Deutschland. Ein Wintermärchen

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Fußnoten

  1. Anspielung auf Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther. Werthers unglückliche Liaison mit Lotte endet mit dem Selbstmord der Titelfigur. Das wird als ein Versagen aus übersteigerter Empfindsamkeit sowie als resignierende Flucht gedeutet.

  2. Ludwig Börne: Briefe aus Paris (Brief vom 25. Februar 1833).

  3. Drahtverhau … Bluthunde: Am 13. 8. 1961 wurde die ›Berliner Mauer‹ errichtet, die Westberlin vom Gebiet der DDR abriegelte.

  4. Am 6. 10. 1961 erhielten die Grenztruppen der DDR den Befehl, auf sog. ›Republikflüchtlinge‹ gezielt zu schießen.

  5. Villon … Lied: Anspielung Biermanns auf sein Lied Villon in Deutschland. Geschildert wird darin ein fiktiver Besuch des Lyrikers und Vaganten François Villon (1431–1463) bei Biermann in der DDR. Die Kugeln der Volkspolizisten können dem Phantom nichts anhaben; aus den Löchern in seinem Körper rinnt statt Blut nur der zuvor gezechte Rotwein.

  6. geeint … halbiert: die Proklamation des Deutschen Reiches 1871 und die deutsche Teilung 1949 bis 1990.

  7. Die Alchemie, eine Vorform der Chemie, war bestrebt, künstlich Gold herzustellen.

  8. Anspielung auf das bundesdeutsche ›Wirtschaftswunder‹ der 1950er Jahre, das durch Finanzhilfen der USA (›Marshallplan‹) ermöglicht wurde.

  9. Josef Stalin, 1927–1953 Diktator der Sowjetunion, ließ nach 1945 in der DDR mit Nachdruck die Entnazifizierung betreiben.

  10. Der wachsende Unmut der DDR-Bevölkerung artikulierte sich in den Monaten vor dem 9. 11. 1989 bei Massendemonstrationen an Montagabenden.

  11. Diskussionsforen

  12. Sie waren in der DDR kaum erhältlich und galten daher als Inbegriff von Wohlstand und Luxus.

  13. ›Sozialistische Einheitspartei Deutschlands‹ – die Staatspartei der DDR

  14. Schnüffelnasen: Gemeint sind die ›Informellen Mitarbeiter‹ (IMs), die im Auftrag des ›Ministeriums für Staatssicherheit‹ Mitbürger bespitzelten.

Deutschland. Ein Wintermärchen

Vorwort

Das nachstehende Gedicht schrieb ich im diesjährigen Monat Januar zu Paris, und die freie Luft des Ortes wehete in manche Strophe weit schärfer hinein, als mir eigentlich lieb war. Ich unterließ nicht, schon gleich zu mildern und auszuscheiden, was mit dem deutschen Klima unverträglich schien. Nichtsdestoweniger, als ich das Manuskript im Monat März an meinen Verleger nach Hamburg schickte, wurden mir noch mannigfache Bedenklichkeiten in Erwägung gestellt. Ich musste mich dem fatalen Geschäfte des Umarbeitens nochmals unterziehen, und da mag es wohl geschehen sein, dass die ernsten Töne mehr als nötig abgedämpft oder von den Schellen des Humors gar zu heiter überklingelt wurden. Einigen nackten Gedanken habe ich im hastigen Unmut ihre Feigenblätter wieder abgerissen, und zimperlich spröde Ohren habe ich vielleicht verletzt. Es ist mir leid, aber ich tröste mich mit dem Bewusstsein, dass größere Autoren sich ähnliche Vergehen zuschulden kommen ließen. Des Aristophanes will ich zu solcher Beschönigung gar nicht erwähnen, denn der war ein blinder Heide, und sein Publikum zu Athen hatte zwar eine klassische Erziehung genossen, wusste aber wenig von Sittlichkeit. Auf Cervantes und Molière könnte ich mich schon viel besser berufen; und ersterer schrieb für den hohen Adel beider Kastilien, letzterer für den großen König und den großen Hof von Versailles! Ach, ich vergesse, dass wir in einer sehr bürgerlichen Zeit leben, und ich sehe leider voraus, dass viele Töchter gebildeter Stände an der Spree, wo nicht gar an der Alster, über mein armes Gedicht die mehr oder minder gebogenen Näschen rümpfen werden! Was ich aber mit noch größerem Leidwesen voraussehe, das ist das Zeter jener Pharisäer der Nationalität, die jetzt mit den Antipathien der Regierungen Hand in Hand gehen, auch die volle Liebe und Hochachtung der Zensur genießen und in der Tagespresse den Ton angeben können, wo es gilt, jene Gegner zu befehden, die auch zugleich die Gegner ihrer allerhöchsten Herrschaften sind. Wir sind im Herzen gewappnet gegen das Missfallen dieser heldenmütigen Lakaien in schwarz-rot-goldner Livree. Ich höre schon ihre Bierstimmen: Du lästerst sogar unsere Farben, Verächter des Vaterlands, Freund der Franzosen, denen du den freien Rhein abtreten willst! Beruhigt euch. Ich werde eure Farben achten und ehren, wenn sie es verdienen, wenn sie nicht mehr eine müßige oder knechtische Spielerei sind. Pflanzt die schwarz-rot-goldne Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens, macht sie zur Standarte des freien Menschtums, und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben. Beruhigt euch, ich liebe das Vaterland ebenso sehr wie ihr. Wegen dieser Liebe habe ich dreizehn Lebensjahre im Exile verlebt, und wegen eben dieser Liebe kehre ich wieder zurück ins Exil, vielleicht für immer, jedenfalls ohne zu flennen oder eine schiefmäulige Duldergrimasse zu schneiden. Ich bin der Freund der Franzosen, wie ich der Freund aller Menschen bin, wenn sie vernünftig und gut sind, und weil ich selber nicht so dumm oder so schlecht bin, als dass ich wünschen sollte, dass meine Deutschen und die Franzosen, die beiden auserwählten Völker der Humanität, sich die Hälse brächen zum Besten von England und Russland und zur Schadenfreude aller Junker und Pfaffen dieses Erdballs. Seid ruhig, ich werde den Rhein nimmermehr den Franzosen abtreten, schon aus dem ganz einfachen Grunde: weil mir der Rhein gehört. Ja, mir gehört er, durch unveräußerliches Geburtsrecht, ich bin des freien Rheins noch weit freierer Sohn, an seinem Ufer stand meine Wiege, und ich sehe gar nicht ein, warum der Rhein irgend einem Andern gehören soll als den Landeskindern. Elsass und Lothringen kann ich freilich dem deutschen Reiche nicht so leicht einverleiben, wie ihr es tut, denn die Leute in jenen Landen hängen fest an Frankreich wegen der Rechte, die sie durch die französische Staatsumwälzung gewonnen, wegen jener Gleichheitsgesetze und freien Institutionen, die dem bürgerlichen Gemüte sehr angenehm sind, aber dem Magen der großen Menge dennoch Vieles zu wünschen übrig lassen. Indessen, die Elsasser und Lothringer werden sich wieder an Deutschland anschließen, wenn wir das vollenden, was die Franzosen begonnen haben, wenn wir diese überflügeln in der Tat, wie wir es schon getan im Gedanken, wenn wir uns bis zu den letzten Folgerungen desselben emporschwingen, wenn wir die Dienstbarkeit bis in ihrem letzten Schlupfwinkel, dem Himmel, zerstören, wenn wir den Gott, der auf Erden im Menschen wohnt, aus seiner Erniedrigung retten, wenn wir die Erlöser Gottes werden, wenn wir das arme, glückenterbte Volk und den verhöhnten Genius und die geschändete Schönheit wieder in ihre Würde einsetzen, wie unsere großen Meister gesagt und gesungen, und wie wir es wollen, wir, die Jünger – ja, nicht bloß Elsass und Lothringen, sondern ganz Frankreich wird uns alsdann zufallen, ganz Europa, die ganze Welt – die ganze Welt wird deutsch werden! Von dieser Sendung und Universalherrschaft Deutschlands träume ich oft, wenn ich unter Eichen wandle. Das ist mein Patriotismus.

Ich werde in einem nächsten Buche auf dieses Thema zurückkommen, mit letzter Entschlossenheit, mit strenger Rücksichtslosigkeit, jedenfalls mit Loyalität. Den entschiedensten Widerspruch werde ich zu achten wissen, wenn er aus einer Überzeugung hervorgeht. Selbst der rohesten Feindseligkeit will ich alsdann geduldig verzeihen; ich will sogar der Dummheit Rede stehen, wenn sie nur ehrlich gemeint ist. Meine ganze schweigende Verachtung widme ich hingegen dem gesinnungslosen Wichte, der aus leidiger Scheelsucht oder unsauberer Privatgiftigkeit meinen guten Leumund in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen sucht und dabei die Maske des Patriotismus, wo nicht gar die der Religion und der Moral, benutzt. Der anarchische Zustand der deutschen politischen und literarischen Zeitungsblätterwelt ward in solcher Beziehung zuweilen mit einem Talente ausgebeutet, das ich schier bewundern musste. Wahrhaftig, Schufterle ist nicht tot, er lebt noch immer und steht seit Jahren an der Spitze einer wohlorganisierten Bande von literarischen Strauchdieben, die in den böhmischen Wäldern unserer Tagespresse ihr Wesen treiben, hinter jedem Busch, hinter jedem Blatt versteckt liegen und dem leisesten Pfiff ihres würdigen Hauptmanns gehorchen.

Noch ein Wort. Das »Wintermärchen« bildet den Schluss der »Neuen Gedichte«, die in diesem Augenblick bei Hoffmann und Campe erscheinen. Um den Einzeldruck veranstalten zu können, musste mein Verleger das Gedicht den überwachenden Behörden zu besonderer Sorgfalt überliefern, und neue Varianten und Ausmerzungen sind das Ergebnis dieser höheren Kritik. –

 

Hamburg, d. 17. Sept. 1844     Heinrich Heine

Caput I

Im traurigen Monat November war’s,

Die Tage wurden trüber,

Der Wind riss von den Bäumen das Laub,

Da reist ich nach Deutschland hinüber.

5Und als ich an die Grenze kam,

Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen

In meiner Brust, ich glaube sogar,

Die Augen begunnen zu tropfen.

Und als ich die deutsche Sprache vernahm,

10Da ward mir seltsam zumute;

Ich meinte nicht anders, als ob das Herz

Recht angenehm verblute.

Ein kleines Harfenmädchen sang.

Sie sang mit wahrem Gefühle

15Und falscher Stimme, doch ward ich sehr

Gerühret von ihrem Spiele.

Sie sang von Liebe und Liebesgram,

Aufopfrung und Wiederfinden

Dort oben, in jener besseren Welt,

20Wo alle Leiden schwinden.

Sie sang vom irdischen Jammertal,

Von Freuden, die bald zerronnen,

Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt

Verklärt in ew’gen Wonnen.

25Sie sang das alte Entsagungslied,

Das Eiapopeia vom Himmel,

Womit man einlullt, wenn es greint,

Das Volk, den großen Lümmel.

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,

30Ich kenn auch die Herren Verfasser;

Ich weiß, sie tranken heimlich Wein

Und predigten öffentlich Wasser.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,

O Freunde, will ich euch dichten!

35Wir wollen hier auf Erden schon

Das Himmelreich errichten.

Wir wollen auf Erden glücklich sein

Und wollen nicht mehr darben;

Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,

40Was fleißige Hände erwarben.

Es wächst hienieden Brot genug

Für alle Menschenkinder,

Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,

Und Zuckererbsen nicht minder.

45Ja, Zuckererbsen für jedermann,

Sobald die Schoten platzen!

Den Himmel überlassen wir

Den Engeln und den Spatzen.

Und wachsen uns Flügel nach dem Tod,

50So wollen wir euch besuchen

Dort oben, und wir, wir essen mit euch

Die seligsten Torten und Kuchen.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,

Es klingt wie Flöten und Geigen!

55Das Miserere ist vorbei,

Die Sterbeglocken schweigen.

Die Jungfer Europa ist verlobt

Mit dem schönen Geniusse

Der Freiheit, sie liegen einander im Arm,

60Sie schwelgen im ersten Kusse.

Und fehlt der Pfaffensegen dabei,

Die Ehe wird gültig nicht minder –

Es lebe Bräutigam und Braut,

Und ihre zukünftigen Kinder!

65Ein Hochzeitkarmen ist mein Lied,

Das bessere, das neue!

In meiner Seele gehen auf

Die Sterne der höchsten Weihe –

Begeisterte Sterne, sie lodern wild,

70Zerfließen in Flammenbächen –

Ich fühle mich wunderbar erstarkt,

Ich könnte Eichen zerbrechen!

Seit ich auf deutsche Erde trat,

Durchströmen mich Zaubersäfte –

75Der Riese hat wieder die Mutter berührt,

Und es wuchsen ihm neu die Kräfte.

Caput II

Während die Kleine von Himmelslust

Getrillert und musizieret,

Ward von den preußischen Douaniers

Mein Koffer visitieret.

5Beschnüffelten alles, kramten herum

In Hemden, Hosen, Schnupftüchern;

Sie suchten nach Spitzen, nach Bijouterien,

Auch nach verbotenen Büchern.

Ihr Toren, die ihr im Koffer sucht!

10Hier werdet ihr nichts entdecken!

Die Contrebande, die mit mir reist,

Die hab ich im Kopfe stecken.

Hier hab ich Spitzen, die feiner sind

Als die von Brüssel und Mecheln,

15Und pack ich einst meine Spitzen aus,

Sie werden euch sticheln und hecheln.

Im Kopfe trage ich Bijouterien,

Der Zukunft Krondiamanten,

Die Tempelkleinodien des neuen Gotts,

20Des großen Unbekannten.

Und viele Bücher trag ich im Kopf!

Ich darf es euch versichern,

Mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest

Von konfiszierlichen Büchern.

25Glaubt mir, in Satans Bibliothek

Kann es nicht schlimmere geben;

Sie sind gefährlicher noch als die

Von Hoffmann von Fallersleben! –

Ein Passagier, der neben mir stand,

30Bemerkte mir, ich hätte

Jetzt vor mir den preußischen Zollverein,

Die große Douanenkette.

»Der Zollverein« – bemerkte er –

»Wird unser Volkstum begründen,

35Er wird das zersplitterte Vaterland

Zu einem Ganzen verbinden.

Er gibt die äußere Einheit uns,

Die sogenannt materielle;

Die geistige Einheit gibt uns die Zensur,

40Die wahrhaft ideelle –

Sie gibt die innere Einheit uns,

Die Einheit im Denken und Sinnen;

Ein einiges Deutschland tut uns not,

Einig nach außen und innen.«