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Katja Behrens

Hathaway Jones und die schöne Flora Dell

 

Roman

 

 

 

Impressum

Editorische Notiz

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Hathaway Jones. Für die vorliegende Ausgabe wurde der Titel erweitert: Hathaway Jones und die schöne Flora Dell. Der Inhalt ist gegenüber der Originalausgabe unverändert.

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Gulliver 1045

© 2002, 2007 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Alle Rechte vorbehalten

Neue Rechtschreibung

Lektorat: Silvia Bartholl

Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg

Einbandgestaltung: Max Bartholl

Einbandfotos: Lewis W. Hine (oben) und Walker Ewans (unten)

Konvertierung e-book Zentrale Medien, Bochum

e-book ISBN: 978-3-407-74182-0

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Inhaltsübersicht

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Nachwort

Autorinformationen

Dies ist die Geschichte von Hathaway Jones, der während des Goldrauschs mit seinem Vater an den Rogue River kam. Die beiden versuchten sich als Goldgräber, fanden nichts und kauften schließlich drei Packtiere, mit denen Hathaway den Fluss entlangzog, um den Goldgräbern und Farmern ihre Post zu bringen, Zucker, Salz, Kaffee, Munition für ihre Gewehre und … seine Geschichten. Lange Geschichten, die er sich ausdachte, unterwegs von einem zum andern.

Samps, sein Vater, blieb zu Hause, hackte Holz, ging auf die Jagd und rauchte seine Pfeife.

Samps war ein sehr kleiner Mann und sein Haar schon schlohweiß. Wasserblaue Augen in einem milden Gesicht und ein unbeugsamer
Wille. Samps stritt nie. Entweder gab er sofort nach oder überhaupt nicht.

Er war der Einzige, dem Hathaway seine Geschichten nicht erzählte.

In Gegenwart seines Vaters hatte Hathaway etwas Stilles, in sich Gekehrtes, fast Mürrisches, und wenn er etwas sagte, dann war es, um dem Vater mit einem knappen Satz zu widersprechen und von neuem in Schweigen zu verfallen.

Sobald er von zu Hause fort war, fing er an zu singen, so laut und falsch, dass die Ohren seines Maultiers zuckten, erst die Lieder, die er kannte, und dann erfand er welche, und dann wurde er allmählich still und erfand weiter in seinem Kopf, langwierige Geschichten, so weit verzweigt wie das Netz von Bächen und Flüssen|6 in dem Landstrich, durch den er zog. Und wenn er dann bei einem Goldgräber oder einer Siedlerfamilie ankam, schob er den Hut in den Nacken und fing an zu erzählen, als ob das, was er da erzählte, ganz und gar wahr wäre und wirklich geschehen. Und seine Zuhörer, Russen und Franzosen, Deutsche und Italiener, Iren und Holländer, wüste, bärtige, halb wahnsinnige Männer, vergaßen für eine Weile ihre Enttäuschungen und sogar ihre Hoffnungen. Sie vergaßen, wo sie waren und wer sie waren, vergaßen die ganze elende Schinderei und ließen die Unterkiefer hängen.

1

Hathaway Jones ritt durch den dämmernden Morgen, bergauf bergab, den Fluss entlang, über Bäche, deren Namen von den Sehnsüchten der Goldgräber sprachen: Whisky Creek, Rum Creek, Jenny Creek.

Erst hörte er ein Rauschen, das auch von Blättern im Wind sein konnte, dann wurde es lauter und unverwechselbar. Jeder Bach, jedes Flüsschen hatte seine eigene Melodie, mal floss das Wasser bloß über Geröll, mal brach es sich an gewaltigen Felsbrocken. Und immer war das Licht anders. Einmal spielten Sonnenflecken in den Wellen, es gleißte und glitzerte, ein andermal war es schattig, die Luft schwer und feucht. Im Halbdunkel wucherten Farne, Frauenhaar und Hirschfarn, Adlerfarn und Schwertfarn.

Hathaway sah und hörte das alles, weil er allein war. Er war vierzehn Jahre alt, vielleicht auch dreizehn oder fünfzehn, so genau wusste er das nicht. Und er war nicht nur allein, wenn er mit seinen Maultieren unterwegs war, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, an heißen Sommertagen, wenn seine Tiere die Ohren hängen ließen, wie in verhangenen Stunden im Herbst, wenn der Fluss hinter Regenschleiern verschwand.

Hathaway war auch allein, wenn er mit seinem Vater in der Hütte war und der Schnee sich draußen türmte. Und wenn er im Frühling loszog und alle paar Wochen heimkam, begrüßte sein Vater ihn mit den immer gleichen Worten: »Wieder da?«

An seine Mutter konnte Hathaway sich nicht erinnern, mit Frauen hatte er wenig zu tun gehabt, von Mädchen träumte er manchmal. Er war so gewöhnt daran, allein zu sein, dass er dachte, das müsse so sein.

Braun gebrannt, mit einem etwas zu großen Schlapphut auf dem Kopf, hielt er die Zügel so selbstverständlich wie jemand, der gar nicht mehr merkt, dass er Zügel hält.

Das Hufetrappeln bekam einen anderen Klang. Hathaway ritt jetzt nicht mehr über Waldboden. Der Pfad führte auf mittlerer Höhe eines Canyon entlang. Zu beiden Seiten des Flusses stiegen Felswände senkrecht in die Höhe. Nackt, grau und zerklüftet lagen sie in der Morgensonne.

Die Thomas-Farm kam in Sicht – ein armes, heruntergekommenes Anwesen. Blockhaus, Ställe, eingefallene Zäune.

Die Tür und die Fenster des Wohnhauses standen offen. Aus einem Fenster heraus blähte sich ein weißer, etwas verschlissener Vorhang.

2

Hathaway band die Maultiere an und tappte unbeholfen auf das Haus zu, schwerfällig und leichtfüßig zugleich, wie die Bären, denen er manchmal unterwegs begegnete.

In dem Haus wohnte ein Mädchen.

Es wäre Hathaway lieber gewesen, er hätte die Post vom Pferderücken aus übergeben können. Ohne Pferd fehlte ihm etwas. Auf seinen eigenen Beinen war er nicht so sicher, auch waren ihm die Arme im Weg. Und er wusste schon jetzt nicht, wo er hinsehen sollte.

Aus dem Haus kamen Töne, die so wunderbar waren, dass Hathaway seine Schüchternheit für einen Augenblick vergaß und sich bereits ausmalte, wie er das erzählen würde. Aber dann ging ihm auf, dass sie diese seltsam schöne Musik machte, und die Schüchternheit überkam ihn von neuem.

Es gelang ihm gerade noch, den rettenden Türpfosten zu erreichen.

Da lehnte er, groß, schmal und linkisch, die Briefe fest in der Hand, und hörte mit offenem Mund zu.

Klaviermusik kannte Hathaway nicht.

Er hatte die Nacht unter freiem Himmel verbracht, an diesem Morgen noch mit niemandem geredet, die im Schlaf eingefallenen Schutzmauern noch nicht wieder aufgerichtet.

So hörte er sein erstes Klavierstück.

Plötzlich fiel ihm ein, dass er seinen Hut noch aufhatte.

Er zerrte an dem Lederriemen unter seinem Kinn. Die Musik brach ab.

Wie um sich für sein Eindringen zu entschuldigen, streckte Hathaway die Hand mit den Briefen aus.

»Ich habe da ein paar Briefchen …«

Flora Dell war sonnverbrannt und schlicht gekleidet. Ihr Haar war zum größten Teil unter einem im Nacken geknoteten Kopftuch verborgen.

Hathaway Jones stand wie angewurzelt, während sie aufsprang, auf ihn zueilte und nach den Briefen griff.

Hathaway ließ ein wenig zu früh los, die Briefe fielen zu Boden.

Beide bückten sich, jeder wollte sie aufheben, ihre Hände berührten sich. Hathaways Hand war schmutzig, schwielig, mit vielen kleinen Kratzern und Rändern unter den Fingernägeln, die von Flora groß, kräftig und genauso schmutzig und zerkratzt. Einen Augenblick lang blieben ihre Hände beieinander, bekamen ein Eigenleben, wurden zu zwei Handtieren, die einander beschnüffeln, mit Neugier und Vorsicht, offenbar Gefallen aneinander finden und miteinander spielen wollen, aber von ihren Besitzern zurückgerufen werden und widerstrebend gehorchen.

Flora sammelte die Briefe auf, erhob sich und starrte abwesend auf die Umschläge.

Hathaway nahm endlich den Hut ab. Jetzt hatte er wieder etwas, an dem er sich festhalten konnte. Den Hut an den Bauch gedrückt, wagte er einen kurzen Blick auf die Schöne, die ihn verlegen anlächelte.

Hathaway schaute weg, deutete mit dem Kopf auf das Klavier und fragte auf die unvermittelte Art der Schüchternen, denen es so peinlich ist, ein Zimmer zu betreten, dass sie nur losstürmen und mit der Tür ins Haus fallen können: »Möchte bloß wissen, wie ihr das Ding hergeschafft habt!«

Flora wandte sich ab, ging zum Tisch und sagte über die Schulter hinweg: »Mein Vater hat es aus Grants Pass geholt. Zu meinem Geburtstag.«

Hathaway wusste nicht, wann er Geburtstag hatte, und schwieg beschämt.

Flora Dell legte die Briefe auf den Tisch und kam wieder auf ihn zu. Hathaway sah sie kurz an und dann schnell weg. Das Klavier, der Tisch, zwei Stühle und ein Bett, alles grob gezimmert. Auf einem Bord standen einige zerfledderte Bücher, die einzigen in einem Umkreis von vielen Meilen, abgesehen von John Billings Bibel. Lesen konnte Hathaway auch nicht, und bei ihm zu Hause gab es nur einen Raum, die Wände aus unbehauenen Baumstämmen, mit einem winzigen Fenster. Zwei Betten, ein Tisch und zwei Stühle.

»Sie haben es mit einem Maultier gebracht, Vater und Scotty McCullen. Vater hat gesagt, es war eine Schinderei, aber es ging. Manchmal wurde es eng, wenn sie zwischen Bäumen durchmussten. Es hat ein paar Kratzer abbekommen.«

Hathaway wiegte ungläubig den Kopf.

»Vater hat seinen Packsattel mit Kisten erweitert, dann haben sie das Klavier mit einem Flaschenzug draufgehoben. Und alle paar Meilen haben sie Halt gemacht, damit das Maultier sich ausruhen konnte.«

»Mit dem Klavier?«

»Nein, das haben sie mit dem Flaschenzug runtergeholt und später wieder draufgehoben. Den Flaschenzug haben sie vorher dahingebracht, wo sie Halt machen wollten. Bleib doch noch und trink einen Kaffee mit mir.«

»Kann man machen«, sagte Hathaway und knallte entschlossen den verbeulten Hut auf den Tisch.

3

Die Arme unter dem Kopf verschränkt, lag Hathaway und schaute in den weiten, dunkelnden Himmel, an dem zwei Wölkchen aufgetaucht waren.

Der Whisky Creek rauschte.

Rehe, die im Schutz der Dämmerung aus dem Wald gekommen waren, verteilten sich äsend auf der Lichtung.

Im Zwielicht verschwammen die Zweige.

Der Himmel bezog sich mit mehr Wölkchen.

Hathaway schloss die Augen.

Das Rauschen des Bachs ging in Flora Dells Musik über, Hathaway saß mit ihr am Tisch, einen Becher Kaffee in der Hand, und war glücklich.

Kurz bevor er wach wurde, spürte er das Mondlicht, und als er aufstand und um sich schaute, sah er den Mond, der im Osten aufgegangen war, über dem Fluss zwischen zwei Bergrücken.

Es war ein Halbmond, der Himmel war sternenklar.

Mit weit aufgerissenem Mund gähnend, pinkelte Hathaway selbstvergessen vor sich hin, in Gedanken bei Flora Dell und den zwei Löffeln Zucker, die sie in seinen Kaffee hineingetan hatte, als er plötzlich zwei Gestalten sah, die auf Clarence Burkes Hütte zuschlichen.

Clarence Burke war nicht da. Hathaway hatte einen Brief für ihn, den er schon wieder in die Posttasche gesteckt hatte, um ihn bei der nächsten Tour abzuliefern.

Die beiden Schemen spähten durch das Fensterchen und verschwanden dann in der Hütte.

Hathaway überlegte nur einen Augenblick. Im nächsten war er schon bei seinem Lager und packte in aller Eile zusammen.

Er hatte die Maultiere beladen und zog gerade den Sattelgurt stramm, als er etwas Hartes im Rücken spürte.

Er drehte sich nicht um.

Er wusste, was das war. Langsam hob er die Arme.

»Was willst du hier?«

Die Stimme kannte er nicht.

»Ich bin bloß … also ich bring bloß … ich bring doch nur die Post. Ich hab ein Briefchen für Clarence Burke.« Der Revolverlauf drückte in seinen Rücken und Hathaway redete immer weiter. Schweigen konnte gefährlich werden, in der Stille konnte alles Mögliche passieren, also redete Hathaway. Er quatschte und quatschte – sicherheitshalber. »Ich hab auch Zucker und Salz dabei und Kaffee und Munition und Angelhaken, Angelschnur, was Sie wollen, Schmuck für das Liebchen, Hathaway Jones bringt euch die Zivilisation ins Haus, vom Frühjahr bis zum Herbst, zwischen Gold Beach und Galice.«

»Maul«, sagte die Stimme. »Was hast du gesehen?«

»Nichts.«

Hathaway hörte Schritte und dann eine Stimme, die ihm bekannt vorkam.

»Lass ihn.«

Der Druck in Hathaways Rücken ließ ein wenig nach.

»Er wird uns verpfeifen.«

»Wird er nicht. Den kenn ich. Das ist der Sohn vom alten Samps. Cleveres Bürschchen – der weiß, wann er ’s Maul zu halten hat. Stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte Hathaway und ließ langsam die Arme sinken.

Er wusste jetzt, wer die beiden waren. Der eine war Martin Jennings, der andere musste Roland Meyer sein, Burkes Nachbarn, die auf der anderen Seite des Flusses am Rum Creek lebten und sich offenbar angewöhnt hatten, Burkes Hütte als eine Art Laden zu betrachten, in dem sie sich bedienen konnten, ohne zahlen zu müssen.

Burke war schon ganz verbittert und konnte von nichts anderem mehr reden. Erwischt hatte er die beiden nie, aber er war sicher, dass sie es waren, die sein Salz verschwinden ließen, seinen Kaffee, seinen Zucker. In den dreißig Jahren, die er am Rogue River verbracht hatte, war ihm nie etwas geklaut worden … erst als Meyer und Jennings den Claim am Rum Creek übernommen hatten …

Hathaway beschloss, harmlos zu fragen, ob sie etwas dagegen hätten, wenn er hier übernachtete.

»Bleib nur, Junge«, sagte Jennings großzügig.

Hathaway sattelte wieder ab.

4

Eine Schlange schoss quer über den Pfad.

Hathaways Maultier scheute. Hathaway klopfte ihm den Hals und murmelte etwas Beruhigendes, in Gedanken bei der Geschichte, die er sich gerade ausdachte.

Es fing an zu regnen, sein Maultier ließ die Ohren hängen, der Fluss verschwand hinter Regenschleiern – Hathaway merkte es kaum. Es war ihm in den Sinn gekommen, dass es nicht irgendeine Geschichte werden sollte, sondern eine Geschichte für Flora Dell.

Ein Erdrutsch machte den Pfad unpassierbar.

Hathaway musste also abladen und die Maultiere einzeln den Hang hinaufführen, das heißt ziehen und zerren, steil hinauf, schnaufend, keuchend, fluchend, und steil hinab, so steil, dass er auf dem Hintern hinunterrutschen musste, die Zügel in der Hand, immer in Gefahr, von dem hinterherrutschenden Tier erdrückt zu werden.

Als er sie schließlich alle drüben hatte und weiterreiten konnte, war ihm seine Geschichte fremd geworden.

Gegenüber Stair Creek Falls machte er Rast.

Mit dem Rücken an einen Felsen gelehnt, schaute er auf den Wasserfall, der sich gischtsprühend die Felsen hinabstürzte.

Sein Tosen war bis zu ihm hinauf zu hören.

Das Wasser selber war nicht zu sehen, nur die Gischt, blendend weiß und scheinbar unbeweglich.

Kein Wölkchen am Himmel. Kein Geräusch außer dem beständigen Tosen.

Nach einer Weile wusste Hathaway nicht mehr, ob das Tosen in seinem Körper war oder draußen. Aber dass es mit Flora Dell zu tun hatte, das wusste er.

Den Nachmittag verbrachte er damit auszurechnen, wie lange es dauern würde, bis er sie wiedersehen würde.

 

Die Sonne ging unter, es tropfte von den Bäumen. Vögel sangen ihr Abendlied.

Hathaway aß etwas Käse und trank Wasser aus einem namenlosen kleinen Bach. Er sammelte Holz, machte ein Feuerchen und benannte den Bach nach Flora Dell.

Später lag er auf dem Rücken, schaute in die Sterne und hörte ganz leise Flora Dells Musik.

Er nahm das Glucksen und Plätschern ihres Bachs mit in den Schlaf und lächelte, als ein nächtlicher Schatten auf sein Lager fiel.