coverpage

Über dieses Buch:

Oman im 18. Jahrhundert. Die abenteuerlustige Lady Olivia kann es kaum erwarten, im Hafen von Maskat von Bord zu gehen und ein neues Leben zu beginnen – bunte Souks, der Duft süßer Datteln und exotische Palmengärten warten auf sie. Schon beim ersten Ball hat sie eine aufregende Begegnung mit Prinz Abdul, dem Thronfolger des Oman. Doch wenn es nach ihrem Vater geht, soll das ihr einziges Abenteuer bleiben: Fortan muss sie ihre Tage im goldenen Käfig der Diplomatenvilla verbringen. Als Olivia dies nicht mehr erträgt, schleicht sie sich davon – und wird von Beduinen in die Wüste verschleppt! Der Einzige, der sie jetzt noch retten kann, ist Prinz Abdul. Obwohl ihr Verstand etwas anderes von ihr verlangt, kann Olivia nicht anders: Sie fühlt sich wie magisch von den dunklen Augen ihres Schutzengels angezogen. Aber eine solche Liebe ist der englischen Lady nicht gestattet …

Über die Autorin:

Nora Darius hat lange als Lektorin in verschiedenen Verlagen gearbeitet. Heute lebt sie als freie Autorin im Rheinland und geht mit Begeisterung ihrem Hobby nach, dem Reisen. Bisher schrieb sie über 700 Kurzgeschichten, zahlreiche Drehbücher, Taschenbücher und Kurzromane und erreichte eine Gesamtauflage von über einer Million.

Nora Darius veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Romane und Kurzgeschichtensammlungen:
»Das Glück kommt manchmal unverhofft«
»Weil du mich verzaubert hast«
»Die Sprache der Liebe«
»Himbeerküsse mit Minze«
»Schmetterlingsküsse«
»Sommerküsse zum Frühstück«

***

Aktualisierte Originalausgabe April 2020

Dieses Buch erschien bereits 2018 unter dem Titel »Die Braut des Wüstenfürsten« bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Beate Darius

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Kzyrina Olga, Hamdan Yoshida und AdobeStock/obrik

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-95824-811-3

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: info@dotbooks.de. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Gärten von Maskat« an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Nora Darius

Die Gärten von Maskat

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

Das leise flackernde Kerzenlicht brach sich im Glanz der Kristalllüster, die an vergoldeten Eisenschnüren von der hohen Stuckdecke herabhingen. Die roten Rosen und weißen Lilien, die in hohen Amphoren im Raum verteilt waren, verströmten einen betörenden Duft, der sich mit dem Parfüm der Damen mischte.

»Darf ich um den nächsten Tanz bitten, Olivia?« Ein gutaussehender Mann in der Uniform eines Königlichen Marineleutnants verbeugte sich mit verschmitztem Lächeln vor einer blonden Schönheit.

»Meine Tanzkarte ist leider schon voll, Timothy. Du bist zu spät.« Lachend schlug sie ihm mit dem safranfarbenen Fächer auf den Arm.

»Ach was! Vergiss die Tanzkarte! Dieser Walzer gehört mir!« Und schon umfasste er die zarte Taille der jungen Dame und führte sie in die Mitte des Raums, dessen glänzendes Parkett perfekt für das Tanzvergnügen war.

»Aber … Christopher Keeling hatte um diesen Walzer gebeten.«

»Du hast schon vier Mal mit ihm getanzt. Jetzt muss er verzichten.« Timothy führte Olivia geschickt in Richtung der hohen Flügeltüren, die den Weg hinaus auf die Terrasse freigaben. Noch bevor einer der Diener, die überall bereitstanden, eine Tür öffnen konnte, hatte der junge Mann dies schon selbst getan. »Komm mit, ich muss dir was zeigen.«

»Aber …« Olivia zögerte. Draußen nieselte es leicht, dazu wehte von der Themse her ein kühler Wind. »Es ist viel zu kalt.«

»Ich wärme dich.« Schon hatte er seine Jacke ausgezogen und legte sie ihr um die Schultern. Dabei berührten seine Finger die zarte Haut des Nackens, glitten tiefer, versuchten sich in ihrem Dekolleté zu verirren.

»Timothy!« Mit einer raschen Drehung entzog sich Olivia. »Du bist unmöglich.«

»Sagtest du schon.« Er grinste. »Aber was soll ich machen – dein Liebreiz raubt mir immer wieder den Verstand.«

»Dann wird es Zeit, dass ich mich wieder ins Haus begebe.«

Er lachte und gab ihr einen übermütigen Kuss aufs weizenblonde Haar. »Du nimmst mich nie ernst, nicht wahr?«

»Wie sollte ich? Du bist in meinen Augen immer noch der kleine Junge, mit dem ich meinen ersten Ausritt auf einem Pony unternommen habe.«

»Wenigstens da war ich der Erste«, murmelte er.

»Das will ich nicht gehört haben.« Olivia errötete ein wenig. »Du immer mit deinen Anzüglichkeiten! Vergiss nicht, dass du mit einer Dame sprichst.«

Er verbeugte sich übertrieben tief. »Wie könnte ich!« Als er sah, dass sie fror, zog er schnell ein Papierstück aus der Hosentasche. »Hier, lies rasch, ehe wir zurück in den Saal gehen. Und dann sag mir, was du davon hältst.«

Olivia überflog die wenigen Zeilen. Timothys bester Freund Steve hatte sie geschrieben. Der Brief kam aus der Kapprovinz am südlichen Zipfel Afrikas.

»Es gibt für einen Mann mit Visionen hier unendlich viele Möglichkeiten«, schrieb Steve Carstensen. »Ich bemühe mich, immer mehr Land aufzukaufen und eine Farm zu errichten. Die Erde ist fruchtbar, man muss sie nur zu nutzen wissen. Glaub mir, mein Junge, hier könntest auch Du Dein Glück machen. Vor einigen Monaten ist die Sklaverei abgeschafft worden, seither ist das ganze Land im Umbruch. – Wage es, mein Freund, und komm her zu mir. Gemeinsam werden wir es hier zu Ansehen und Wohlstand bringen. Viel brauchst du nicht, nur ein mutiges Herz und das Wissen, wie man eine Farm bewirtschaftet. Ich bin sicher, du hast beides.«

»Und – was wirst du tun?« Olivia sah den Freund aus Kindertagen forschend an. Sie wusste, dass Timothys Familie vor Jahren fast das gesamte Vermögen verloren hatte. Fehlspekulationen des Vaters und drei Jahre lang Missernten hatten die letzten Reserven aufgebraucht.

»Ich … ich denke, dass ich seinen Vorschlag annehmen werde.« Timothy Carrington war ernst geworden. »Meine Karriere beim Militär werde ich nicht fortsetzen können. Es mangelt an Geld, wie du weißt. Und so …« Er zuckte mit den Schultern. »Was hält mich denn noch hier? Der größte Teil unserer Ländereien ist verkauft worden. Das Stadthaus ist marode und wird den nächsten Winter nicht ohne gravierende Schäden überstehen. Und mein Vater …« Ein bitterer Zug grub sich um seinen Mund. »Er weigert sich, die Wirklichkeit zu akzeptieren und verbringt weiterhin seine Nächte in Spielclubs – wenn er nicht gerade mit seiner neuen jungen Frau auf Reisen ist. Auf ihn darf ich weder hoffen, noch sollte ich länger Rücksicht auf ihn nehmen.«

Olivia hob die Hand und streichelte über seine Wange, die bereits wieder ein wenig rau war, obwohl er sich gewiss kurz vor Beginn des Festes rasiert hatte. »Ich werde dich vermissen.«

»Komm mit. Ich … ich wäre der glücklichste Mann der Welt.« Er legte die Arme um sie und zog sie beinahe schmerzhaft fest an sich. »Olivia, ich liebe dich wirklich. Sieh endlich den Mann in mir, nicht mehr den Kinderfreund.«

Sie biss sich auf die Lippen und senkte den Kopf. »Mein Lieber … ich wünschte, ich könnte deine Gefühle erwidern. Aber für mich wirst du immer nur ein guter Freund sein. Ich hoffe jedoch von ganzem Herzen, du bewahrst mir auch in der Fremde deine Freundschaft.«

»Ein ganzes Leben lang.« Er nahm ihre Hände, zog sie an die Lippen und küsste jeden einzelnen der inzwischen kalten Finger.

Ein sanfter Schauder durchlief Olivia. Sie hob den Kopf und sah in Timothys treue Augen, die sie voller Zärtlichkeit anblickten. Als er sich niederbeugte und behutsam mit seinen Lippen ihren Mund berührte, wehrte sie sich nicht. Es war ein zarter, flüchtiger Kuss. Wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Olivia horchte in sich hinein – was empfand sie? Erregung? Leidenschaft?

Nein, da war nichts als Wärme und eine große Zuneigung.

»Mir ist kalt«, flüsterte sie und trat einen Schritt zurück.

»Verzeih, ich war viel zu egoistisch.« Timothy Carrington reichte ihr den Arm und führte sie in den Ballsaal zurück. Nichts in seiner Miene verriet etwas von dem Aufruhr, der in ihm tobte.

Seit er ein Mann war, seit auch Olivia vom Mädchen zur Frau erblüht war, liebte er sie. Doch nie hatte er offen von seinen Gefühlen gesprochen, ahnte er doch, dass sie nicht mit der gleichen Intensität erwidert werden würden.

Blieb also nur die Hoffnung auf eine Freundschaft, die Bestand haben würde, auch wenn 1000 und mehr Meilen sie demnächst trennten.

»Olivia, ich habe Sie gesucht!« Mit leicht vorwurfsvoller Miene kam Christopher Keeling auf das Paar zu. Den attraktiven Marineoffizier an Olivias Seite würdigte er kaum eines Blickes, besitzergreifend nahm er Olivias Hand und zog ihren Arm durch seinen. »Zwei Walzer und eine Gavotte sind uns schon entgangen. Dabei habe ich mich für all diese Tänze in Ihre Tanzkarte eingetragen.«

»Verzeihen Sie, lieber Christopher, doch Timothy und ich sind seit den Kindertagen beste Freunde. Es gab ein Problem, das wir ungestört erörtern wollten.« Sie lächelte unverbindlich. »Und jetzt hätte ich gern ein Glas Champagner.« Sie drückte noch einmal kurz Timothys Arm, ehe sie sich Christopher Keeling zuwandte.

»Sofort, meine Liebe.« Der rotblonde, extrem schlanke Mann winkte einem der Lohnkellner, der ein mit Champagnergläsern gefülltes Tablett trug. Obwohl Christopher Keeling gerade erst 34 Jahre alt geworden war, wirkte sein Gesicht älter. Scharfe Linien zogen sich von den Wangen hinunter zum schmallippigen Mund. Die Haltung war leicht gebückt, das konnte auch der perfekt geschneiderte Anzug aus leichter dunkelblauer Wolle nicht kaschieren. Das langgeschnittene Jackett war am Revers und an den Aufschlägen der Ärmel mit feinstem Seidenbrokat verziert, die Knöpfe aus Gold besaßen in der Mitte kleine Diamanten. Eine große graue Perle mit Diamant war in der Mitte der zartgelben Krawatte befestigt.

»Danke.« Olivia nickte dem älteren Mann zu, Christopher hingegen erachtete es nicht für notwendig, dem Lakaien in einer schwarz-goldenen Uniform zu danken.

»Sie sehen bezaubernd aus, liebste Olivia, und ich gestehe, dass ich es nur ungern sehe, wenn Sie sich anderen Herren zuwenden.« Obwohl er sich um ein unverbindliches Lächeln bemühte, konnte Christopher Keeling seinen Zorn kaum verbergen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, die schöne Olivia für sich zu gewinnen. Jeden Rivalen würde er ausschalten, das hatte er sich geschworen! Ein Hungerleider wie dieser Marineleutnant sollte sich gar nicht erst einbilden, der schönen Olivia Bartingcourt den Hof machen zu können!

Mit Besitzerstolz umfing sein Blick die schlanke Gestalt im meerblauen Seidenkleid, das sich in der unteren Hälfte des Rockes in drei breiten Volants bauschte. Olivias Wespentaille wurde durch ein breites dunkelblaues Seidenband betont. Ihr einziger Schmuck waren Ohrringe aus Aquamarinen und eine zarte Kette, an der ein einzelner Aquamarin in Tropfenform hing.

Christopher registrierte dies genau. Es passte zu den Erkundigungen, die er über die Familie Bartingcourt eingeholt hatte: Sie waren verarmt, ob sie im nächsten Jahr noch dieses elegant möblierte Stadthaus in Londons bester Gegend würden bewohnen können, war äußerst fraglich.

Zum Glück kann ich mir eine arme Braut leisten, schoss es Christopher durch den Sinn, als er Olivia zuprostete. Er hatte von einer alten Tante einen großen Besitz an der schottischen Grenze geerbt. Summer Hill Castle warf jährlich etliche 1000 Pfund an Pachterträgen ab. Dazu kamen die Erlöse aus Geschäften in Indien, die er gemeinsam mit seinem Vater machte. Die Spielgewinne, die er hin und wieder in dubiosen Clubs erzielte, wollte er gar nicht beziffern, das war Geld, das er mit leichter Hand wieder ausgab – für Pferde, für Huren, für sein geheimes, ausschweifendes Leben fernab von dem feudalen Haus, das er in London gemeinsam mit seinem Vater bewohnte. Auf dem Familiensitz Keeling Castle, der knapp 100 Meilen von London entfernt lag, hielten sich beide Herren nur selten auf.

Christopher Keeling liebte das Leben, den Luxus und die Abwechslung, die ihm die Stadt vor allem in den Wintermonaten bot. Es gab Soireen, Bälle, kleine intime Dinnerpartys in seinem Club. Doch obwohl er sich alle Frauen kaufen konnte, die er begehrte – Olivias Anmut, ihre Unschuld reizten ihn mehr als alle Schönheiten, die er in seinen jungen Jahren kennengelernt hatte. Nur Olivia wollte er heiraten. Ihre zarte Schönheit, ihre Reinheit faszinierten ihn, seit er ihr zum ersten Mal begegnet war.

Nachdem sie die Sektkelche geleert hatten, tanzten sie zwei Mal miteinander, dann spielte die Kapelle einen Tusch.

»Gleich ist Mitternacht!« Olivia sah sich nach ihrem Vater um. Der Gastgeber strebte soeben mit langen Schritten auf das kleine Podium zu, auf dem die sieben Musiker Platz genommen hatten.

William Lord Bartingcourt, seit über acht Jahren verwitwet, war eine imposante Erscheinung. Er überragte die meisten der anwesenden Herren um einen halben Kopf. Sein dunkles Haar war an den Schläfen ergraut, was ihm ein noch distinguierteres Aussehen verlieh. An diesem Abend trug er einen schwarzen Frack mit einer fliederfarbenen Schärpe, an der zwei schwere Orden prangten, die ihm King William IV. verliehen hatte. Seit etlichen Jahren war Lord William im Dienst der Krone unterwegs, meist waren es geheime Missionen, mit denen er betraut wurde.

Als er nun lächelnd in die Runde blickte, sah man ihm nicht an, dass ihn massive Sorgen und Zukunftsängste plagten. Souverän bat er mit einer knappen Geste um Gehör. Dann hob er sein Sektglas:

»Liebe Freunde, liebe Gäste! Ein ereignisreiches Jahr geht zu Ende. Freuen wir uns, dass wir es gesund haben erleben dürfen – und trinken wir auf das Jahr 1835, das gewiss noch etliche Überraschungen für uns bereithält. Ich hoffe und wünsche uns allen, dass es positive Überraschungen sein mögen. Uns allen ein gutes und gesundes neues Jahr!«

Die Ballbesucher hoben die Hände, und gemeinsam mit dem Kapellmeister zählten sie dann die letzten Sekunden des alten Jahres ab.

»Prosit Neujahr! Auf das Jahr 1835!«, schallte es dann laut und fröhlich durcheinander. Man trank sich zu, Küsse und Umarmungen wurden ausgetauscht.

Olivia umarmte zunächst ihren Vater, der ihr zuraunte: »Alles Liebe für dich, mein Schatz. Möge der Himmel dich in den folgenden Monaten behüten und segnen.«

»Dir nur Gutes, Papa«, erwiderte Olivia heiter und wandte sich gleich darauf zwei jungen Herren zu, die ihr Glück für die nächsten Monate wünschten.

Keiner der Anwesenden sah es dem Gastgeber an, dass ihm ganz elend zumute war bei dem Gedanken an die kommenden Monate. Lord William hatte sich verspekuliert. Seine Geschäfte mit Ostindien waren zum Teil schiefgegangen. Zwei Schiffsladungen waren verschollen, zudem waren die Erträge aus der Pferdezucht und dem Gutshof, den er im Süden Englands unterhielt, so schlecht wie nie zuvor gewesen.

So klug und umsichtig Lord William im diplomatischen Dienst war, so wenig Geschick besaß er in geschäftlichen Dingen. Die Gutsverwaltung überließ er einem Angestellten, die Pferdezucht wurde ebenfalls von einem Verwalter betrieben. Beides waren nicht gerade seriöse Männer, vor allem der rothaarige Ire, der dem Gestüt vorstand, arbeitete lieber in die eigene Tasche, als den Besitz im Sinne seines Herrn zu bewirtschaften.

Von den Nöten, die ihren Vater quälten, ahnte Olivia allerdings nichts. Unbekümmert und strahlend lächelnd nahm sie die Neujahrswünsche entgegen, trank diesem und jenem Gast zu und ließ sich, nachdem sie ihre Pflichten als junge Gastgeberin erfüllt hatte, von Christopher Keeling zur Tanzfläche führen.

Er hielt sie fester, als es schicklich war, doch sie ließ ihn gewähren. Seine Nähe war nicht unangenehm, ein dezenter Duft umgab ihn, der Stoff seines Jacketts war weich und von exzellenter Qualität. Zudem tanzte er hervorragend, und so ließ sie sich führen, während ihre Gedanken immer noch bei Timothy und seinen Auswanderungsplänen waren.

Sie tanzten fast eine halbe Stunde lang ununterbrochen, dann bat Olivia lachend: »Gnade, lieber Freund! Ich brauche eine Pause. Und einen Schluck Champagner!«

»Mit Vergnügen!« Christopher reichte ihr galant den Arm und führte sie durch eine der hohen Flügeltüren hinaus ins Treppenhaus. Auch hier war alles festlich dekoriert, ein paar kleine Tische, um die weinrote Samtsessel arrangiert waren, luden zum Verweilen ein.

Schon wollte sich Olivia in einen der Sessel sinken lassen, doch Christopher hinderte sie mit festem Griff daran. »Nein, wir gehen dort hinüber. Ich habe eine Überraschung für Sie.«

Sekundenlang wollte die junge Dame sich gegen seinen energischen Widerspruch wehren, wollte seine Hand, die ihren Oberarm viel zu fest umklammert hielt, abschütteln, doch dann ließ sie es, zumal ihre Neugier größer war als das vage Unbehagen, das sie plötzlich empfand, als sie seine Hand auf ihrer nackten Haut spürte.

Christopher dirigierte sie zu einer wenige Schritte entfernten Tür, die sich, als sie sich näherten, wie von Geisterhand bewegt öffnete.

Olivia stieß einen kleinen Schrei aus, als sie auf einem Tisch drei hohe Vasen mit mehr als 100 roten Rosen erblickte.

»Ich würde sie Ihnen am liebsten zu Füßen legen, Olivia.« Christopher zog eine der Blüten aus einer Vase. Mit einer galanten Verbeugung überreichte er sie Olivia.

»Danke. Aber …« Sie senkte den Blick.

»Olivia … Sie ahnen es gewiss seit langem, wie sehr ich Sie verehre. Nein, ich liebe Sie. Und ich bitte Sie hier und jetzt: Werden Sie die Meine! Ich möchte Ihnen die Welt zu Füßen legen wie diese Rosen.« Ehe sie ihn hindern konnte, hatte er gut zwei Dutzend Rosen gegriffen und warf sie vor Olivia zu Boden.

Spontan wollte sie sich bücken, doch Keeling vereitelte dies. Seine Hände umklammerten ihre Handgelenke, er zog sie unschicklich fest an sich, so dass sie seinen Herzschlag durch den dünnen Stoff ihres Kleides spüren konnte.

»Olivia – werden Sie meine Frau!« Er hielt ihre linke Hand mit seiner Rechten fest, mit der linken Hand holte er eine kleine Schachtel aus seiner Hosentasche. Geschickt ließ er sie aufschnappen.

Olivia erblickte einen großen Diamanten, der von einem kleinen Kranz blutroter Rubine umgeben war.

»Liebste Olivia, darf ich Ihnen den Ring anstecken?« Noch während er sprach, hatte er den Ring genommen und schickte sich an, ihn ihr über den Finger zu streifen.

»Nein … nein, bitte nicht!« Mit einem Ruck entzog sie ihm ihre Finger. Fast panisch sah sie ihn an und machte Anstalten, davonzulaufen.

»Olivia!« Sein Griff wurde noch fester. Schnell versenkte er das Schmuckstück wieder in der Tasche, dann umfasste er mit beiden Händen ihre Oberarme, presste die Widerstrebende an sich. Durch den Stoff seines Beinkleides spürte sie … Himmel, was war das? Olivia errötete und riss sich jäh von ihm los. Schnell trennten sie drei Schritte von dem stark erregten Mann.

»Was soll das? Sie müssen doch wissen, wie sehr ich Sie liebe und begehre!« Seine Stimme war heiser vor unterdrückter Leidenschaft.

»Ich … ich weiß, dass Sie mir zugetan sind. Und ich fühle mich sehr geehrt. Doch lieben …« Mit flackerndem Blick sah sie ihn an. »Lieben kann ich Sie nicht, Christopher.«

»Aber ich will dich!« Mit zwei langen Schritten war er wieder bei ihr, zog Olivia, die sich gegen seine Brust stemmte, mit Macht an sich. Sein heißer Atem streifte ihre Wange, seine Lippen legten sich schmerzhaft fest auf ihren Mund. Mit Entsetzen spürte sie seine Hände auf ihren Schultern, sie glitten tiefer, verirrten sich in den Ausschnitt ihres Kleides.

Olivia presste die Augen fest zusammen, gleichsam als könnte sie so das Geschehen ausblenden. Aber da war seine Hand, die ihre Brust umklammerte. Da war sein Bein, das sich zwischen ihre Schenkel schob …

Sie hörte den Mann keuchen, seine Erregung ließ ihn unvorsichtig werden. Kaum hatte er seinen Griff ein wenig gelockert, entwand sie sich ihm und rannte davon. Mit beiden Händen hielt sie den weiten Rock hoch, hastete die Treppe hinab und schlüpfte durch eine kleine Tür, die normalerweise nur von dem Küchenpersonal benutzt wurde, hinaus in den winterlich kahlen Garten.

Tränen liefen ihr übers Gesicht, und erst als sie zitternd in der kleinen Gartenlaube am Ende des Grundstücks angekommen war, wagte sie es, sich umzuschauen.

Ein Glück – er war ihr nicht gefolgt!

Mit zitternden Händen richtete sie ihr Kleid. Am liebsten hätte sie sich ausgezogen und mit dem Schnee, der in einer dünnen Schicht die Ligusterhecke bedeckte, die das Grundstück umgab, abgewaschen. Seine Finger … sie spürte sie wie schmerzende Brandmale auf der Haut. Ekel erfasste sie, als sie sich vergegenwärtigte, dass sie seine harte Männlichkeit hatte spüren können.

Wie konnte er es nur wagen …!

»Ich will ihn nie, niemals im Leben wiedersehen«, stieß sie schluchzend hervor, bevor sie sich ins Haus zurückschlich. Noch immer wurde getanzt, einige Paare schlenderten plaudernd durch die weitläufigen Säle und Flure.

Olivia musste sich mehrfach hinter Säulen und hohen Blumenarrangements verstecken, ehe sie endlich in ihre Räume gelangte. Aufschluchzend warf sie sich auf ihr Bett und weinte, bis sie völlig erschöpft in einen unruhigen Schlaf fiel.

»Das büßt mir diese Wildkatze! Sie wagt es tatsächlich, mir einen Korb zu geben!« Immer wieder schlug Christopher Keeling mit seinem Handschuh auf die Polster der Kutsche. Seine Wut war grenzenlos, kaum war er in der Lage, wieder normal zu atmen.

»Fahr schneller, du Mistkerl!«, rief er dem Kutscher zu, der die beiden Rappen daraufhin die Peitsche spüren ließ. In rasendem Galopp ging es hinüber nach Soho.

Über der Themse lag kalter Nebel, die Gaslaternen, die in dieser Gegend nur noch spärlich am Straßenrand standen, spendeten ein diffuses Licht, das sich mit dem kühlen Silberschein des Mondes vermischte.

Ein paar dunkle Gestalten sprangen im letzten Moment von der Straße und brachten sich vor der Kutsche in Sicherheit. Etliche der Nachtschwärmer stießen wüste Flüche aus und hoben drohend die Fäuste, doch weder der Kutscher noch sein Fahrgast kümmerten sich darum.

Vor einem schmalen hohen Haus am Themseufer, über dessen Eingang eine rote Laterne brannte, hielt das Gefährt an.

»Hol mich gegen Mittag wieder ab«, rief Christopher dem grauhaarigen Kutscher zu, der daraufhin nur kurz an seinen hohen Filzhut tippte und den Pferden die Zügel wieder freigab.

Seit Jahren war Christopher Keeling das Klingelzeichen, das ihm Eintritt in Madame Bellas Haus verschaffte, vertraut. Kaum hatte er die Hand von der kupferfarbenen Klingelschnur genommen, wurde ihm auch schon geöffnet. Ein breitschultriger Schwarzer in einer weinroten Livree verbeugte sich schweigend und nahm dem neuen Gast Umhang und Hut ab.

Mit großen Schritten durchquerte Christopher Keeling das längliche Entree, an dessen Wänden erotische Zeichnungen in prunkvollen Goldrahmen hingen. Nachdem er einen dichten roten Samtvorhang beiseitegeschoben hatte, stand der Mann in einem großen Raum, der ebenfalls ganz in Rot gehalten war. Die Wände waren mit roten Seidentapeten bespannt, rot-goldene Sessel und vier breite Chaiselonguen luden zum Verweilen ein.

Kaum hatte Christopher den Raum betreten, kamen zwei junge Frauen lachend auf ihn zu. Sie trugen Gewänder im Stil einer römischen Tunika, doch der Stoff war nur hauchdünn und bot einen freizügigen Blick auf ihre üppigen Formen.

»Champagner«, stieß Keeling hervor und ließ sich auf eine der Chaiselonguen fallen. Er breitete die Arme aus, und sogleich waren die beiden Frauen neben ihm. Während ihm die eine Jacke und Hemd aufknöpfte und dann zärtlich seine nackte Brust küsste, liebkoste die andere seine Wange und seinen Mund.

Eine zartgliedrige Inderin in einem roten Sari kredenzte den Champagner, und der Mann trank gleich zwei Gläser hintereinander leer. Erst dann fühlte er sich befreiter. Der Zorn über Olivia Bartingcourts Verhalten schwand, sogar die Rachegedanken, die er auf der Fahrt hierher gehegt hatte, ließen immer mehr nach – dafür sorgten die beiden Huren, die sich perfekt darauf verstanden, einen Mann alle Sorgen vergessen zu lassen.

Christopher Keeling genoss die Zärtlichkeiten, doch ihn gelüstete nach mehr. Nachdem er mit seinen zwei Gespielinnen einige Flaschen Champagner geleert hatte, forderte er: »Und jetzt lasst uns nach oben gehen.«

Eng umschlungen stiegen sie eine versteckt angebrachte Treppe hinauf. Nur fünf große Räume gab es hier. Zwei dieser Räume waren mit allen Raffinessen ausgestattet. Es gab Spiegel an der Decke, erotisches Spielzeug wie seidene Fesseln und kleine Peitschen aus roter Seide, in die jedoch ein Lederband eingearbeitet war. Madame Bella wusste nur zu gut, dass es etliche ihrer Kunden liebten, damit »gezüchtigt« zu werden. Und was immer man begehrte – Madame Bella war bestrebt, alle Wünsche ihrer Kunden zu befriedigen.

Christopher Keeling liebte das Neue, Unbekannte. Und so führte sie ihm in dieser Nacht, die sich schon dem Ende zuneigte, ein neues Mädchen zu.

»Mein lieber Freund, ich habe eine Überraschung für Euch.« Bevor er sich mit seinen beiden Begleiterinnen ins Zimmer zurückzog, nahm sie ihn beiseite. »Möchtet Ihr sie sehen?«

»Was ist es?«

»Fragt mich lieber, wer es ist.« Madame Bella, eine rothaarige Frau von gut 40 Jahren, trug wie immer ein dunkelrotes Seidenkleid mit üppigem Ausschnitt. Ein großer Rubin, der an einem breiten Goldband hing, war ihr einziger Schmuck. Man munkelte, ein Mitglied des Hochadels hätte ihr diesen Rubin einst geschenkt.

»Und – wer ist es?«

Die Bordellbesitzerin lächelte hintergründig. »Sie kostet das Dreifache des üblichen Preises. Sagt das genug?«

»Wer redet von Geld?« Christopher machte eine wegwerfende Handbewegung. »Her mit dem Weibsstück.«

»Das ist sie noch nicht.«

»Was? Ihr behauptet, Ihr hättet eine Jungfrau für mich?« Mit einem Schlag fühlte sich der Mann wieder nüchtern. Eine ganz außergewöhnliche Erregung hatte ihn erfasst, und er umklammerte Madame Bellas Arme fast schmerzhaft fest. »Wer ist es?«

»Sie ist Französin. Ihre Mutter … nun, sie verstarb auf der Schiffsreise hierher. Und so musste sich Chantal bisher allein durchschlagen. Seit drei Wochen lebt sie bei mir – und ich schwöre bei Gott Amor, mein Freund –, ich habe sie in viele meiner Geheimnisse eingeweiht. Sie weiß, was eine Frau tun muss, um einen Mann glücklich zu machen.«

»Aber Ihr sagtet doch …«

»Sie weiß es. In der Theorie. An Euch, mein Freund, liegt es nun, mit ihr die Praxis auszuprobieren. Wollt Ihr?«

»Natürlich!« Seine Stimme klang heiser vor Erregung, und er konnte es kaum erwarten, das Mädchen Chantal zu sehen.

Madame scheuchte die beiden Huren mit einer harschen Bewegung fort, dann klatschte sie dreimal in die Hände. Und dann kam sie aus einem kleinen Raum am Ende des Ganges: Zartgliedrig. Zierlich. Mit langem blondem Haar, das ihr bis zur Taille reichte und den schlanken Leib wie eine Gloriole umschmeichelte. Sie trug außer einem bodenlangen weißen Rock nur noch ein rotes Seidenband um die Brust, das vorn, gleich einem Geschenkband, zu einer Schleife gebunden war.

Beinahe vergaß Christopher Keeling zu atmen beim Anblick der jugendlichen Schönheit. Vor Erregung tanzte sein Adamsapfel auf und ab, und als Chantal dicht vor ihn hintrat und mädchenhaft knickste, vermochte er kaum etwas zu sagen.

»Gefalle ich Euch nicht?« Ihre Stimme war so leise wie der erste Morgengruß eines jungen Vögelchens.

»Ihr seid … Ihr seid wie ein Wunder. Ein bezauberndes Wunder.« Langsam streckte er die Hand aus. Seine Finger zitterten, als er nach dem roten Seidenband griff und die Schleife löste.

Madame Bella lächelte zufrieden. Sie wusste, dass sie an diesem Tag ein hervorragendes Geschäft machen würde. Die kleine Chantal war gerissen. Ihre Jungfräulichkeit war Täuschung – so wie das unschuldige Lächeln, das sie jetzt ihrem neuen Freier schenkte, bevor sie sich vorbeugte, um ihn scheu auf die Wange zu küssen.

Die nächsten beiden Stunden verlebte Christopher Keeling wie in einem Rausch. Er vergaß die Schmach, die er bei Olivia Bartingcourt erlitten hatte. Er vergaß seine Rachepläne. Er vergaß Zeit und Raum.

Als er erwachte, lag er in dem breiten Bett mit der roten Seidenwäsche, Chantal neben ihm, zusammengerollt wie ein Kätzchen. Ihr Haar war wie ein Fächer auf dem Kopfkissen ausgebreitet. Die linke Hand lag auf seiner Brust – und er zuckte zusammen, als die zarten Finger plötzlich begannen, ihn zu streicheln.

»Du bist eine unersättliche Wildkatze«, murmelte er, bevor er sich vorbeugte, um die junge Hure zu küssen.

»Magst du das nicht?« Unter halb geschlossenen Lidern sah sie ihn an.

»Doch. Sehr sogar.« Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar. »Ich mag kaum glauben, dass ich es sein durfte, der dich als Erster besessen hat.«

»Es … es war mir ein Vergnügen«, versicherte Chantal mit ihrem reizenden französischen Akzent. »Du warst zufrieden mit mir, mein Herr?«

»Sehr zufrieden. Madame Bella hat dich perfekt unterrichtet.«

Chantal schmunzelte in die Kissen. Wenn du wüsstest, mein Freund, dachte sie und tastete nach dem kleinen Fläschchen mit Hühnerblut, das sie unter dem Bett versteckt hatte.

Christopher Keeling war nicht der erste Freier, dem sie vorgaukelte, noch Jungfrau zu sein. Es war ein riskantes, aber höchst erfolgreiches Spiel, das sie vor Jahren von einer erfahrenen Kurtisane in Paris gelernt hatte. Es galt, den Männern so den Kopf zu verdrehen, sie so zu berauschen – mit sinnlicher Verführung ebenso wie mit diversen alkoholischen Getränken –, dass sie nicht mehr ganz Herr ihrer Sinne waren.

Bisher war es Chantal stets gelungen, die Freier, die sie als »Jungfrau« gebucht hatten, zu betrügen.

Sie haben es nicht anders verdient, sagte sich die junge Hure immer wieder. Sie sind dumm und dreist, glauben, sich mit Geld alles kaufen zu können. Nun, meinetwegen sollen sie denken, sie wären die Nummer eins für mich gewesen! Chantal rechnete nach, dass sie in dieser Nacht wieder ein paar Pfund hinzuverdient hatte. Das allein war ihr wichtig. Noch zwei, drei Aufenthalte in englischen Etablissements mit reicher Kundschaft, dann wollte Chantal sich zur Ruhe setzen. Sie hatte eisern gespart und plante, sich in Nantes, der Heimatstadt ihrer Mutter, ein Wäschegeschäft zu kaufen. Seriös wollte sie werden. Eine geachtete Geschäftsfrau, von deren Vergangenheit niemals jemand erfahren sollte.

»Woran denkst du, mein Täubchen?« Ihr Freier küsste ihre Brustwarzen, die sich gleich aufrichteten.

»An dich.« Sie legte sich auf den Rücken und breitete die Arme aus. »Wann darf ich dich wiedersehen?«

»Bald. Wenn ich es einrichten kann, schon heute Abend.«

»Nein.« Chantal schüttelte sachte den Kopf. »Das geht nicht. Ich … ich muss mich erholen. Und … schonen.« Sie errötete leicht. »Du verstehst, nicht wahr?«

»Aber ja!« Wieder küsste er ihre Brüste, dann glitten seine Lippen tiefer und tiefer.

»Nein, es ist genug!« Mit einem Ruck sprang Chantal auf.

»Wann es genug ist, bestimme ich!« Auch Christopher erhob sich. Alles Sanfte war aus seiner Miene gewichen. »Komm her. Sofort!«

»Nein!« Chantal war schon an der Tür. Und ehe er sie daran hindern konnte, war sie hinausgeschlüpft.

»Verdammtes Biest! Na warte, das wirst du büßen!« Schon wollte er ihr nachlaufen, doch da trat Madame Bella aus einem Nebenraum.

»Ihr wollt die Kleine schon wieder buchen?« Sie schüttelte den Kopf. »Sie braucht Ruhe. Ich hoffe, Ihr respektiert das, Sir.«

Christopher Keeling schluckte schwer. »Sie gehört mir«, stieß er hervor. »Mir allein. Madame, kein anderer soll sie anrühren, versteht Ihr?«

Die Bordellbesitzerin zuckte mit den molligen Schultern. »Ich verstehe Euch gut. Und ich hoffe, Ihr wisst, dass dieses Exklusivrecht teuer ist.«

»Bin ich Euch jemals etwas schuldig geblieben?«

»Nein, natürlich nicht.« Madame Bella lächelte verbindlich. »Dann freue ich mich darauf, Euch in zwei Tagen wieder hier begrüßen zu dürfen. So lange braucht die Kleine, um sich zu erholen.«

»Gut. Einverstanden. Aber vergesst nicht – sie gehört mir allein!«

»Ich werde es nicht vergessen.«

Der Januar war in diesem Jahr so schneereich wie lange nicht mehr. In Londons Straßen lag die weiße Pracht fast zwei Fuß hoch, nur mit größter Mühe konnten die Kutscher ihre Fuhrwerke durch den Schnee treiben. Gegen Ende des Monats kam ein eisiger Wind aus Nordost hinzu. Auf der Themse trieben Eisschollen, kaum ein Schiffer wagte es in diesen Tagen, den Fluss zu befahren.

Die Straßen waren leer wie selten zuvor, denn wer nicht unbedingt hinausmusste, blieb daheim in den geheizten Räumen. Draußen riskierte man, krank zu werden bei dem unwirtlichen Wetter.

Olivia Bartingcourt allerdings fuhr jeden Nachmittag die Strecke vom Stadthaus bis zum nahe gelegenen St. Bartholomew’s Hospital. Emily, ihre Zofe, lag mit einer fiebrigen Lungenentzündung hier, und die Ärzte hatten zwei Tage lang verzweifelt um ihr Leben gekämpft.

Seit Olivia 15 Jahre alt war, umsorgte Emily sie. Nur zwei Jahre älter als ihre junge Herrin, war sie Olivia eine Freundin geworden. Es gab nichts in Miss Bartingcourts jungem Leben, das Emily nicht gewusst hätte. So war es selbstverständlich für Lord William gewesen, der Zofe seiner Tochter die beste medizinische Behandlung zukommen zu lassen, wusste er doch genau, wie sehr Olivia an Emily hing.

An diesem kalten Tag trug Olivia ein dunkelblaues Kostüm mit weißem Pelzbesatz am Hals und an den Ärmeln. Ein passendes Cape, dunkelblau und grau kariert, schützte vor dem kalten Wind, der kleine Eiskristalle vor sich her trieb.

Olivias Hände waren in einem weißen Muff aus Fuchsfell versteckt, als sie die Kutsche ein paar Meter vor dem Eingang des Hospitals verließ. Drei Mietkutschen versperrten den direkten Weg, doch das machte der jungen Lady nichts aus.

»Ich bin in zwei Stunden zurück, Jeremy«, rief sie dem Kutscher zu.

»Ist gut, Miss Olivia. Ich werde versuchen, einen Platz gleich am Eingang zu bekommen.«

Olivia lachte. »Ach was, ich bin doch nicht aus Zucker! Mach dir keine Mühe, ich kann ruhig bis rüber zum Park laufen!« Neben dem kleinen Park, der dem Hospital schräg gegenüber lag, war ein Unterstand für die Kutscher aufgebaut worden. Hier wärmten sich die Männer an einer offenen Feuerstelle und tranken Tee, den ihnen eine Schankmagd aus dem nahe gelegenen Pub vorbeibrachte.

Leichtfüßig eilte Olivia über die schneebedeckte Straße und sprang die drei Stufen zum Eingang hoch.

Emily Hastings lag in einem der kleineren Krankensäle. Nur noch sieben andere Betten standen hier, getrennt von kleinen Nachtschränkchen und ein paar niedrigen Paravents. Hier behandelt zu werden war ein Privileg, das nur Wohlhabenden zuteilwurde. Für Emilys Behandlung zahlte Lord Bartingcourt, der die Zofe seiner Tochter sehr schätzte. Zudem hatte ihn Olivia eindringlich darum gebeten.

»Ich möchte nicht, dass Emily mit irgendwelchen dahergelaufenen Frauenzimmern zusammen in einem Raum liegen muss«, hatte sie gemeint. »Mir wäre es zudem nicht angenehm, sie dort besuchen zu müssen.«

So bekam die junge Zofe die beste Behandlung, die man sich denken konnte.

Als Olivia an ihr Bett trat, streckte ihr Emily die Hand entgegen. »Wie schön, dass du da bist.« Wenn sie allein waren, durfte sie sich diese Vertraulichkeit erlauben, Olivia hatte sie schon vor Jahren darum gebeten. »Wie war die Fahrt hierher? Ich habe gesehen, dass es wie verrückt schneit.« Sie wies nach links, wo drei breite Fenster oberhalb der Schlafstätten angebracht waren.

»Du weißt doch, dass Jeremy ein vorsichtiger Kutscher ist. Er hat mich sicher hergebracht – und lässt dich grüßen.«

»Danke. Grüß alle wieder. Was macht Harriets Arm?«

»Der ist wieder heil.« Harriet, die alte Köchin, hatte sich vor einigen Tagen stark verbrüht. »Zum Glück besitzt sie etliche Tinkturen, die besser sind als jede Medizin. Drei Tage hat sie einen Verband getragen und ein bisschen weniger gearbeitet, doch jetzt ist sie wieder Herrin in ihrer Küche.«

Emily lachte leise, musste jedoch gleich darauf husten. »Ich kann mir vorstellen, dass sie die beiden Küchenmädchen ganz schön schikaniert hat«, presste sie mühevoll hervor.

»Das glaube ich dir gern.« Olivia setzte sich dicht neben ihre Zofe und nahm Emilys Hand. »Aber jetzt sag nicht allzu viel, du musst dich schonen. Geht es dir ein wenig besser?«

»Ja. Das Fieber ist gesunken, und der Husten ist nicht mehr so stark.« Emily zwang sich zu einem unbekümmerten Lächeln. Sie hatte noch immer Schmerzen, und sobald sie sich aufrichtete, wurde ihr schwarz vor Augen. Doch das sollte Olivia nicht wissen.

»Du musst mir die Wahrheit sagen!«

»Tu ich doch.«

»Ich werde gleich nach einem Arzt Ausschau halten.«

»Lass das. Mir geht es wieder gut. Bald kann ich heim. Der Aufenthalt hier …« Emily biss sich auf die Lippen. »Das kann ich deinem Vater nie vergelten.«

»Ach was!« Olivia winkte ab. »Papa tut das gern für dich. Er schätzt dich sehr. Und ich … ich brauche doch meine beste Freundin bei guter Gesundheit.«

Zwei Krankenschwestern in Nonnentracht kamen leise vorüber, die ältere von ihnen grüßte mit einem Kopfnicken.

Vom Nebenbett her, das durch einen weißen Paravent abgetrennt war, drang dumpfes Husten, dann hörten die beiden Freundinnen leises Schluchzen und das Beten der beiden Ordensfrauen.

»Nebenan liegt Dorothee Wellington«, flüsterte Emily. »Sie wird es wohl nicht schaffen. Seit dem frühen Morgen wacht ihre Mutter bei ihr.«

»Wie furchtbar.« Auch Olivia flüsterte nur noch. Sie schluckte schwer und drückte Emilys Hand. »Willst du weg von hier?«, fragte sie leise.

»Nein, nein, das ist …« Emily hüstelte verlegen. »Das ist normal«, hatte sie sagen wollen, doch sie sprach den Satz nicht zu Ende. Seit sie in diesem Raum lag, waren schon vier ihrer Mitpatientinnen gestorben. Emily hatte es mitbekommen, obwohl sie stundenweise völlig apathisch gewesen war. Eventuell, sagte sie sich im Stillen, sind es sogar mehr Frauen gewesen, die den heutigen Tag nicht mehr erlebt haben.

»Ich muss gehen.« Olivia warf einen Blick auf die kleine goldene Taschenuhr, die sie an einer Kette um den Hals trug, dann erhob sie sich. »Jeremy soll nicht zu lange in der Kälte warten.«

»Wenn morgen immer noch so schlechtes Wetter ist, komm lieber nicht.« Emily versuchte sich aufzurichten, doch noch war sie zu schwach, um ohne Hilfe aufrecht zu sitzen.

»Bleib nur ja liegen!« Olivia drückte sie in die Kissen zurück. »Du musst dich schonen.«

»Du bist strenger als Doktor Gailington.« Emily lächelte und streckte die Hand nach der Freundin aus. »Grüß alle von mir.«

»Mach ich. Und – bis morgen.«

»Aber nur, wenn es nicht schneit.«

»Jawohl, du gestrenge Tante.« Olivia umarmte die Kranke vorsichtig. »Werde rasch wieder gesund.«

Als sie den Raum verließ, warf Olivia noch einen verstohlenen Blick auf das Nebenbett, doch eine Ordensschwester, die sich gerade um die Schwerkranke bemühte, verdeckte ihr die Sicht.

Kaum dass Olivia aus dem Klinikgebäude trat, atmete sie ein paar Mal tief durch. Der Geruch nach Chloroform und Karbol, vermischt mit den Ausscheidungen der Schwerkranken, legte sich ihr stets schwer auf die Brust. Es tat gut, die frische kalte Luft einzuatmen.

Vor der Klinik war keine Kutsche zu sehen, und so ging Olivia hinüber zum Park. Sicher stand Jeremy dort mit einigen Kollegen zusammen und fachsimpelte über Pferde oder diskutierte die Kolonialpolitik des Königreichs. Das war sein neues Lieblingsthema, wie Olivia herausgefunden hatte.

Die junge Lady war noch keine 50 Yards gegangen, als neben ihr eine Kutsche hielt, vor die zwei prächtige Rappen gespannt waren.

Kurz drehte Olivia den Kopf – und sah sich Christopher Keeling gegenüber, der aus dem Fond gestiegen war. Sein Gesicht war gerötet, der Pelerinenmantel mit dem dunklen Samtkragen hing falsch geknöpft über seinen Schultern.

»Schöne Olivia! Welch glückliches Zusammentreffen!« Ein unschönes Grinsen glitt über seine Züge, und die junge Dame runzelte unwillig die Stirn. »Der Tag hat also doch noch einen Reiz für mich bekommen!«

Dicht trat der hagere Mann vor sie hin. Aus seinen Kleidern drang der Geruch nach Gin und billigem Parfüm. Und auch sein Atem war alkoholgeschwängert, wie sie angewidert feststellte, als er sich noch mehr vorbeugte.

»Mister Keeling …« Sie versuchte ihm auszuweichen, denn seine Nähe war ihr höchst unangenehm.

»Mister Keeling! Ha, gehst du wieder auf Distanz, mein Täubchen?« Er griff nach ihrem Arm, hielt ihn eisern fest. »Aber das wird dir nicht gelingen. Nicht heute!«

»Lassen Sie mich los! Christopher, ich bitte Sie! Kommen Sie zur Vernunft!«

»Wehr dich nur, das hab ich gern!« Er lachte laut und unbekümmert.

Angstvoll sah sich Olivia um. Das Gefährt, mit dem Christopher gekommen war, verschwand gerade um die nächste Ecke. Zwei schwarze Mietkutschen fuhren vorbei, doch die beiden Männer auf dem Kutschbock waren ganz damit beschäftigt, ihre Pferde zu zügeln, die immer wieder auf der glatten Straße ins Rutschen gerieten. Die beiden Kutscher hatten ihre Mützen tief ins Gesicht gezogen und jeweils eine dicke Decke um die Beine gelegt. Sie achteten mit keinem Blick auf die junge Dame, die vergebens versuchte, sich aus dem Griff eines zudringlichen Mannes zu befreien.

»Lassen Sie mich los, Christopher! Sie tun mir weh!«

»Ach nein, ich tu dir weh! So was aber auch! Und du? Hast du mir etwa nicht wehgetan, als du meinen Antrag abgelehnt hast? He, sag was!«

»Aber … Christopher, ich kann Ihren Antrag doch nicht annehmen – ich liebe Sie nicht! Es tut mir leid!«

»Mir nicht, mein Täubchen! Mir tut es nicht leid! Ich begehre dich, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Und ich will dich!«

»Nein!« Olivia schrie laut auf, als er sie gewaltsam tiefer in die Büsche drückte. Schnee rieselte von den dünnen Ästen, das eisige Nass vermischte sich mit den Tränen, die ihr plötzlich über die Wangen liefen. Sie versuchte, sich dem Mann mit aller Kraft entgegenzustemmen, doch er lachte nur.

Voller Panik sah sich Olivia um. Weit und breit war niemand zu sehen; die schneebedeckten Sträucher waren wie ein Schutzwall, der sie gegen die Straße abschirmte.

»Jetzt sind wir endlich allein!« Christopher Keeling lachte wie irre. »Ein warmes Bettchen wäre mir zwar lieber gewesen, Täubchen, doch so geht es auch.« Seine Hände zogen ihr mit einem Ruck das blaugraue Cape fort, ein paar Knöpfe sprangen ab und wurden sofort vom Schnee bedeckt.

»So ein edles Kostümchen! Kann der Herr Papa sich das denn noch leisten?«

»Was reden Sie da?« Es gelang Olivia, sich für einen Moment aus seinem Griff zu befreien. »Sie sind betrunken, Christopher, und wissen weder was Sie sagen, noch was Sie tun!« Sie versuchte in Richtung Straße zu fliehen, doch sofort war er wieder neben ihr und hielt sie am Arm fest.

»Oh doch! Ich hole mir von meiner Braut, was mir zusteht!« Sein Gesicht kam näher, und ehe Olivia sich wehren konnte, hatte er sie gepackt und geküsst. Seine Lippen legten sich mit brutaler Härte auf ihren Mund, und so sehr sie sich auch sträubte – sie konnte dem gewaltsamen Kuss nicht entkommen!