Über das Buch:
In Alaska findet das härteste Schlittenhundrennen der Welt statt. Doch der sportliche Wettkampf wird völlig überraschend zu einer mörderischen Jagd durch Eis und Schnee, denn Kirra Jacobs’ Cousine ist entführt worden. Gemeinsam mit Reef und den anderen Mitgliedern des McKenna-Clans stürzt Kirra sich in einen erbarmungslosen Wettlauf gegen die Zeit. Sie weiß, sie muss ihre Cousine finden, bevor das Rennen zu Ende ist, sonst wird ihr Onkel tun, was die Entführer verlangen. Und das könnte unzählige Menschen das Leben kosten …

Über die Autorin:
Dani Pettrey ist für ihre spannenden Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Maryland.

7

Anchorage International Airport
11. März, 17:30 Uhr

„Hallo, Dad.“ Kirra presste das Handy fest ans Ohr und versuchte, trotz der lauten Hintergrundgeräusche im Terminal zu verstehen, was am anderen Ende der Leitung gesagt wurde. Sie hatte gemeinsam mit Reef in den letzten Stunden auf ihren Flug gewartet und das flaue Gefühl im Magen hatte sich noch nicht gelegt. Es war Zeit, den Anruf bei ihrem Vater hinter sich zu bringen.

„Kirra?“

„Ja, Dad. Ich bin’s.“

„Rufst du vom Rennen an?“

„Genau.“

„Alles in Ordnung?“

„Ja, alles prima. Ich wollte mich nur mal melden.“

„Oh. Also, hier ist alles im grünen Bereich. Deine Mutter und ich bereiten uns gerade auf unsere Karibikkreuzfahrt vor. Deine Mutter hat wieder Ärger mit der Arthrose, da wird ihr das warme Wetter guttun.“

„Dad, ihr wohnt in Arizona. Ist es da nicht immer warm?“

„Normalerweise schon. Aber in letzter Zeit hatten wir höchstens um die zwanzig Grad. Außerdem kann deine Mom einen Tapetenwechsel gebrauchen.“

Eine Flucht. Kirras Mutter konnte nur eine begrenzte Zeit mit der Wirklichkeit fertigwerden, dann musste sie in einen Urlaub oder zu einem Wellness-Wochenende fliehen. Irgendetwas, was ihr half zu vergessen, was ihr gerade zu schaffen machte – ob es mit ihrer Gesundheit zu tun hatte oder mit irgendwelchen Veränderungen im Leben.

„Wie läuft das Rennen?“

Typisch Dad, dass er nicht gezielt nach seinem Bruder fragte. „Gut.“ Kirra schluckte, weil sie wusste, dass sie die entscheidende Frage nicht länger hinauszögern konnte. „Sag mal …“ Sie schob sich die Haare hinters Ohr, während sie Reef einen Blick zuwarf, der ein paar Meter von ihr entfernt saß. Aus irgendeinem Grund – sie dachte lieber nicht zu genau darüber nach – machte seine Anwesenheit ihr Mut. „Ich dachte nur … ich weiß ja nicht viel über Onkel Frank, und da ich ihn beim Rennen immer wieder sehen werde, fände ich es nett, ein paar Anhaltspunkte zu haben, worüber ich mich mit ihm unterhalten könnte.“

„O…kay. Was willst du wissen?“

„Was macht er eigentlich im Moment beruflich?“

„Als ich das letzte Mal was von ihm gehört habe, war es etwas mit Bohrinseln.“

„Wann war das?“

„Als ich das letzte Mal was von ihm gehört habe.“

„Und war das vor ein paar Monaten oder vor ein paar Jahren?“

„Ich weiß nicht mehr, Kirra. Was spielt das für eine Rolle?“

„Interessiert mich nur. Hast du eine Ahnung, für welche Ölgesellschaft er gearbeitet hat?“

„So genau verfolge ich nicht, was mein Bruder macht. Was sollen all die Fragen?“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich Frank sehen werde und da habe ich überlegt –“

Sein verächtliches Lachen schnitt ihr das Wort ab. „Du zerbrichst dir mal wieder unnötig deinen Kopf.“

So wie er geglaubt hatte, sie würde sich unnötig ihren Kopf über die Vergewaltigung zerbrechen und dass es vielleicht nicht tatsächlich so passiert war? Sie hatte etwas getrunken und außerdem – was konnte es schon bringen, ihrer beider guten Ruf in den Dreck zu ziehen? Privatangelegenheiten sollten privat bleiben.

„Danke, Dad.“ Für nichts und wieder nichts.

„Willst du mit deiner Mutter sprechen? Ich kann sie bestimmt aus dem Gewächshaus locken, wenn du wirklich mit ihr reden willst.“

„Nein, ist schon gut. Ich muss sowieso Schluss machen.“

„Ist gut. Pass auf dich auf.“

Sie war die Einzige, die das tun würde.

Als sie zu Reef zurückging, hatte sie das Gefühl, ein riesiges Loch im Bauch zu haben.

„Hallo“, sagte er, als sie sich auf den Plastikstuhl neben ihm fallen ließ. „Alles in Ordnung?“

„Klar.“ Sie presste die Lippen zusammen. „Alles bestens.“

„Hat dein Vater irgendwas gesagt, was hilft?“

Was wehtat. Aber vielleicht half es ihnen auch. „Kann sein. Er sagte, das letzte Mal, als er von Frank gehört hat, war er bei einer Ölfirma auf einer Bohrinsel beschäftigt.“

„Hat er gesagt, bei welcher Firma?“

„Das wusste er nicht.“

„Und wie lange ist das her?“

„Daran konnte er sich auch nicht erinnern.“

„Na gut.“ Reef fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Ich werde Jake anrufen und ihm Bescheid sagen. Es ist wenigstens ein Anfang.“

„Damit musst du warten, bis wir in Fairbanks sind.“ Kirra zeigte auf das Flugzeug, in das jetzt die ersten Passagiere stiegen.

„Alles klar.“ Er nahm ihre Taschen.

Sie streckte die Hand nach ihrem Gepäck aus. „Das kann ich selbst nehmen.“

„Kein Problem.“ Er warf sich ihre Tasche über die Schulter. „Nach dir.“

Sie war sich immer noch nicht sicher, was sie von Reef als Kavalier halten sollte.

Reef verstaute ihre Taschen in den Gepäckfächern über den Sitzen und ließ sich neben ihr auf einen Platz am Gang nieder. Das Flugzeug war klein und hatte nur zwei Sitze auf jeder Seite des Gangs.

Während er es sich bequem machte, beobachtete sie ihn. Seine Familie war so ganz anders als ihre. Und auch Reef war ganz anders, als sie ihn aus seiner Zeit als leichtsinniger und überheblicher Teenager in Erinnerung hatte.

Sie drehte sich ein wenig zu ihm um. „Deine Familie ist klasse.“

„Ja.“ Er lächelte. „Die anderen sind wirklich toll.“

Schloss er sich selbst davon aus?

„Ihr scheint euch sehr nahezustehen und helft euch immer gegenseitig.“ Und ihr, Frank und Meg auch – und dabei waren die McKennas nicht einmal mit ihnen verwandt. Warum machten sie sich diese Mühe, nur um Kirras Familie zu helfen? Oder besser: einem Teil ihrer Familie. Dem Teil, der ihr am wichtigsten war.

„Stimmt. Das ist ein echter Segen. Ein Segen, den ich nicht verdient habe.“

„Deine Geschwister sehen das offensichtlich nicht so.“

„Nein.“ Reef lächelte. „Tun sie nicht.“

„Das ist bestimmt ein super Gefühl für dich.“

Er sah sie an und zog eine Augenbraue hoch. „Du sagst das so traurig. Ist deine Familie …? Ich meine, ich dachte, du hättest nette Verwandte.“

„Oh, nett sind sie schon.“

Jetzt wanderte auch die zweite Augenbraue nach oben.

Kirra schüttelte den Kopf. „Ach, egal. Erzähl mir mehr von deiner Familie.“

„Zum Beispiel?“

„Irgendwas. Ich höre immer so gerne zu, wenn Kayden über eure Abenteuer und Familienunternehmungen erzählt. Gage ist ziemlich witzig, oder?“

„Stimmt. Mit ihm wird es nie langweilig.“

Die nächste Stunde verbrachten sie damit, über die McKennas zu sprechen, und Kirra stellte sich vor, wie es wäre, Teil einer so liebevollen Familie zu sein. Nicht dass ihre Eltern sie nicht liebten … aber sie wussten nicht, wie sie mit den schwierigeren Dingen des Lebens umgehen sollten. Und ihrer Meinung nach war es das, was eine echte Familie ausmachte – dass man in den schweren Zeiten des Lebens füreinander da war, sich gegenseitig unterstützte und füreinander eintrat.

Reef lächelte.

Kirra sah ihn an. „Was ist?“

„Nichts. Ich habe dich nur seit Jahren nicht mehr so redselig erlebt.“

„Was willst du damit sagen?“ War das gut oder schlecht?

„Das war ein Kompliment. Es ist schön, eine richtige Unterhaltung mit dir zu führen.“

„Richtig?“ Was sollte das nun schon wieder heißen?

„Du weißt schon … eine, bei der du mir keine Vorträge hältst.“ Er zwinkerte.

„Glaubst du wirklich, dass ich so bin?“ Dass sie nur belehrend und rechthaberisch war? Obwohl sie aufgrund ihrer gemeinsamen Geschichte verstand, was er meinte. Sein nachdenklicher Blick und das leichte Lächeln auf seinen Lippen ließen die Schmetterlinge in ihrem Bauch flattern.

„Das dachte ich früher.“

Sie schluckte, wie gebannt von seinen blauen Augen und der Ernsthaftigkeit darin. „Und jetzt?“

Langsam wurde sein Lächeln breiter – und verwandelte sich in ein schiefes Grinsen, das unglaublich sexy aussah. „Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich zum ersten Mal deine wahre Persönlichkeit sehe.“

Kirra hätte so gerne gewusst, ob ihm gefiel, was er da sah, aber das zu fragen, traute sie sich nicht.

Stattdessen starrte sie durch die Plexiglasscheibe nach draußen, während das Flugzeug zur Landung auf Fairbanks ansetzte und ihr Herz bis zum Hals schlug.

8

Kirra folgte Reef durch den Flughafen von Fairbanks. Was machte sie hier? Sie konnte nicht weitergehen. Mit der Universität verbanden sich einige ihrer schönsten Erinnerungen, aber auch ihre allerschlimmsten. Doch Darcy hatte recht – die Uni war ihre beste Quelle, um herauszufinden, wo Meg war.

Kirra hoffte sehr, dass Megs Mitbewohnerin Ashley wusste, wann Meg den Campus verlassen hatte. Wenn sie wussten, wann Meg wohin abgereist war, hätten sie das erste Puzzleteil und Kirra wollte endlich die leere Fläche vor ihnen füllen.

„Hey.“ Reef stieß sie an. „Das wird schon werden.“

Sie straffte die Schultern. „Woher willst du das wissen?“

„Weil ich Glauben habe.“

Aus Reefs Mund klang diese Äußerung merkwürdig. Kirra wusste, dass Menschen sich ändern konnten – und in Reef hatte sie eine solche Veränderung bereits gesehen –, aber dass Reef McKenna ihr was vom Glauben erzählte … Gott hatte wirklich Sinn für Humor. „Ich sage das ja nur ungerne, aber auch Menschen, die glauben, werden manchmal enttäuscht.“

„Ich weiß.“ Reef schob den Riemen seiner Reisetasche weiter die Schulter hinauf. „Das kannst du mir glauben.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. Seine Eltern hatten einen tiefen Glauben gehabt und waren beide früh gestorben. Auch Reef wusste, was Kummer und Leid waren.

„Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht trotzdem glauben sollten“, sagte er und hielt ihr die Glastür auf. „Jesus hat uns kein Leben ohne Schwierigkeiten versprochen. Genau genommen hat er seinen Nachfolgern genau das Gegenteil prophezeit.“

Der Vers aus Johannes 16: „In der Welt wird man euch hart zusetzen, aber verliert nicht den Mut: Ich habe die Welt besiegt!“

Reef hatte recht. Das Leben hatte ihr hart zugesetzt, aber Kirra glaubte immer noch an Gott. Was ihr zu schaffen machte, waren die Warum-Fragen. Warum hatte Gott William nicht daran gehindert, sie zu vergewaltigen? Warum hatte er nicht die Heilung geschenkt, nach der sie sich so sehnte?

Wenn sie zurückblickte, musste sie zugeben, dass sie nicht auf die leisen Warnungen in ihrem Herzen gehört hatte, bevor sie William zugesagt hatte, ihn zu der Party zu begleiten. Auch nicht, bevor sie das erste oder zweite Glas getrunken hatte. Und schon gar nicht hatte sie auf die innere Stimme gehört, die sagte, dass William nicht gut für sie war; dass es ihr nicht guttat, Zeit mit ihm zu verbringen. Jetzt wünschte sie, sie hätte auf diese Warnungen gehört. Hätte es William daran gehindert, das zu tun, was er getan hatte? Vielleicht nicht, aber es hätte die Umstände geändert, unter denen es geschehen war, und es hätte auch geändert, wie Tracey und andere sie betrachtet hatten. Dass die Menschen, die sie am meisten liebte und denen sie vertraute, sie im Stich gelassen hatten, hätte Kirra beinahe in die Knie gezwungen.

„Hallo!“ Reefs Finger berührten ihre – und blieben gerade lange genug liegen, dass sie seine Wärme spürte. „Hörst du mir noch zu?“

„Ja.“ Sie zögerte, weil sie wusste, dass sie die Hand wegziehen sollte, aber gleichzeitig wollte sie zum ersten Mal seit zwei Jahren nicht den Körperkontakt verlieren. Seine Hand war beruhigend, seine Haut weich.

„Kirra?“ Reef senkte den Kopf ein wenig, um ihr in die Augen zu sehen. Die Finger hatte er locker zwischen ihre gefädelt.

„Tut mir leid.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin abgelenkt worden.“

„Aber nicht auf gute Weise.“

Kirra runzelte die Stirn. „Was?“ Er war es doch gewesen, der ihre Hand genommen hatte.

„Du hast plötzlich ganz grimmig ausgesehen. Offensichtlich hast du nicht an etwas Schönes gedacht.“

Konnte Reef sie wirklich so gut durchschauen? War sie so ein offenes Buch? Panik stieg in ihr auf. Sie musste das Thema wechseln, und zwar schnell. Kirra zog ihre Hand vorsichtig fort und schob sie in die Manteltasche, als sie auf den Parkplatz hinaustraten, wo ihr Mietwagen stand. „Also … wie lange warst du eigentlich mit Meg zusammen?“

Er legte den Kopf schief, offensichtlich überrumpelt von der Frage. „Zwei Monate etwa. Sie war in ihrem ersten Jahr im College und ich habe Snowkiting-Unterricht am Twenty Mile River gegeben. Meg hat an einem Kurs teilgenommen und –“

„Ihr zwei habt euch zusammengetan.“

„Wir haben anschließend was zusammen gegessen.“

„Und?“

„Und uns eine Weile unterhalten.“

Warum tat das so weh? „Warum hat die Beziehung nicht gehalten?“ Wahrscheinlich, weil Reef sich nur selten auf lange Beziehungen einließ – obwohl man dasselbe fairerweise auch von Meg sagen musste.

Kirra liebte ihre Cousine, aber Meg war keineswegs ohne Fehler. Vielleicht hatte sie Kirra deshalb nach der Vergewaltigung so treu zur Seite gestanden – weil sie verstand, wie es war, verurteilt zu werden.

„Ich hatte wohl das Gefühl, dass es nichts Dauerhaftes war. Rückblickend …“ Reef fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Meg war jung und ich war unreif. Keine gute Kombination.“

„Seid ihr zwei noch in Kontakt?“ Warum spürte Kirra bei dem Gedanken eine Eifersucht in sich aufsteigen, die sich in ihrem ganzen Brustkorb ausbreitete? Reef war mit ihrer Cousine ausgegangen. Meg wusste, wie weich sich seine Lippen anfühlten. Na und?

Schließlich würde zwischen ihr und Reef nie etwas sein. Er war zu gefährlich, lebte zu leidenschaftlich.

„Ab und zu schreibt sie eine SMS oder eine Nachricht über Facebook“, antwortete Reef mit hochgezogenen Augenbrauen und einem schiefen Lächeln. Fand er ihre Eifersucht lustig? „Unser Kontakt ist sporadisch und auf keinen Fall was Ernstes.“

Kirra war erleichtert und das machte ihr Angst. Was kümmerte sie Reefs Beziehung zu Meg – oder zu irgendeiner anderen Frau? Sie musste aufhören, so viel Zeit mit ihm zu verbringen. Allmählich trübte sich ihr Urteilsvermögen.

Na gut, sie hatten sich im Flugzeug über persönliche Dinge unterhalten und in der Höhle hatten sie sich im Halbschlaf geküsst – was er zum Glück immer noch nicht erwähnt hatte. Doch die nüchterne, harte Tatsache war, dass er das genaue Gegenteil von dem war, was sie brauchte. Und deshalb hatte es nicht den geringsten Sinn, sich an ihn zu gewöhnen.

Noch beunruhigender war der Gedanke, warum sie sich überhaupt so zu ihm hingezogen fühlte. Schließlich hatte sie es hier mit Reef McKenna zu tun. Er ging mit Frauen wie Meg aus – unkonventionell, abenteuerlustig und risikofreudig. Sie selbst hingegen war einmal im Leben ein großes Risiko eingegangen und das hatte sie ein Stück ihrer Seele gekostet.

Kirra hatte immer wieder zu Gott gebetet und ihn angefleht, die Leere zu füllen. Sie glaubte, dass Gott sie heilen konnte, aber aus irgendeinem Grund hatte er es noch nicht getan. Noch immer fühlte sie sich innerlich hohl – etwas, das sie zu verbergen versuchte und das sie versucht hatte zu ändern, indem sie sich um ihre Hunde kümmerte, aber das Gefühl der Leere war nicht verschwunden.

Zwei Jahre lang hatte sie sich an diese Hoffnung geklammert, jedoch ohne Erfolg. Vielleicht sollte sie sich lieber an den Gedanken gewöhnen, dass sie das Geschehene nie ganz überwinden würde.

Während sie zu einem Restaurant fuhren, das Reef empfohlen hatte, starrte Kirra aus dem Fenster des Mietwagens. Sie wollte keine Zeit für das Abendessen verschwenden, aber andererseits hatte sie einen Bärenhunger. Außerdem wäre es noch schlimmer, abends zum Campus zu gehen. Es war ungefähr die gleiche Jahreszeit wie damals …

Sie verdrängte den Gedanken, bevor die Panikattacke begann. Reef durfte sie so nicht sehen.

Sie hatten beschlossen, dass sie in einem Hotel übernachten und Megs Mitbewohnerin gleich früh am nächsten Morgen aufsuchen würden. Es war sinnlos, zur Uni zu gehen, wenn kein Unterricht stattfand. Sie mussten die Leute befragen können, die Ashley ihnen möglicherweise nannte, und das war tagsüber deutlich einfacher.

Das Restaurant, das Reef ausgesucht hatte, war erstaunlich urig – nur etwa dreißig Personen fanden darin Platz. Weiße Tischdecken lagen auf kleinen runden Tischen und weiße Windlichter schufen eine lauschige Atmosphäre. Als Kirra sich auf dem dunklen Holzstuhl mit den geschnitzten Küstenmotiven an der Rückenlehne niederließ, fühlte sie sich geborgen und beschützt – Gefühle, nach denen sie sich seit zwei Jahren sehnte. Wie schaffte Reef das nur immer wieder?

Sein Blick ruhte während des ganzen Essens auf ihr, auch wenn sie kaum sprachen. Das Schweigen fühlte sich gut an und das Essen war köstlich. Gott schenkte ihr einen Augenblick der Ruhe vor dem Sturm, in den sie bald treten würde.

9

Fairbanks, Alaska
11. März, 22:15 Uhr

Reef stellte den Wagen hinter dem Hotel ab, in dem sie zwei nebeneinanderliegende Zimmer gebucht hatten. Keiner von beiden hatte den Eindruck gehabt, dass ihnen jemand von Nikolai aus gefolgt war. Kirra hoffte, dass die Männer, die sie auf den Schneemobilen gejagt hatten – oder wer auch immer sie im Auge behielt –, ihre Geschichte von der Rückkehr nach Yancey geschluckt hatten, aber Vorsicht war besser als Nachsicht. Es war klüger, wenn sie sich an abgelegenen Orten aufhielten und nicht zu auffällig in Erscheinung traten.

Als Reef ihr die Tür zum Hotelzimmer öffnete, sah Kirra sich in dem Raum um. Er war irgendwo zwischen hässlich und gemütlich. Altmodisch, aber sauber. Das Hotel wurde von einem älteren Ehepaar geführt und offenbar lag die Dekoration fest in weiblichen Händen, wie in den Spitzendeckchen auf dem Nachttisch und der passenden Kommode unschwer zu erkennen war.

Reef blieb in ihrem Zimmer, während Kirra ihre Sachen auspackte, und setzte sich an den kleinen Tisch neben dem Fenster, vor dem die Vorhänge zugezogen waren. „Du warst beim Essen sehr schweigsam“, sagte er.

„Ich musste über einiges nachdenken.“

Er beugte sich vor. „Ich weiß, dass du dir Sorgen um Meg machst, aber wir werden sie finden.“

„Wie kannst du da so sicher sein?“

„Eine Menge guter Leute suchen sie und wir haben Zeit. Das Rennen dauert noch eine Woche und für die langsameren Gespanne noch länger.“

„So viel ist eine Woche auch wieder nicht.“ Kirra kramte zum dritten Mal seit ihrer Ankunft in ihrer Reisetasche, ohne zu wissen, was sie suchte – sie wollte sich nur von der aufsteigenden Panik ablenken.

Reef stand auf und trat neben sie. Dann nahm er ihre Hände in seine. „Ich glaube, dass Gott uns bewahren wird – uns alle.“

Sie drängte die Tränen zurück und hoffte, dass sein Glaube für sie beide ausreichen würde, denn ihrer schien ihr im Moment abhandengekommen zu sein. Die Ereignisse der letzten beiden Tage hatten sie erschöpft und jetzt, wo sie wieder in Fairbanks war, stiegen alle Zweifel wieder in ihr hoch, die ihr nach der Vergewaltigung zu schaffen gemacht hatten. Wo war Gott? Warum hat er das zugelassen? Wann wird er mich irgendwann heilen? Werde ich überhaupt jemals wieder heil sein?

Als der Schmerz sie beinahe aufgefressen hatte, war sie zu einer Seelsorgerin und Therapeutin gegangen. Die Gespräche mit der Frau hatten ihr ein wenig geholfen. Die Fragen waren leiser geworden und Kirra hatte angefangen, ihre Beziehung zu Gott wieder aufzubauen, aber jetzt, hier, so nah an allem … Es war, als wäre sie auf einen Schlag zwei Jahre zurückgeworfen worden und ihre Gefühle kamen wieder an die Oberfläche.

„Komm her.“ Reef zog sie in seine Arme. Das machte er in letzter Zeit oft. Wollte er etwas von ihr oder spürte er einfach nur, dass sie sich nach Trost und Geborgenheit sehnte? Es überraschte sie selbst, dass sie Letzteres glaubte.

„Danke“, sagte sie, als sie sich nach einer Weile von ihm löste. „Ich bin froh, dass du hier bist, aber wir sollten beide etwas Schlaf nachholen.“

„Stimmt.“ Reef schob die Hände in seine Jeanstaschen. „Morgen ist ein wichtiger Tag.“

Ihr Magen drehte sich bei dem Gedanken um. Er hatte ja keine Ahnung.

* * *

Kurz vor Tagesanbruch traf er in Yancey ein. Reef und Kirra hatten mindestens zwölf Stunden Vorsprung. Aber sie hatten auch schnellen Zugang zu einem Flugzeug gehabt. Er hatte erst eines organisieren müssen. Unter den Umständen war es eigentlich erstaunlich, dass er nur zwölf Stunden Rückstand hatte.

Yancey war eine Kleinstadt, was seine Arbeit erleichterte. Er würde die beiden schnell finden und sich davon überzeugen, dass sie die Sache wirklich auf sich beruhen ließen. Im Internet suchte er nach Kirra Jacobs’ Tierarztpraxis und ihrem Heim für Schlittenhunde – Nanook Haven.

Er warf seine Zigarette auf den Boden und trat sie mit der Stiefelspitze in den Schnee, als die Autovermietung ihr Büro aufschloss. Zum Glück hatte er nur eine Stunde warten müssen.

Und jetzt würde er zu Nanook Haven fahren.

Universität von Alaska, Fairbanks
12. März, 8:10 Uhr

Reef fand, dass sich Kirra irgendwie komisch verhielt, seit Darcy vorgeschlagen hatte, sie sollte Megs Mitbewohnerin persönlich aufsuchen. Verstanden die beiden sich nicht? Gab es etwas aus Kirras Zeit an der Uni in Fairbanks, das einen bitteren Nachgeschmack bei ihr hinterlassen hatte?

Sie lief mit schnellen Schritten über den Campus, ohne aufzublicken oder irgendjemanden anzusehen. Ihre Haltung war sehr angespannt und ihre Miene war grimmig. Was war hier geschehen?

Reef hätte Kirra gerne gefragt, ob alles in Ordnung war, aber er wusste, dass sie behaupten würde, alles sei gut. Sie hatte das Thema während des Fluges abgewehrt und stattdessen über seine kurze Beziehung mit ihrer Cousine Meg geredet.

Seine Zeit mit Meg hatte aus ein paar Dates bestanden – kaum genug, um es eine Beziehung zu nennen, aber Kirra hatte diesen Begriff mehrmals gebraucht. Die Tatsache, dass er mit Meg ausgegangen war, machte ihr zu schaffen. Das merkte er an ihren zusammengepressten Lippen und den Falten auf ihrer Stirn. Vielleicht war es ihr nicht recht, dass ihre Cousine etwas mit dem wilden McKenna-Bruder angefangen hatte. Oder, was wahrscheinlicher war: Sie wusste, dass er für Meg nicht gut genug war – was wiederum bedeutete, dass er auf keinen Fall gut genug für sie war.

Das stimmte auch, aber er hatte gehofft, dass sie vielleicht anfing, ihn mit anderen Augen zu betrachten. Und es gab Momente, in denen er das Gefühl hatte, dass es auch so war – der leidenschaftliche, aber zärtliche Kuss war einer davon; ihre offene Unterhaltung im Flugzeug ein anderer.

Kirra hatte den Kuss noch immer nicht erwähnt und Reef fragte sich, ob sie sich überhaupt daran erinnerte. Schließlich hatte sie halb geschlafen. Aber so oder so hatte sich die Erinnerung an diesen Kuss fest und unauslöschlich in sein Hirn eingebrannt.

Die Gefühle, die er bei diesem Kuss empfunden hatte, waren für ihn ganz neu gewesen. Und er wollte mehr davon. Mehr von ihr – nicht körperlich, sondern emotional. Er wollte sie besser kennenlernen und herausfinden, wer sie war, und er wollte die steilen Falten von ihrer Stirn wischen und sie trösten und unterstützen.

Kirra weckte in ihm den Wunsch, ein besserer Mensch zu sein. Deshalb war er hier. Er würde ihr helfen, Meg zu finden. Damit würde er beweisen, dass er doch etwas zu Ende bringen konnte, dass er ein zuverlässiger Freund war und dass sie beide ihm wichtig waren – Meg als eine Freundin und Kirra als viel, viel mehr, auch wenn sie diese Gefühle nicht erwiderte. Reef hatte in seinem Leben so viel Mist gebaut; er war für die Menschen, die er liebte, nicht da gewesen; er hatte keine Ausdauer bewiesen. Diesmal würde er es nicht vermasseln und er würde auch nicht fliehen.

Sie betraten das Studentenwohnheim. Kirra hastete die Betontreppe zum dritten Stock hinauf.

„Hast du sie schon mal getroffen? Megs Mitbewohnerin?“

„Ja. Als sie an Thanksgiving in Yancey zu Besuch war.“

„Das hilft bestimmt.“ Dann standen nicht zwei völlig Fremde vor der Tür.

„Meg wohnt in Zimmer 304.“ Kirra ging den Flur entlang. „Hier.“

„Dann hoffen wir mal, dass Ashley da ist.“ Sonst müssten sie versuchen, sie auf dem Campus zu finden.

Kirra klopfte.

Kurz darauf öffnete sich zu Reefs Erleichterung die Tür.

Eine zierliche Frau mit langen, offensichtlich gefärbten Haaren begrüßte sie. „Ja?“ Sie lächelte, als ihr Blick auf Kirra fiel. „Kirra! Was machst du denn hier?“

„Wir suchen Meg.“

„Sie ist nicht hier.“

„Das wissen wir.“

Ashley runzelte die Stirn. „Was ist los?“ Sie bedeutete Kirra und Reef, dass sie eintreten sollten.

„Vielleicht setzt du dich besser“, schlug Reef vor.

Das Zimmer war typisch für ein Studentenwohnheim. Es gab zwei Hochbetten, eines mit einem Schreibtisch und einem Computer darunter, das andere mit einer Kommode und Bergen von Klamotten – Megs Sachen. Ganz anders als die immer gut organisierte Kirra.

„Also gut, jetzt macht ihr mir aber wirklich Angst“, sagte Ashley und ging über den blauen Teppich zu ihrem Stuhl. „Was ist los, Kirra?“

Kirra rieb sich die Arme. „Ich weiß nicht, wie ich das am besten ausdrücken soll, also sag ich es einfach.“ Sie machte eine Pause, bis Ashley saß, und seufzte dann. „Meg wird vermisst.“

Ashley sah sie prüfend an. „Was meinst du mit vermisst?“

„Das hat man uns erzählt“, sagte Kirra und lehnte sich an das hölzerne Bettgestell.

„Erzählt?“ Ashley zog die Augenbrauen hoch. „Wer hat das gesagt?“

„Ihr Vater.“

„Ach so.“ Ashley atmete aus und ihre angespannte Miene erhellte sich.

Jetzt war es Kirra, die die Augenbrauen hochzog. „Was ist?“

Ashley schluckte und schob sich eine Strähne ihrer leuchtend roten Haare hinters Ohr. „Bestimmt ist das alles nur ein Missverständnis.“

„Was meinst du damit?“

„Du weißt doch, dass Meg immer zum Rennen nach Iditarod fährt, um ihren Dad zu sehen …“

„Ja“, sagte Kirra.

„Und als Meg diesmal fuhr und ich sagte: ‚Grüß deinen Dad von mir‘, hat sie mich so merkwürdig angesehen.“

Kirra riss die Augen noch weiter auf. „Inwiefern merkwürdig?“

„So, als würde sie gar nicht dorthin fahren.“

„Du meinst, sie hat gelogen, als sie sagte, sie würde zum Rennen fahren?“

„Ich weiß nicht.“ Ashley zog die Knie an und der Drehstuhl bewegte sich unter ihr. „Meg ist in letzter Zeit irgendwie anders.“

„Anders?“, hakte Kirra nach. „Was meinst du damit?“

„Sie hängt mit diesen anderen Typen rum. Wird ein bisschen radikal.“

Wird radikal? Worauf hatte Meg sich da eingelassen?

„Was für Typen sind das denn?“, wollte Kirra wissen.

„Und inwiefern radikal?“, fügte Reef hinzu. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass Meg sich sowieso schon auf einem schmalen Grat zwischen akzeptablem und ungesundem Verhalten bewegte. War sie jetzt völlig abgedreht?

Ashley legte das Kinn auf ihre Knie. „Diese Umweltgruppe in der Uni. ROW. Rescue Our World. Sie reden ständig davon, dass sie die Welt retten wollen – also die Umwelt. Sie sind ziemlich radikal. Ich glaube, sie spielen ganz bewusst mit diesem Image, aber wenn ihr mich fragt, sind sie nur so aufgedreht, weil sie zu viel Koffein in sich reinschütten. Immer geht es um irgendeine gute Sache. Sie beschweren sich über dies und das. Ich meine, tut mir leid, aber ein bisschen Haarspray wird die Welt wohl kaum an den Rand des Untergangs bringen. Ein Mädchen wird sich doch wohl noch die Haare schön machen dürfen. Habe ich recht?“

Kirra lächelte und nickte, aber Reef spürte, dass sie zur Sache kommen wollte.

„Diese Gruppe“, sagte Kirra. „Kennst du welche von den Mitgliedern?“

„Meg hat versucht, ein paar von ihnen zu unseren Partys einzuladen, aber sie sind zu sehr damit beschäftigt, auf ihrem hohen Ross zu sitzen und allen anderen Vorträge zu halten, anstatt sich mal zu amüsieren. Zieht einen irgendwie runter, verstehst du? Irgendwann hat sie dann aufgehört, sie mitzubringen.“

„Glaubst du, sie hat dann auch nichts mehr mit ihnen zu tun gehabt?“, fragte Kirra.

„Nein.“ Ashley stand auf und hob ihre Tasche von dem abgewetzten blauen Teppich auf. Dann trat sie an ihren Schreibtisch. „Ich glaube, sie hat nur beschlossen, ihre Freundeskreise nicht zu mischen.“

„Warum?“ Kirra runzelte die Stirn.

„Weil wir uns nicht für ‚die Sache‘ engagiert haben.“ Sie stopfte ein paar Bücher in die Umhängetasche. „Dadurch war das Verhältnis zu Meg ein bisschen komisch. Irgendwie war da so eine Spannung, über die keine von uns sprechen wollte, aber sie war immer da.“

„Könntest du uns ein paar Namen nennen?“, fragte Reef.

„Von den Ökofreaks?“ Ashley zuckte mit den Schultern. „Klar.“ Sie nahm ein Notizbuch und einen Stift und fing an zu kritzeln. „Ich weiß nur ein paar von den Namen, aber ihr könnt ja mit Professor Baxter reden.“

„Professor Baxter?“

„Er ist der Leiter des Instituts für Umweltstudien und die Ökofreaks beten ihn an wie einen Gott. Ich bin sicher, er kann euch noch mehr Namen sagen und wahrscheinlich auch, was Meg an der Sache so interessiert.“

„War sie seine Studentin?“

„Sie hat dieses Semester drei Seminare bei ihm.“

„Drei? Mensch, dann muss sie ihn ja wirklich mögen.“

„Sie mag, was er zu sagen hat.“ Ashley steckte das letzte Buch in die Tasche und schlug die Klappe nach vorn, bevor sie den Riemen überstreifte. „Er ist derjenige, der die anderen alle anfeuert.“

„Hast du eine Ahnung, wo wir ihn jetzt finden können?“

„Klar. Seine Vorlesung fängt in einer Viertelstunde an.“

„Okay. Gibt es noch jemanden, mit dem wir reden sollten? Irgendwelche anderen Lehrkräfte, einen Freund oder Exfreund …?“

„Ihr letzter Freund war Garret Bale, einer aus dem letzten Semester – der hat den Großteil des Tages im Fitnessstudio verbracht. Aber Meg hat ihm letzte Woche den Laufpass gegeben. Was die Dozenten angeht, hat sie nur Baxter und William Daniels.“

Kirra erstarrte und wurde blass.

Reef berührte ihren Arm. „Alles in Ordnung?“

Sie zuckte zusammen. „Ja, klar.“

Ashley schlug sich die Hand vor den Mund. „Oh, Kirra. Tut mir leid, ich …“

Kirra hob die Hand und schnitt ihr das Wort ab. „Ist schon gut. Ich wusste nicht, dass er jetzt hier unterrichtet oder dass Meg eine Vorlesung bei ihm belegt hat.“

Wer war dieser William Daniels und warum hatte sein Name eine solche Wirkung auf Kirra?

„Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“

Sie nickte. „Mir geht es gut.“

Reef sah Ashley an. Warum hatte er das Gefühl, dass er der Einzige im Raum war, der keine Ahnung hatte, was hier vor sich ging? „Wo können wir Professor Daniels finden?“

„Mit dem müssen wir nicht reden“, unterbrach ihn Kirra.

„Warum nicht?“

„Er hat nichts mit Umweltstudien zu tun.“

„Und er kannte Meg kaum“, fügte Ashley hinzu. „Ich meine, er wusste von ihr wegen …“ Sie sah Kirra mit kummervoller Miene an. „Ich meine … sie war eine von mehreren Hundert in seiner Einführungsveranstaltung und sie ist ihm lieber aus dem Weg gegangen. Mit ihm zu reden, wäre Zeitverschwendung.“

Reefs Blick wanderte zwischen der verlegen dreinblickenden Ashley und der elend aussehenden Kirra hin und her. Was war hier los?

„Tut mir leid, ich muss los.“ Ashley umklammerte ihre Umhängetasche. „Ich schreibe in zehn Minuten einen Test, der ein Drittel meiner Note ausmacht. Wir können uns später treffen, wenn ihr beide –“

„Schon gut“, sagte Kirra. „Ich glaube, wir haben, was wir brauchen. Aber ruf mich an und sag mir, wenn dir noch etwas einfällt.“

Ashley nickte und schickte ein lautloses „Sorry“ in Richtung Kirra, als sie durch die Tür hinausschlüpfte.

Reef wartete, bis sie allein am Ende des Flures waren, bevor er fragte: „Was hatte denn das alles zu bedeuten?“

Kirra stülpte ihre Mütze über, bevor sie nach draußen trat. Es hatte angefangen zu schneien. Die dunkelrote Strickmütze bildete einen tollen Kontrast zu ihren goldenen Haaren und den weißen Flocken, die um sie herumtanzten. „Was hatte was zu bedeuten?“

„Professor Daniels?“

Kirra schob die Hände in die Taschen ihres Wintermantels. „Wie Ashley gesagt hat, er ist uns keine Hilfe. Er wäre Zeitverschwendung.“

Sie stapfte vor ihm her, die Schultern straff, den Kopf gesenkt. Zitterte sie?

Reef holte sie ein und legte einen Arm um ihre schmalen Schultern.

Sie erstarrte. „Was machst du da?“

„Ich versuche, dich aufzuwärmen. Du zitterst ja.“

„Oh. Stimmt. Zittern. Danke.“

„Kein Problem.“ Er würde sie jederzeit im Arm halten. „Und wohin gehen wir jetzt?“

„Zu Professor Baxter.“

* * *

„Was meinst du damit: Sie sind nicht da?“, brüllte sein Cousin ins Telefon, während er die Auffahrt hinunterrollte.

„Ich habe in ihrem Haus nachgesehen. Sie ist nicht da.“

„Und McKenna?“

Er sah, wie das Haus der McKennas im Rückspiegel kleiner wurde. „Ich habe mich als Lieferant ausgegeben und gesagt, ich hätte ein Paket, das nur dem Empfänger ausgehändigt werden darf – Reef McKenna –, und das Mädchen, das an der Tür war, sagte, ihr Bruder sei beim Iditarod-Rennen.“

„Aber wenn sie nicht in Yancey sind und nicht beim Rennen, wo sind sie dann?“

Er schluckte und der Geschmack von saurer Galle stieg ihm in die Kehle. „Ich weiß nicht.“

„Dann finde es heraus!“

Die Leitung war tot.

Er ließ den Deckel von der Flasche mit Magentabletten aufschnappen und schob sich zwei in den Mund. Er hätte wissen müssen, dass Kirra Jacobs Ärger machen würde. Die Frau roch förmlich nach Ärger.

* * *

Kirra betrat den Hörsaal, während ihr das Herz bis zum Hals schlug und eine Million verschiedener Gefühle sie durchfluteten. Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrer ersten Vorlesung in diesem Raum, ihrem ersten Tag als Masterstudentin – hoch motiviert und bereit, es mit der Welt aufzunehmen. Es war der Tag, an dem sie William begegnet war. Es hatte sofort gefunkt, aber am Ende hatte das Feuer sie verbrannt.

Jetzt drehte sich alles um sie herum und sie sank auf einen freien Platz, um tief durchzuatmen, bevor sie ohnmächtig wurde.

Reef sah zu ihr herüber, als das Licht gedimmt wurde und der Professor aufhörte zu reden. Ein Video erschien auf der großen Leinwand vorne im Hörsaal.

Er beugte sich zu ihr und flüsterte über die tiefe Stimme des Erzählers hinweg: „Alles in Ordnung?“

Sie nickte und hielt den Blick starr auf die Tiere gerichtet, die über die Leinwand tollten. Diese Sache wird ein schlimmes Ende nehmen.