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Brennpunkt Schule

Herausgegeben von

 

Fred Berger

Herbert Scheithauer

Wilfried Schubarth

Ralf Laging

Bewegung in Schule und Unterricht

Anregungen für eine bewegungsorientierte Schulentwicklung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029763-0

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-029764-7

epub:   ISBN 978-3-17-029765-4

mobi:   ISBN 978-3-17-029766-1

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Inhalt

 

  1. Einleitung
  2. 1 Grundlagen: Bewegung
  3. 1.1 Bewegen als Weltbegegnung
  4. 1.2 Bewegen und Raum
  5. 1.3 Bewegen und Wahrnehmen
  6. 1.4 Bewegen und Lernen
  7. 1.5 Bewegen und Entwicklung
  8. 1.6 Bewegen und Bildung
  9. 2 Bewegungsaktivitäten: Status und Problem
  10. 2.1 Motorische Leistungsfähigkeit
  11. 2.2 Bewegungs- und Sportengagement
  12. 2.3 Folgerungen für eine Bewegungsorientierung
  13. 3 Bewegte Schule: Konzeptionelle Entwicklung
  14. 3.1 Konzepte der Bewegten Schule
  15. Kompensatorische Gesundheitserziehung
  16. Sportergänzende Bewegungserziehung
  17. Bewegung im Schulprogramm
  18. Bewegte Schulkultur
  19. Fazit: Mit Bewegung Schule entwickeln
  20. 3.2 Forschungen zur Bewegten Schule
  21. 4 Bewegung in der Schulentwicklung: Ein Modell
  22. 4.1 Ansätze zur Schulentwicklung
  23. 4.2 Bewegungsorientierte Schulentwicklung
  24. 4.3 Fazit: Beispiele suchen
  25. 5 Ganztagsschule: Mehr Zeit für Bewegung
  26. 5.1 Ganztagsschule als Neukonzeption von Schule
  27. 5.2 Den Ganztag bewegungsorientiert gestalten
  28. 5.3 Bewegung als ganztägiges Bildungsangebot
  29. 5.4 Sportkooperationen in der Ganztagsschule
  30. 5.5 Forschungen zur bewegten Ganztagsschule
  31. Umfang und Häufigkeit von Bewegungsangeboten
  32. Sportangebote mit Kooperationspartnern
  33. Integration von Bewegungsaktivitäten
  34. 5.6 Ganztägige Schulentwicklung mit Bewegung
  35. 6 Handlungsfelder für Schule und Unterricht
  36. Literatur

 

Einleitung

 

Schule und Unterricht sind bedeutende, räumlich und zeitlich einflussreiche Einrichtungen im Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Gleichwohl weisen sie gegenüber pädagogischen, curricularen oder gesellschaftlichen Entwicklungen eine weitgehende Kontinuität auf. Ob es um Verkürzung der Gymnasialzeit, Einführung von Ganztagsschulen, Neuentwicklung von Gemeinschaftsschulen, Wechsel zur Kompetenzorientierung, Gestaltung von inklusiven Schulen oder eben um eine Bewegungsorientierung von Schule und Unterricht geht – die Umsetzung politisch und/oder pädagogisch gewollter Schulentwicklungsprozesse bewegt sich zwischen Stagnation und vorsichtiger Innovation. Nun mag eine Bewegungsorientierung weit weniger gewichtig erscheinen als die großen »Umwälzungen« durch Ganztagsschule oder Inklusion, sie ist allerdings ein Thema, das quer zu anderen schulstrukturellen und -konzeptionellen Entwicklungen liegt. Sie spricht zwei Ebenen an: Auf der ersten Ebene müssen sich Schulen als Institutionen bewegen und Antworten auf die gesellschaftlichen und individuellen Herausforderungen geben, und auf der zweiten Ebene ist es das Sich-Bewegen der Akteure, das Gelegenheiten bietet, sich selbst, andere und anderes sinnlich-leiblich in Erfahrung zu bringen. Beide Ebenen bedingen sich wechselseitig: Es lassen sich kaum Bewegungsaktivitäten und bewegtes Lernen einführen, ohne die Schule als Institution in ihrem Selbstverständnis zu verändern. Und ebenso muss die Schulentwicklung beachten, dass Kinder und Jugendliche nicht nur mit dem Kopf in die Schule kommen, sondern immer als ganze Person ihren Körper dabei haben.

Bewegen ist wie Denken und Sprechen eine Basiskompetenz der Weltbegegnung und -erschließung. Es eröffnet – mit welchem Vermögen auch immer – die Möglichkeit eines auf leiblichem Wahrnehmen und Gestalten beruhenden ästhetischen Selbst- und Weltbezugs. Im Bewegen erleben wir uns in unserer körperlichen Existenz und zugleich erschließen wir uns die Welt durch Bewegung – unser Einwirken auf die Welt findet in der erlebten Körperlichkeit seine Resonanz. Wir finden uns in der Welt zurecht, weil wir uns darin bewegen, wir erfahren Raum und Zeit, weil sich diese erst in Bewegung konstituieren, wir »wissen« auch körperlich, was nah und weit, schnell und langsam ist, weil es sich um leibliche Dimensionen der Weltbegegnung handelt. Einen Handstand können wir turnen, wenn wir die körperlichen Möglichkeiten besitzen und uns – gedacht als selbstreferenzielles System – um seiner selbst willen in Form bringen. Wir gehen im Spiel auf, »verlieren« uns darin und können uns selbst in ihm erkennen. Wir tanzen und bringen unsere Körperlichkeit zum Ausdruck, wir rennen mit anderen um die Wette, um uns zu vergleichen, wir erleben physikalische Gesetzmäßigkeiten dann, wenn wir uns bewegen oder etwas von uns wegbewegen. Bewegung kann als fundamentale Möglichkeit der Selbst- und Weltwahrnehmung verstanden werden, sie ist zugleich nicht durch andere Formen der Erfahrung zu ersetzen: Bewegen muss ich mich selbst, ein In-der-Welt-Sein ist existenziell nur in Bewegung möglich.

Vor diesem ersten anthropologischen und pädagogisch-philosophischen Verständnis von Bewegung (image Kap. 1) muss auch die Diskussion um ausreichende Bewegungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche gesehen werden. Viele der vorliegenden wissenschaftlichen Studien zum Bewegungsstatus von Kindern verweisen – mit zwar widersprüchlichen Ergebnissen, aber mit notwendigerweise zu reflektierenden Tendenzen – auf einen Rückgang der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen (image Kap. 2). Gleichzeitig werden die Validität der Instrumente und die Vergleichsebene problematisiert und wird zur Vorsicht geraten, wenn es um pädagogische Konsequenzen geht. In dieser Auslegung wird Bewegung vor allem als Beitrag zur körperlichen Gesundheit diskutiert: Gefragt wird danach, welche Risiken entstehen, wenn sich Kinder und Jugendliche zu wenig bewegen. Kritisiert werden die Sitzschule und die – historisch betrachtet – zögerliche Einführung von »mobilen Klassenzimmern« (image Kap. 3). Andere Konzepte zur Bewegungsorientierung von Schule verweisen auf den grundlegenden Beitrag von Bewegung zur Bildung und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Danach ist Bewegung ein fundamentales Element zur Gestaltung von Schule und ist insofern Teil von Schulentwicklungs- und Schulprogrammarbeit. Bewegung und Sport werden sowohl als Gelegenheit zur körperlichen Identitäts- und Könnensentwicklung verstanden als auch als Möglichkeit, das Lernen im Unterricht und Schulalltag zu unterstützen (image Kap. 4). Nun hat die Ganztagsschulentwicklung die Bedeutung von Bewegung in Schule und Unterricht noch einmal vor neue Herausforderungen gestellt. Dabei geht es um die grundlegende Frage, wie eine ganztägig gestaltete Schule der neuen Verantwortung für Körperlichkeit und Bewegung gerecht werden kann (image Kap. 5). In Konzepten der Bewegten Schule werden daher Erfahrungsfelder vorgeschlagen, in denen Bewegungsaktivitäten – auch ganztägig – zu fördern sind: Bewegung in informellen Schulfreiräumen (Schulhof und Schulgebäude), Bewegung als Element der Rhythmisierung von Tagesabläufen, Bewegungs- und Sport-AGs, Bewegung im Unterricht, Bewegungspausen, bewegtes Lernen in allen Fächern, Bewegungs- und Sportfeste. Auf diese Weise leistet das Sich-Bewegen einen Beitrag zur bewegungsorientierten Schulkultur, die die Schülerinnen und Schüler einer Schule leben und die nach außen strahlt und Profil gibt. Eine solche Entwicklung lässt sich nicht »einfach« umsetzen, sie bedarf der gezielten Schulentwicklungsarbeit (image Kap. 6).

Das Buch verfolgt mit seinem Aufbau eine Sensibilisierung für Bewegungsaktivitäten und Prozesse leiblicher Bildung und will Möglichkeiten zur bewegungsbezogenen Reflexion und Gestaltung von Schule und Unterricht aufzeigen. Gleichwohl bleibt die Bewegungsorientierung in Schule und Unterricht eine unabgeschlossene Aufgabe, die sich gegen die Dominanz der kognitiven Orientierung im Kontext von Leistungsvergleichsstudien permanent neu in Erinnerung rufen muss.

 

 

 

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Grundlagen: Bewegung

 

Die menschliche Bewegung ist wie Sprache ein Modus der Verständigung und Begegnung mit der materialen und sozialen Welt. Sie ist Grundlage unseres ästhetisch-expressiven Umgangs miteinander und zugleich die Bedingung der Möglichkeit zur Weltbegegnung im Modus »physischer Expression« (vgl. Baumert, 2002, S. 113). Bewegen und Sprechen sind Ausdruck sinnlich-leiblicher und intellektueller Fähigkeiten, die uns helfen, die Welt zu verstehen. Zugleich sind Denken und (körperliches) Handeln im Sinne ästhetischer Erfahrung verbunden mit der Fähigkeit zur Reflexion auf sprachlicher und leiblicher Ebene (vgl. Franke, 2003). Wir lernen im konkreten Handeln etwas über die soziale und dingliche Welt, wir lernen, uns selbst im Alltag und im Sport mit unterschiedlichem Zweckbezug in Bewegung hervorzubringen, und wir lernen etwas über unser Selbst in körperlicher, emotionaler, sozialer und kognitiver Hinsicht (vgl. Zimmer, 2010). Unsere Identität gewinnen wir insofern erst im Handeln in der Reflexivität mit der Welt.

Je nach wissenschaftlicher Perspektive können wir die menschliche Bewegung im Kontext motorischer Entwicklung, körperlicher Sozialisation, gesellschaftlicher Bedingungen, motorischen Lernens und Trainierens oder phänomenaler Begegnung mit der Welt untersuchen. Im pädagogischen Kontext von Schule und Unterricht ist Bewegung in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Zum einen als sportliches Bewegen im Rahmen des Sportunterrichts und zum anderen als leibliches Potenzial schulischen Lebens und Lernens. Das vorliegende Buch befasst sich mit der zweiten Hinsicht und thematisiert die bewegungspädagogischen Möglichkeiten von Bewegung zur Gestaltung von Schule und Unterricht. Für diese Thematik wird ein Bewegungsverständnis entfaltet, das in erster Linie bildungstheoretischen und anthropologischen Ansätzen folgt.

Diese Perspektive eröffnet die Möglichkeit, eine über die Fächer hinausreichende Argumentation vorzutragen und für die in Schule und Unterricht beobachtbare Trennung von Motorik, Kultur und Kognition (also: für den »Körper« ist der Sportunterricht, für das »Kulturelle« sind die musisch-ästhetischen Fächer und für den »Kopf« sind die Sprachen, Mathematik, Natur- und Sozialwissenschaften zuständig) zu sensibilisieren und eine Konzeption zur schulischen Bewegungsorientierung vorzustellen. Insofern wird eine bewegungspädagogische Position entwickelt, die zunächst das Selbstverständnis von » Bewegen als Weltbegegnung« klärt (image Kap. 1.1), um dann die sich daran anschließenden zentralen Themen einer bewegungsorientierten Schule aufzuzeigen. Bewegung wird sowohl als intentionale Handlung alltäglicher und sportiver Situationen verstanden als auch als Mittel leiblicher Erfahrung zur Entwicklungsförderung sowie beim Lernen und in Bildungsprozessen aller Fächer: es geht um » Bewegen und Raum« (image Kap. 1.2), » Bewegen und Wahrnehmen« (image Kap. 1.3), » Bewegen und Lernen« (image Kap. 1.4), » Bewegen und Entwicklung« (image Kap. 1.5) sowie um » Bewegen und Bildung« (image Kap. 1.6).

1.1       Bewegen als Weltbegegnung

Die Erörterung der menschlichen Bewegung als Weltbegegnung verweist auf eine anthropologische und phänomenologische Perspektive, die im Folgenden pädagogisch für eine bewegungsorientierte Schulgestaltung ausgelegt werden soll. In diesem Kontext ist Bewegung zuallererst und grundlegend Selbstbewegung als Möglichkeit menschlicher Existenz. Damit bleibt die physikalische Betrachtung von Bewegung im Gefolge von Descartes als messbare und lokalisierbare Ortsveränderung in Raum und Zeit, wie sie vor allem in der Sportmotorik und in der Sportbiomechanik untersucht wird, unberücksichtigt.

Aus anthropologischer Perspektive sind Bewegungen körperliche Handlungen des Menschen zwischen Subjekt und sozialer bzw. materialer Welt, sie sind intentional auf etwas gerichtet und zugleich Aufführungen ihrer selbst; sie sind flüchtig und nur im Vollzug erleb- und sichtbar. Das ist ein entscheidender Punkt im Gegenstandsverständnis von Bewegung: Ähnlich wie in der Musik das Musizieren ist auch die Bewegung auf den lebendigen Vollzug angewiesen. Sie vollzieht sich in der sinnlich-leiblichen Wahrnehmung in Raum und Zeit und hebt den gelebten Raum und die gelebte Zeit in sich auf (vgl. Gebauer & Wulf, 1998).

Dieses Verständnis von Bewegung lässt sich besonders anschaulich am kindlichen Spiel zeigen. Auf dem Schulhof einer Grundschule mit entsprechenden Bewegungsgelegenheiten lässt sich beispielweise Folgendes beobachten: Kinder spielen auf unterschiedliche Weise mit Bällen, sie spielen Nachlaufspiele, springen mit dem Seil, klettern über Baumstämme oder in Bäumen herum, balancieren auf Mauern oder vergnügen sich mit Hüpf- und Hinkelspielen. Dies geschieht jeweils mit Bezug auf etwas außerhalb ihrer selbst: auf den Ball, der in den Korb geworfen wird, auf Bäume, die als Anlaufpunkt dienen, auf den freien Raum, der zum Spielraum erklärt wird, auf Pedalos, deren Eigenschaften erkundet werden, und auf andere Kinder, denen sie beim Versteckspiel als »Gegenüber« begegnen. Sie sind also nicht nur auf die sie umgebende materiale Welt verwiesen, sondern immer auch auf die Beziehung zu anderen Kindern; sie brauchen die anderen als Mitspieler, sie beobachten sich gegenseitig, sie ringen körperlich miteinander, sie sind im Gespräch und zugleich drücken sie sich körperlich aus. Die Bewegungsaktivitäten sind in ein Handlungsgeschehen eingebunden, das mehr umfasst als die Motorik eines Menschen.

In diesem Sinne bedeutet Bewegung »Welterzeugung im gegenseitigen Austausch« (Gebauer & Wulf, 1998, S. 24). Insofern lässt sich Bewegung als Dialog des Menschen mit den Dingen und der sozialen Welt verstehen (vgl. Tamboer, 1979; Trebels, 1992). Phänomenologisch betrachtet begründet sich in der leiblichen Existenz die grundlegende Weise unseres menschlichen Zur-Welt-Seins, die sich beim Bewegen darin zeigt, dass wir uns in unserem Bewegen immer auf etwas außerhalb unserer selbst beziehen (vgl. Merleau-Ponty, 1966). In dieser relationalen Betrachtungsweise geht es um das Verhältnis, das der Mensch zu sich und seiner Welt in der Bewegung im Modus leiblicher Erfahrung, ausbildet und findet.

Die Selbstbewegung ist dabei an eine konkrete Situation gebunden, in der sich der Mensch sinnvoll bewegt und zugleich der Situation Bedeutung verleiht (vgl. Trebels, 1992). Situationen »tragen« bereits etwas Vorgegebenes in sich und werden zugleich im Bewegen erzeugt. Die Bewegungsformen, die als gemachte Sache Kindern und Jugendlichen begegnen, verweisen auf einen kulturellen Konsens, wie er sich im Sport, aber auch bei Alltagsbewegungen oder in Gesten und Köperhaltungen mit ihren einverleibten Strukturen gesellschaftlicher Praktiken zeigt. Im Kontext bewegungsorientierter Schulgestaltung ist es hilfreich, diesen Konsens im Sport und bei wenig normierten Bewegungsaktivitäten im Vergleich zu Alltagsbewegungen zu reflektieren. So lernen Kinder sehr schnell, dass der Sandkasten auf dem Spielplatz zum Spielen für sie bestimmt ist und nicht zum Weitspringen. Umgekehrt ist die Weitsprunggrube auf dem Sportplatz zum Weitspringen und nicht zum Spielen für Kinder vorgesehen. Ebenso haben Personen in bestimmten Situationen Bedeutungen, mit denen sich andere auseinandersetzen müssen. Jemand kann zum Weitspringer, Artisten oder Anführer einer Kinderbande werden. Läufer könnte man für Flüchtende halten, wüsste man nicht, dass sie an einem sportlichen Wettkampf teilnehmen. Man könnte das Hineinwerfen des Balles in den Basketballkorb für völlig unsinnig halten, weil er doch sowieso gleich wieder herausfällt, wüssten wir nicht, dass es sich um ein Sportspiel handelt, bei dem auf diese Weise Punkte erzielt werden (vgl. Volkamer, 1987, S. 54 f.; Grupe, 1982, S. 67 f.). Akteure unterliegen insofern einer bereits normativ und kulturell bestimmten Bewegungswelt, die sie deuten und verstehen müssen und die sie zugleich als aktiv Handelnde mit ihren Deutungen und Gestaltungen herstellen.

Bewegungstheoretisch ist zunächst unerheblich, ob es sich um die Bewältigung einer Alltagsaufgabe, wie z. B. das Hochsteigen auf eine Leiter, einer sportlichen Fertigkeit, wie z. B. das Überspringen einer Hochsprunglatte, oder einer Bewegungsaufführung, wie z. B. eines Tanzes beim Schulfest, handelt. Bedeutsam werden die Unterschiede in der Differenz von sportlichen Bewegungen und Alltagsbewegungen dann, wenn es um den Zweck der Bewegung geht. Hier muss eine Unterscheidung von telischen (zweckorientierten) und autotelischen (selbstzweckhaften) Bewegungsvollzügen vorgenommen werden (vgl. Prohl, 2006, S. 235). Sportliche Formen unterscheiden sich von Alltagsbewegungen dadurch, dass sie selbstbezüglich und folgenlos sind (sie haben nach dem Vollzug außer für das Subjekt und die sportliche Situation selbst keine Folgen für etwas außerhalb dieser sportlichen Situation), sie werden um ihrer selbst willen vollzogen (vgl. Volkamer, 1987, S. 53; Scherer, 2008). Das Hochsteigen auf eine Leiter im Obstbaum dient dagegen einem Zweck, nämlich Obst zu pflücken. Bewegungen weisen als Alltagsbewegungen eine deutliche Zweckbestimmung auf, im Sport liegt der Zweck dagegen in der Bewegung selbst, unabhängig davon, ob es darum geht, sich »in Form« zu bringen (wie beim Tanzen oder im Turnen), seine Leistung zu steigern oder sich in Spielsituationen gemäß der Spielidee zu bewegen. Sportliche Bewegungen sind demnach immer die Zumutung von »freiwillige[n] Selbsterschwernis[sen] unseres Lebens« (Grupe, 1982, S. 107).

Für die Grundlegung einer Bewegungsorientierung von Schule und Unterricht ist zunächst einmal das selbstzweckhafte Bewegen bedeutsam, das um seiner selbst willen in unterschiedlichen Bewegungsräumen der Schule vollzogen wird. Erst später wird der Gedanke der zweckhaften Bewegung wieder aufgenommen, nämlich dann, wenn es um die Funktion der Bewegung zur Unterstützung von Unterricht und Lernen im Klassenraum geht.

Bewegungshandlungen wirken in die Welt hinein und können dort als solche von anderen wahrgenommen werden. Sie »wirken« aber nicht nur nach außen, sie sind immer auch selbst körperlich spürbar, besonders dann, wenn eine Bewegung Wohl- oder Missbefinden auslöst, eine Bewegung als gekonnt oder misslungen erlebt wird, wenn Lust an der Bewegungswiederholung aufkommt oder eine leidvolle Erfahrung z. B. im Umgang mit Rollgeräten oder Bewegungskunststücken gemacht wird (vgl. Grupe, 1982, S. 67 ff.). So bemerken Kinder und Jugendliche Rück- und Fortschritte bzw. Veränderungen in ihrer Bewegungs- und Könnensentwicklung sowie in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit unmittelbar im Bewegungsvollzug. Insofern ist das Sich-Bewegen in seinem » Spüren und Bewirken« (Trebels, 1990) immer Funktion von etwas, sowohl in mehr oder weniger sportiven Situationen als geschickter und optimierter Umgang mit den körperlichen Möglichkeiten zur Steigerung einer sportlichen Leistung, als auch zur Ausbildung einer Ich-Identität, eines sozialen und einfühlsamen Umgangs miteinander sowie zur Symbolisierung nichtsprachlicher Bewegungshandlungen, um sich und die Welt zu verstehen. Dazu gehören Erfahrungen in den Kategorien von Raum und Zeit, zur Beschaffenheit einer Sache, zu Gesetzmäßigkeiten, die wirksam und geschickt zu handhaben sind, zu symbolischen Handlungen und in der Reflexion des eigenen Bewegungsausdrucks im Spiegel der anderen (vgl. Funke-Wieneke, 2010; Franke, 2005). Insofern erzeugt Bewegung als Bewegungshandlung immer leibliche Resonanzen, die das menschliche Handeln als Ganzes betreffen (vgl. Rittelmeyer, 2002, S. 88 ff.). Sich-Bewegen ist demnach die Bedingung der Möglichkeit zur lernenden Weltbegegnung (vgl. Scherer & Bietz, 2013, S. 61 ff.).

Eine so verstandene Bewegungsorientierung bezieht sich in der Schule sowohl auf das fachliche Lernen als auch auf die überfachliche Schulgestaltung. Fachliches Lernen meint die Auseinandersetzung mit den Lerngegenständen, im Sportunterricht in selbstzweckhafter Weise im Medium der Bewegung und in anderen Fächern mit dem Mittel der Bewegung zum Zweck der Lernbegleitung und Unterrichtsgestaltung; die überfachliche Schulgestaltung meint den Beitrag von Bewegungsaktivitäten in informellen Bewegungssituationen in unterrichtsfreien Zeiten, Pausen oder in Arbeitsgemeinschaften und Wahlkursen, die nicht den üblichen Schulcurricula unterliegen.

1.2       Bewegen und Raum

Nun ist das Bewegen ganz grundsätzlich an räumliche Möglichkeiten gebunden. Erst wenn wir ähnlich der menschlichen Bewegung auch ein Raumverständnis entwickeln, können wir die Qualität von Bewegungsräumen in Form ihrer Beschaffenheit und Gestaltung einschätzen. Dabei geht es um den unauflösbaren Zusammenhang von Bewegung und Raum. Schulräume wie auch Wohn-, Stadt-, Landschaftsräume werden bis heute fast ausschließlich als Flächen oder dreidimensionale Behälter aufgefasst, die für die verschiedenen Zwecke ausgestattet werden. Am Beispiel der Schulhofgestaltung lässt sich dies gut zeigen (vgl. Dietrich u. a., 2005; Derecik, 2011; 2014). Schulhöfe werden meist – je nach verfügbaren finanziellen Ressourcen – »altersadäquat« mit Geräten (z. B. Klettergeräte, Basketballanlage) ausgestattet, ohne gemeinsam mit den Akteuren die Raumgestaltung zu entwickeln oder sich klarzumachen, dass ein Raum erst durch die Bewegungen der Akteure zu einem Bewegungsraum wird. Erst wenn reflektiert wird, dass nicht allein durch die Ausstattung mit Geräten, einen geeigneten Untergrund oder angemessene Bepflanzung das entsteht, was einen Bewegungsraum definiert, sondern die Bewegung selbst konstitutiv ist für das, was einen Raum zum Bewegungsraum macht, kommt die Beziehung zwischen Bewegung und Raum in den Blick. Der Raum erlangt erst Bedeutung durch die Interpretation und Definition der Akteure selbst.

Zu Bewegungs- und Spielräumen können alle möglichen Flächen und Orte unserer Umgebung werden. Kinder und Jugendliche wie auch Erwachsene machen Räume dadurch zu Bewegungsräumen, dass sie sich bewegen. So können die scheinbar unmöglichsten Orte zu Bewegungsräumen werden: Treppenhäuser, Müllhalden, Vorgärten, Bürgersteige, Brücken, Uferwiesen, Einkaufshallen, Promeniermeilen usw. Gleichzeitig gilt, dass die Räume mit ihren Gegebenheiten und Strukturen, so wie sie vorgefunden werden, Spiel- und Bewegungsaktivitäten ermöglichen oder verhindern. Über Bewegung schafft der Mensch eine je spezifische Raumstruktur, die ihrerseits als bereits vorliegende Objektivation dem Menschen begegnet: »Die Eigenschaften des vitalen Raumes regulieren unsere Bewegungen und Empfindungen, welche wiederum die Struktur des Raumes definiert« (Buytendijk, 1956, S. 50).

Eine Begrenzung dieses grundsätzlich vorhandenen wechselseitigen und offenen Wirkungszusammenhangs lässt sich beispielhaft besonders gut an den Sporträumen als ökologische Ausschnitte der Lebenswelt zeigen. So sind die uns bekannten Sportstätten im historischen Prozess »der Abstimmung von Bewegungsmöglichkeiten und räumlicher Bedingungen« (Dietrich, 1992, S. 17) entstanden. Unter den leitenden Prinzipien der Leistungssteigerung und des Leistungsvergleichs haben sich spezifisch konstruierte Sporträume entwickelt, die die menschlichen Bewegungsmöglichkeiten bereits baulich in sportive Bewegungsvorschriften umsetzen – der Sport ist in seiner Normativität im Sport-Raum konserviert. Die nach DIN und den Regeln der Sportarten gebauten Sportstätten lassen Neuinterpretationen und Umdeutungen sehr viel schwerer zu, als dies in informellen Settings von naturnahen oder auch urbanen Räumen möglich ist.

Der Anspruch auf Neu- und Umdeutung zeigt sich daher vor allem bei nichtsportlichen Bewegungsaktivitäten außerhalb der klassischen Sportstätten. So ist die Bewegungskultur des Joggens, Skateboardfahrens, Jonglierens, Inlineskatings, Mountainbikefahrens oder Streetballspielens weit weniger durch sportive Strukturen in Form von Regeln und Raumvorgaben bestimmt, als dies bei Sportarten in normierten Sportstätten der Fall ist. Neue Bewegungsaktivitäten (z. B. Le Parkour) verweisen daher auf die körperliche Auseinandersetzung mit der Verbauung und Asphaltierung unserer Lebenswelt.

Nicht nur in der selbstbezüglichen Bewegung des Sports oder in anderen weniger normierten Bewegungsaktivitäten ist die Verbundenheit mit dem Raum bedeutsam, auch die in oder über Bewegung wahrgenommenen Räume deuten auf die Verbundenheit des Raumes mit dem leiblichen Empfinden hin. So sind die Schulbauten für Schülerinnen und Schüler Räume, zu denen sie eine leibliche Beziehung aufbauen. Sie werden »beschwingt, abweisend, freilassend, ironisch, gesichtslos, lebendig, kalt usw.« wahrgenommen, »sie sprechen […] eine ›Sprache‹« (Rittelmeyer, 2002, S. 74). Wir können davon ausgehen, dass an der Wahrnehmung des Raumes nicht allein das »Sehen« beteiligt ist, sondern das gesamte Sinnesspektrum: »Wir sehen Raumformen und -farben, tasten Türklinken und Tischoberflächen, riechen Bau- und Farbmaterialien, hören den Raumklang, spüren die Wärme und Kälte von Holz- und Stahlmaterialien usw.« (ebd., S. 77). Darüber hinaus sind auch Gleichgewichtsempfinden und Eigenbewegungsempfinden sowie das Wahrnehmen unserer Körperfunktionen immer an der Raumwahrnehmung beteiligt. Deutlich wird dies dann, wenn wir den Raum schon wahrnehmen, bevor wir darüber reflektieren: »So scheint nasser Sand eine Art Aufforderungscharakter zum Formen und Bauen, also zur haptischen Tätigkeit zu haben; am Wege liegende Baumstämme ziehen manche Menschen fast magisch an, darauf zu balancieren, etc.« (ebd., S. 58). Die Intentionalität unseres Leibes macht die gedankliche und sinnstiftende Tätigkeit überhaupt erst möglich. Bevor wir über den Raum nach-denken, haben wir den Raum vor-sprachlich bereits leiblich konstituiert. Die Bewegung befördernden oder verhindernden und emotional begleitenden sowie sinnstiftenden Momente eines Raumes sind daher durch uns selbst bereits im Raum hinterlegt, sie werden im leiblichen Resonanzraum aufgenommen und im Nachgang unseres Bewegens durch Reflexion bewusst.

Die dargelegte Beziehung von Raum und Bewegung verweist auf ein relationales Raummodell in der Interaktion von Mensch und Welt, wie es in neueren soziologischen Raumkonzepten diskutiert wird. Es misst den Akteuren eine aktive Rolle bei der Raumdefinition zu und grenzt sich fundamental von früheren Vorstellungen aus der Physik zum absoluten Raum als »Container« ab. Diese relationale Beziehung versteht Raum als »(An)Ordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern« (Löw, 2001, S. 212), die an den jeweiligen Orten Räume (z. B. für Bewegung) entstehen lassen. Martina Löw (2001) verbindet in ihrem Raumkonzept Ordnung (Strukturen) von Räumen mit intentionalen Handlungsakten der Akteure und zeigt, dass Räume immer das Ergebnis des Anordnens sind und überhaupt erst über Akteure hergestellt werden. Damit überwindet sie die Vorstellung von konzentrisch größer werdenden Entwicklungsräumen von Kindern und Jugendlichen im Sinne eines »Zonenmodells« von der Wohnung über das Umfeld und den Institutionen zu temporären Orten außerhalb des Wohnbezirks (Baacke, 1991, S. 62 ff.) ebenso wie die eines »Inselmodells« (Zeiher & Zeiher, 1994, S. 17 ff.), wonach Kinder und Jugendliche sich »nur noch« gezielt in definierten Rauminseln, wie Schule, Jugendeinrichtung, Spielplatz, Schwimmbad, Fußballplatz, Kaufhaus oder Disko, aufhalten. Allerdings verwirft Löw (2001, S. 265) das Inselmodell nicht vollständig, vielmehr erfährt es insofern eine Erweiterung, als sie den Raum nicht nur als »einzelne funktionsgebundene Inseln« versteht, sondern diese durch »Syntheseleistungen zu Räumen verknüpft« sieht. Entsprechend folgert Löw (2001, S. 266):

»Diese neue Sozialisationserfahrung bestätigt nicht mehr die Vorstellung im Raum zu leben. Raum wird nun auch als diskontinuierlich konstituierbar und bewegt erfahren. An einem Ort können sich verschiedene Räume herausbilden. Dadurch entsteht […] neben der kulturell tradierten Vorstellung […] auch eine Vorstellung vom Raum, die einem fließenden Netzwerk vergleichbar ist.«

In dieser Vorstellung von Raum erfolgt die Schaffung und Verknüpfung von Räumen im Sinne von Spacing und Syntheseleistung als eigenständige Leistung des Subjekts.

Diese Raumkonzeption schließt an das oben skizzierte anthropologische Selbstverständnis von Raum und Bewegung an: Kinder und Jugendliche suchen in der Schule ebenso wie im öffentlichen Raum Orte auf, an denen sie sich in informellen, formalen und non-formalen Kontexten bewegen (vgl. Neuber, 2010) und Räume zu ihren Bewegungsräumen (um)definieren. Dies betrifft in der Schule die Klassenräume, Flure und Aufenthaltsräume im Schulgebäude ebenso wie die Freiraumgestaltung auf dem Schulhof und im weiteren Schulgelände. Hier geht es speziell um Bewegungsaktivitäten in informellen und formellen Kontexten. Daher ist es nicht unerheblich, wie diese Räume strukturiert und beschaffen sind, sie ermöglichen jeweils unterschiedliche Nutzungen und Bewegungsaktivitäten (vgl. Derecik, 2011). Erst aus der Reflexion des Zusammenhangs von Raum und Bewegung können Ideen und Möglichkeiten zur konstruktiven gemeinsamen bewegungsorientierten Raumgestaltung entstehen.

1.3       Bewegen und Wahrnehmen

Das dargelegte Bewegungsverständnis beruht auf phänomenologischen Überlegungen von Erwin Straus (1956) und Maurice Merleau-Ponty (1966) zu Sinnlichkeit und Wahrnehmung. Sie verweisen auf die Einheit der Sinne im lebendigen Bewegungsvollzug. Der Grundgedanke lässt sich so zusammenfassen: Wir empfinden, dass wir leibhaftig in der Welt sind – das Empfundene spüren wir in leiblichen Regungen. Dabei nehmen nicht einzelne Sinnesorgane, sondern der ganze Mensch wahr. Dieser Gedanke soll mit einem Beispiel aus dem Sport veranschaulicht werden: Einen mir zugeworfenen Ball nehme ich nicht wahr, weil ein Reiz auf meine Netzhaut trifft und von hier aus eine Reiz-Reaktions-Kette in Gang setzt, sondern weil ich aus meinem bisherigen Erfahrungshorizont im Umgang mit Bällen den anfliegenden Ball und seine Flugbahn deute und meine Bewegungen im Zusammenspiel von Bewegen und Wahrnehmen auf die Anforderung einstelle (Position verändern, Arme ausstrecken, mit dem Körper zurückweichen usw.). Das Wahrnehmen des anfliegenden Balles beruht auf Vorstellungen und Erfahrungen im Umgang mit Bällen, die eine Voraussetzung dafür ist, anfliegende Bälle überhaupt als solche wahrnehmen zu können. In Anschluss an die Wahrnehmungstheorie von Palagyi (1924), können wir Bewegungen nur deswegen wahrnehmen, weil wir uns die Bewegung, die damit verbunden ist, vorstellen können. Insofern sind Wahrnehmen und Bewegen so ineinander verschränkt, das eben nicht dort der »Reiz« (Welt) und hier die »Reaktion« (Ich) verortet ist, sondern Mensch und Welt, Bewegen und Wahrnehmen unauflöslich auf die Einheit der Sinne verwiesen sind. Das Empfinden ist an Bedeutungen gebunden, die im Erfahrungshorizont von bisher Empfundenem ihre Resonanz haben. Dazu ein Beispiel aus der Wahrnehmungstheorie von Merleau-Ponty (1966, s. 32):

»Bereits die einfachste ›Figur‹ auf einem ›Hintergrund‹, ist […] weit mehr als die Summe aktuell gegebener Qualitäten. […] Daß eine Qualität, eine rote Fläche z. B., etwas bedeutet, etwa einen Fleck auf einer Unterlage, heißt hingegen eben, daß das Rot nicht allein das Farberlebnis ist, in dessen warmer Empfindung ich aufgehe, sondern noch anderes anzeigt, das in ihm nicht eingeschlossen ist, daß es dergestalt eingeht in eine Erkenntnisfunktion, daß seine Teile ein Ganzes bilden und diesem, ein jedes an seiner Stelle unlöslich sich einfügen. Das Rot ist nicht bloß einfach gegenwärtig […], sondern ›intentionales Moment‹ der Wahrnehmung, nicht mein ›Besitz‹, sondern ein ›Vermeintes‹.«

Es sind nicht die physiologischen Reize der Sinnesorgane, die das Rot »warm« erscheinen lassen, vielmehr ist das Empfinden ein Deutungsakt des Wahrnehmenden. Empfindungen »treten in Wahrheit je schon in einem Sinnhorizont auf, die Bedeutsamkeit des Wahrgenommenen […] liegt in Wahrheit jeder Assoziation schon zugrunde« (ebd., S. 35). Alle Empfindungen erzeugen Resonanzen, z. B. dass die Farben Gelb, Rot und Orange als warm empfunden werden. Daher kommt es auf die Bedeutung der wahrgenommenen Farbe an.

Nach den Studien von Straus (1956) können wir annehmen, dass unser Empfinden elementar an unser Bewegen gebunden ist: »Wie Sehen und Hören, Tasten und Schmecken untereinander, so ist das Empfinden überhaupt mit der lebendigen Bewegung in einem inneren Zusammenhang verbunden« (ebd., S. 239). Dabei weist er besonders darauf hin, dass Bewegung das menschliche Handeln im umfassenden Sinne erfasst: »Der Muskel gerät in Bewegung, der Mensch bewegt sich« (ebd., S. 243). Sich als wahrhaftig in der Welt zu spüren, ist somit auf das Empfinden im leiblichen Resonanzraum verwiesen.

Der Weltbezug entsteht durch ein primäres Ausdruckserfassen eines Gegenübers, wobei wir »den Anderen von unserem eigenen Platze und von unserer eigenen Richtung aus« verstehen, wir erfassen das, was uns im wahrsten Sinne des Wortes »unmittelbar angeht«, das »Empfinden ist also ein sympathetisches Erleben« (ebd., S. 206). Dieser Vorgang ist nun eng mit der menschlichen Bewegung verbunden. Dabei geht es um ein »schon bewegtes Sein, besser ein In-Bewegung-Sein. Bewegung und Empfindung stehen daher in einem inneren Zusammenhang, den es verständlich zu machen und darzustellen gilt« (ebd., S. 200). Straus unterscheidet zwischen einem »Allgemeinen«, das den inneren Zusammenhang konstituiert, und einem »Besonderen«, das spezifische Ausformungen der Bewegung meint. Anschaulich wird dies an seinem Beispiel des Tanzes:

»Die Kunstformen des Tanzes sind möglich nur als besondere Gestaltung jener zuvor bestehenden Einheit von sinnlichem Eindruck und Bewegung überhaupt. Die Bewegungen eines Tanzes mögen so künstlich sein wie sie wollen, das Künstliche, das Erfundene und Erlernbare an ihnen ist stets nur das Besondere; das Allgemeine aber, wovon sie eine Besonderung sind, die Einheit von Musik und Bewegung ist eine ursprüngliche, keine künstliche, keine erfundene und keine erlernte.« (Straus, 1956, S. 240)

Wahrnehmen und Bewegen sind daher auch grundlegend für Lern- und Bildungsprozesse im Kontext von Schule und Unterricht. Dieser Zusammenhang kann auch als fundamental für den Prozess der Hervorbringung von Bewegungen selbst angesehen werden – und dies bei sportlichen Bewegungen ebenso wie im Alltag: Aus der »bidirektionalen Verknüpfung der Wahrnehmungs- und Bewegungsseite ergibt sich zwingend, dass beim Handeln und Lernen Einflussfaktoren