fürsorge entlassen werden. – In Kapitel VI geht es um die Rolle des Geldes im Oikos und in der Polis. Die Verbindung des Begehrlichen mit der Gewinnsucht und der Kampf gegen die unersättliche Geldgier verdunkeln den Blick für die Eigengesetzlichkeit von Arbeit und Handel, für den medialen Charakter des Geldes und für das Unbezahlbare im Bezahlbaren, wie es in Gestalt der Gabe hervortritt. – Kapitel VII führt in die gefährdeten Randzonen des Lebens. Mut und Tapferkeit werden aufgeboten, um in kritischen Situationen an der vernünftigen Einsicht festzuhalten; fraglich bleiben dabei der Status des Feindes und die Quelle des Hasses. Lebensgefahr und Todesnähe lösen eine Angst aus, die den Logos an seine Grenzen führt. Das erschütternde Pathos bedarf eines Besprechens, das, anders als das Überzeugen und Überreden, nicht mit Sach- und Beweggründen operiert, sondern eine Art Gegenzauber entfaltet. Das Reden gerät selbst in den Bann des Pathos, das es beschwört. Es meldet sich eine Hoffnung, die sich auf Unerwartetes richtet und mit dem Vertrauen im Bunde steht. – In Kapitel VIII wechseln wir über in die Zwischenwelt von Mensch und Tier, die 17von vielen Kommentatoren auf bloße Moralistik oder Metaphorik oder auf rudimentäre Ansätze einer Zoologie reduziert wird. Man übersieht so, daß Platon zumeist nicht generell vom Tier, sondern von vielerlei Tierarten spricht, daß er dabei die kulturspezifische Differenz zwischen zahmen und wilden Tieren und die wechselnde physiognomische Verwandtschaft mit dem Menschen in Betracht zieht. Das Leben mit Tieren wird unterfüttert durch das Tierartige im Menschen, das hybride Mischungen entstehen läßt. Auch hier schlägt immer wieder die Logozentrik durch; dennoch entpuppen sich die Tiere als Rätselfiguren, in denen der Mensch sich selbst auf erstaunliche und erschreckende Weise fremd wird. – Kapitel IX versammelt in einer Art Synopse Nuancen des Fremden im griechischen Sprachdenken, die sich teils auf den Kontrast von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, teils auf den Kontrast von Innen- und Außenbereich verteilen. Der Gastfreundschaft und dem Schutz der Schutzbedürftigen fällt dabei eine besondere Rolle zu, da sie alle familiären und ethnischen Schranken durchbrechen. Selbst das Barbarische schillert mitunter zwischen dem Fremdartigen und dem Vernunftlosen. Wenn es jedoch hart auf hart kommt, zeigt Platons Ordnungsdenken seine Ecken und Kanten. Das Fremde markiert mannigfache Innen- und Außengrenzen der menschlichen Erfahrung. Doch als Glied der Polis und einer griechischen Stadtkultur und darüber hinaus als Teil des Kosmos lebt der Mensch in einem Bereich, der nichts außer sich hat und dem nichts fremd ist. Als radikal fremd gilt einzig das Ungeordnete, das Unvernünftige und Ungesetzliche, das als purer Mangel dem Ganzen keinen Abbruch tut. Die Fremdheit verliert ihren Stachel, wenn die Alterität des Anderen sich abschwächt zur Mitgliedschaft in einem vorgegebenen und geschlossenen Ganzen und das Pathos des Fremden in einen umfassenden Logos überführt wird.

Unsere Streifzüge durch Platons Dialoge berühren so verschiedenartige Sonderbereiche wie Politik, Ökonomie, Recht, Medizin, Anthropologie, Zoologie, Ethnologie, Sprache und Literatur. Wir werden daher von Fall zu Fall nicht nur Fragestellungen der Gegenwartsphilosophie, sondern auch human- und sozialwissenschaftliche Funde heranziehen. Letzteres betrifft die Sprach- und Literaturtheorie mit Autoren wie Émile Benveniste und Michail Bachtin, die Medizin und Psychoanalyse mit Sigmund Freud und Kurt Goldstein, die Ethnologie mit Marcel Mauss, Marcel Hénaff und 18Claude Lévi-Strauss, die Paläontologie mit André Leroi-Gourhan oder die Stadtforschung mit Lewis Mumford. Außerdem werden, wie schon bei Platon selbst, hin und wieder Dichtung und Literatur zu Wort kommen mit Zeilen aus Homer, Sophokles und Ovid, Goethe und Lessing, Dostojewski, Kafka, Baudelaire und Celan.

Abschießend sei ein persönliches Wort erlaubt. Platon hat meinen philosophischen Weg von Anfang an begleitet, beginnend mit den Motiven der Aporie und Anamnesis in der Dissertation Das sokratische Fragen (1961), sich fortsetzend in dem Buch Das Zwischenreich des Dialogs (1971), einer Analyse des Zwischen, in der das platonische Grundmotiv des Dialogs sich von Husserls Intersubjektivität, Bubers Ich-Du-Beziehung und Merleau-Pontys Interkorporeität her umgestaltet. Der Gedanke zur Abfassung eines größeren Platon-Buches regte sich bereits im Frühjahr 1984. Es ging dann weiter von der Sonnendämmerung in Ordnung im Zwielicht (1987) über die Bachtinsche Vielstimmigkeit der Rede (1999) und die Hyperbolik der Hyperphänomene (2012) bis hierher – also: Nähe mit Ferne durchsetzt auf den Spuren eines Platon ohne abschließenden Platonismus. Dabei gilt für mich, was ich im Vorwort von Antwortregister schrieb: »[…] der aufmerksame Leser widerspricht Platon selten unbelohnt.«

Drei der vorliegenden Kapitel sind bereits in einer ersten Fassung erschienen, sie wurden für dieses Buch überarbeitet: Kapitel II: »Platons Blickwanderungen«, in: A. Beitin, L. Emmering, B. French (Hg.), Platons Spiegel und die Aktualität des Höhlengleichnisses. Angeregt durch Projektionen von Mischa Kuball, Köln: Verlag der Buchhandlung W. König 2012 – Kapitel III: »Selbstbezüglichkeit bei Platon«, in: T. Iremadze (Hg.), Philosophy in Global Change, FS für Burkhard Mojsisch, Tbilissi: Verlag Neckeri 2011 – Kapitel IX: »Das Phänomen des Fremden und seine Spuren in der klassischen griechischen Philosophie«, in: B. Jostes, J. Trabant (Hg.), Fremdes in fremden Sprachen, München: Fink 2001.

München, Juni 2016

19I. Platons Dialogik, Bachtins Polyphonie und Nietzsches Polymachie

Daß Platon seine Philosophie in Form von Dialogen entwickelt, liegt auf der Hand. Doch es bleibt die Frage, wie dialogisch dieses Philosophieren ist und wieweit der allgemeine und gemeinsame Logos Raum läßt für einen genuinen Bezug auf den Anderen und die Anderen.[1] Wir werden in unserem Anfangskapitel nahezu ausschließlich dieser Frage nachgehen, indem wir vor allem das erste Buch der Politeia zur Probe heranziehen und die Ränder des Dialogs ausleuchten. Dabei stellt sich insgesamt die Frage, inwieweit die theoretische Konzeption des Dialogs der vorgeführten dialogischen Praxis gerecht wird, die nicht nur bei Platon, sondern auch bei den übrigen zu behandelnden Autoren einen politischen und kulturellen Hintergrund hat. Wir werden Gelegenheit finden, immer wieder einen Platon gegen einen anderen Platon zu Hilfe zu rufen. Unsere selektive Lektüre Platons wird ergänzt durch eine Gegenlektüre, die von Bachtins polyphoner Sprach- und Literaturtheorie ausgeht, namentlich von seiner Bezugnahme auf den sokratischen Dialog, seiner Kritik am Monologismus und seiner polyphonen Deutung Dostojewskis. Dostojewski wird dabei auf exemplarische Weise selbst zur Sprache kommen.[2] Des weiteren werfen wir einen Blick auf Nietzsches Polymachie, in der die Kampfkraft der Stimmen im Mittelpunkt steht. In der Frage nach der Zwischenrolle des Dritten bündeln sich die Fragen, die sich aus den verschiedenen Ansätzen ergeben. Von besonderem Interesse ist für uns der Bezug zwischen Bachtins Motiv der »Antwortlichkeit« und dem der »Responsivität«, die den Kern der von uns verfochtenen responsiven Phänomenologie bildet. Darin setzt sich fort, was 20andernorts unter dem Titel einer Vielstimmigkeit der Rede (1999) begonnen wurde.

1. An den Rändern des Dialogs

Das erste Buch der Politeia zählt zu den frühen sokratischen Dialogen. Der häufig verwandte Titel Thrasymachos weist darauf hin, daß dieser Dialog, der uns als Muster dienen soll, in der Auseinandersetzung zwischen Sokrates und dem sophistischen Hauptkontrahenten seine Zuspitzung erfährt. Der Gang des Dialogs ist wie alle frühen Dialoge geprägt von Verzögerungen, Unterbrechungen und Umständlichkeiten, die einer prä- oder semidialogischen Gesprächsstufe zuzurechnen sind, verglichen mit dem Kerngehalt des Dialogs, in dem Platon seine Gedanken entfaltet. Gewöhnliche Gespräche kreisen um wechselnde Themen und lassen von Fall zu Fall diverse Partner zu Wort kommen. Doch der platonische Dialog ist ein Gespräch von besonderer Art. Er wird von einem Logos regiert, der sich primär am Anblick der »Sachen selbst (αὐτὰ τὰ πράγματα)« (Gorg. 459b) ausrichtet und voranschreitend »offenbar macht«, wovon die Rede ist (453c). Es fragt sich aber, wie aus dem informellen Alltagsgespräch, in dem von allen möglichen kleinen und großen Dingen die Rede ist (Phaidr. 261a-b), ein förmlicher Dialog hervorgeht. Der platonische Dialog wahrt durchaus Züge eines gewöhnlichen Gesprächs, doch nicht jedes Gespräch erreicht jene exzeptionelle Form eines Dialogs, die wir mit dem Namen Platon verbinden.

Der Eintritt in den Dialog erfordert eine Art von dialogischer Epoché, die alle zufälligen Voraussetzungen eines gewöhnlichen Gesprächs, die Husserl einer »natürlichen kommunikativen Einstellung« zurechnet (Hua VIII, 59), außer Kraft setzt. Bei Bachtin, der als Literaturtheoretiker weithin an den sokratischen Dialog anknüpft, findet diese Epoché ihr ästhetisches Pendant. Der Alltagsmensch wechselt von einer Sprache über zur anderen, wie man von einem Zimmer ins andere geht, ohne »eine seiner Sprachen mit den Augen einer anderen zu betrachten« (Bachtin 1979, S. 187). Die künstlerische Aktivität erreicht dagegen ein höheres Maß an Sprachbewußtsein infolge einer »Außerhalb-Befindlichkeit«, mit der sie dialogische Sprachereignisse als solche erfaßt und verkör21pert (ebd., S. 118). So zeichnet sich eine spezielle Genealogie des Dialogs ab. Die Ränder des Dialogs sind keine bloß fiktiven Einkleidungen und psychologischen Zutaten; sie lassen sich aber ebensowenig auf einen »kommunikativen Realkontext« reduzieren, der die Rede »kontingenten Redebedingungen« unterwirft.[3] Sie bilden den Ort, an dem die niemals abgeschlossene Genesis des Dialogs zum Vorschein kommt und sich auch Spuren der Verschriftlichung abzeichnen. Das Dialogische läßt sich nicht vom Prä- und Hyperdialogischen abtrennen, als stünde einer emphatischen Form des Dialogs unvermittelt eine Fülle trivialer Einzelgespräche und spezieller Facherörterungen gegenüber. Wenn Platon im Theaitet das Philosophieren mit dem Pathos des Staunens beginnen läßt, so beschreibt er kein einmaliges Erlebnis, sondern eine anhaltende Grundbefindlichkeit, die zur Folge hat, daß die Ausweglosigkeiten der frühen aporetischen Dialoge mehr sind als praktische oder technische Probleme, die auf ihre Lösung warten.[4]

Der Dialog, mit dem wir es im Falle des Thrasymachos zu tun haben, fügt sich ein in eine Rahmenerzählung, die Platon als der Autor der Figur des Sokrates in den Mund legt: »Ich ging gestern mit Glaukon, dem Sohne des Ariston, in den Piräus hinunter«, so beginnt der Dialogtext, in dem sich ein familiärer Kontext andeutet. Wenn man so will, kann man dem ersten Wort κατέβην eine Vorausdeutung auf das Hinaufsteigen (ἀναβαίνειν) des Philosophen ans Licht und sein Hinabsteigen (καταβαίνειν) in die Höhle entnehmen (Politeia VII 519d, dazu Szlezák 1985, S. 274). Sokrates selbst tritt auf als Erzähler und Protagonist in einer Person; das »Ich«, das nicht nur über etwas, sondern ebenso von sich selbst spricht, schillert zwischen erzählendem und erzähltem Ich; es ist nicht schlicht mit sich identisch.[5] Das sokratische Gespräch 22gehört zu einer literarischen Mischform, die in ihrer Verquickung von berichteter und mimetisch-dramatisch dargestellter Rede den Homerischen Epen gleicht, ganz im Gegensatz zu den mimetisch verfaßten Tragödien und Komödien (vgl. Politeia III 392c-395b). Der Wechsel von erzählten Handlungen zur wörtlichen Rede findet sich schon bei einem Historiker wie Thukydides. Der allgegenwärtige Einfluß des Theaters, das sich auf einer öffentlichen Bühne abspielt, dringt in die Schreibkunst Platons ein, wenn er seine Dialoge zwar nicht mitten auf der Agora vor der Menge stattfinden läßt, sie aber auch nicht in einen stillen »Winkel« verlegt wie ein privates Getuschel (Gorg. 485d) und sie auch nicht einer nächtlichen Versammlung anvertraut (Nom. XII, 962c). Ist diese Dialogkunst deshalb eine bloße Theaterkunst, die den Zuschauern fiktive Ereignisse vor Augen führt, und wenn nicht, wieso nicht? Natürlich nutzt Platon auch andere Formen der Rahmung, indem er Unbeteiligte nachträglich von stattgefundenen Gesprächen berichten läßt wie im Phaidon oder im Symposion, indem er das Gespräch aus einem Textbuch vorliest wie im Theaitet, indem er Sokrates unmittelbar das Wort erteilt und ihn in die Szene einführen läßt wie im Phaidros oder die Introduktion einem Mathematiker wie Theodoros überläßt wie im Sophistes. Direkte und indirekte Rede wechseln miteinander ab; doch sie gehen nicht unmittelbar ineinander über wie im modernen Roman, in dem die Stimme des Autors sich nicht selten in die des Helden einmischt und die Rollenverteilung mit zur literarischen Darstellung gehört.

Die Einrichtung der dialogischen Szene wird von metadialogischen Erläuterungen begleitet, in denen das Gespräch nach Art von Regieanweisungen auf sich selbst Bezug nimmt und sich nach Art eines »Re-entry« das Gesprächsgeschehen in den Gesprächsinhalt einschreibt. Unser Dialog entspinnt sich vor dem Hintergrund eines gerade stattfindenden Festes zu Ehren der thrakischen Göttin Bendis. Im Gorgias, dessen Anlage vieles mit dem Thrasymachos gemein hat, findet der Dialog post festum statt, nur daß das vorausgegangene Fest dort in einer Prunkrede des großen Rhetors bestand; wie auch immer, der wirkliche Dialog beginnt mit einer gewissen Verspätung (ὑστεροῦμεν: Gorg. 447a).[6] Ein Dialog im Werden hat 23einen Voranfang, der nicht ausdrücklich gesetzt ist wie eine Hypothesis. Doch nicht nur im Gorgias, sondern auch hier im Thrasymachos droht der Dialog zu enden, bevor er begonnen hat; denn Sokrates macht Anstalten davonzugehen. Daraufhin bemühen sich die anwesenden Festteilnehmer, Sokrates nicht loszulassen,[7] indem sie ihn zum Bleiben überreden und ihn davon überzeugen, daß es sich zu bleiben lohne. Das Verb πείθειν, von Schleiermacher an dieser Stelle mit »überzeugen« übersetzt, schillert, wie wir wissen; es könnte auch mit »überreden« wiedergegeben werden. Gemessen an Platons strenger Unterscheidung zwischen begründetem Überzeugen und bloßem Überreden (Gorg. 454e, Phaidr. 260a) handelt es sich hier eher um letzteres, da Spektakel wie Pferderennen und Fackelreiten, eine Nachtfeier und schließlich Gespräche im Kreise junger Leute als Lockspeise angeboten werden. Wenn Nietzsche wiederholt von »Verführungen zum Leben« spricht, die jeder selbständigen Lebensführung vorausgehen, so können wir auch von Verführungen zum Reden sprechen. Es gibt eine Verlockung zum Gespräch im Gespräch, wie sie uns ausdrücklich im Einleitungsteil des Phaidros begegnet. Dort gibt Sokrates sich als Redeliebhaber aus, den man mit Bücherrollen herauslocken kann, wie man hungriges Vieh mit Blättern oder Körnern anlockt (Phaidr. 230d). Der Logos, der verlockende Wirkungen hervorruft wie die »sanft schmeichelnden Worte« der Nymphe Kalypso in der Odyssee (I, 56) und ein Begehren nach Wissen weckt, gewinnt eine affektive Qualität; wie in der Ars poetica von Horaz geht das Bewegen (flectere) und Ergötzen (delectare) über das bloße Belehren (docere) hinaus.

Bedeutsam ist dabei die Mitwirkung des Hörens. Sokrates gibt zu bedenken, daß die zum Gespräch Einladenden niemanden von denen überreden oder überzeugen können, »die nicht hören«, und seinerseits spricht er die Drohung aus, »daß wir nicht hören werden« (Politeia I 327c). Auch an anderer Stelle nimmt Sokrates das Recht für sich in Anspruch, wegzugehen und nicht länger zuzuhören, wenn der Unterredner sich auf eine Langrednerei (μακρολογία) verlegt und Rückfragen ausweicht (Gorg. 461d-462a). Doch setzt eine solche Weigerung nicht voraus, daß man bereits eine entspre24chende Aufforderung vernommen hat? Was ändert sich, wenn die Aufforderung von einem Buch ausgeht, das ich zuschlagen, von einer Talkshow, die ich ausschalten, oder von einer E-Mail, die ich löschen kann? Versickert die Alterität in den Medien, oder meldet sie sich darin auf eine indirekte, anonyme Weise? Levinas bemerkt in ausdrücklicher Bezugnahme auf Politeia von Etwasauf Jemandenἀποκρινόμενος ἀκούεινApol[8]πρός τιναPhaidrThrasymachosscheintmeinst[9]kommt zustande25