Aus dem Italienischen von Julika Brandestini

Die italienische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Chirú bei Giulio Einaudi editore in Turin.

Questo libro è stato tradotto grazie ad un contributo alla traduzione assegnato dal Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale italiano.
Die Übersetzung dieses Buches wurde unterstützt durch einen Beitrag des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten und der Cooperazione Internazionale italiano.

E-Book-Ausgabe 2017

© 2015 Giulio Einaudi editore s.p.a., Torino

© 2017 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach
Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Tanya Rex/Gallery Stock.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

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ISBN: 978 3 8031 4225 2

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3287 1

http://www.wagenbach.de/

Diese Geschichte bearbeitet literarisch Dinge, die in der Welt geschehen. Obwohl von tatsächlichen Ereignissen inspiriert, ist jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder realen Tatsachen rein zufällig.

Ich denke stets an dich.

Ich denke zu viel an dich.

Mein Sohn, ich muss dich hässlich denken,

um dich nicht noch mehr zu lieben.

Federico García Lorca an Salvador Dalí

Lektion eins

Chirú kam zu mir wie die Holzstücke an den Strand, geschliffen und verbogen, als Überrest eines langen Treibens. Er war gekleidet wie ein Erwachsener und gebärdete sich mit dreister Lässigkeit, doch unter seinem Orchestermusikerjackett konnte man zwei Arme erahnen, die zu lang waren, um etwas anderes zu sein als tollpatschig. Er trug eine Geige bei sich, und derjenige, der ihn eingeladen hatte, hatte ihn glauben lassen, er könne sie auf der Bühne neben mir spielen. Mich schreckte die Unerfahrenheit ab, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, und ich fand eine freundliche Art, ihm zu bedeuten, dass ich lieber ohne Begleitung rezitierte. Er nahm diesen ersten Misstrauensbeweis ohne irgendeinen Unwillen hin. Er setzte sich auf die Terrasse in der historischen Innenstadt und hörte mir ebenso aufmerksam zu wie die übrigen Anwesenden.

Nach der Vorstellung, in der noch lauen Oktobernacht, überraschte er mich mit der Frage, ob er mit mir zu Abend essen dürfe. Ich betrachtete ihn aufmerksam. Er war sehr jung, vielleicht nicht einmal achtzehn, doch in seinem Blick lag eine Verletztheit, als betrachte er die Welt bereits aus der Perspektive eines Versehrten. Ich würde gerne behaupten, dass zwischen uns sofort eine gegenseitige Anziehung bestand, doch das wäre eine Lüge. Ich habe Chirú an dem Geruch von Fäulnis erkannt, der aus seinem Inneren drang, derselbe Geruch wie bei mir.

Bis zu meinem achten Lebensjahr war ich ein glückliches Kind. Dass es auf der Welt auch Unglück gab, fand ich an einem Festtag heraus, an dem das ganze Dorf nach gebratenem Fisch, nasser Jute und Zuckerwatte duftete. Unsere Haustür ging direkt auf die Piazza und die öffentlichen Gärten hinaus, wo mein Bruder und ich immer mit den anderen Kindern spielten.

An diesem Tag waren wir erst kurz vor Sonnenuntergang zurückgekehrt, schlamm- und blutbesudelt wie zwei kleine, einem Gemetzel entronnene Tierchen, er in seiner neuen, bereits zerknitterten Hose und ich in offensichtlicher Nichtachtung des weißen Kleidchens, das meine Mutter während der Winterpause in Erwartung dieser ersten warmen Tage wochenlang für mich gestrickt hatte. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, kommt mir der Gedanke, dass überhaupt alles nur wegen dieses verflixten Kleides geschah, dessen grobe milchfarbene Wolle auf meinem verschwitzten Körper kratzte wie Rosshaar. Dieses Kratzen, dazu die gehäkelten Volants, die sich in jedem Vorsprung verfingen, ließen es mich vom ersten Augenblick an hassen. Zu allem Überfluss hatte es sich an jenem Nachmittag in einem Dornbusch verfangen und war ausgerechnet am Saum ausgefranst, und diese offensichtliche Nachlässigkeit meinerseits hatte in meiner Mutter einen Zorn geschürt, der mehrere Monate lang anhalten sollte. Das Patronatsfest fiel auf einen Tag Ende Mai, in die Übergangszeit. Trotz der Hitze des Tages hatte sich nach Sonnenuntergang ein eisiger Nebel herabgesenkt, der die Sitze der Karussells und die bunten Stangen der fliegenden Untertassen benetzte, für die ich noch zu klein war, wie mein Vater auch in diesem Jahr wiederholte.

Papa war von Natur aus kein besonders fröhlicher Mann. Als wir nach Hause kamen, war er seit zwanzig Minuten bereit zum Aufbruch, und an seiner Miene war leicht zu erkennen, dass das Warten auf uns seine Stimmung nicht gerade verbessert hatte. In jeder Familie gibt es eine Person, an der sich die Gefühlslage aller anderen orientiert. Dieser unsichtbare Kontrollmechanismus, der stillschweigend einem einzigen Familienmitglied die emotionale Vorherrschaft verleiht, hat nichts mit dem Alter zu tun, auch nicht mit dem Geschlecht oder der Intelligenz desjenigen, der sie ausübt. Ich habe Familien erlebt, die ihr emotives Gleichgewicht vom Schmollmund eines Neugeborenen abhängig machten, vom Stirnrunzeln eines Alten oder den Zickereien eines Mädchens, doch in unserer Familie lag diese Macht ausschließlich bei meinem Vater, der mit einem Blick auf den Gesichtern meiner Mutter und meines Bruders die Sonne auf- oder untergehen ließ. Ich fand es klug, mich anzupassen, besonders wenn er mich musterte wie an jenem Abend.

»Gehen wir auf das Fest«, sagte er, ohne noch Weiteres hinzuzufügen. Meine Mutter hielt es wohl für ratsam, die Strafpredigt zu verschieben und uns lieber Jacken anzuziehen, die, unter dem Vorwand, uns zu wärmen, wenigstens zum Teil die Katastrophen unserer mangelnden Disziplin verbargen.

Wir verließen das Haus wie eine Familie, im Bann einer unsichtbaren Befangenheit, einer Förmlichkeit, die der Sonntag auf dem Land noch bedeutet. Die Art, wie wir auf der Straße gingen, hätte für die Nachbarn, wenn es sich bei ihnen um die Art von Menschen gehandelt hätte, die solche Einzelheiten bemerkten, aufschlussreicher sein können als alles andere. Papa hatte sich Mama zur Verstärkung untergehakt, und sie gingen ohne Eile nebeneinander, er in seinem Wintermantel aus braunem, an den Ellbogen abgewetztem Leder und sie, größer und schmaler als er, in einem safranfarbenen Mäntelchen, das ihren blonden Bubikopf gut zur Geltung brachte. Einige Meter vor ihnen, in dieselbe Richtung wie meine Eltern, ging Daniele, wie ein Hund an einer unsichtbaren Leine; sein Blick hing an den Lichtern der mechanischen Attraktionen, mit denen er, der elfeinhalb Jahre alt war, ausnahmslos fahren durfte. Ich hüpfte neben ihnen her, aufgelöst wie die weißen Nylonstrumpfhosen, die meine krummen Beine umschlossen.

An diesem Abend war ich stolz auf meine Lackschuhe, die glänzten trotz der Kratzer, die der Kies ihnen zugefügt hatte, und ich war bester Laune, trotz meines Vaters, trotz der Erschöpfung nach den Spielen des Nachmittags und der Missbilligung meiner Mutter. Ich war nie grundlos schlecht gelaunt, meine Glückszustände variierten nur leicht, je nachdem, was um mich herum geschah. »Sie ist ein bisschen oberflächlich«, sagte Mama zu den Schwägerinnen, und ich war überzeugt, es wäre ein Kompliment. Auf ihre Weise hatte sie Recht: Wenn nichts mich empfindlich störte, lächelte ich weiter, all die Stunden lang, die noch vor mir lagen, tagelang, wochenlang. Mit acht Jahren wusste ich, im Gegensatz zum Rest meiner Familie, wie es funktioniert, sich selbst glücklich zu machen.

»Gehen wir auf das Fest«, hatte mein Vater gesagt, als handle es sich um einen physischen Ort, der nur auf unsere Ankunft wartete, ein Ort, den man erreichte, indem man sich zusammen fortbewegte, als bedeute gleichzeitig irgendwo anzukommen, es tatsächlich gemeinsam zu tun. Für mich und Daniele traf das in gewisser Weise tatsächlich zu: Das Fest war die Piazza vor unserem Haus in besonderen Umständen, ein gleichzeitig vertrauter und außergewöhnlicher Ort. Wir sahen, wie sich auf dem Schotter, auf dem wir täglich spielten, ein Wunder ereignete, das nur drei Tage im Jahr andauerte. Auf geheimnisvolle Weise vom Ruf des Stadtpatrons heraufbeschworen, materialisierten sich überall Fahrgeschäfte in Form jedes erdenklichen fliegenden Untersatzes an riesigen Kolben, die einen inmitten der lauten Musik in die Luft hoben, und Dutzende Stände mit Spielzeug und Süßigkeiten, die man sonst nirgends bekam, wie Zuckerwatte oder zweifarbiges Eis, mit Sorten, die bereits gemischt aus der Hebelmaschine kamen.

Das Fest war die Wiederentdeckung aller Dinge, die wir beeindruckend fanden, doch es war ebenso der Beweis, dass es so etwas gab wie Glück auf Bestellung. Eine programmierbare Freude in den letzten Maitagen, die aus jetongesteuerten Gefühlen und geeichtem Gelächter bestand, die exakt eine Runde mit dem Schienenzug andauerten. Meine Mutter und mein Vater stiegen nicht mit in den Zug und auch nicht in die anderen Fahrgeschäfte. Sie kauften sich keine Zuckerwatte und kein zweifarbiges Eis. Sie kauften sich nichts an den Spielzeugständen. Ich weiß nicht, was mein Vater meinte, als er sagte, wir sollten auf das Fest gehen, ich weiß nur, dass sein Fest nicht derselbe Ort war, auf den ich zusteuerte.

Mein Bruder blieb wie angewurzelt vor einem Marktstand stehen, angezogen von der Falle bunter Köder, die jemand geschickt auf Kinderhöhe angebracht hatte. Es gab Schachteln voller unechter Glasperlen, Pistolen, die Pfeile mit Saugnäpfen schossen, Kostüme für Indianer und Haremsdamen, zerlegbare Reproduktionen von Tiger Mask, Grendizer und anderen Comic-Helden, Windräder in allen Größen, Barbies im Swimmingpool und Barbies im Camper, Luftballons, die in der feuchten Luft schwebten, Mein kleines Pony in allen Farben, Cicciobello-Puppen und Hula-Hoop-Reifen.

Daniele hatte eine Wasserpistole mit Zweilitertank entdeckt, ein furchteinflößendes Ding, das ihm den sicheren Sieg bei den Guerillakämpfen zwischen den Oleanderbüschen des Parks bescheren würde, und hatte beschlossen, dass er sie wollte. Die Pistole kostete zwölftausend Lire, dreitausend weniger als die Summe, die meine Eltern jedem von uns zum Ausgeben zugedacht hatten, und es gab keinen Grund, seinen Wunsch nicht zu erfüllen, bevor er sich etwas noch Teureres aussuchte; doch wenn ich anhand meiner Wünsche der letzten acht Jahre etwas gelernt habe, dann dass mein Vater niemals beim ersten Versuch Ja sagte. Für ihn war es ein Zeichen der Schwäche, ohne Widerstand nachzugeben, und so antwortete er auf jede Frage zunächst mit Ablehnung. Dann wurde verhandelt. »Du würdest das Haus unter Wasser setzen«, lautete sein trockener Kommentar. In Danieles Augen blitzte ein Funken Panik auf. »Nein, ich schwöre, ich benutze sie nur draußen, versprochen.« Er warf meiner Mutter einen Blick zu, der etwas Hündisches hatte. »Versprochen!« Sie runzelte die Stirn, als müsse sie darüber nachdenken, und nahm sich einige Augenblicke, bevor sie Papa ansah. Ich kannte den Ablauf dieses Mimenstücks, und ich glaubte nicht einmal einen Augenblick lang, dass sie ihm die Pistole verwehren würden. Ich wunderte mich, wie Daniele, der dieses Theater der Blicke schon beinahe vier Jahre länger hatte studieren können, noch immer darauf hereinfiel. »Wenn es deiner Mutter nichts ausmacht, dir hinterherzuwischen …« Die Einwilligungen meines Vaters waren stets konditional. Er scherte sich nicht um die Konsequenzen, aber er beanspruchte das Recht auf ein »Ich habe es ja gesagt«. Das reichte, um meinem Bruder einen Freudenschrei zu entlocken, der meiner Mutter ein zufriedenes Lächeln ins Gesicht zauberte.

Während der Verkäufer die Pistole aus dem Regal nahm, sah ich, wie meine Mutter sich zu mir umwandte. Sie sagte: »Eleonora, und du.« Genau so sagte sie es, ohne Fragezeichen, aber ich kümmerte mich nicht darum, denn inmitten dieses Füllhorns voller Plastikteile hatte ich bereits ein derart außergewöhnliches Objekt ausgemacht, dass ich es mir nicht mal hätte erträumen können. Zwischen den rosafarbenen Buggys und den Puppen in jeder Größe leuchtete ein gold-weißer Eiswagen im Retrostil, mit drehbaren Rädern, einem Set mit acht unechten Eiswaffeln und ebenso vielen bunten Eiskugeln zum Draufschrauben. An dem Wagen hing ein gestreifter Vorhang, an dem man ein Schild mit der Aufschrift ICE CREAM befestigen konnte, und alles in allem erschien er mir wie ein Wunderding in giftigen Pastelltönen, das auf einen Schlag jeden meiner nachmittäglichen Streifzüge verblassen ließ. Das handgeschriebene Preisschild zeigte an, dass er achtzehntausend Lire kostete, mehr als die Summe, die mir zugedacht war, es sei denn, man betrachtete den Rest von Danieles Geld als verfügbar. Ich beging die Dummheit, zu glauben, dass dem so sei. »Ich möchte den da«, sagte ich zum Verkäufer und deutete auf den Wagen.

Daniele packte bereits seine Pistole aus und achtete nicht auf das, was um ihn herum geschah. Mein Vater sah mich an, wartete einige Sekunden und trat dann näher zu dem Stand, wo der Verkäufer bereits den Eiswagen herunterhob. Er bedeutete ihm innezuhalten. »Lassen Sie, danke, aber das geht nicht«, sagte er mit der Höflichkeit, die er sich für diejenigen aufsparte, um die er sich nicht scherte. Mit fragendem Blick wandte ich mich an meine Mutter. ›Das geht nicht‹ war nicht die Eröffnung der Verhandlungen, die ich erwartet hatte. Es war ein Hindernis, das sich nicht mit einer der Versprechungen aus dem Weg räumen ließ, die ich mir bereits zurechtgelegt hatte. Auf ein ›Das geht nicht‹ gab es nur eine einzige Antwort, und diese Antwort war es, die meinen Vater am meisten in Rage brachte. »Warum?« Im selben Moment, als mein Mund dieses Wort formte, wusste ich, dass ich einen Fehler beging. Mein Vater gab nicht zu erkennen, dass er mich gehört hatte, aber Mama wandte die Augen von mir ab und Daniele hob seinen Blick von der Pistole. Der Spielzeughändler stand noch immer mit dem halb vom Haken genommenen Eiswagen hinter seinem Stand, in einer komisch fragenden Pose. »Es ist ein sehr schönes Spielzeug«, wagte er sich vor. »Es macht keinen Schmutz, es macht keinen Lärm, es hat keine verschluckbaren Einzelteile.« Er redete, um meine Eltern zu überzeugen, doch dabei lächelte er mich an, und in diesem Lächeln sah ich das einzige Element, das dazu dienen konnte, die Minderheit, in der ich mich befand, auszugleichen. »Warum geht es nicht?«, wiederholte ich, nur verschwommen ahnend, dass die Spannung, die ich spürte, gar nichts mehr mit dem Spielzeug zu tun hatte. Wieder antwortete mein Vater nicht. Er betrachtete meine Mutter mit einem finsteren Blick, den ich bereits kannte, doch zum ersten Mal ahnte ich seine Bedeutung. Ich hatte ihn bei bestimmten Hundebesitzern gesehen, und ein paarmal hatte der Lehrer einer anderen Klasse mich so angeschaut. Einige ältere Jungen maßen sich mit solchen Blicken, wenn zu entscheiden war, wer abzählen oder wer im Tor stehen sollte, bis einer sich schließlich durchsetzte. Es war kein wütender Blick, sondern schlimmer, und ich erkannte ihn an seiner Schönheit.

Nach diesem ehelichen Schweigen wandte sich meine Mutter an mich und sagte mechanisch: »Weil du keine Achtung vor den Dingen hast.« Und sie fügte hinzu: »Man muss sich nur anschauen, in welchem Zustand dein Kleid ist.« Der Spielzeugverkäufer hängte den Wagen an seinen Platz zurück. Ich war nicht ganz so schnell, ich war zu sehr damit beschäftigt, die Schwachstellen ihrer Argumentation aufzudecken, um den Subtext zu verstehen. »Dani hat sich auch schmutzig gemacht, aber ihm habt ihr etwas gekauft.« Ich suchte meinen Bruder als Unterstützung zu gewinnen, doch alles, was von ihm kam, war ein Schwall primitiven Hasses. Wenn die Ausdehnung der ihm entgegengebrachten Nachsicht auch auf meine Person das Risiko barg, ihrer verlustig zu gehen, wusste Daniele genau, auf welcher Seite er stand: auf der der Pistole.

Papa rührte sich nicht und schwieg. Er betrachtete die mechanischen Spielzeuge wie ein Passant, der nur zufällig neben uns angehalten hatte. Je deutlicher er sein Desinteresse zur Schau stellte, desto erbitterter wurde meine Mutter, desto vorsichtiger mein Bruder. »Jetzt reicht es, Eleonora. Wir haben Nein gesagt, und jetzt gehen wir.« Bei diesen Worten schaltete ich auf stur und machte einen Schritt zurück zu dem Stand. Vor mir umklammerte Daniele seine Pistole, als wollte man sie ihm stehlen, Mama hatte ein flehendes Leuchten in den Augen, und der Rücken meines Vaters war angespannt wie ein Bogen kurz vor dem Abschuss eines Pfeils. Zum ersten Mal schien ich sie als das zu sehen, was sie waren: eine Gruppe fremdartiger Blutsverwandter, in einem Spiel des Überlebens aneinandergekettet, in dem ich aus verschiedenen Gründen für alle drei am leichtesten zu opfern war. Meine Mutter und Daniele wandten sich von mir ab, doch mein Vater hörte nicht auf, mich zu fixieren. Wo ich eine Schönheit in der Kraft des Blicks gesehen hatte, den er Mama zuwarf, musste ihm das, was er in meinen Augen sah, aufs Äußerste missfallen. Mich überkam plötzlich ein Gefühl vollkommener Einsamkeit, und in meinem Inneren ging ein fragiles Gebilde zu Bruch, das etwas mit der Unversehrtheit der Kindheit zu tun hatte.

Ich begann zu weinen, erst still, dann mit einem Schluchzen, das meinen ganzen Körper erfasste, meine Glieder bis zur Hysterie schüttelte. Sie zogen mich schreiend von dem Verkaufsstand fort, wobei ich wild gegen die Beine meiner Mutter trat, die vergeblich versuchte, mich bei der Hand zu nehmen.

»Deinetwegen müssen wir uns schämen«, sagte mein Vater später, als er sich verschwitzt und mit wirrem Haar den Gürtel zurück in die Schlaufen schob. »Du hättest nicht direkt mit dem Verkäufer sprechen sollen«, fügte meine Mutter hinzu. Ich schaute sie an, als ob ich ihr glaubte, doch wir beide wussten, dass es nicht mein Verhalten in der Öffentlichkeit gewesen war, das mir die Bestrafung eingetragen hatte, und auch nicht, dass mein nicht erhörtes Gejammer jemandem unsere finanziellen Grenzen aufgezeigt haben könnte. Was meinen Vater beschämt hatte, war der Blick, den er gezwungenermaßen vor meinen Augen meiner Mutter zugeworfen hatte. Es war die Gewissheit, dass ich die Hasenfüßigkeit meines Bruders erkannt hatte. Es war die Klarheit, mit der ich die vermittelnde Zaghaftigkeit meiner Mutter gespürt hatte, die grausam war in ihrer Rolle als Bewahrerin einer Disziplin, der sie sich selbst als Erste zu unterwerfen hatte.

Was mein Vater mir nicht verzieh, war das Bewusstsein, das Erkennen seiner Herrschaft, und es war jene Antenne für die Abgründe anderer, die mich dreißig Jahre später, auf einer Terrasse im historischen Stadtzentrum von Cagliari, dazu brachte, mit einem achtzehnjährigen Jungen zu Abend zu essen, den ich nie zuvor gesehen hatte.

Lektion zwei

An unserem Tisch im Restaurant saßen noch weitere, aber ich erinnere mich an sie nur verschwommen, denn der Junge, der mir gegenübersaß, begann sofort eine Unterhaltung, mit einer Selbstsicherheit, die für sein jugendliches Alter überraschend war. Mir fiel auf, dass er sehr wenig aß, doch er hörte keinen Augenblick auf zu reden und gewährte mir derart vertrauensvoll Einblick in sein Leben, wie man es als Erwachsener selbst Freunden gegenüber selten tut. Er war wie ein Hochwasser führender Fluss: »Ich bin mit einem Mädchen zusammen, sie heißt Anna, ich bin total verliebt.« Dann senkte er die Stimme. »Das Problem ist, dass sie auch einen anderen mag. Aber ich verzeihe ihr.« Daran, wie er seine Geduld und sein Verständnis zur Schau stellte, merkte ich, dass er ein Opfer dieser besonderen Spielart des Katholizismus war, der alle Sackgassen des Lebens zu vorzeigbaren Kreuzwegen macht. Er sprach mit mir, als wolle er mich um Rat fragen, doch in Wirklichkeit versuchte er, in mir eine Komplizin zu gewinnen, jemanden, der ihn in dem Glauben unterstützte, besser zu sein als das Mädchen, das er zu lieben behauptete. Ich fand ihn niedlich wie ein Kätzchen, das mit seinem eigenen Spiegelbild kämpft, die Oberfläche zerkratzt, ohne sich selbst zu erkennen.

Sein längliches und noch unfertiges Gesicht unterschied sich nicht sehr von denen Tausender anderer Jugendlicher, die ich im Leben gesehen hatte: ein Schmelztiegel von im Werden begriffenen Gegensätzen, auf dem der Funke einer Identität aufleuchtete, die zwischen dem ›schon‹ und dem ›noch nicht‹ balancierte. Und doch hatte diese durchschnittliche Anmutung bei ihm einen eigenen und unausweichlichen Charakter, der mir nicht entging. Ein zarter Flaum befleckte stellenweise die Silhouette seines noch wenig definierten Profils, in dem noch kindliche Rundungen erkennbar waren, und zog sich schütter bis hoch zur Oberlippe, die so voll und üppig war, wie es keinem Mann gut zu Gesicht stand. Die Haut der Wangen war gesprenkelt von unregelmäßigen Pickeln, und er wurde ständig rot. Von diesem hormonellen Erdbeben verschont blieb allein die hauchfeine Haut der Augenlider, die weiß und glatt war, wie durch ein Wunder noch im Zustand der Kindheit gefangen. Die dunklen Augen, das einzig Schöne, das sich an ihm bereits manifestiert hatte, waren groß und lebhaft, und sie bewegten sich ständig mit einer schamlosen Neugier, ohne jegliche Affektiertheit. Die Wirkung dieses Blicks schien er noch nicht ermessen zu können.

»Denkst du, ich sollte Schluss machen?«

»Ich kenne dich erst seit zwei Stunden, ich würde mir nie erlauben, dir einen Rat in einer so delikaten Angelegenheit zu geben.«

»Du hast Recht, das war dumm.«

Während er sich selbst bezichtigte, lächelte er mir plötzlich zu, und ich ahnte, dass das Ende seiner Unschuld viel näher lag, als es scheinen mochte. Wahrscheinlich war dieses einstudierte Lächeln nicht die einzige Manipulation, die er bereits beherrschte. Jemand hatte ihm lange Zeit gestattet, sich so aus allen Situationen der Unzulänglichkeit zu retten. Ich wurde ein bisschen schärfer.

»Ja, das war dumm, genau wie dein Anspruch, dass sie dir auch in Gedanken treu sein muss. Ich glaube dir nicht, dass du nie an eine andere gedacht hast.«

»So ist es aber. Immer nur an sie.«

»Hast du nie einem Mädchen auf der Straße hinterhergeguckt? Nicht mal aus dem Augenwinkel?«

»Nein, ich bin treu.«

»Treu sind nur Hunde. Und die Carabinieri1

»Was sonst sollte jemand Verliebtes denn sein?«

»Verlässlich zum Beispiel. Das ist viel besser als treu. Das wirst du noch merken.«

»Ich möchte es gerne jetzt merken, diese Geschichte macht mich fertig, ich habe das Gefühl, dass ich ihr nicht genüge …«

»Du musst sie ja für ziemlich beschränkt halten, wenn du meinst, ihr Interesse an den Menschen könnte allein durch dich befriedigt werden. Ist sie der einzige Mensch auf der Welt, der dich interessiert?«

»Ja!«

»Und was tust du dann hier mit mir?«

Ich erwartete, ihn damit aus der Fassung zu bringen, doch das geschah nicht. Er nahm sich etwas Zeit für die Antwort, dann sagte er:

»Ich weiß es nicht, aber vielleicht verstehe ich es, wenn ich dich noch einmal wiedersehe.«

Diese Chuzpe ließ mich wachsamer werden, ich wandte den Blick von seinen Augen ab und richtete ihn stattdessen auf die nächtlichen Farben der Stadt. Die Tafelrunde fand draußen statt, und der Wehrgang der Bastion vor uns wimmelte von Menschen. Die Fundamente Cagliaris stehen auf dem Kopf wie die einer Stadt im Himmel. Alles, was daraus emporragt, ist aus robustem Stein und scheint nach den Wolken zu greifen, doch sie ruht auf einem Unterbau von Kalksteinhöhlen, karstigen Hohlräumen und dem Echo von Wasser. Sie ist schön, nicht nur bei Nacht, aber wenn es Abend wird, mildert die Dunkelheit der Stadt ihre scharfen Linien und verleiht ihr das Ungefähre noch nicht enttäuschter Versprechungen. Mit zwanzig Jahren habe ich sie gehasst, doch jetzt, an der Schwelle zur vierzig, kann ich nicht genug von ihr kriegen. Als ich mich wieder dem Jungen zuwandte, sah ich, dass er nervös an seinem Hemdkragen spielte, offenbar peinlich berührt von seiner Tollkühnheit.

»Entschuldige. Ich bin ein Idiot.«

»Ein Idiot nicht. Ein bisschen naiv vielleicht.«

»Was ist denn daran naiv, dass ich gerne noch einmal mit dir sprechen möchte?«

»Ich wüsste nicht, worüber.«

»Das weiß ich auch nicht. Über alles.«

Während der Rest der Tischgenossen sich in einem unverständlichen allgemeinen Gemurmel auflöste, blickte ich ihn an. Er saß eingefaltet auf seinem Stuhl, in einer unharmonischen und schiefen Haltung, der seiner Magerkeit nur ein prekäres Gleichgewicht verlieh, doch der Blick, mit dem er mich ansah, war fest, und in seiner Stimme lag eine Dringlichkeit, die in mir Dinge weckte, die ich vor langer Zeit begraben hatte. Ich verspürte den irrationalen Impuls, strenger mit ihm zu sein.

»Ich sehe keinen Grund dazu.«

»Der Grund ist, dass du viele Sachen weißt, die ich lernen will.«

Ich musste lachen, ernsthaft verblüfft über die Freimütigkeit dieses Satzes.

»Das ehrt mich, aber wenn du das meinst, was ich denke, bist du bei mir falsch. Ich bin keine Fahrschule für kleine Jungs.«

Er brauchte ein paar Sekunden, ehe er verstand, was ich meinte, doch dann entflammte sein Teint, als hätte ich ihn geohrfeigt.

»Was denkst du denn … das meinte ich doch nicht!«

»Was dann?«

»Das, was du heute Abend gemacht hast, zum Beispiel. Die Stille, die herrschte, während du gespielt hast. Wie du es geschafft hast, dass alle aufmerksam waren. Das Gefühl von Kraft zu vermitteln, von etwas Besonderem …«

Ich ließ mich gegen die Stuhllehne sinken und tat, als wäre nichts Absurdes an dem, was er da sagte. Acht Jahre waren vergangen, seit ich zum letzten Mal einen Schüler angenommen hatte, und ich hatte mir selbst geschworen, dass es nie wieder passieren würde, doch genau das war es, worum der Junge mich bat, ob er sich dessen bewusst war oder nicht. Er wollte, dass ich ihn begleitete, auch wenn er noch nicht wusste, wohin.

Ich betrachtete ihn lange schweigend, und er versuchte, meinem Blick standzuhalten. Er war jung genug, um mein Sohn zu sein, wenn ich Kinder hätte haben wollen. Es gab sogar eine Zeit, in der ich unbesonnen genug gewesen war, mir welche zu wünschen, mir die Rundung meines Bauches vorgestellt hatte, von Namen phantasiert hatte, von Orten, von einer Zukunft, von besseren Vätern als dem, den ich gehabt hatte. Doch ab einem gewissen Punkt begann ich die Kinder der anderen mit der gleichen Vorsicht zu betrachten wie eine Sonnenfinsternis, niemals zu lange und niemals ohne Filter. Keinem hatte ich erlaubt, mich ›Tante‹ zu nennen, und mich so vor grotesken Inszenierungen vorgetäuschter Mütterlichkeit bewahrt, der andere kaum entgehen. Dass ich keine Kinder bekommen habe, ist kein Zufall. Solche wie ich bekommen nie welche.

»Das, was du lernen willst, kann dir niemand beibringen.«

»Aber irgendwie hast du es doch auch gelernt.«

»Ich habe nicht gesagt, du kannst es nicht lernen, sondern dass es dir niemand beibringen kann.«

»Dann gib mir doch die Chance, zu lernen … Ich verspreche dir, normalerweise bin ich aufgeweckter als heute.«

Seine Unverschämtheit wirkte weiterhin eher amüsant als arrogant, und ich kam nicht umhin, darin mich selbst zu erkennen, mein jüngeres und leichtfertigeres Selbst, bereit, sich an jedes Leben zu klammern, das auch nur ein wenig besser zu sein scheint als das eigene. Es hätte nichts genützt, ihm all das aufzulisten, was ich dafür bezahlt hatte, um das zu erreichen, was er wie durch Osmose aufzusaugen hoffte. Nicht mal ich selbst kannte alle Posten, und außerdem würde er früher, als er ahnte, noch selbst darauf kommen. Etwas sagte mir, dass es interessant werden könnte, seinen Weg zu verfolgen. Ich glaube, in diesem Augenblick beschloss ich, ihm eine Chance zu geben.

»Was machst du Donnerstag früh um neun?«

»Nichts Besonderes …«

Ich erhob mich, und auch er stand auf, jetzt war er angespannt und verlegen.

»›Nichts Besonderes‹ ist die falsche Antwort. Ich erwarte dich im Café an der Ecke zur Piazza Costituzione. Zieh dir was Nettes an. Etwas anderes als heute.«

Die Kraft, die es ihn kostete, seine Begeisterung in angemessenen Grenzen zu halten, berührte mich erneut und ließ mich die Bedeutung dessen vergessen, auf das ich mich eben eingelassen hatte. Gegen meinen Willen erwiderte ich sein Lächeln, doch ich konnte nicht aus dem Lokal gehen, ohne wenigstens einen kleinen Schatten zurückzulassen.

»Sei pünktlich, Chirú. Ich verabscheue Leute, die keinen Respekt vor der Zeit haben.«

Die Koseform, die mir da entschlüpfte, zeigte mir unmissverständlich, wie bröckelig die Härte war, die ich zur Schau stellte.

Lektion drei

Ich kehrte mit dem Gefühl nach Hause zurück, einen Fehler gemacht zu haben.

Das, was mich dazu bewogen hatte, den Jungen als Schüler anzunehmen, hatte in mir ein emotionales Leuchten ausgelöst, das ich lange nicht gespürt hatte, doch es war eben gerade dieser elektrisierte Geisteszustand, der mich besonders zweifeln ließ. Abgesehen von den Dingen, die wir uns gesagt hatten, an denen eigentlich gar nichts Besonderes war, fühlte ich, dass ich mich den ganzen Abend gegen den außergewöhnlichen Impuls hatte wehren müssen, ihm zu vertrauen. Und dass ich schließlich nachgegeben hatte, ließ mich an meiner Fähigkeit zweifeln, die Ereignisse unter Kontrolle zu behalten.

Ich betrat meine Wohnung, ohne das Licht einzuschalten, und genoss den sanften Schimmer des Mondes und der Straßenlaterne, der durch die großen vorhanglosen Fenster drang und bernsteinfarbene Lichtflecken auf das Olivenholzparkett malte. Der Geruch von gewienertem Holz und Marmor im Eingangsbereich beruhigte mich ein wenig und gab meinem unruhigen Geist das Gefühl von Freiheit zurück, wie es nur an Orten existiert, wo keine Erwartungen enttäuscht werden können. Die Stille meiner Wohnung war die reinste Gnade, und sie schenkte mir jeden Abend ein Gefühl der Vergebung, auch wenn ich keinerlei Schuld auf mich geladen hatte. »Es muss traurig sein, nach Hause zu kommen, und niemand ist da«, sagten mir befreundete Pärchen immer wieder im Vertrauen, so als wäre die Traurigkeit zahlenmäßiger Mangel, ein Unbehagen, das verschwände, wenn zu Hause nur irgendjemand wäre. Eine Weile habe ich versucht, diesen mitleidigen Vorträgen zu widersprechen, doch niemand hatte ernsthaft Interesse daran, von mir gesagt zu bekommen, dass es mir so ganz recht war. Die Zustände von Zufriedenheit, die jemand außerhalb der Norm erreicht, außerhalb der Grenzen jener stillen Abkommen, auf die viele der Beziehungen gründen, die wir solide nennen, sind schlichtweg zu destabilisierend. Strukturvarianten sind nicht erwünscht. Jedes Mal, wenn ich gesagt habe, dass ich glücklich sei, sah ich in den Augen der anderen die Notwendigkeit, es nicht zu glauben. Jedes Mal jedoch, wenn ich ihnen zuliebe eine unaufrichtige Bestätigung meiner Unvollständigkeit gab, waren sie sichtlich beruhigt, dass sie gut daran getan hatten, sich das ganze Leben lang als Hälfte eines anderen zu begreifen und unter demselben Dach, im selben Bett, Einsamkeiten und Güter um jeden Preis zu teilen. Darum bestand ich nicht weiter darauf. Ich hatte noch nie das Verlangen, die Fassaden der anderen niederzutrampeln, wo es nicht nötig war. Abgesehen davon, dass es gefährlich ist: Niemand kann wissen, wie viel Lärm eine Gewissheit macht, wenn sie zerbricht.

Während das Wasser aus der Dusche über meinen Körper lief, wurde mir klar, dass ich den Jungen gar nicht nach seiner Familie gefragt hatte. Ich wusste nicht, ob er Brüder und Schwestern hatte, und auch nicht, wer seine Eltern waren und was sie machten. Er studierte noch am Konservatorium, und er schien mir zu jung, um schon von der Musik zu leben, doch die Selbstsicherheit, mit der er auftrat, hatte mich glauben machen, dass er in vielen seiner Entscheidungen völlig unabhängig war. So wie in der, sich als mein Schüler anzubieten. Bei unserem Treffen am Donnerstag würde ich herausfinden, ob das tatsächlich stimmte, aber ich fand es bedenklich, dass ich nicht früher bedacht hatte, wie wichtig diese Informationen waren. Bei meinen anderen Schülern waren die Familienverhältnisse immer sehr bestimmend gewesen, im Guten wie im Schlechten, und obwohl Chirú älter war als die übrigen drei, konnte der Einfluss seiner Herkunft in ihm noch allzu mächtig sein.

Ich trocknete mich im Zimmer ab, vor dem Regal meiner gesammelten Theatertexte, das eine ganze Wand bedeckte. Die Fensterseite war eher kahl, während die gegenüberliegende von Urkunden, Werbeplakaten und Fotos von Aufführungen bedeckt war, in denen ich in den letzten fünfzehn Jahren mitgespielt hatte. Ein Wandkatalog, den die Männer, die ich in mein Bett eingeladen hatte, häufig als eitle Selbstdarstellung interpretiert hatten. Mit einem Lächeln ließ ich sie in dem Glauben und vermied es auch, Erklärungen zu geben, wenn sie Interesse an dem einzigen Gegenstand zeigten, der offensichtlich nichts mit meinem Beruf zu tun hatte: einem kleinen weiß-goldenen Eiswagen. Er war das Letzte, worauf meine Augen ruhten, bevor ich versuchte zu schlafen.

Mit acht Jahren bestand mein Leben aus wenigen einfachen Dingen, über die ich keine Macht hatte. Ich konnte nicht entscheiden, ob und wie ich sie tun wollte, und nach dem Abend an dem Marktstand entwickelte ich eine Art wachsame Vorsicht, als hätte ich begonnen, in den alltäglichsten Dingen ein lauerndes Risiko zu vermuten. Was immer die Leute behaupten, die selbst nicht mehr jung sind, es ist nicht wahr, dass man auf einen Schlag groß wird, dass man eines Abends unschuldig und voller Lebenslust einschläft und am nächsten Morgen zynisch und mit geschrumpftem Geist aufwacht. Ich habe die Menschen immer schichtweise altern gesehen, nicht in der Tiefe, so als würden die Dinge, die uns geschehen, uns nach und nach abnutzen. Ich glaube, das war der Grund dafür, dass ich, obwohl mich die Entdeckung des Unglücks an jenem Abend wie ein Blitz getroffen hatte, nicht sofort bemerkte, dass meine Sicht auf die Welt unwiederbringlich eine andere geworden war.

Zuerst waren die Veränderungen minimal. Ich spielte weiter mit Daniele draußen, doch instinktiv begann ich, die Gelegenheiten zu