Huber, Florian Hinter den Türen warten die Gespenster

PIPER

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ISBN 978-3-8270-7929-9

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Vorwort

Es gibt viele Gründe, die Fünfzigerjahre zu hassen.

Das beginnt mit dem Blick auf den Täterfilz, der in das Geflecht des Aufbaustaates hineinwucherte. Bis in höchste Positionen saßen die alten Kameraden und knüpften an neuen Netzen. Ihnen zur Seite standen Juristen und Bürokraten aus derselben Kloake, die ihresgleichen nicht ans Messer liefern wollten und stattdessen alles taten, um den Blick auf die Verbrechen, die auch die ihren waren, zu verschleiern. Sie stapelten die Akten des Völkermords in die Winkel ihrer Ordnerschränke und überließen sie dem Papierfraß.

So kam es, dass diejenigen, denen man den Besitz gestohlen und die Verwandten ermordet hatte und die sich mit letzter Kraft in die Befreiung geschleppt hatten, sich verhöhnen lassen mussten: keine Zuständigkeit, keine Handhabe, kein Interesse. Schon gar kein Mitgefühl. Ihre Hoffnung auf Gerechtigkeit zerging an dieser Kaltschnäuzigkeit. Dafür spielten sich andere in den Rang der letzten Opfer des Diktators: die Millionen Deutschen, die von nichts gewusst und am Ende alles erlitten haben wollten. Veteranen von allen Fronten strickten an der Legende vom Wehrmachtssoldaten von der ritterlichen Gestalt. Sie vergossen öffentlich Tränen im Kameradengedenken an Stalingrad, ohne auch nur im Stillen zu fragen nach ihrem eigenen Anteil am deutschen Jahrtausenddesaster.

Man kann den ganzen Geist dieser Aufbaugesellschaft hassen. Die Beflissenheit, mit der sich die Männer ins Hamsterrad der Karriere begaben, um darin Stufe für Stufe die Leiter höher zu klettern, während die Frauen nicht weniger beflissen zurück in die Küche und das Kinderzimmer huschten. Jeder spielte seine Rolle auf dem Weg zur Privatfestung Eigenheim und zum Kraftwagen als Blickfänger für die Nachbarn. Sie waren so in ihrem Eifer verfangen, dass sie keine Gelegenheit fanden, sich mit Vergangenheit oder Verantwortung aufzuhalten. Derart rechtwinklig war dieser Rahmen, dass bald alles in musterhafter Norm daherkam. Der Andersartige, krumm Gewachsene sollte sich daran den Kopf einrennen, wenn er ihn nicht einziehen wollte. Das verkündeten auch die Produkte der Unterhaltungsindustrie, die das Leben in simplen Farben ausmalten. Als Leitfiguren des Bewährten standen an der Spitze dieser Gesellschaft Männer, die mit der Autorität des alten Schlages ausgestattet waren. In ihrer Sprache klang der Befehlston der Kasernen nach, wenn sie ihre Automobilunternehmen, Versandhäuser oder den Staat dirigierten, im Bewusstsein ihrer Macht, harthörig auf dem Ohr des Widerspruchs.

So kann man diese Jahre sehen, und man kann sie für all das verabscheuen.

Es gibt aber auch viele Gründe, die Fünfzigerjahre zu lieben.

Es sind sogar verblüffenderweise die gleichen, man muss nur einen anderen Standpunkt zu ihnen einnehmen. In diesem Licht betrachtet erscheinen dieselben hartleibigen Männer als Staats- und Firmenlenker, die nach der Niederlage Selbstvertrauen verströmten. Nichts brauchte das jeder Orientierung beraubte Volk nötiger. Figuren ohne Wenn und Aber waren es, die vorangingen und der Ratlosigkeit ihre Zuversicht entgegenstellten.

Sie verkörperten einen Stolz, den bald eine ganze Generation für sich in Anspruch nehmen konnte. Anders als der Reichsstolz von gestern speiste sich dieser aus eigenhändiger Leistung. Mit dem Bungalow in der neu erschlossenen Wohnstraße erkämpfte man sich das Glück eines privaten Lebens zurück, das man, ausgebombt, vertrieben oder auseinandergerissen, verloren hatte. So gesehen war der Arbeitseifer jener Jahre nicht bloße Beschäftigungswut, sondern hatte ein Motiv. Mehr noch als wieder wer zu sein, ging es darum, endlich wieder etwas zu haben. In einem Gefühl fröhlicher Unschuld konnte man zusammen feiern. Die deutsche »Party« war eine Erfindung dieser Zeit. Es war die Entdeckung der Lebensfreude der kleinen Dinge.

Der Geist der Aufbaugesellschaft atmete Optimismus, so erlebten es viele, die dabei waren. Die Rollen vom rackernden Büromann, der nimmermüden Hausfrau und den gehorsamen Kindern folgten Mustern von gestern, doch sie boten Sicherheit. Zur Ära der Wunder ist die Nachkriegszeit erst im Nachhinein stilisiert worden, denn die Zeitgenossen selbst waren vom Wunderglauben geheilt. Viel wichtiger als Wunder waren ihnen Ruhe und Normalität. Ein normales Leben zu führen in der wieder vereinten Familie, das war nach den Jahren der Zerrissenheit die deutsche Idee vom Paradies auf Erden. Endlich kam das Land zu einer inneren Atempause. Diese Ruhe schaffte Abstand zum Grauen von gestern.

Für die einen war es also die Rettung aus dem Mahlstrom der Tragödien, für die anderen die Lebenslüge der Epoche. Denn der Ruhe lag ein Schweigepakt zugrunde, der die Verbrechen einer Gesellschaft im eigenen Namen verdrängte. Aus dieser Sicht wirkt das Klima der Fünfzigerjahre wie die Friedhofsstille über den Grabplatten der Millionen Opfer, auch der eigenen. Das Vergessen wurde zur Bürgertugend. Der Lärm von Motoren und Baustellen war die äußere Begleitmusik der Epoche. Drinnen herrschte beklemmende Stille.

Darin deutet sich an, was nicht zusammenpasst: Die Deutschen kamen aus der moralischen und materiellen Katastrophe getaumelt und wollten nur noch das kleine Glück. In den gängigen Epochenbildern erscheint die Zeit nach den Dramen der Dreißiger- und Vierzigerjahre meist als glatte Oberfläche: »Motorisiertes Biedermeier«, »Kinder, Küche, Kirche«, »Petticoat und Nierentisch«. Keine Tiefe, aber auch kein Abgrund. Dabei waren die späten Vierziger- und Fünfzigerjahre eine Phase der Widersprüche und des Nebeneinander von kaum vereinbaren Empfindungen. Unter der erstarrten Oberfläche gab es eine Ebene, wo Bruchlinien aufklafften und sich das Psychodrama einer in seinen Fundamenten erschütterten Gesellschaft entfaltete.

Der Schauplatz dafür war ein Ort, nach dem sich alle Deutschen vor und nach der Katastrophe sehnten: die Familie, Fluchtpunkt des normalen Lebens. Obwohl oder weil der Schweigepakt eine Gesprächskultur verhinderte – in der Enge der Familien ließ sich das Beschwiegene nicht so einfach begraben. Auch wenn niemand darüber sprach, machte es sich in jedem Einzelnen bemerkbar. Es drängte nach draußen durch die Ritzen des Alltags, kleidete sich in Gestalt von Marotten und Ritualen und mündete in Kämpfe zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern. Die Atmosphäre, die sie zusammen erzeugten, war die Summe ihrer Erlebnisse.

Es war die Ära der Familiengeheimnisse. Sie gaben dieser Zeit ihre Abgründe, die zu verdecken man bestrebt war. Die Welt hinter den Haustüren war nicht jener Ruhepol, von dem alle in Deutschland, von Heimkehrer und Hausfrau bis zum Familienminister, träumten. Geordnet wie in einer Tanzstunde ging es dort selten zu. Die Konstruktion vom »normalen Leben« und dem Glück durch Langeweile blieb eine Wunschvorstellung. Hinter den Türen saßen Männer mit namenlosen Erinnerungen, Frauen, die sich verleugneten, und Kinder, die dem Treiben der Erwachsenen zusahen, sich zu Komplizen machten oder dagegen aufbegehrten. Frauen, Männer, Kinder – drei Welten, drei Perspektiven, verknotet in Widersprüchen, aus denen kein Entkommen möglich war.

Es ist eine banale Feststellung, dass die Familien den Kern der Gesellschaft bilden. Dieser Kern hatte viele Schattierungen, von schäbiggrau bis grellrot und tiefschwarz. In den darin verborgenen Schichten herrschten Leidenschaften, Sehnsucht oder eisige Kälte. Sie führten zu Erwartungen und Illusionen, Identitätswechseln, Ersatzpartnerschaften, Doppelleben und Parallelfamilien.

Der deutsche Familienkosmos nach 1945 war eine historisch einzigartige »Versuchsanordnung«. In ihm liegt der Schlüssel zum Verständnis einer Epoche und der Menschen, die darin aufeinandertrafen. Davon handelt dieses Buch: vom deutschen Familiendrama hinter den Türen, vom Schweigen, vom Hassen und vom Lieben.

1. ZERRISSENE WELT

Seemann in der Wüste

Es hatte ihn in die Wüste verschlagen. Gerade ihn, der immer aufs Meer hinaus wollte. Jetzt also das: Wenn er vor sein Zelt trat, traf ihn der Gluthieb der Sonne und ließ vor seinen Augen die Farben verblassen. Unter den Stiefeln knirschte Sand. Ringsherum sah er eine Lagerstadt in geometrischer Anordnung. Ein Meer aus Zelten, Segeltuch an Segeltuch, streckte sich in ein Rechteck, das von Wachtürmen eingefasst war. Hätte er ausreißen wollen, er wäre nicht weit gekommen. Hinter dem Stacheldraht lag tote Welt – Staub, Geröll, glühende Steine. Die Wüste war der beste Bewacher, die Sonne ihre Waffe.

Wüste statt Meer, Gefängnis statt Freiheit, Lagerstumpfsinn statt Heimkehrfreude. Wenn am Abend in den Lagern die elektrischen Birnen zwischen den Zäunen aufflammten, konnten die Gefangenen das Gefühl nicht mehr verdrängen, Zuschauer der eigenen Groteske zu sein.

Die Welt verschwand hinter diesem undurchdringlichen Vorhang von Licht. Es entstand, mitten im unendlichen Sand, ein gläserner Raum, sinnlos ins Nirgend gestellt und doch mit genauer Sorgfalt bewacht: ein Bild, das die Merkmale des Unwirklichen trug.

Unwirklich und zerrissen fühlte sich die Welt nach dem Untergang an. Wolfram Matschoss war sein Leben lang Seemann gewesen. Für diesen Traum hatte er 1930 die Flucht gewagt vor seinem Vater in Waldenburg in Schlesien. Der Studienrat hatte Wolfram auf Schritt und Tritt gemaßregelt, bis der fortrannte, mit siebzehn, und sich durchschlug bis Hamburg. Dort besuchte er die Seefahrtschule, um sich jederzeit davonmachen zu können. Sobald er seine Ausbildung abgeschlossen hatte, fuhr er über die Weltmeere.

Wolfram Matschoss, Steuermann auf großer Fahrt. So einen konnte die deutsche Kriegsmarine 1939 gut gebrauchen. Während des Kriegs kreuzte er auf einem Minensuchboot im Mittelmeer, bis ihn die Engländer einkassierten. Weihnachten 1945, im Gefangenenlager unterm selbst gebastelten Weihnachtsbaum, feierte er seine Rettung. Er hatte überlebt, er war 32 Jahre alt, sein Leben konnte neu beginnen – das Leben am graublauen Meer in Norderney, wo seine Familie auf ihn wartete.

Der Transporter jedoch, den Matschoss Anfang 1946 besteigen musste, fuhr nicht Richtung Deutschland, sondern immer weiter nach Süden. Bei El Fayid am Westufer des Suezkanals setzten ihn die Engländer in den Sand Ägyptens. Matschoss war einer von schätzungsweise 100 000 deutschen Kriegsgefangenen, die von den Briten in einem Dutzend Wüstenlagern bewacht wurden. Statt in der Meeresbrise stand er im Sandstrahl des Chamsin, wie die Ägypter ihren Wüstenwind nannten. Das nächstgelegene Gewässer war ein 30 Kilometer langer Salzwassersee, der den Hochseeschiffern im Kanal als Ausweichstelle diente. Es passte ins Bild, dass Gott an dieser Stelle das Kriegsheer des Pharao bei der Verfolgung von Moses’ Israeliten in den Wassermassen vernichtet haben soll. Der Name des Salzsees klang so, als hätte der gute alte englische Humor an die deutschen Gefangenen gedacht: Großer Bittersee. Matschoss war nicht zum Lachen. Nicht einmal auf dem Mond hätte er sich weiter weg fühlen können von dem, was er liebte.

Natürlich wusste er, warum er hier war und weshalb sie ihn nicht einfach gehen ließen. Sie hatten Fragen zu seiner Rolle in den Organisationen des nationalsozialistischen Staates. Am Anfang der Gefangenschaft wurde jeder einer Befragung unterzogen und danach einer Gruppe zugeteilt. Matschoss sortierten sie zur Gruppe C, der größten, der Gruppe der »Nazis«. Darüber sprachen die Gefangenen kaum miteinander, weil es sie nicht beschäftigte. Die Politik, die Partei, der Krieg, mit all dem waren sie fertig, denn ihre Gedanken gehörten der Heimat. Der Krieg war verloren, Deutschland liquidiert, die Marine auf den Grund der Meere gejagt. Nur eine Hoffnung brannte in ihnen: die Rückkehr zur Familie. So wie seine Zeltnachbarn Schipper, Meyer, Rüstmann und die anderen 100 000 quälte sich Matschoss mit seiner Sehnsucht nach der Heimat. Umso mehr nagte die Ungewissheit, seitdem der Kontakt abgerissen war. Wolfram Matschoss wusste nicht, wo sich Hanny und seine Töchter befanden. Ob sie überhaupt noch am Leben waren.

Er hatte die Buchhändlerin Johanne Berg aus Norderney am Flottenstützpunkt Wilhelmshaven kennengelernt. Wolf und Hanny heirateten 1942 und bekamen in zwei Jahren ihre beiden Töchter Eva und Renate. Um Unterstützung zu haben, war die Mutter mit den Töchtern zu seiner Mutter nach Waldenburg gezogen. Doch Schlesien war von der Roten Armee erobert worden. War Hanny und den Kindern die Flucht gelungen? Hatten sie es geschafft bis Norderney? Warteten sie überhaupt auf ihn? Diese Gedanken sprangen im Käfig seines Kopfes hin und her. Nichts war ihm geblieben als die Familie, Hanny, Eva und Renate. Ihre Namen waren für ihn Hoffnung und Erwartung, Trost und Zuversicht, Angst, Sorge, Liebe, alles zugleich. Sie waren sein letzter Anker, sie mussten leben.

Briefe ins Nirgendwo

Elf Millionen Männer saßen nach 1945 als deutsche Kriegsgefangene in 80 Ländern und Tausenden von Lagern über den Erdball verteilt. Millionen Kameraden galten als vermisst. Kaum eine Familie in Deutschland, in der nicht der Vater, Sohn, Bruder oder sonst jemand fehlte. Die Druckwellen des Krieges hatten sie auseinandergefegt. 30 Millionen Menschen waren voneinander getrennt, jeder Vierte war auf der Suche nach Angehörigen. Suchen und Warten wurde zum Schicksal einer Generation. Eine zerrissene Welt.

Lass mich nicht allein auf dieser schrecklichen Welt! Komm wieder, ich kann lange warten, wenn ich weiß, daß Du kommst. Berta Boese wartete auf Gustav Boese. Als der Krieg zu Ende ging, saß sie in Passau bei ihren Eltern, ganz so wie ehedem, als sie Gustav noch nicht gekannt und sich durch die Ausbildung zur Bankangestellten geplagt hatte. Als hätte es dieses andere Leben nie gegeben: ihre Einberufung als Stabshelferin zur Wehrmacht 1943, den Sprung ins Abenteuer, die Einsätze im Osten, die Begegnung mit dem Mann ihres Lebens, die Tage in einem Paradies namens Dubno, die Hochzeit in Königsberg. Das war alles weggewischt, als wäre es nie geschehen.

Ich hab Dich ja so lieb, tausendmal möchte ich diese Worte Dir sagen, wie weit Du auch von mir weg sein magst. Ich trage den Sternen auf, daß sie es Dir sagen, wie lieb ich Dich habe, wie sehr ich mich nach Dir sehne.

Sie schrieb diese Zeilen einige Monate nach der Kapitulation an ihren Ehemann Gustav, der aus dem Krieg nicht zurückgekehrt war. Seit Januar 1945 hatte sie nichts von ihm gehört. Da hatte sie gerade ihren Sohn Detlev zur Welt gebracht. Mit lautem Geschrei war der eine in ihr Leben gestürzt, während der andere still daraus verschwunden war. Es gab keine Nachrichten, keine Briefe, keine Botschaften von den Kameraden, nicht einmal eine Todesmeldung. Den Soldaten Gustav Boese aus Königsberg hatte das Monster des Krieges verschluckt. Berta glaubte fest daran, dass es ihn wieder ausspucken würde. Bis dahin würde sie auf ihn warten. Der kleine Detlev hielt ihr die Erinnerung an ihr gemeinsames Leben vor Augen. Sie wollte es weiter mit Gustav teilen, selbst wenn der nicht da war.

Also begann sie im Juni 1945, ihm zu schreiben. Es waren Liebesbriefe, für die es keine Adresse gab und die niemals auf die Reise gingen. Sie schrieb sie nicht auf Briefpapier, sondern mit Bleistift in ein Heft, das sie aus ihrer Königsberger Zeit gerettet hatte. Am Ende manch endlosen Tages als Mutter verwandelte sie sich für ein paar stenografierte Zeilen zurück in die 23-jährige Geliebte. Diese Briefe wollte sie ihm vorlegen, sobald er wieder unter ihnen war.

Ich habe da meine ganzen Sehnsüchte hineingedacht und geschrieben und wollte ihm das alles doch einmal so gerne selbst erzählen. Vielleicht weiß er alles und hat mir zugesehen, wenn ich abends über diesem Heftchen saß und an ihn gedacht und geschrieben habe.

In ihren Briefen ins Nirgendwo erzählte Berta Gustav von ihrem Nachkriegsleben mit dem Sohn, den der Vater nie gesehen hatte. Immer wieder stahl sich der Stadtname Dubno in ihre Zeilen, wo sich die beiden 1943 kennengelernt hatten. Dubno war eine kleine Stadt am Ikwa-Flüsschen in der Westukraine, die die deutsche Wehrmacht in den ersten Tagen des Russlandfeldzugs besetzt hatte. Dort hatte sie den Sommer ihres Lebens verbracht.

Nicht weinen!, flüsterte es in ihrem Kopf. Gustavs Abschiedsworte aus dem letzten Urlaub, aber sie halfen nicht. Sie blickte auf das Foto, auf dem ihr Mann seine lachenden Augen niemals abwandte. Es stand auf ihrem Tisch. Aufgenommen an ihrem Hochzeitstag in Königsberg im Herbst 1944, von dem ihr jede Kleinigkeit vor Augen stand. Er im Soldatengrau, sie mit dem Rosenstrauß, die Stimme des Standesbeamten, Momente wie im Traum. Sie konnte spüren, wie der Ring kühl auf ihren Finger glitt. Der Duft des Hasenbratens, hinterher Kirschen, dann feierten sie allein weiter, innig und ein bisschen ernst. Alles kam wieder, wenn sie sich in das Hochzeitsbild versenkte. Zum ersten Mal hatte sie mit »Boese« statt »Pritzl« unterschrieben. Da hatte sie gewusst, dass alles Wirklichkeit war. In derselben Wirklichkeit wehte der Lärm der Front schon nach Ostpreußen hinein. Sie hatte damals nicht wahrhaben wollen, was ihnen vor Augen stand. Genauso ging es ihr jetzt, daheim am Schreibtisch in Passau.

Gusti, ich darf überhaupt nicht denken. Ich bilde mir immer krampfhaft ein, dass es Dir gut geht, dass es all das schreckliche, das ich schon gehört hab, für Dich nicht gibt, nicht geben darf.

Das Spiel geht zu Ende

Im November 1947 stand in Bratislava ein vielfacher deutscher Familienvater vor Gericht. Die Anklage lautete auf »Verstoß gegen die Menschlichkeit«. Hanns Elard Ludin war zwischen 1941 und 1945 als Gesandter des Deutschen Reiches in der Slowakei für die Deportation von 70 000 slowakischen Juden politisch verantwortlich gewesen. Seine Familie hatte er zurück ins Reich bringen lassen, ehe er selbst im April 1945 vor den sowjetischen Truppen aus Pressburg nach Österreich flüchtete. Kurz darauf stellte er sich den Amerikanern, die ihn aufgrund seiner Aussagen als Kriegsverbrecher einstuften. Hanns sagt, er wolle, dass seine Kinder wüssten, er habe für seine Sache geradegestanden. Keine sichtbaren Anzeichen von Reue, kein Schuldeingeständnis. Geradestehen. Im Herbst 1946 lieferten ihn die US-Behörden an die tschechoslowakische Regierung aus.

Hanns und Erla Ludin hatten sechs Kinder. Nur drei Jahre zuvor lebten sie in einer herrschaftlichen Villa in Pressburg, die man dem jüdischen Eigentümer weggenommen hatte. Sie hatten ein Ferienhaus in der Hohen Tatra. Sie feierten Fasching mit Verwandten und Freunden. Bis kurz vor seinem Ende ging der Krieg an diesem Winkel Europas vorbei, und so lange führte die Familie Ludin ein Diplomatenleben im Wohlstand. Nun trennten sie 700 Kilometer und ein Prozess mit fast dreißig Anklagepunkten. Seine älteste Tochter, die 14-jährige Erika, schrieb ihrem Vater Briefe voller Sehnsucht ins Gefängnis. Sie war, so erzählt es ihre Tochter Alexandra Senfft später in ihrem Buch Schweigen tut weh über die Familiengeschichte, sein Lieblingskind, eine Vatertochter. Seit Kurzem ging sie auf sein Betreiben hin im Internat Salem zur Schule.

In den Schreiben, die Hanns Ludin aus dem Gefängnis nach Deutschland schickte, fehlen Bekenntnisse von Nähe, Trauer oder Schmerz. In seinen Familienbriefen suchte er vielmehr nach dem Sinn dessen, was sein Leben und sein womöglich bevorstehender Tod bedeuten mochten. Er wollte sich seiner Verantwortung stellen und musste davon ausgehen, seine Familie niemals mehr zu Gesicht zu bekommen. Es ist nicht gut, noch schlecht, es ist so, wie wir selbst sind. Die innere Freiheit ist das Entscheidende. Hanns Ludin kämpfte um Haltung vor sich und vor der Welt. Erika schickte er aus der Haft eine Handlungsanweisung für ein moralisches Leben. Darin schrieb er in strengen Worten von Gewissen, Fleiß, Kameradschaft, von Selbstdisziplin und Härte gegen sich selbst. Er warnte seine Tochter vor Taktlosigkeiten. Eine Tugendpredigt als väterliches Vermächtnis.

Am 3. Dezember 1947 sprach der Gerichtshof in Bratislava mit vier zu zwei Stimmen den früheren »Gesandten des Großdeutschen Reiches« Hanns Ludin der Mitwirkung an den Judendeportationen in der Slowakei für schuldig. Statt ihn zu erschießen, verhängten sie den Tod durch den Strang. Am nächsten Tag setzte er sich in seiner Zelle an den Tisch und schrieb seine Abschiedsbriefe. Das Spiel geht nun zu Ende. Ich habe es verloren und muss mir das, wie ich deutlich fühle, selbst zuschreiben. Den Brief an seine Familie steckte er einem Priester zu, der ihm die Beichte abnahm. In fahriger Handschrift wandte er sich an seine Frau Erla im »Schlösslehof« im oberschwäbischen Ostrach.

Du kennst mein Herz durch und durch. Es ist weder eines unmenschlichen Gefühls, noch einer unmenschlichen Handlung fähig. Meine tragische Schuld liegt wohl darin, dass ich die ganze Hintergründigkeit des Systems, dem ich diente, nicht durchschaute.

Ein Verführter, Überrumpelter, vorübergehend Erblindeter. In einem Gnadengesuch berief sich Ludin auf den Zwang der Verhältnisse und der Befehle von oben. Irrtümer räumte er ein, aber keine Verbrechen. Es war die deutsche Schicksalsformel gegen die eigene Verantwortung.

Am frühen Morgen des 9. Dezember 1947 fand ihn sein Anwalt gelassen vor. Sein grauer Flanellanzug war ihm in den Haftmonaten zu weit geworden. Dem Anwalt trug er einen letzten Gruß an seine Frau auf. Dann bekam er den Strick um den Hals gelegt, den der Henker langsam zusammendrehte. Er starb nach neunminütigem Todeskampf. Die Familie Ludin hatte ihren Mittelpunkt verloren.

Seemann im Hafen

Über dem Zeltlager am Großen Bittersee brütete die Tageshitze. Hinter dem Draht Steppengebüsch und ausgebackener Lehm. Auf seinen Gängen durch den »Käfig«, wie die Bewacher das Gefangenenlager nannten, blieb Wolfram Matschoss gelegentlich stehen, um sich Gedanken zu notieren, aus denen er abends im Zelt lange Briefe komponierte. Er hatte seine Familie wiedergefunden. Hanny, Eva und Renate waren auf Norderney. Es ging ihnen gut. Seit Weihnachten 1946 kreuzten ihre Briefe zwischen Deutschland und Ägypten. Der Schriftverkehr war begrenzt, weshalb er seine Handschrift so zusammenschnürte, dass aus drei Zeilen eine wurde. Die Papierbögen beschrieb er beidseitig. Oftmals nutzte er sogar noch die Umschlaglasche. Wolfram Matschoss hatte seiner Frau viel zu sagen.

Sein Fluchtpunkt war der Moment des Wiedersehens in Deutschland. Was erwartete ihn zu Hause, wo er Jahre nicht gewesen war? In immer neuen Bildern träumte er sich diesen Augenblick herbei. Dutzende Male durchlebte er den ersten Kuss, den längsten, den sie sich jemals geben würden. Von Brief zu Brief fügte er der Wiedersehensszenerie Einzelheiten hinzu. Einmal war es die Uhrzeit: Auf keinen Fall dürfte es zu früh am Tage sein; im nächsten Brief fragte er nach dem Ort: Wäre ein Hotelzimmer zu nüchtern, oder fühlte man sich dort besonders frei? Die richtige Beleuchtung schien ihm wichtig.

Ich hätte eine lange, dicke Kerze bereit (habe ich auch wirklich), einen Halter dazu und die würden wir anstecken und spät würde es werden bis ich Dir sage: Komm, Hannylein, laß uns ins Bett gehen. Wir würden die Kerze brennen lassen und auf den Nachttisch stellen. Langsam würden wir uns ausziehen, gegenseitig dabei helfen und bevor wir uns dann hinlegen würden wir uns noch einmal umarmen, küssen, lang und fest.

Unverblümt schilderte Matschoss sein Verlangen nach ihrem Körper. Sie in den Armen zu halten, ihre Wangen und Lippen zu berühren, ihre Brust zu streicheln, ihre Beine, und kein Stück Stoff dürfte sich dazwischenschieben. Viele Abende saß er in seinem Lagerzelt und schrieb ihr Seiten voll Sehnsucht. Im Luftzug des ägyptischen Wüstenwinds krümmten sich die Zeltstäbe in ihren Halterungen – Seufzer wie Begleitmusik zu seinen Fantasien.

Wenn wir in dieser Nacht doch die Augen zumachen sollten, dann wissen wir, daß wir einer Steigerung nicht mehr bedürfen, daß dieser Tag und diese Nacht uns die Kraft geben wird alle Fährnisse des späteren Alltags zu überwinden.

Der Alltag danach … Es würde ein Leben nach der Wiedersehensfeier geben, das wusste er. Doch so sehr er sich bemühte, fehlte ihm dafür die Vorstellungskraft. Einen Familienalltag hatten sie in den letzten sieben Jahren nie gehabt. Wie wenig ahnte er von den Verhältnissen zu Hause, wo alles auf den Kopf gestellt worden war, während ihm die Monate im Warten verrannen. Was wusste er schon von der Heimat. Matschoss beschwor seine Frau, ihm alles zu berichten, doch wie wenig sich dadurch vermitteln ließ! Er grübelte viel über den Alltag danach.

Der hatte längst ohne ihn begonnen. Die Fotos aus Norderney, die er über seinem Feldbett aufgehängt hatte, zeigten zwei Töchter, die ihm, dem Zaungast hinter Stacheldraht, davonwuchsen, und eine Ehefrau, die gelernt hatte, für sich selbst zu stehen. Er hatte sie um Offenheit angehalten. So klang es nun seltsam aus ihren Briefen, wenn sie von ihrer Selbständigkeit sprach, an die er sich fortan zu gewöhnen habe.

Ungewohnt war die Kritik, die sie an ihm übte. Sie sprach seine Manieren an, dass er beim Frühstück nur Zeitung lese, dass er ein schwacher Tänzer und unaufmerksamer Gatte sei, und wie er sich vor Aussprachen drückte. Von Erziehungsfehlern war die Rede, von Fehltritten. Wolfram Matschoss fragte sich, ob er in seiner Ehe wohl schon mal etwas richtig gemacht hatte. Der Krieg war vorbei, aber in der Heimat warteten neue Kämpfe auf den Oberleutnant zur See. Wenn ich wieder bei Dir bin wird es auch nicht gleich am ersten Tage gehen bis ich die Befehlsgewalt in unserem Haushalt übernehmen kann.

An manchen Abenden, wenn er nicht weiterwusste, suchte er Rat bei den Kameraden. Stundenlang hockten sie unter den Zeltbahnen im Dämmer, Grensemann, Meyer, Schipper, sein Schwager Hans. Hagere Gesichter, rissig vom Sonnenbrand. Fotos der Familien gingen von Hand zu Hand. Briefstellen kamen zum Vortrag, die hin und her gewendet wurden auf ihre Botschaft. Unweigerlich landeten sie bei der letzten aller Gefangenenfragen: Ist sie mir treu? Gibt es einen anderen?

Im Briefwechsel zwischen Wolf und Hanny Matschoss nahm dieser Punkt viel Platz ein. Er beschwor seine Frau, alles offenzulegen. Ob ich Dir damit aber einen Gefallen tue oder Dich nur kränke, soweit habe ich bisher nie gedacht. Damit war der Geist aus der Flasche, denn nun konnten sie von dem Thema nicht mehr lassen. Als ihm Hanny den Kuss ihres »Hausfreunds« Nowak gestand, setzte Wolfram ihr seine Episoden mit Christel und Lydia entgegen. Er versuchte, seine Unruhe zu kaschieren, und kam doch immer wieder zurück auf Wer und Wo und Wann. Zwischen die Sehnsucht, die Matschoss in herzzerreißende Zeilen zu kleiden versuchte, schlich sich der Argwohn in ihre Fernehe. Am 9. Mai 1948, drei Jahre nach der Kapitulation, schrieb er seinen letzten Brief an Hanny, denn die Entlassung stand bevor. Doch dazu fiel ihm nur ein Satz ein, der ihm auf vielsagende Weise verunglückte: Was bin ich froh, daß es bald ein Ende hat und Du mit mir. Statt über Umarmungen schrieb er in seinem letzten Brief über Missverständnisse, falsche Gewohnheiten, Fehler in ihrer Ehe und über Nowak, den Hausfreund.

Anfang Juni 1948 stand Wolfram Matschoss am Hafen von Port Said, der ägyptischen Stadt an der Mündung des Suezkanals, bereit, das Schiff nach Europa zu besteigen. Vor ihm lag das Meer, das Wolf der Seefahrer so lange vermisst hatte. Am Kai wimmelte es von Heimfahrern, die sich auf ihre letzte Soldatenreise machten. In ihre Vorfreude mischten sich Ahnungen. Wussten sie, ob sie zu Hause noch gebraucht würden? Matschoss hatte viele Briefe geschrieben und über manches nachgedacht. Seine Frau klang anders als die, von der er sich verabschiedet hatte. Wie konnte er sicher sein, ob ihm diese Hanny noch gefallen würde?

Aber wenn ich wieder bei Dir bin, dann möchte ich doch mal sehen ob diese Abgeklärtheit wirklich so echt ist wie Du jetzt vielleicht bei Dir vermutest und ich möchte doch mal sehen, ob ich doch nicht das andere Hannylein bei Dir hervorzaubern kann. Weißt Du, wenn ich das nicht könnte, dann könnten wir uns getrost scheiden lassen, denn dann wären wir doch nicht für einander bestimmt.

Der Transport durchquerte das Mittelmeer nach Triest, von wo aus Matschoss weiter mit dem Zug über die Alpen bis nach Norddeich-Mole fuhr. Dort bestieg er das Schiff nach Norderney. Er wurde von Hanny erwartet. Es war ein sonniger Tag. Sie blieben die ganze Überfahrt draußen auf dem Vorschiff. Der Heimkehrer war wieder in Deutschland angekommen. An diesem Punkt enden Wolfram Matschoss’ Briefe an seine Familie. Das deutsche Familiendrama hatte da aber gerade erst begonnen.

2. REISEN DURCH DIE STUNDE EINS

Deutschland ein Trümmermärchen

Wer in den ersten Jahren nach dem Krieg nach Deutschland reiste, verfiel mitunter in den Habitus eines Archäologen oder Insektenforschers. Auf den ersten Blick bot das Land den Eindruck eines Ameisenbaus, der unter dem Fußtritt eines Riesen auseinandergeborsten war. Zwischen den Bruchstücken aus den ehemals kunstvoll errichteten Gängen herrschten Chaos und zuckendes Hin und Her. Wer den Aufschlag überlebt hatte, fand sich in einem beinahe prähistorischen Schattenreich wieder. Die Zeit war zum Stillstand gekommen, wie ein britischer Reisender in Köln bemerkte:

Die Bürger existieren weiter auf einer Stufe niederen mechanischen Lebens, wie Insekten in den Ritzen der Mauern, zu krabbelig und unscheinbar, um von den stürzenden Mauern vernichtet zu werden. Die Zerstörung der Stadt mit all ihrer Vergangenheit und all ihrer Gegenwart ist wie ein Vorwurf an die, die weiterhin in ihr leben.

Stephen Spender war 36 Jahre alt, als er seinen Reisebericht verfasste. Er war Brite deutsch-jüdischer Abstammung. Vor dem Machtwechsel zu Hitler hatte er sich lange in Deutschland aufgehalten, wo er wie ein Pilger die Stätten seines Gelobten Landes bereiste. Spender gehörte zu den Ersten, die sich im Dienst der Alliierten Kontrollkommission ins zerstörte Deutschland aufmachten, um beim Aufbau des kulturellen Lebens mitzuhelfen. Früher hatte er Schiller, Wedekind und Rilke ins Englische übersetzt, nun baute er ihnen Häuser: Die öffentlichen Bibliotheken vieler Großstädte gehen auf sein Engagement zurück. So sehr Spender das NS-Regime verabscheute, hatte er doch seine Liebe zu diesem Land bewahrt. Es war ein Wiedersehen voller Zwiespalt.

Er machte sich Notizen über das, was er in Deutschland erlebte. Überall sprach er mit Freunden von früher oder neuen Bekanntschaften, mit Intellektuellen ebenso wie mit schlichten Gemütern. Auf diese Weise entstand eine Sammlung von Erfahrungsberichten, Landschaftsbeschreibungen, Begegnungen und Kuriositäten. Ungewöhnlich an diesem Buch ist nur ein Thema, das jedoch ist von größter Bedeutung: Es geht um Deutschland nach dem Zusammenbruch der Nazidiktatur. Stephen Spender schrieb als Rückkehrer über seine verlorene zweite Heimat, deren Bewohner er kaum wiedererkannte.

Kein Volk ist je so tief gefallen wie die Deutschen im 20. Jahrhundert. Ihr Staat, der sie zur Weltherrschaft aufgerufen hatte, hatte aufgehört zu existieren. Sie waren nicht mehr Herren ihres Geschicks, sondern standen nackt da, ohne Dach, ohne Werte, ohne Selbstbewusstsein. Die Regeln für das Zusammenleben gingen von den Feinden von gestern aus. Man hatte sich daran zu gewöhnen, fremdbestimmt im eigenen Haus zu leben. Schwer drückte das Gewicht der Niederlage. In den Schmerz über die Verluste mischte sich das Gefühl, die eigene Jugend verloren zu haben. Die Menschen, denen Spender begegnete, misstrauten dem Leben und beschuldigten dafür eine dunkle Macht namens Schicksal.

Der Kurort Bad Oeynhausen in Ostwestfalen war der Sitz der britischen Militärbesatzung und das Hauptquartier der Rheinarmee. Die Sieger hatten die Innenstadt beschlagnahmt, Stacheldraht darum gewickelt und die Bewohner zwangsumgesiedelt. Hier verbrachte Spender die ersten Tage seines Aufenthalts in gepflegter Langeweile wie an einer englischen Privatschule. Er erschlug die Zeit mit Ausflügen ins Umland, die seinem Reisezweck dienen sollten. Er war auf Spurensuche nach dem Seelenzustand der Deutschen.

Bei seinen Unternehmungen fühlte er sich erinnert an die Doppelbödigkeit jener deutschen Märchen, wo in schönster Kulisse Grausames geschieht. Er sah Kinder wie Puppen gekleidet, Häuser im Lebkuchenstil und wunderte sich über die Sprüche, mit denen die Hausbesitzer ihre Wände verziert hatten: »Wünsch mir einer, was er will, Gott schenk’ ihm noch mal so viel.« Spender überlegte, was dahinter stecken mochte. Vielleicht war es das Verlangen des Teufels, aus den Heiligen Schriften zu zitieren.

Dieses Anheimelnde, das im Gegensatz zu den Gewaltexzessen der jüngsten Zeit stand, begegnete ihm auf Schritt und Tritt. Auf einer Parkbank in Oeynhausen belauschte er das Gespräch eines Liebespaars, das einen Heiratsantrag erörterte. Sie malten sich aus, wie sie nach der Trauung ihre Flitterwochen verbringen würden: Sie wollten sich einen Mercedes-Benz kaufen und aus dem tristen Deutschland hinaus in die Welt fahren. Das war erkennbar Fantasie, aber die beiden jungen Leute führten diese Unterhaltung in aller Treuherzigkeit, ohne ein Körnchen Schuldbewusstsein. Der Gedanke, dass sie in den Ländern ringsum nach sechs Jahren Krieg nicht willkommen sein könnten, trübte keinen Augenblick ihren Liebestraum.

Von einem britischen Offizier hörte er die Geschichte, wie dieser einige SS-Männer in den letzten Kriegstagen erschießen ließ. Sie waren plündernd durchs Land gezogen und hatten Zivilisten an Bäumen aufgehängt. Als er die Hingerichteten durchsuchte, fand der britische Major Briefe an deren Eltern, die voller unschuldiger Landschaftsbeschreibungen und Botschaften waren. Ein paar von ihnen trugen Alben mit sich, in die sie Blumen vom Wegesrand gepresst hatten. Darunter standen Widmungen an ihre Familien.

Wenn Spender bei seinen Begegnungen fragte, wie sich solches mit der Gefühlskälte des Handelns im Krieg vereinbaren ließe, hörte er Gemurmel von Pflicht und Gehorsam. Niemand schien bereit, die eigene Person mit den Taten in Verbindung zu bringen, die er im Namen der Pflicht zu verüben hatte. Der Zusammenhang funktionierte eher umgekehrt: Je brutaler sich die Deutschen unter Hitler verhalten hatten, desto stärker wuchs ihre Sentimentalität. Bad Oeynhausens geräumte Stadtvillen waren Schreine der Gefühligkeit.

Andere Beobachter werden mir beipflichten, wenn ich sage, daß ich selbst in Deutschland nie so viele sentimentale Bilder, Bücher und Gedichte gesehen habe wie heute in den von Briten beschlagnahmten deutschen Häusern, wo sie von ihren Bewohnern zurückgelassen wurden: Unzählige Bilder von Babies und Schmetterlingen und Blumen, unzählige Bilder von leuchtenden Berggipfeln und Sonnenuntergängen, unzählige Mütter und Bauern und Hütten und Herdfeuer, unzählige Heimwehtränen, so viele Phrasen über Vater, Mutter, Gott und Schönheit.

Ihre romantische Kehrseite war den Deutschen bei ihren Unternehmungen nicht abhandengekommen. In den Lagern der Kriegsgefangenen florierte das Genre der Lager-Lyrik, je nach Begabung auch von Zeichnungen flankiert. Sie verarbeiteten nicht den Tod auf dem Schlachtfeld, den Horror des Nahkampfs oder Gewissensqualen. Vielmehr erklang darin der Generalbass vom Heimweh, dem die dichtenden Gefangenen in Stücken wie »Seelenheimat«, »Erdenschwere« oder »Meiner Mutter« Ausdruck verliehen. Nie fehlte die Sehnsucht nach der Familie. In einem britischen Camp am Suezkanal in Ägypten schrieb ein unbekannter Kamerad in blassblauer Tinte:

Die Sonne schien heiß, der Sand ist ganz weiß

es ist nicht die Sonne der Heimat

der Mond scheint ganz hell und wandert ganz schnell

es ist nicht der Mond unserer Heimat

und unser Denken geht, dort wo der Nordstern steht

und in der Heimat, weit, ein Mädel weint.

In Traumwelten wie dieser lebten Männer, die kurz zuvor dem Tod auf dem Schlachtfeld gegenübergestanden hatten.

Selbstmitleid, Herzlosigkeit, Realitätsverweigerung. Bei ihrer Reise durch Deutschland fand die aus Königsberg stammende Exilschriftstellerin Hannah Arendt nichts Versöhnliches über ihre früheren Landsleute zu sagen. Schon die Aufgabe, mit der sie von der »Commission on Jewish Cultural Reconstruction« hergeschickt worden war, war beklemmend in ihrer Aussichtslosigkeit. Sie sollte die von Nazistiefeln zertrampelten Splitter der jüdischen Kultur in Deutschland aufspüren.

Hannah Arendt war 42 Jahre alt und mehr als fünfzehn Jahre nicht in Deutschland gewesen. Sechs Monate lang fuhr sie durchs Land und beschrieb im Anschluss in einem schmalen Buch ihre Erlebnisse. Ihr Besuch in Deutschland wurde zum bekanntesten Reisebericht in die deutsche Nachkriegszeit. Arendt verspürte die gleiche Irritation wie Stephen Spender angesichts der Rührseligkeit der Deutschen, mit der sie Gefühlen wie Trauer, Schmerz, Scham und Schuld auszuweichen schienen. Sie machte darin ein Leitmotiv aus: Die Deutschen befanden sich auf der Flucht vor ihrer Verantwortung.

Fast alle Begegnungen verliefen ähnlich. Sie spürte kaum Reaktionen auf das Geschehene. Ihr fiel auf, dass nirgendwo weniger über den Albtraum von Zerstörung gesprochen wurde als im Herzen der Zerstörung selbst. Angesichts der Massengräber nichts als kalte Herzen. Nicht einmal die eigenen Toten würden in den Familien angemessen betrauert. Ihre Beobachtungen gipfelten in einem Bild von Aberwitz, das oft zitiert worden ist: Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtskarten von Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Obwohl die Naziverbrechen das Leben jedes Einzelnen angingen, griffen die Menschen zu Buchhaltertricks, um sich dem zu entziehen. Gegen die Opfer der anderen Seite rechneten sie ihre eigenen Opfer auf. Die Fremdherrschaft unter der alliierten Besatzung führten sie an, um sich in dieser Rolle einzurichten. Es sieht so aus, als ob sich die Deutschen nun, nachdem man ihnen die Weltherrschaft verwehrt hat, in die Ohnmacht verliebt hätten.

In der Ohnmacht lag Befreiung. Nach dem Ende des Kriegsregimes mit seinen Gefahren, nach zwölf Jahren des emotionalen Ausnahmezustands zwischen Pathos, Euphorie und Verzweiflung konnte man sich dem Fatalismus hingeben. Darin keimte die Hoffnung auf einen leiseren Alltag. Man sehnte sich danach, ein Haus zu bauen, einen Gemüsegarten anzulegen und gemeinsam zu Abend zu essen. Man sehnte sich nach Ruhe. Die Menschen träumten von einem unverrückbaren Ort, der Geborgenheit versprach.

Dieser Sehnsuchtsort war die Familie. Nur sie konnte über die Verluste hinweghelfen. Der Nimbus der Familie hatte keinen Schaden dadurch genommen, dass die Nationalsozialisten sie als »Keimzelle der Volksgemeinschaft« für ihre Zwecke vereinnahmt hatten. Damals hatten junge Paare von Ehestandsdarlehen profitiert, Familien hatten Kinderzuschüsse bekommen, nachwuchsfreudigen Müttern waren Orden angeheftet worden. Der »Führer« hatte unentwegt Kinderwangen getätschelt. Nichtsdestotrotz stand die Familie nun unangreifbar da, als eine Institution jenseits aller Zeitläufte. Sie wirkte wie ein Magnet, der die versprengten Einzelteile aus allen Richtungen anzog. Selbst wer seine Heimat verloren hatte, besaß immer noch seine Familie. Wer aber seine Familie verloren hatte, besaß nichts mehr. Sie galt als Rückgrat der künftigen Gesellschaft.

Wo ist meine Familie?

Diese Anziehungskraft war so stark, dass der Reisende sie nicht übersehen konnte. In den Städten an Rhein und Ruhr beobachtete Stephen Spender Szenerien, wie man sie in Deutschland millionenfach antreffen konnte. Sie spielten in Wohngebieten, die jede Ähnlichkeit mit dem Erscheinungsbild moderner Städte verloren hatten. So weit das Auge reichte, sah er gebrochene Linien. Fassaden standen wie Pappmasken vor den Hohlräumen der Häuser. Ihr Innenleben war in die Keller hinabgestürzt und zu einer Masse aus Geröll, Möbeln, Teppichfetzen zusammengewuchert. Der Gestank nach Brand lag über den Resten einer toten Zivilisation. Nebelwolken von Fliegen flirrten über den Schuttbergen. Nach einer Weile begriff Spender, warum die Menschen diese Leichenstädte nicht einfach hinter sich ließen, um anderswo neu anzufangen.

Die Menschen blieben in den Trümmern ihrer ehemaligen Wohnungen vor allem, weil es die einzige Möglichkeit war, ihre Familien wieder zusammenzubringen. Die Familien hatte zuerst der Krieg völlig auseinander gerissen und nach Kriegsende die Zonenaufteilung der Besatzungsmächte. Heute ist der sehnlichste Wunsch der einfachen Leute in Deutschland, ihre Familien wieder zusammenzuführen. Dafür blieben sie monatelang in den Kellern unter den Überresten ihrer früheren Wohnungen wohnen.

An verglühten Hausfassaden sah Spender die alten Verkündigungsformeln: »Unsere Mauern brechen, unsere Herzen nie«, »Der Tag der Rache kommt«. Mahnungen aus einem Geisterreich, neben denen sich wie zum Hohn sehr irdische Kreide-Inschriften ausbreiteten. Hastig hingekrakelte Namen: »Vietheer: leben alle« – »Familie Vogel und Breidenstein: Schöneberg Kufsteiner Straße 12« – »Wir suchen dich Ernst u Cläre«. Es war die Sprache der Ausgebombten, die im Telegrammstil Auskunft gab über Leben und Tod. Auf einer Kölner Hauswand war die Schlussbilanz der Familie Pönner zu erfahren: »20 Jahre Anschaffung – Glückliche Ehe – Alles im Arsch – Total 4 Brüder, Vater tot«. Eine Handvoll Worte für ein existenzielles Drama. Die schlichte Frage eines Soldaten, der bei seiner Rückkehr ein Hausgerippe vorfand, las sich wie ein Kreideschrei der Verzweiflung: »Wo ist Frau Brylla?«

Wo ist meine Familie? Manche Menschen forschten Jahrzehnte nach der Antwort. Die Auswirkungen der deutschen Kriegsführung bis zur totalen Selbstdemontage hatten zur Folge, dass alle Nachrichtenkanäle im Reich gekappt waren. Die Lage schrie nach einer großen deutschen Organisationsleistung. Zwei Wehrmachtsoffiziere von der Ostfront, die nach ihrem Rückzug in Flensburg gestrandet waren, begriffen beim Anblick der bekritzelten Hauswände die Not der Stunde. Kurt Wagner war als Mathematiker ein Meister der komplexen Mengen, und Helmut Schelsky als Soziologe in den Umständen menschlichen Zusammenlebens bewandert. Beide hatten in Diensten von NS-Organisationen gestanden, brauchten diesmal jedoch keinen Auftrag von oben. Im Zentrum von Flensburg eröffneten sie ein improvisiertes Büro, wo sie die Familiensuchanfragen von Soldaten, Flüchtlingen und Ausgebombten in die Mechanik ihres »Begegnungsverfahrens« einspeisten. Jeder Suchende musste zwei Zettel ausfüllen, eine »Stammkarte« mit den eigenen Daten und eine »Suchkarte« mit dem Namen des Angehörigen, die alphabetisch in eine Zentralkartei, den großen Suchautomaten, einsortiert wurden. Wurde der Suchende nun seinerseits gesucht, begegneten sich zwingend zwei Karten. Eine Mutter hatte ihren Sohn, ein Kind seine Eltern wiedergefunden.