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Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.

Fachbereich

PHILOSOPHIE/WISSENSCHAFTSTHEORIE

Wem gehört das Sterben?

Von Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß

Wem gehört das Sterben?

Es gibt Dinge, die sich auch in einer verwissenschaftlichten Welt dem wissenschaftlichen Zugriff entziehen. Nicht, weil die Wissenschaft noch nicht so weit ist, um mit Einsichten und Resultaten aufzuwarten, sondern weil es sich um Dinge handelt, die existentieller Natur sind, d.h., die den Menschen in allen seinen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Selbstverständnissen betreffen, die da sind und da bleiben, ganz gleich, was die Wissenschaft kann und was sie zu erklären vermag, und ganz gleich, wohin uns unser Verstand, auch der alltägliche, führt. Zu diesen Dingen, von denen die Wissenschaft schweigt, sich zumindest von nur beschränkter disziplinärer Erklärungskraft erweist, und bei denen der Verstand, der sich in einer verwissenschaftlichten Welt wiedererkennt, an seine Grenzen stößt, gehören das Leben – in seiner vollen, nicht nur biologischen Bedeutung –, der Tod und das Sterben. Auch wenn wir wissenschaftlich noch so viel über das Leben und das Sterben wissen, bleibt das Leben doch als das gelebte Leben und bleibt das Sterben als das gelebte Sterben, das individuelle, nicht das allgemeine Leben und das individuelle, nicht das allgemeine Sterben. Und auch wenn wir wissenschaftlich noch so viel über den Tod wissen, bleibt er im Leben doch das Unbegreifliche – weil der Tod Widerspruch des Lebens ist und doch zu ihm gehört, und weil auch das Sterben zum Leben gehört und sich in diesem der Widerspruch, um den Preis des Lebens, aufzulösen beginnt.

Das Leben – so könnte man auch sagen – weiß alles und kann alles; es weiß auch um den Tod, aber es vermag ihn – als andauerndes Leben, dem sonst nichts fremd ist – nicht zu begreifen, jedenfalls nicht in einer auch dem Verstand, dem wissenschaftlichen wie dem alltäglichen Verstand, erklärbaren Weise. Der Tod ist eben nicht nur das Ende aller Not, wie ein Sprichwort sagt, sondern auch das Ende allen Glücks; er ist die eigentliche Negation all dessen, was das Leben ausmacht.

Damit sind wir bereits ins Anthropologische geraten, in ein Nachdenken über den Menschen, seine Natur oder sein Wesen, das nicht schon in einer Addition dessen, was wir wissenschaftlich über den Menschen, über Leben und Tod wissen, zur Ruhe kommt. So mag die Wissenschaft die Notwendigkeit des Todes demonstrieren können (alles, was lebt, muß sterben, damit das Leben weitergeht), aber sie bringt ihn uns, d.h. der Selbsterfahrung des Lebens, nicht näher. „Der Tod ist kein Abschnitt des Daseins, sondern bloß ein Zwischenereignis, ein Übergang aus einer Form des endlichen Wesens in die andere“, schreibt Wilhelm von Humboldt 1832 an eine Freundin1, doch in welche? Nur eines ist gewiß: die Antwort des Biologen wird hier anders ausfallen als die des Theologen, und die Antwort des Individuums, die Antwort aus der Perspektive des gelebten Lebens, wird immer noch einmal eine andere, eine individuelle sein.

In diesem Sinne im Folgenden einige anthropologische Erwägungen über das Endliche und das Vollkommene, zugespitzt in der Frage, wem das Sterben gehört, die zugleich aus dem Anthropologischen in recht konkrete ethische und andere Probleme führt. Auch hier aber wird gelten, daß das Allgemeine, das die Wissenschaften – nicht nur Biologie und Medizin, sondern auch die Rechtswissenschaft und die Ethik – zum Gegenstand haben, das Besondere, hier das gelebte Leben und das gelebte Sterben, nicht erreicht, jedenfalls nicht in dem (sonst üblichen) Sinne, daß das Allgemeine das Besondere erklärt und über das Besondere herrscht. Schließlich geht es bei Leben und Tod, Leben und Sterben um Erfahrungen, die im strengen Sinne nicht geteilt werden können, um Einstellungen, die nicht verallgemeinerbar sind, um eine ‘Geschichte’, die stets so einzigartig ist wie das Individuum selbst. Die Stichworte lauten: Endlichkeit und Vollkommenheit, Gestalten des Lebens, das Verfügbare und das Unverfügbare und: wem gehört das Sterben?

1. Endlichkeit und Vollkommenheit

Daß der Mensch in seiner biologischen Natur nicht aufgeht, ist eine alte Einsicht. Sie findet sich schon im griechischen Denken und führt hier zu anthropologischen Über legungen, die in der Definition des Menschen als animal rationale23Weltoffenheit