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INHALT

Kurt Fauland und Rudi Mosgöller sind Freunde und Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Sie träumen vom schnellen Geld, wenn nötig auch durch krumme Geschäfte. Ihr Kommandant Eisenmenger macht es ihnen vor – er betreibt illegalen Morphiumhandel und verdient sich damit eine goldene Nase. Dann ist der Krieg aus, und Kurt und Rudi wollen durchstarten. Sie werden Schieber, Erpresser, Rudi verliert ein Bein und Kurt steigt auf zum Rotlicht- und Schwarzmarktkönig. Dieser geniale Roman erzählt die Geschichte einer Familie dreier Generationen, in der sich Aufstieg, Hochblüte und Niedergang einer bürgerlichen Gesellschaft spiegeln: proletarische Herkunft, Gewalterfahrung im Krieg, von der Kleinkriminalität bis zum organisierten Verbrechen in der Zeit nach 1945. Dann die Verbürgerlichung, der Aufstieg zur einflussreichen Kraft in Wirtschaft und Politik. All das wird nicht als großes Panorama entworfen, sondern von den wichtigsten Figuren erzählt: Das Große zeigt sich im Kleinen. Gegen Ende des Romans beginnen sich die Fäden zwischen den Romanfiguren zu straffen, und das Geflecht der geheimen Verbindungen umschlingt auch den Leser, der von dieser raffinierten Erzählung schwer in den Bann gezogen wird.

PETER ZIMMERMANN

geb. 1961 in Villach. Nach dem Studium der Theaterwissenschaften und Germanistik in Wien Regie- und Dramaturgieassistent u. a. am Burgtheater und Volkstheater. Seit 1986 journalistische Arbeiten für zahlreiche österreichische und deutsche Medien. Seit 1990 ist Zimmermann als Feature- und Kulturredakteur beim ORF/Hörfunk beschäftigt, wo er seit 2002 die Büchersendung »Ex libris« leitet. Bücher: Skandal: Kunst (Essays, gemeinsam mit Sabine Schaschl, Springer, 2000), Die Nacht hinter den Wäldern (Roman, Deuticke, 2000), Last Exit Odessa (Roman, Deuticke, 2002), Schule des Scheiterns (Essays, Czernin, 2008), Stille (Roman, Secession, 2013).

Peter Zimmermann

AUS DEM LEBEN DER INFAMEN MENSCHEN

Roman

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Sparvereine waren von Straffälligen gegründete, eingetragene Vereine, die offiziell der gegenseitigen Hilfe in sozialen Notlagen und der kulturellen Betätigung dienen sollten. Tatsächlich förderten sie aber auch die kriminellen Aktivitäten ihrer Mitglieder und übten die Funktion einer Standesorganisation aus, die Regeln setzte und durchsetzte.

Inhalt

Teil 1

KURT

RITA

RUDI

ACHIM

Teil 2

RUDI

ACHIM

GRETA

Teil 3

KURT

RITA

KURT

ACHIM

Teil 4

RUDI

ACHIM

GRETA

KURT

Teil 5

RITA

RUDI

ACHIM

RUDI

Teil 6

DER VATER

ACHIM

1

KURT

Das Licht ist gelb und fällt schräg ins Dunkle, die Nacht ist voll gelber, weißer, roter und grüner Flächen und Punkte und Schlangen, die zu Wörtern verknotet sind – Champion, Telefunken, Kaloderma –, zu Zeichen, die Radioempfänger, Schmerzmittel, Autos verheißen, oben auf den Dächern schwebend, und unten über den Glastüren, durch die sich Mäntel und Hüte schieben, in deren Fasern sich das Licht verfängt; Lichttropfen auf Wolle und Trevira, Tau auf geschnittenem Gras, in dem sich das Dunkel verfängt, Schwarz sich auffächert in seine Bestandteile. Umgestülpte Tage, die Stimmen ein wenig lauter als sonst, die Freiheit ein bisschen größer, alles in allem ein buntes Durcheinander nach Sonnenuntergang. Die Großen der Gegenwart tragen Rolex-Uhren. Die Großen lassen sich hier nicht blicken, fressen die Sonne mit den Rivierafeigen und tragen ihre Bügelfalten zur Schau, wie eh und je, aber was heißt schon groß? Silber und Gold unterm kalten Mond, das meiste nicht echt, trotzdem darf man sich größer fühlen, als man ist, vergiss Juan-les-Pins; die leuchtenden Sätze, in die Nacht geschrieben, steigern auch das Wohlbefinden. Blitzblank spült der Westinghouse Geschirrspülautomat. Alles ist jetzt und morgen, keine Ruinen mehr und kein Rauch, nicht hier jedenfalls, wo man nach vorne schaut und wieder Geld in den Taschen knistert, und das Lachen bis zum Montagmorgen währt.

Wer kümmert sich da um einen Mann, der vor dem Postamt steht und eine Zigarette raucht, als hätte er alle Zeit der Welt? Es ist Freitagabend, die Kinos sind offen, die Bars buhlen um die Nüchternen, und die Restaurants verschlingen die Hungrigen, die es sich leisten können, ihren Hunger in Gesellschaft zu stillen. Es sind nicht wenige, sie haben eine Zigarette zwischen den Lippen und eine Frau im Arm. Wie viele Wohnungen stehen jetzt leer und kalt? Das Leben spielt sich auf der Straße ab, und wer ein Ziel hat oder auch keines, schaut nicht so genau auf den Mantel des Mannes, der den Rauch gelassen in die Dezembernacht bläst wie jemand, dem nichts mehr davonläuft, der mit sich im Reinen ist, obwohl dieser Mantel, dieser Filmschauspielermantel, mehr hermacht als die meisten Mäntel, in denen all die Körper mit den rasch pochenden Wochenendherzen stecken. So einen Mantel bekommt man nicht einfach im Kaufhaus, und auch nicht den Hut mit der smaragdfarbenen Schleife, so fett sind die Jahre nicht, dass sich jeder wie Curd Jürgens abends vor dem Filmpalast aufpflanzen kann, als hörten die Kameras um ihn herum gar nicht mehr auf zu surren. Es ist ja nur ein Postamt, und einer wie Fauland zieht die Blicke nicht auf sich, niemand dreht sich nach ihm um, auch wenn jeder, der an ihm vorbeigeht, weiß, dass da etwas ist, etwas, nicht jemand, an dem man besser nicht anstreift. Es ist der Geruch. Man wittert etwas, schlägt einen Haken, ohne zu wissen, warum, als hätte man für eine Sekunde geträumt, von diesem Tier zum Beispiel, das von der Seite auf einen zuläuft und zum Sprung ansetzt. Die Männer wissen, wie sich eine Waffe anhört, die durchgeladen wird. Sie hört sich harmlos an wie ein Tischfeuerzeug, man duckt sich weg, gelernt ist gelernt.

Fauland hebt die Hand und schnippt den Zigarettenstummel auf den Asphalt, es spritzt rote Funken, dann ertrinkt die Glut. Er dreht sich um, die Hutschleife glänzt wie der Panzer eines Tropenkäfers, und drückt sich durch die Drehtür des Postamts. Kurz vor Schalterschluss ist hier viel los, Briefe wollen auf den Weg gebracht werden, Telegramme, Postkarten, Pakete, als gäb’s kein Morgen. Jemand summt ein Weihnachtslied, Schultern stoßen aneinander, Hüte verrutschen, Brillengläser trüben sich ein. Der Saal ist überheizt, auf feuchten Stirnen und Nasenrücken spiegelt sich das weiße Licht von der Decke. Fauland hat keine Eile, Schritt für Schritt durchquert er die Halle, schiebt die Körper von sich weg, als wären sie Puppen, da ist kein Widerstand und kein empörter Blick. Es geht ein Geruch von ihm aus, der Angst erzeugt, die schon einmal da war. In den Sümpfen am Pripjet und in den Kellern der zerrissenen Häuser.

Vor den Telefonzellen ist das Gedränge am größten, aber das kümmert Fauland nicht. Er geht geradewegs zur Zelle drei, öffnet die Glastür und bedeutet dem dünnen Mann mit der Zigarette unter dem kecken Menjoubärtchen mit einer unmissverständlichen Bewegung des rechten Zeigefingers das Weite zu suchen. Das macht der auch, ohne zu murren, er legt den Hörer auf, scheint sich an seine Tage beim Barras zu erinnern, lässt die Zigarette fallen und nimmt kurz Haltung an, ehe er sich, ohne nach links und rechts zu schauen, zum Ausgang drängt. Dann schließt Fauland die Tür hinter sich, zündet sich wieder eine Zigarette an und wählt eine Nummer. Er muss nicht lange warten. Am anderen Ende meldet sich ein Mann mit einer Stimme wie aus Glas, das gleich bricht.

»Hallo«, sagt er, »hier bei Grünwald …«

»Doktor Eisenmenger«, sagt Fauland forsch, als habe er den Namen überhört, »das ist mein letzter Anruf …«

»Sie irren sich, hier spricht …«

»Sie haben sich nicht an die Abmachung gehalten, Doktor Eisenmenger, deshalb war’s das …«

»Aber warum wollen Sie denn … legen Sie nicht auf, bitte … Grünwald, Eisenmenger, ich verstehe wirklich nicht, legen Sie nicht auf, wo ist … wie geht es … bitte, bleiben Sie dran, ich bitte Sie, seien Sie doch …«

»Das war’s, Doktor Eisenmenger, grüßen Sie mir die Herren, die Ihnen Gesellschaft leisten.«

Fauland legt auf, sieht auf die Uhr, macht einen tiefen Zug an der Zigarette und drückt den Stummel auf der Wählscheibe aus. Er stößt die Tür auf und drängt sich durch die Wartenden hindurch zum Ausgang. Draußen steht der dünne Mann mit dem Menjoubärtchen und lächelt. »Das ging ja presto«, sagt er. Fauland nimmt ihn am Arm und zieht ihn aus dem Licht. »Fahren wir«, brummt er, »in zwei Minuten blinkt hier überall Blaulicht.«

Sie steigen in einen schwarzen Opel Kapitän, der wenige Schritte vom Postamt entfernt parkt. Der Dünne auf der Fahrerseite, Fauland daneben.

»Weihnachten«, murmelt der Dünne, »wie die Zeit vergeht.«

»Da kommen sie schon«, sagt Fauland und zeigt auf zwei Volkswagen, die ihnen mit hoher Geschwindigkeit entgegenkommen. Kein Blaulicht, keine Sirene.

»Schau, die Kavallerie auf leisen Sohlen.«

»Sag ich ja, Weihnachten. Wollen die Leute nicht erschrecken.«

»Armleuchter.«

Unter dem schwarzen Dezemberhimmel gleitet der Opel über nassen Asphalt, in den Pfützen ersaufen die Reklamen, und den Menschen auf den Gehsteigen setzt die Kälte zu; wie die Schildkröten haben sie die Köpfe unter die Mantelpanzer geschoben. Nach wenigen Minuten aber sind Wochenende und Weihnachten vergessen, sind Champion, Telefunken, Kaloderma Namen exotischer Inseln, sind Körper schief an Hauswänden abgestellt und die Türen allesamt verschlossen. Wer hier lebt, stellt keine Fragen mehr, und hinterm Bahnhof schließlich hört das Leben ganz auf, kein Licht und keine Liebenden, nur tote Gegend, Zäune, Masten, Baracken, Backsteinhäuser, gespannte Drähte, alles schwarz wie Schatten von etwas, das einmal am Leben war. Schatten vom Kommen und Gehen, vom Wegfahren und Ankommen, Schatten vom Schuften und Herumhuren und Saufen, Schatten vom In-die-Ecke-Kotzen und Davonlaufen, Schatten vom Wunsch, es besser zu haben und vom Aufgeben jeder Hoffnung. Hier brennt nicht einmal eine altersschwache Straßenlaterne, nur der Dezembermond gibt dem Elend eine Form. Wenn es einen Gott gibt, ist er hier zu Hause. Hier ist sein Winterlager. Hier kann er sich unbeobachtet die Augen ausweinen.

Blue Moon

You saw me standing alone

Without a dream in my heart

Without a love of my own

Fauland singt, und der dünne Mann fährt. Das geht noch eine Zeit lang so, ohne dass die Stadt etwas Besonderes zu bieten hätte. Die Sitze des Opel sind weich wie Fauteuils. Die Scheinwerfer tasten jetzt leere Gehsteige und hüfthohe Staketenzäune ab. Als ob. Als ob Krieg, Ausgangssperre, Angst vor Dieben, als ob Plündertrupps, Männer, Gewehre. Wie früher. Die Ruhe nach. Dem Stehlen, dem Töten. Als ob. Das ist fast zwanzig Jahre her. Manchmal blitzt das Augenpaar einer Katze auf, das ist alles. Flache Bungalows, da und dort erleuchtete Fenster, Vorstadt.

Blue Moon

You know just what I was there for

You heard me saying a prayer for

Someone I really could care for

Der Opel biegt in einen Kiesweg ein, der eine Gartensiedlung durchschneidet. Niedrige, unbeheizbare Holzhütten hinter Sträuchern und nackten Obstbäumen. Vor einer Hütte aus schwarz gebeizten Brettern halten sie an. Fauland steigt aus und wird von der Kälte überrascht. Er drückt den Hut tief in die Stirn, sieht sich um, scheint zu überlegen, steckt den Kopf noch einmal bei der offenen Tür hinein. Er zieht einen Briefumschlag aus der Tasche und hält ihn dem dünnen Mann hin. »Das ist die Nachricht für Eisenmenger«, sagt er. »Du kommst dann sofort zurück, ich warte hier auf dich. In einer Stunde.«

Der dünne Mann schnalzt nur mit der Zunge, lässt sein Menjoubärtchen keck auf der Oberlippe tanzen und steckt den Umschlag ein. Fauland schlägt die Tür zu, der Opel fährt im Rückwärtsgang den Kiesweg zurück zur Straße. Nicht einmal ein Hund schlägt an, so tot ist es da.

Als Fauland zum Haus geht, kommt ihm die Frau schon entgegen, in einem Pelzmantel, der im Mondlicht silbern glänzt. Sie sieht aus, als hätte sie für einen Augenblick eine Tanzveranstaltung verlassen, um frische Luft zu schnappen, das Gesicht hell geschminkt, die Lippen rot, die Haare zu einem fragilen Zuckerwatteturm toupiert. Sie atmet, als wäre sie gelaufen, Rasseln in der Brust. Sie stellt sich Fauland in den Weg, der sich ihr langsam, mit gesenktem Kopf vom Gartentor her nähert.

»Er schläft«, sagt sie mit heiserer Stimme, als er vor ihr steht und einen Augenblick ratlos ist, weil sie sich vor ihm aufplanzt, als wolle sie etwas verhindern. Er schaut in ihre feuchten, großen Augen. Aber die Augen schauen nicht zurück.

»Er war den ganzen Abend ruhig und hat nicht geweint.«

Fauland macht einen Bogen um die Frau.

»Kurt!«, ruft sie verhalten ins Leere, dreht sich um, sieht, wie er ins Haus geht, rührt sich aber nicht von der Stelle.

Drinnen ist es beinahe dunkel, nur die Lampe über dem Küchenherd brennt, doch Fauland kennt sich aus. Er könnte, was er vorhat, auch mit geschlossenen Augen erledigen. Langsam, weil der weiche Bretterboden unter seinen Schritten knarrt, geht er durch den Flur, öffnet die erste Türe auf der rechten Seite, ohne ein Geräusch zu machen, ganz langsam, beinahe ohne zu atmen, betritt das kleine, quadratische Schlafzimmer, durch dessen Fenster der Himmel schaut, und steht auch schon vor dem Bett, auf dem das schlafende Kind, das Gesicht ihm zugewandt, liegt. Er sieht im milchigen Zwielicht, wie sich der Körper regelmäßig hebt und senkt, er sieht die geschlossenen Augenlider und den leicht geöffneten Mund und eine Strähne blonden Haares, die über der Stirn liegt wie ein dickes Komma.

Die rechte Hand fährt in die Manteltasche und umschließt den Griff des Revolvers. Mit dem Zeigefinger legt er den Sicherungshebel um, dann richtet er die Waffe gegen das Kind, genau an das Ende des Kommas, als bezeichnete es die ideale Stelle für den Einschuss. Er hält die Mündung nur wenige Millimeter über der Stirn und legt den Finger auf den Abzug, da stöhnt das Kind, dreht den Kopf ein Stück zur Seite, öffnet die Augen und flüstert: »Papa?«

Fauland zögert eine Sekunde, dann drückt er ab, doch er trifft den Kopf nur seitlich. Der Oberkörper des Kindes wird ein Stück hochgeschleudert, dann sackt er zurück auf das Bett. Fauland umfasst den dünnen Hals, drückt ihn auf die Matratze, er greift ins Blut, legt den Revolver noch einmal an, diesmal direkt mit der Mündung an die Schläfe, und drückt ab.

Er lässt den toten Körper los, wischt die Hand am Laken ab, sichert die Waffe und steckt sie in die Manteltasche. Kurz hört er in die Stille, doch er hört nur das Rauschen in seinem Kopf.

In der Küche sucht er nach etwas zu trinken, aber er findet nichts. Er wäscht sich die Hände an der Spüle, setzt sich an den Klapptisch, auf dem noch die aufgebrochene Morphiumampulle und die Spritze der Frau liegen, und zündet sich eine Zigarette an. Er schaut auf die Uhr. Eine Dreiviertelstunde wird er noch auf Mosgöller warten müssen.

Die Frau kommt herein und setzt sich zu ihm. Er schaut sie an, doch sie blickt zu Boden. Sie zittert, sagt aber nichts.

»Du fährst mit uns«, sagt Fauland, »du packst Stoff für die nächsten Tage ein, dann bringt Rudi dich nach Hause.«

»Und hier?«

»Denk nicht darüber nach.«

Das Gesicht der Frau sieht aus wie aus Gips oder als sei die Haut so durchsichtig, dass man darunter den weißen Knochen sehen kann. Sie tastet mit den Augen die kleine Küche ab, nur Faulands Blick weicht sie aus. Sie kann den Kopf nicht ruhig halten.

Er bläst die Backen auf und schaut auf die Uhr. Der Zeiger kommt nicht voran.

»Das Zeug löscht nicht alles aus, weißt du«, sagt die Frau und deutet auf die Spritze, »manchmal sitzt es tiefer, als die Nadel hinabreicht. Man möchte sich damit das Herz durchstechen, wenn man könnte.«

»Hör auf damit!« Er drückt die Zigarette auf der Tischplatte aus und zündet sich eine neue an.

»Ja, Scheiße, hör auf!«, äfft sie ihn nach. »Du machst es dir leicht. Vergessen, einfach vergessen, als ob …«

Fauland beugt sich über den Tisch. »Schau mich an«, befiehlt er, »schau mich an, schau mir in die Augen.« Doch ihr Blick geht einfach an ihm vorbei. Er sinkt zurück in den Sessel. »Du sollst einfach den Mund halten!«

Nach einer Weile flüstert sie: »Ein Kind, Kurt …«

Da wirft er ihr die brennende Zigarette ins Gesicht, stemmt sich vom Sessel hoch, stößt den Klapptisch zur Seite und versetzt ihr zwei Ohrfeigen. Dann packt er sie an den Haaren, zieht sie hoch und stößt sie zur Spüle. Das Blut aus ihrer Nase tropft in den Ausguss. Er zieht sein Taschentuch aus der Hose, hält es unters kalte Wasser, reißt ihren rechten Arm hoch und drückt es ihr in die Hand. »Kannst dich damit abwischen.«

Sie sprechen kein Wort mehr miteinander, bis sie den Opel über den Kies rollen hören. Fauland umfasst die Frau an der Hüfte, als wolle er tanzen, doch er schiebt sie nur vor sich her ins Freie.

»Was geschieht jetzt?«, fragt sie.

»Es ist bald vorbei«, sagt er.

Mosgöller ist aus dem Wagen gestiegen und kommt ihnen entgegen, er und Fauland nehmen die Frau in die Zange und drücken sie auf den Rücksitz des Opel. »Drin ist es wärmer«, sagt Fauland und schließt die Tür. Er bietet Mosgöller eine Zigarette an. Mit dem Rücken an den Wagen gelehnt, rauchen sie und beobachten den Himmel.

Die Nacht ist voll gelber, weißer, roter und grüner Flächen und Punkte und Schlangen, Rudi, drin in der Stadt, da liegt auch das ganze Geld auf der Straße, aber hier in den Pripjetsümpfen mit nichts als toten Russen im Schlamm, hier, wo nicht einmal ein Vogel piept, glotzen einen nur die Sterne an, als ob sie nicht schon genug gesehen hätten. Wega steht in der Leier, und der Geier steht im Weg, Deneb liegt im Schwan, und wer im Weg steht, der ist dran. Atair, der ist im Adler, und

was Flügel hat, das fliegt, es ist vorbei, Rudi, so sollen wir nicht alt werden, du und ich, so nicht, und die Frau ist sowieso hinüber, deren Zukunft hängt an einer Nadel, bis sie bricht, und unsere Zukunft, Rudi, es ist nicht mehr Krieg, und die Amis sind auch nicht mehr da, was soll’s, ich hab ein Zittern, Rudi, in den Armen, Händen, Fingern, im, da schau, nein,

nach oben, da im Süden und Südwesten, lichtschwach und knieweich, Wassermann, Fische, Walfisch, tief im Südwesten glänzt Formalhaut wie Gottes Goldzahn, die Hütte muss heute noch weg, alles weg. Benzin ist genug da, dir kann ich’s ja sagen, dieses Zittern ist neu, diese Scheißsterne hab ich nie gemocht, leuchten vor sich hin, egal, ob Gott tot ist oder nicht, ob einer Böses oder Gutes tut. Oberhalb der Fische lümmelt Pegasus, östlich davon geht Andromeda in die Breite, dass es eine Freude ist, Kassiopeia im Zenit, südöstlich Perseus im Süden, ganz hell Jupiter,

wie die letzte Arschgeige, der alles hintenrum geht. Politik, Rudi, Baubranche, Immobilien, die Kinder an die Uni, die Weiber auf der King-Size-Matratze in Satin und Seide, und untenrum rasiert, so soll’s sein, Zigarre und Tischfeuerzeug aus Kristallglas, Rudi, die Bullen immer auf deiner Seite, ohne Schmiere, trinkst einen Schampus, gehst nach Hause und legst dich ins Bett, stattdessen … Sieh einer an, Kapella im Osten an der Spitze des Fuhrmanns, der wiederum den Stier antreibt, die Hyaden, ein Sternenscheißhaufen mit dem Riesen Aldebaran mittendrin, früher einmal war er das blutunterlaufene Auge des wütenden Stiers, oberhalb der Hyaden am Nordhimmel die Plejaden, auch ein Haufen Sterne, gibt zu viele davon, östlich davon die superhellen Zwillinge Kastor und Pollux, die letzte Nacht, Rudi, darfst

mich zitieren, wenn ich mal schwach werde, keine Nacht mehr wie diese, wenn die Scheißsterne wenigstens mal als Geld runterkämen, dann wären sie was wert, aber so … Südöstlich Orion der Himmelsjäger mit seinen

Begleitern, dem Großen und Kleinen Hund, macht er Jagd auf den Stier, die verwaschene Pfütze, darunter der Orionnebel, und in Richtung Südosthorizont, wir beide sind nicht mehr so jung, Rudi, kriegen schon das Zittern und schlaflose Nächte, wenn’s so weitergeht, ja, und schließlich

Sirius im Sternbild Großer Hund, bekanntlich der hellste Fixstern am irdischen Himmel, und sein helles blauweißes und oft auffallend flackerndes Licht ist ein markanter Begleiter durch die kalten Winternächte, aber das Studium der Himmelskörper ist verlorene Zeit, wie einmal ein Kardinal gesagt hat, denn inwiefern fördert es unsere Erlösung?

»Gute Frage, Kurt«, sagt Mosgöller und reibt sich die halb erfrorenen Hände. Doch eigentlich haben sie gar nicht miteinander gesprochen, sondern bloß eine Zigarette unterm Sternenzelt geraucht, zwei Männer, die sich wenig zu erzählen haben und trotzdem eine Menge Geheimnisse miteinander teilen.

»Jedes Jahr dasselbe«, sagt Mosgöller, als er zur Fahrerseite des Opel geht.

»Was?«, fragt Fauland.

»Weihnachten.«

Kurz darauf rollt der Wagen über die Straße auf das Stadtzentrum zu. Es ist still. Das Licht kommt zurück. Und auf dem Rücksitz hört man das leise Schnarchen der Frau.

RITA

Einunddreißig Jahre nachdem Kurt Fauland und Rudi Mosgöller, ausgesprochen oder nicht, beschlossen haben, ihr Leben zu ändern, an einem Tag im Sommer des Jahres 1989, fährt die 42-jährige Rita Fauland in ihrem roten Triumph TR6 Cabriolet in ein am Stadtrand gelegenes Einkaufszentrum, um sich dort die Zeit zu vertreiben, Menschen zu beobachten oder ein Stück weit durch die Gänge zu verfolgen, in der Cafeteria mehrere Gläser Whisky zu trinken und vielleicht die Toilette vollzukotzen, vor allem aber Waren aller Art zu stehlen und sich daran zu freuen, nie belangt zu werden.

Ihr Vater hat als Mehrheitseigentümer des Einkaufszentrums jegliches Eingreifen des Sicherheits- und Verkaufspersonals untersagt und verbucht die verschwundenen Dinge unter Eigenbedarf. Oft sind sie auch gar nicht verschwunden, sondern auf dem Parkplatz abgestellt, dort, wo gerade noch der Triumph gestanden ist. Die zumeist unbeschädigten Waren können dann wieder in die jeweilige Abteilung zurückgebracht und in die Regale eingeräumt werden. Manchmal legt sie einen Geldschein dazu, den die Angestellte, welche die entwendeten Waren einzusammeln hat, einsteckt. Deshalb ist Rita Fauland im Einkaufszentrum durchaus gern gesehen, nur wenn sie so betrunken ist, dass sie ausfallend wird, Kunden belästigt oder neben die Klomuschel kotzt, ist es mit der Freundlichkeit vorbei, doch es ist immer der Geschäftsführer selbst, der sie hinauswirft oder den Notarzt ruft.

Die meiste Zeit, die sie im Einkaufszentrum verbringt, scheint sie bloß ihre kleinen Raubzüge zu genießen. Es kann allerdings nicht geleugnet werden, dass die Menschen, die in der einen oder anderen Weise mit Rita Fauland zu tun haben, oder sie nur vom Sehen kennen, sich fragen, was aus der nicht mehr ganz jungen Frau werden soll, auch in Hinblick auf ihren Sohn Achim, der Rechtswissenschaften studiert und offensichtlich die Geschäfte des alten Fauland übernehmen soll, früher oder später. Wird er diese Last tragen können?, fragt man sich. Und wie sehr ist er selbst beschädigt durch diese Mutter, die ihm sein ganzes Leben lang das Misslingen der Existenz und die Sinnlosigkeit des Daseins vorgelebt hat? Wenn Rita Fauland also die Welt außerhalb ihres Hauses betritt, wachsen in den Köpfen derer, die sie dabei beobachten, grundsätzliche Fragen.

An diesem Tag im Sommer 1989 parkt Rita Fauland ihren Triumph in der Nähe des Eingangs. Es ist früher Nachmittag und es ist kein Samstag, das Einkaufszentrum ist schwach besucht, was auch an der Hitze liegen mag. Seit Tagen schon liegt ein Hochdruckgebiet scheinbar unverrückbar über der Region, keine Wolke hindert die Sonne am Aufheizen der Luft, kein noch so sanfter Wind trocknet den Schweiß auf der Haut. Rita Fauland trägt einen breitkrempigen Strohhut auf dem Kopf, über den sie einen roten, unter dem Kinn zusammengeknüpften Seidenschal gewickelt hat, wohl um den Hut während der Fahrt nicht zu verlieren. Die auffällige Kopfbedeckung und die übergroße verspiegelte Sonnenbrille erwecken Assoziationen an Audrey Hepburn und Rosemarie Nitribitt, die kurz geschnittenen blondierten Haare hingegen, die man nur auf den zweiten Blick erkennt, vermitteln den androgynen Charme einer Jean Seberg. Wie sie da aus dem Auto steigt und mit den ebenfalls roten italienischen Slippers den weichen Asphalt berührt, sieht sie aus wie aus einem dreißig Jahre alten Samstagnachmittagsfilm im Fernsehen in die dreidimensionale Wirklichkeit geworfen. Ihre Bewegungen muten abgelöst vom trostlosen Ort und der Hitze an, wie auf einem doppelbelichteten Film. Es scheint, als sähe sie sich selbst in einem für andere unsichtbaren Saint-Tropez unter einem freundlichen Morgenhimmel, wo man nach einer illuminierten Marc-Chagall-Nacht im Café Paris am Quai de Suffren den Tag beginnt. Wer sie sieht, wie sie mit ihren immer noch schlanken Beinen in dreiviertellangen, blütenweißen Matrosenshorts auf den Eingang zustelzt, offensichtlich nüchtern und ausgeschlafen, glaubt tatsächlich, einer von Gainsbourg gesanglich untermalten Szene beizuwohnen, Mambo, miam, miam, aber es ist wohl auch dieses Flirren der über dem Asphalt erhitzten Luft, das die Wirklichkeit ein wenig verrückt. Und so lässt sich auch über diese Gestalt vor dem Eingang des Einkaufszentrums nichts Verlässliches sagen. Zuerst ist es nur ein dunkler Fleck, hingemalt auf eine der vielen Schichten zwischen dem Auge und der horizontbildenden Glas- und Betonlandschaft der Shopping Mall, vielleicht eine Luftspiegelung oder ein Werbemittel oder auch nur ein Schatten von etwas Größerem.

Mit jedem Schritt Rita Faulands wird es deutlicher: ein Wesen, ein Körper, ein Mensch, eine Frau, eine Frau mit dunklen Haaren und einem Tuch auf dem Kopf, einem hinten zusammengeknoteten Tuch, gelb mit schwarzen Punkten, mit etwas in den Armen, Einkaufstasche, Decke, mit einem Kind in den Armen, eine Frau mit einem Baby, mitten in der Sonnenglut, in einer Art schwarzer Schürze, die bis zu den Knöcheln reicht, dunkelblaue Adidasjacke, schlammiger Teint, irgendetwas zwischen graphit und braun, ausdrucksloses Gesicht, das Baby laut- und bewegungslos, wie tot, die Frau wie erstarrt, steht einfach da in der Hitze des Nachmittags, die Füße in grauen Turnschuhen, die aussehen wie kleine Gewitterwolken. Man könnte meinen, auch sie sei aus einer anderen Dimension herausgefallen und habe sich vor einer Minute noch – nicht gerade in Saint-Tropez, sondern in einem von Bluträchern umkreisten Nest auf einer baumlosen Höhe befunden, möglicherweise von einer anderen Welt träumend, von der sie nichts weiß, außer dass es dort Warenhäuser gibt, die so groß sind wie ein ganzes Dorf, und für die manche Menschen eiskalte Flüsse durchschwimmen, durch Wälder irren, ihre Kinder im Stich lassen, sich in Kofferräumen fremder Autos zusammenfalten, all das mit Augen, die vor Hunger und Angst aus dem Gesicht springen. Zu ihrer Überraschung ist sie dann vielleicht in diesen Traum hineingestolpert wie Alice in die Kaninchenhöhle, ohne es zu wollen, Wunder geschehen da und dort. Und nun, da sie tiefer und tiefer gefallen ist, sieht sie, was sie nie sehen wollte, Beton, Asphalt und eine auf sie zustapfende Person, die ein wenig aussieht wie eine verrückt gewordene Offiziersmätresse, eine bröckelnde Göttinnenstatue, die vom Sockel gefallen ist, ein flügellahmer Engel auf der Suche nach neuen Federn, möchte sie nur noch zurück, doch wie macht man ein Wunder rückgängig?

Vielleicht, vielleicht.

Rita Fauland bleibt vor der Frau stehen, die weiterhin keine Miene verzieht. Ist sie da zwischen den Luftschichten eingeschmolzen, oder doch nur das Abbild einer Zigeunerin mit Kind, die für den Zauber der Puszta wirbt? Drei Zigeuner fand ich einmal liegen an einer Weide …

Sie nimmt die Sonnenbrille ab und beugt sich zu dem Bündel, welches die Frau in der Hand hält: ein Baby, in der Tat. Es dreht ihr den Kopf zu. Zwei runde, schwarze Augen in einem blutleeren Gesicht schauen sie an.

»Das ist fürs Kind nicht so gut, wenn Sie mit ihm in der prallen Sonne stehen«, sagt Rita Fauland und klemmt sich die Sonnenbrille in den Ausschnitt.

Die Frau bewegt sich, als wäre sie soeben erwacht, hebt den Kopf, kräuselt die Nase, wittert etwas, dann richtet sie ihren Blick aus ebenso schwarzen Augen auf Rita Fauland.

»Das Kind, verstehen Sie? Sonne nicht gut. Zu heiß.«

Da die Frau sie weiterhin anstarrt, verliert sie die Geduld, will einen Bogen um diese seltsame Person machen und so schnell wie möglich aus dem verklebten Sonnentag in die Kühle und Künstlichkeit des Einkaufszentrums eintauchen. Sie spannt ihren Körper durch, macht sich groß und atmet tief durch. Doch sie bleibt.

»Hören Sie«, herrscht sie die Frau an, »gehen Sie mit dem Kind aus der Sonne. Das ist ja lächerlich!«

»Sonne«, wiederholt die Frau mit papierener Mädchenstimme und hält Rita Fauland das Kind entgegen.

»Du meine Güte, was soll ich denn damit?«, stöhnt sie. Sie packt die Frau an der Schulter und dreht sie grob in Richtung Einkaufszentrum. »Sehen Sie das Gebäude? Gehen Sie mit dem Kind da hinein.«

Doch die Frau rührt sich nicht vom Fleck. »Sonne«, sagt sie, und versucht zu lächeln.

»Hör mal, Schwester«, faucht Rita Fauland, »bist du so blöd oder tust du nur so?« Sie zieht aus der Tasche ihrer Matrosenshorts einen Geldschein und hält ihn der Frau vors Gesicht. »Geht’s dir darum? Geld? Jetzt beweg deinen Arsch, geh da hinein und kauf dir was Schönes. Und warte gefälligst da drin, auf wen auch immer.«

»Immer«, sagt die Frau und nickt heftig, »immer!« Sie stemmt das Baby in die Höhe und hält es mit gestreckten Armen über ihrem Kopf, als wollte sie es wie ein Gewicht, das zu tragen sie nicht mehr imstande ist, einen schweren Stein etwa, der ihr den Weg versperrt, mit letzter Kraft wegwerfen, eine überraschende und unverständliche Geste, die Rita Fauland für einen Augenblick erstarren lässt. Was hat sie mit dem Kind vor, das fast nichts wiegt, ein Kind mit schwarzen, großen Augen, das Gefahr läuft zu dehydrieren? Dann knickt die Frau ein, als versagten die Beine.

Rita Fauland lässt den Geldschein fallen, macht einen raschen Schritt nach vor und packt das Bündel mit beiden Händen, ehe die Frau auf die Knie fällt. »Heilige Scheiße!«, ruft sie und drückt das Baby an ihre Brust. Jetzt beginnt es zu weinen. Noch ehe sie etwas Vernünftiges tun kann, nimmt die Frau den am Boden liegenden Geldschein, schraubt sich behände hoch, läuft zum Einkaufszentrum und verschwindet in der Dunkelheit hinter der Glastür. In diesem Augenblick beruhigt sich das Kind, schaut mit großen Augen und offenem Mund in die Richtung, in die seine Mutter verschwunden ist. Dann hebt es seine Ärmchen hoch, wendet sein Gesicht Rita Fauland zu und grinst so breit, dass es einen kleinen weißen Zahn entblößt.

»Du hast ja eine feine Mutter«, sagt Rita Fauland und stupst ihre Nasenspitze an jene des Kindes. Sie trägt es zum Triumph, legt es auf den Beifahrersitz, setzt sich ans Lenkrad, schließt das Faltdach und dreht die Klimaanlage auf. Nach einigen Minuten, in denen sie den Eingang des Einkaufszentrums beobachtet, und das Kind staunend die neue Umgebung in Augenschein nimmt, sorgt die kalte Luft für Distanz zwischen innen und außen. Innen ist die Wirklichkeit, Rita Fauland, das Baby, die zerfließende Kühle, der Geruch des aufgeheizten Leders und der Armaturen, der Schweiß auf der Oberlippe, der allmählich trocknet. Hier vergeht die Zeit, während draußen die Welt in heiße Luft und gleißendes Licht eingepackt ist, scheinbar ohne Leben, ohne Bewegung, ohne Zeit. Der Asphalt, das Einkaufszentrum, die wenigen Autos, ein paar Einkaufswagen, verdurstende Jungbäume mit hängenden Ästen, darüber ein blau verschmierter Himmel ohne Vögel, ein riesiger leerer Raum, das ist alles nicht wahr, höchstens Reste von etwas Gewesenem, jahrhundertealter Schutt, und die Frau von vorhin bloß der Schatten von etwas Totem.

Nichts passiert.

Rita Fauland steckt den Schlüssel ins Zündschloss, startet, legt den Gang ein und fährt los. Das Baby rollt beinahe vom Beifahrersitz und kreischt vor Freude, als sie es mit der rechten Hand gerade noch festhält und »Uuups!« ruft und »Rabimmel, rabammel, rabumm« und »Ich bin ein kleines Pony, mein Reiter, der heißt Conny, und ruft Conny mal Hopp, dann laufe ich Galopp«.

Rita Fauland sieht glücklich aus, wie Audrey Hepburn am Ende eines Films, ehe im Kino das Licht angeht.

RUDI

Mosgöller parkt den Opel Kapitän ein Stück weiter oben in der Straße. In Eisenmengers Villa sitzt die Polizei und nimmt vermutlich die Gegend in Augenschein, während sie auf den nächsten Anruf wartet.

Mosgöller zündet sich eine Zigarette an, steigt aus dem Wagen, drückt die Fahrertür vorsichtig zu, um keinen Lärm zu machen. Er nimmt eine zusammengerollte Abendzeitung in die linke Hand und geht gemächlich wie jemand, der vor dem Einschlafen noch eine Runde an der frischen Luft dreht, die Straße hinunter. Es ist ruhig, niemand ist zu sehen. Er wechselt die Straßenseite, um im Vorbeigehen einen besseren Blick auf die Villa zu haben. Nirgendwo ist Licht, es ist so still, als wäre das ganze Viertel evakuiert worden. Das sei der gefährlichste Teil der Übung, hat Fauland gesagt, die Polizei sei gereizt, sie drohe sich zu blamieren, sie hätten dort nicht die leiseste Ahnung, was eigentlich los sei.

Mosgöller summt ein Lied, geht wie einer, den zu Hause nichts erwartet, außer ein Bett und vielleicht noch eine Frau, die bereits schläft und keine Fragen mehr stellt. Kein Hund schlägt an, nicht einmal ein Windhauch ist zu spüren, bloß die Sterne sind da, Jupiter, Aldebaran, Kastor, Pollux und die anderen. Mosgöller wirft die Zigarette über einen Zaun und beeilt sich, von der Villa wegzukommen, ans andere Ende der Straße. Mach bloß keinen Fehler, Rudi, hat Fauland gesagt, als er ihn zum Wagen begleitet hat, wenn die Sache schiefgeht, rettet uns keiner vor dem Strick. Fauland hat seine Freunde bei der Kripo, einer ist sogar im »Sparverein« gesessen, vorhin, als sie vom Gartenhaus zurückgekommen waren, mit der Frau im Schlepptau, die gleich im Büro mit einer Dosis Morphium abgefüllt worden war, weil sie sonst vor allen Anwesenden hysterisch geworden wäre. Jedenfalls hatte Fauland die Befürchtung, sie könnte die Nerven verlieren, deshalb ging er bei der Menge, die er ihr eingespritzt hat, auf Nummer sicher.

Mosgöller geht die Parallelstraße entlang, die an der Rückseite der Villa vorbeiführt, doch auch hier ist nichts zu sehen und nichts zu hören. Er entspannt sich allmählich und bleibt sogar kurz am Zaun stehen, hält die Luft an, schließt die Augen und horcht. Nichts. Die Beamten, hat der champagnerlaunige Kripobeamte im Sparverein erzählt, seien ins Postamt gestürzt, nachdem man den Anruf des Entführers geortet hatte, jedoch viel zu spät, weil diese Null von Einsatzleiter, Wilsdorf, ein Papiertiger, der seinerzeit für die Partei gearbeitet habe, offensichtlich dachte, der oder die Verbrecher hätten keine Ahnung, was die Polizei heutzutage alles könne.

Als Mosgöller zurück beim Wagen ist, steigt er ein, nimmt den Briefumschlag, den Fauland ihm vor dem Gartenhaus übergeben hat, aus der Manteltasche, öffnet das Handschuhfach, holt einen bronzenen Hitlerkopf und eine Rolle Spagat hervor, rollt den Hitlerkopf im Umschlag ein, wickelt mehrfach Schnur drum herum und verknotet diese am Schluss. Das kleine Paket legt er auf den Beifahrersitz.

Mit großem Hallo und Radau hätten die Polizisten alle Leute vor und in den Telefonzellen sowie in der Schalterhalle in Gewahrsam genommen, hat der Kriminalbeamte weiter erzählt, zunehmend vom eigenen Lachen unterbrochen, doch die Täter hatten schon längst das Weite gesucht. Wilsdorfs Gesicht hätte er gern gesehen, das Gesicht eines angepissten Sturmbannführers, der seinem Führer nun keine Meldung machen und belobigt werden konnte. Man hätte das ganze Gesindel den Russen überantworten sollen, hat Fauland gesagt und dem Kriminalbeamten noch eine Flasche spendiert, in Sibirien seien sie besser aufgehoben. Eine brauchbare Beobachtung hätte zudem auch niemand im Postamt gemacht, nichts, nada, Arsch und Friedrich!, hat der Beamte zu brüllen begonnen, sodass am Ende die Sinnhaftigkeit der ganzen Aktion in Frage gestellt worden sei. Versteht ihr, die haben alle angefangen, an ihrem Verstand zu zweifeln, die wären am liebsten heim zu Mutti gelaufen und hätten sich ausgeweint. Schließlich hätten die ratlosen Polizisten Wilsdorf gefragt, was sie als Nächstes tun sollten. Umgebung absuchen, habe sein Befehl gelautet. Rückfrage: Absuchen wonach? Wilsdorf: weitere Anweisungen folgen. Ende. »Das war’s dann?«, hat Mosgöller gefragt und Fauland angesehen, der keine Miene verzogen hat. »Ja, Scheiße, das war’s dann«, hat der Kriminalbeamte gesagt. »Die sind am Ende ihrer Weisheit. Nur ein Fehler der Entführer kann Wilsdorf noch retten. Oder der Dritte Weltkrieg.« – »In welchem Land leben wir überhaupt?«, hat Fauland kopfschüttelnd gefragt und Mosgöller die Hand auf die Schulter gelegt. »Es ist Zeit«, hat er ihm ins Ohr geflüstert und ihn hinaus zum Wagen begleitet, »die sollen den Jungen finden.«

Mosgöller kurbelt das Fenster auf der Beifahrerseite hinunter, startet den Wagen und rollt im ersten Gang die Straße entlang. Auf der Höhe von Eisenmengers Villa hält er an, nimmt den im Briefumschlag eingewickelten Bronzekopf, springt auf die Straße und wirft die gewichtige Botschaft in hohem Bogen auf den Betonweg, der zum Eingang der Villa hinführt. Gerade als er wieder hinters Lenkrad schlüpft, erkennt er aus den Augenwinkeln einen Schatten, der zwischen den parkenden Autos hervorwischt und sich in seine Richtung bewegt. Ein plötzlich einsetzendes Rauschen im Kopf macht ihn taub für alles, was nun geschieht. Er merkt nur, dass am Wagen gerüttelt wird, jedenfalls fühlt es sich an, als sei etwas heftig gegen das Blech gestoßen, etwas Weiches, wie ein Körper, dann splittert das Glas der Windschutzscheibe, aber er sitzt schon drin, kann den Gang einlegen und aufs Gas treten. Die Tür steht noch offen, doch er fährt los, spürt einen Schlag am linken Oberarm, einen weiteren am linken Bein, der Opel aber beschleunigt mit voller Kraft. Die offene Tür schlägt irgendwo an und kracht ins Schloss. Beim Treten auf das Kupplungspedal durchfährt sein Bein ein unerwarteter Schmerz, sodass er aufschreit und die Augen voll Tränen stehen, zweiter Gang, dritter Gang, dann geht nichts mehr, links fühlt sich tot an, während rechts das Gaspedal durchdrückt. Er spürt den kalten Wind in seinem Gesicht, der Motor heult und kreischt, doch er treibt den Wagen durch die leeren Straßen.

Mosgöller rast durch die Vorstadt, ohne zu wissen, wohin, ohne zu erkennen, ob er überhaupt verfolgt wird. Dann wird ihm übel, und er muss bremsen, um nicht den nächsten Gartenzaun zu durchbrechen und in einem Vorgarten zu landen, wo ihn die Polizei aus dem Wrack zieht. Er nimmt den rechten Fuß vom Gas, drückt das Bremspedal, der Motor stirbt ab, der Opel bleibt mitten auf einer schlecht beleuchteten Straße stehen. Mosgöller kotzt den Beifahrersitz voll und bemerkt erst danach, dass er ganz allein unterm Dezemberhimmel ist.

Auf der linken Seite ist er von der Schulter bis zu den Füßen klitschnass, voller Blut. Eine Zeit lang starrt er in die Dunkelheit und wartet, worauf auch immer. Er spürt keinen Schmerz, er wird nicht bewusstlos, niemand kommt, um ihn zu verhaften oder auch nur zu fragen, was denn mit ihm los sei. Nichts. Weihnachten ist tatsächlich die stillste Zeit im Jahr.

Er dreht den Schlüssel im Zündschloss, der Wagen springt an, der Motor läuft rund.

ACHIM

The moon that lingered over London Town, poor puzzled moon, he wore a frown, da spielt doch tatsächlich ein Fünf-Mann-Orchester in blütenweißen Anzügen A nightingale sang in Berkeley Square, als wäre nichts natürlicher als das Zusammenspiel von Hammondorgel, Saxofon, Bass, E-Gitarre, Schlagzeug, und ein mit singhalesischem Akzent singender Bongospieler unter einer rotierenden Discokugel, How could he know we two were so in love, die Damen und Herren im Saal sitzen über ihren Vorspeisen, das gedämpfte Licht streichelt die angespannten Gemüter, The whole darn world seemed upside down, manche unterhalten sich miteinander, Münder klappen auf und zu, doch zu lachen gibt es scheinbar wenig, die meisten Leute sind mit sich selbst beschäftigt, schauen ins Leere, suchen die weiße Decke nach einem durchschimmernden Bild ab, tippen mit den Fingerspitzen ungeduldig auf ihre Lippen oder blasen die Backen auf, The streets of town were paved with stars, als wär’s eine Zumutung, in diesem Amsterdamer Speisesaal einander weitgehend ignorieren zu müssen. Man könnte meinen, man befände sich in der großen Halle von Draculas Schloss, draußen wehte der Sturm, und niemand wagte sich zu erheben und sich auf sein Zimmer zurückzuziehen.

Achim Fauland, ein schlanker, ziemlich hoch gewachsener junger Mann mit bereits gelichtetem aschblonden Haar, seitlich kurz geschnitten und perfekt gescheitelt wie bei einem Filmschauspieler aus weit zurückliegenden Tagen, stampft mit einem Bein im Rhythmus der Musik. Er sitzt vor einem leeren Teller, und weil er nichts zu tun hat, schaut er immer wieder die Frau an seiner Seite an. Der ältere Mann links von ihm interessiert ihn nicht, er hat die Augen geschlossen und scheint zu schlafen.

»Worüber werden Sie sprechen?«, fragt er die Mittvierzigerin mit dem brüchigen brünetten Haar und den sehr langen Wimpern, die mit der Gabel die Konsistenz der Gemüselasagne auf dem Teller vor sich überprüft, scheinbar ohne seine Blicke bislang wahrgenommen zu haben. »Oder sind Sie nur die Begleitung eines Kollegen? Das wäre dann natürlich …«

Eine Erbse flutscht ihr unter den Zinken der Gabel davon und kullert über die Tischdecke. Sie beachtet den jungen Mann mit den Sommersprossen und der hellen Haut, die ihn jugendlicher aussehen lassen, als er wohl ist, weiterhin nicht.

»Man hat schon besser gegessen, das stimmt wohl«, sagt Achim Fauland.

Die Frau katapultiert eine weitere Erbse über den Tellerrand, er schürzt die Lippen. Sie schweigen. Das Orchester kommt zum Ende, der Sänger springt in die Höhe, nachdem er die Zeile I was there that night in Berkeley Square mit seinem hochtourigen und weitgehend konsonantenfreien Englisch trockengeschleudert hat und sinkt mit den letzten Akkorden wirkungsvoll zu Boden.

»Sieht man nicht mehr oft«, sagt Achim Fauland und applaudiert als Einziger im Saal. Der Mann links schlägt die Augen auf und selbst die Mittvierzigerin legt die Gabel hin und schaut ihn an, als hätte er eine glatte Lüge von sich gegeben. Ihre Augenlider klappen auf und zu, darunter schwimmen weite Pupillen in trübem Wasser. »Ist doch so«, sagt Achim Fauland unsicher und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Bert Kaempfert!«, ruft der ältere Mann an seiner Seite triumphierend und schnippt mit den Fingern, »klar, Kaempfert …«

»Reden Sie mit mir?«, fragt Achim Fauland.

»Na ja, nein, eher mit mir selbst. Ich hatte mir gerade den Kopf darüber zerbrochen, woher ich dieses Lied kenne. Eben ist es mir wieder eingefallen …«

Das Orchester spielt jetzt Craclin’ Rosie, der Sänger nimmt das Mikrofon in die Hand, steigt von der Bühne und singt aus dem Publikum heraus, das weiterhin so tut, als sei es taubblind. Oder als wären es Fische im schlammigen Wasser. Bei der Zeile Have me a time with a poor man’s lady wird die Tür zur Küche aufgestoßen und die Kellner schieben auf Rollwägen den noch abgedeckten Hauptgang in den Saal.

»Überraschung«, murmelt die Frau mit dem brüchigen Haar.

»Herrje«, ruft Achim Fauland, »wir müssen weiteressen und Sie haben noch nicht einmal Ihre Vorspeise angerührt.«

»Braden von die kalf auf aardappelpuree«, sagt der Kellner und schaufelt die Portionen auf die Teller, ohne die Gäste weiter zu beachten.

»Für mich nicht«, protestiert die Frau, doch sie bekommt ihr Essen dennoch vorgesetzt.

Achim Fauland schmunzelt. »Die Holländer haben uns den Krieg noch immer nicht verziehen«, sagt er.

»Sie sind zum ersten Mal dabei?«, fragt der ältere Mann.

»Ja«, sagt Achim Fauland. »Neunzehnhundertvierzig war ich noch nicht auf der Welt.«

»Aus Interesse?«

»Nicht ganz, muss ich zugeben. Paneuropäische Konferenz der Generalstaatsanwälte klingt ja doch, na ja …«

»Bizarr«, wirft die Frau ein. Sie ist plötzlich sehr rot im Gesicht geworden.

Achim Fauland und der Mann an seiner Seite essen schweigend ihren Kalbsbraten, die Frau kostet vom Püree und hält sich dann an den Wein.

Das Orchester spielt The lonely shepherd, der Singhalese schont seine Stimme und bläst die Panflöte. Dann schiebt der ältere Mann seinen Teller beiseite und sagt: »Wie, mein lieber junger Kollege, wenn Ihnen eines Tages oder Nachts ein Dämon in Ihre einsamste Einsamkeit nachschliche und Ihnen sagte: Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen …» Die Frau zieht ein Smartphone aus der Handtasche zu ihren Füßen und tippt in die Tasten. »… und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer, und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muss dir wiederkommen, und alles in derselben Reihe und Folge?«

»Und wie«, antwortet Achim Fauland, »wenn ich Ihnen sagte, dass ich Ihre Frage nicht verstehe?«

»Dem Sinn nach?«

»Nein, dem Grund nach.«

Sie essen weiter.

Im Saal ist es ein wenig dunkler geworden, die Kellner stellen mattgläserne Windlichter auf die Tische. The lonely shepherd erreicht seinen Höhepunkt.

»Kaempfert und Nietzsche und wie sie alle heißen, die Toten unseres Lebens«, sagt der ältere Mann. »Aber es geht um das Wesen der Liebe, um den Willen zur ewigen Wiederkehr des Immergleichen.«

»Werden Sie darüber sprechen?«, fragt Achim Fauland.

»Nein, nein, um Gottes willen, in dieser Angelegenheit sind wir Staatsanwälte keine Experten. Ich werde über gar nichts sprechen, das habe ich schon hinter mir.«

Schwer zu sagen, was es ist, die Kerzen, das dampfende Essen, die essenden, schweigenden und schauenden Körper, die verbrauchte Luft in einem geschlossenen Raum, Sabotage, eine defekte Heizung, Klimaerwärmung, es ist heiß und stickig geworden, wellenartig, die Haaransätze sind verklebt, Schweiß glänzt zwischen Nase und Oberlippe, Jacken und Sakkos werden abgelegt, auf den Hemden und Blusen zeichnen sich unter den Achseln und auf dem Rücken Flecken ab, Servietten und sogar Tischtücher werden zu Fächern oder Handtüchern, wie bei Fischen auf dem Trockenen klappen Münder auf und zu, die Kiemen zittern, Adern treten hervor, doch es ist nicht genug Sauerstoff da, um die Lungen zu füllen, das Orchester jedoch spielt weiter, als spielte es auf einem untergehenden Dampfer, Life has its problems and I get my share, Hände reißen Krägen auf, und je mehr die Menge in Bewegung gerät, umso freier liegen die blendend weißen Zähne des Singhalesen, der nun mit den Bongos das Wiegenlied in einen Samba umleitet.

»Ich muss einen Augenblick an die Luft«, sagt die Frau, und dann, leise in Achim Faulands Ohr: »Kommen Sie mit?«

»Unbedingt«, sagt er und zögert kurz, als er den älteren Mann an seiner linken Seite leblos im Sessel hängen sieht. Die Augen sind geschlossen, die Lippen nach innen gefallen wie bei jemandem ohne Zähne im Mund. Er legt ihm die Hand auf die Schulter, um ihn zu rütteln, doch dann folgt er der Frau nach draußen.

Vor dem Hotel laufen sie in eine Wand aus Regen. Die Frau stößt ein paar Schreie aus und winkt einem Taxi, das im Schritttempo die Straße entlangfährt. »Steigen Sie ein!«, ruft sie Achim Fauland zu, der nicht zögert und nach ihr in den Wagen schlüpft.

»Just drive a few times around the block«, sagt sie zum Taxifahrer und lässt sich wie erschöpft auf die Rückenlehne fallen.

Achim Fauland betrachtet eine zerstörte Frau. Die Frisur ist zu einem dünnen Haarteppich zusammengefallen, der das halbe Gesicht und vor allem die Augen verklebt. Unter dem ablösenden Make-up liegt ein rotfleckiger, kraterübersäter Grund. Dann schaut er an ihr vorbei zum Fenster hinaus.

»Fahren wir wirklich nur um den Block?«

»Was denken Sie?«, fragt die Frau.

Draußen ist fast nichts zu erkennen, eine Häuserfassade gleicht der anderen.

»Ich denke, ich steige aus.«

»So wie Sie in der Scheiße sitzen, wird Ihnen das nichts nützen.«

Er schaut sie mit offenem Mund an, dann ist es an ihm, sich auf die Rückenlehne fallen zu lassen.

Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht und lächelt ihm zu. »Ich hab mich auch schon einmal besser gefühlt«, sagt sie.

Das Taxi fährt sie durch den Amsterdamer Regen. Sie fahren nicht im Kreis.

2

RUDI

Der König ist tot. Sie tragen den Leichnam durch die Straßen, als wäre er tatsächlich der König gewesen. Sie sollen ihn noch einmal sehen und verstehen, dass sich die Dinge von nun an ändern werden. Vielleicht haben sie sich schon längst geändert, ohne sein Zutun, vielleicht war er schon lange kein König mehr, vielleicht ist er nie einer gewesen.

Aber er war es, viele Jahrzehnte lang, für manche bis zum Schluss.