Schmutztitel

Ann-Katrin Heger

Titel

Tanz der Herzen

Kosmos

Umschlagillustration von Ina Biber, Gilching

Umschlaggestaltung von Friedhelm Steinen-Broo, eSTUDIO CALAMAR

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© 2017, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-15478-6

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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Tod im See

Es wurde dunkel. Der Wind peitschte dichte Nebelfetzen über den See wie getriebene Geister und die Wellen türmten sich höher und höher. Odette trat ans Ufer. Ihr weißes Tüllkleid bauschte sich auf. Sie beugte sich weit über den Felsen, legte die Hände an den Mund und rief immer wieder verzweifelt den Namen ihres Liebsten: »Siegfried!«

Marie schlug fassungslos die Hände vor den Mund. Nein, nicht!, flehte sie Odette innerlich an. Geh nicht ins Wasser! Das kann nicht gut gehen!

Doch Odette ließ sich nicht beirren. Sie stürzte sich in die Fluten, ihrem Geliebten hinterher.

Ein Schrei. Markerschütternd.

Marie konnte den Blick nicht von dem grausamen Ereignis abwenden, das sich nur ein paar Meter entfernt vor ihren Augen abspielte.

Odette tauchte wieder auf. Das Gesicht vor Anstrengung und Angst verzerrt. Sie kämpfte. Doch Marie wusste, dass Odette es nicht schaffen würde. Ihre Bewegungen wurden immer langsamer. Immer qualvoller. Sie bäumte sich ein letztes Mal auf und versank endgültig.

Dann war alles still.

Aber nur für einen kurzen Augenblick.

Denn als der Vorhang fiel, begann das Publikum begeistert zu klatschen und zu johlen.

Marie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. In weiser Voraussicht hatte sie heute Morgen wasserfeste Mascara aufgetragen, sodass sie sich um ihr Make-up keine Sorgen zu machen brauchte. Sie wusste aus Erfahrung, dass bei Premierenfeiern alle nah am Wasser gebaut hatten. Erfolg und Misserfolg, Rührung und Enttäuschung lagen da ganz nah beieinander.

Sie strich sich über die Arme. Gänsehaut. Überall Gänsehaut. Aber das war kein Wunder. Diese Inszenierung von Schwanensee war wirklich die beste gewesen, die sie je gesehen hatte. Unglaublich, wie Lara Semova, ihre Ballettlehrerin, den Schwan getanzt hatte. Diese Rolle war schwer. Die Ballerina musste das Mädchen Odette verkörpern, das in einen Schwan verzaubert worden war. Aber nicht nur das. Dieselbe Tänzerin musste auch die böse Zauberin, die in Gestalt des schwarzen Schwans auftrat, tanzen. Doch Laras Tanz war leicht und grazil gewesen, als könnte sie fliegen. Nächste Woche würde Marie auch auf dieser Bühne stehen. So richtig glauben konnte sie es immer noch nicht, dass Lara sie, Marie Grevenbroich, ausgewählt hatte, ihre Tochter Anna als einen der kleinen Schwäne zu vertreten. Es war eine kleine Rolle und Marie würde sie nur so lange tanzen, bis Anna aus Russland zurückkam. Aber sie machte richtig Spaß! Marie setzte sich auf, um besser sehen zu können, wie die Tänzerinnen und Tänzer sich verbeugten. Doch sie ließ sich gleich wieder in den Sessel zurückplumpsen, denn der Muskelkater in den Oberschenkeln tat höllisch weh. Kein Wunder, sie hatte die letzten Wochen fast jeden Tag Tanztraining gehabt.

Marie sah Kim und Franzi an, die neben ihr saßen. Auch sie klatschten nicht, sondern waren noch völlig im Bann des Schauspiels, das sie eben gesehen hatten.

Kim merkte als Erste, dass Marie sie beobachtete. Verlegen wischte sie sich am Auge herum, räusperte sich und sagte: »Wow, das war echt beeindruckend. Tut mir wirklich leid, dass ich vorher so skeptisch war, Marie.«

»Ich war auch alles andere als begeistert, dass du uns zur Tanzschulaufführung von Schwanensee mitschleppst«, schaltete sich Franzi ein. »Aber ich muss zugeben: Das war toll. Und dann auch noch diese herzzerreißende Geschichte … Ich hab immer gedacht, Ballett ist nur so ein langweiliges Herumgehüpfe auf den Zehenspitzen.«

»Aua«, meinte Marie und lachte. »Hüpfen lässt man besser. Das Stehen auf den Zehenspitzen ist schon anstrengend genug.« Sie schlüpfte aus ihren silbernen flachen Schuhen und wackelte mit den Zehen, die mit dicken Pflastern umwickelt waren. »Fragt mal meine Füße: fiese Blasen an den unmöglichsten Stellen. Ich hab sogar Blasen an den Blasen.«

Kim stöhnte auf. »Okay, ich nehme alles zurück. Ballett ist zwar cool, aber eindeutig Selbstquälerei. Wie hältst du das nur aus, Marie?«

»Du hast recht. Ich finde auch, dass es eine richtige Zumutung ist, zu diesem wunderbaren Cocktailkleid keine hohen Schuhe tragen zu können, sondern diese Flachtreter. Das macht das ganze Outfit kaputt!«, schimpfte Marie.

»Quatsch!« Franzi rollte mit den Augen. »Du siehst mal wieder perfekt aus. Und wenn man zu einer Ballettaufführung keine Ballerinas tragen darf, dann weiß ich auch nicht …«

Marie grinste. So konnte man die Sache natürlich auch sehen. Ihre flachen Schuhe waren somit keine Modesünde, sondern Absicht. Sie nickte zufrieden.

Außerdem passten die Glitzerballerinas farblich wirklich sehr gut zu dem rosafarbenen Seidenkleid und dem schimmernden Lipgloss. Die kleine silberne Tasche und die zierliche silberne Halskette, die sie vor Kurzem von ihrem Vater bekommen hatte, rundeten das Outfit ab. Es gab also keinen Grund, sich Sorgen zu machen.

»Das nächste Mal fragst du einfach gleich mich um Rat«, meinte Franzi. »Stylemäßig bin ich top ausgebildet – ich war bei meiner Detektivkollegin in der Lehre.«

Marie knuffte Franzi in die Seite. »Dass man zu Freundinnen nicht so frech ist, hat sie dir aber nicht beigebracht. So, und jetzt los. Wir sind noch auf die After-Show-Party eingeladen. Ich brenne darauf, euch den Star des Abends persönlich vorzustellen!«

Die drei !!! gingen die breite Marmortreppe in die Halle hinunter. An den in einem zarten Lila gestrichenen Wänden hingen Kristalllampen, die feierlich funkelten. Einige Zuschauer standen noch mit einem Glas Sekt an den Stehtischen, die mit weißen Tischtüchern gedeckt waren. Doch die meisten befanden sich bereits draußen auf dem runden Vorplatz des Theaters – dort war die Julihitze eindeutig besser zu ertragen.

Kim deutete auf eine Kutsche, die wie ein Schwan dekoriert war.

Ein Pärchen saß gerade darin, küsste sich und ließ sich fotografieren.

»Stand dieses Kitschmonster für Verliebte vorhin auch schon da?«, fragte Kim genervt. »Hat denn niemand die Schwanensee-Geschichte verstanden? Odette und Siegfried sterben! Das heißt: Verliebtsein ist absolut lebensgefährlich!«

Marie tätschelte Kim beruhigend am Arm. »Ich weiß, die Liebe ist im Moment nicht gerade unser Lieblingsthema. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Irgendwann sitzen wir mit einer neuen großen Liebe in so einem Schwan und sind glücklich, versprochen.«

»Ich sitze gerne mit einer großen Liebe irgendwo rum, aber bestimmt nicht in so einem Kitschding«, knurrte Kim.

Marie hatte Mitleid mit Kim. Vor einiger Zeit hatte sich ihr Freund Michi von ihr getrennt. Es hatte lange gedauert, bis der schlimmste Liebeskummer nachgelassen hatte. In letzter Zeit war es ihr allerdings besser gegangen, vor allem dann, wenn sie als Detektivteam mal wieder einen Fall zu lösen gehabt hatten. Seit Kurzem waren sie sogar wieder »offiziell« Freunde. Aber Freunde sein nach einer so langen Beziehung? Das war eben nicht gerade einfach. Da hatte sie es schon leichter. Sie konnte wenigstens so richtig sauer auf Holger sein, weil er sich in ein anderes Mädchen verliebt hatte. Marie und er hatten daraufhin eine Beziehungspause vereinbart. Am Anfang hatte es unglaublich wehgetan. Aber die Wut hatte geholfen, den Schmerz zu überdecken. Und die Ablenkung durch die Detektivarbeit und ihre vielen Hobbys. Denn wenn sie ganz ehrlich war, nagte der Holger-Liebeskummer noch sehr an ihrem Herzen.

»Wie cool ist das denn?«, rief Franzi in diesem Augenblick und lief auf eine mannshohe Plastik zu. »Das muss ich mir genauer ansehen!« Marie blickte auf. Neben der Garderobe stand noch ein Schwan. Allerdings ein Schwan der ganz anderen Sorte.

»Das nenn ich sinnvolles Recycling«, schwärmte Franzi. »Dieser Schwan besteht aus lauter leeren WC-Schwan-Plastikflaschen. Wie witzig!«

Marie folgte Franzi zu der Skulptur. Für moderne Kunst konnte sie sich auch begeistern. Und tatsächlich: Die leeren Kloreinigerflaschen mit dem bekannten geschwungenen Hals waren so kunstvoll ineinander verschlungen, dass sie einen großen schönen Schwan bildeten. »Puh, wie lange der Künstler da wohl sammeln musste?«, fragte Marie.

»Genau drei Jahre!« Anna Semova kam freudestrahlend auf Marie zu. Die Tochter ihrer Tanzlehrerin hatte sich bereits umgezogen und trug ihre langen roten Haare nun offen. »Allerdings musste ich alle meine Freunde und Bekannten auch bitten, ihre leeren Reinigerflaschen für mich aufzuheben.«

»Du?«, stammelte Marie ungläubig. »Du hast den Schwan gemacht?«

Anna nickte. »Skulpturen zu bauen ist mein Ausgleich zum Tanzen. Gefällt er dir?«

»Und ob!«, antwortete Marie. »Der ist super geworden.«

»Du hast echt Talent. Fürs Ballett und für die Kunst«, pflichtete Kim Marie bei. »Ich bin übrigens Kim.«

»Ach, das freut mich aber, euch kennenzulernen. Ihr seid also die berühmten drei !!!. Marie hat mir schon viel von euch erzählt.« Anna musterte Franzi. »Und dann bist du Franzi, richtig?«

Franzi nickte strahlend und reichte Anna die Hand.

Anna wandte sich lächelnd an Marie. »Nun weißt du also auch von meinem Zweitjob.«

Kim legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. »Moment mal. Nur dass das klar ist: Detektivin ist Maries erster Job und Tanzen nur der zweite.«

»Hoppla«, sagte Anna betreten. »So hab ich das doch gar nicht gemeint. Also, wie auch immer, Marie macht offensichtlich beide Jobs sehr gut. Ich hole euch mal etwas zu trinken, ja?« Sie steuerte auf die kleine Bar zu.

»Musste das jetzt sein?«, zischte Marie und warf wütend ihre langen blonden Haare nach hinten. »Du weißt doch genau, dass ich mit Leib und Seele Detektivin bin und dass mir das Detektivteam superwichtig ist. Das sollte nach fast siebzig gelösten Fällen doch langsam klar sein.«

Kim senkte den Blick. »’tschuldigung. Manchmal hab ich Angst, dass der Detektivclub bei deinen ganzen Hobbys zu kurz kommt. Sei nicht sauer.«

»Entschuldigung angenommen«, sagte Marie versöhnt. »Kommt, ich stelle euch Lara und Bodo vor!«

Marie zog Kim und Franzi zu einem der Bistrotische, um den sich bereits eine Traube von Menschen versammelt hatte.

Als Lara Marie sah, löste sie sich von den anderen und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. »Da ist ja noch so ein kleines Schwänchen! Wie hat es dir gefallen, meine Liebe?«

»Lara, du warst wirklich umwerfend«, sagte Marie und küsste die zierliche Ballerina rechts und links auf die Wange. »Ich bin überzeugt davon, dass man die Rolle der Odette nicht besser tanzen kann!«

»Oh doch, mein Kind, man kann!«, sagte Lara lächelnd. Sie hatte die schwarzen langen Haare immer noch zu einem strengen Dutt frisiert, trug aber nun ein fließendes zartgelbes Chiffonkleid. »Du wirst sehen, wenn Anna aus Russland zurück ist, tanzt sie mich an die Wand!«

Anna kam mit einem Tablett, auf dem vier Cocktailgläser mit einer blauen Flüssigkeit darin standen, zu ihnen. Aus den Gläsern ragte eine weiße flauschige Feder, die lustig wippte.

»Mamutschka, du übertreibst mal wieder maßlos«, sagte Anna. Sie pustete sich den langen Pony aus den Augen und stellte das Tablett ab. Dann überreichte sie den drei !!! jeweils ein Glas und nahm selbst eines in die Hand. »Keine Sorge. Im Swan Lake ist kein Alkohol. Prost!«

Marie nippte. Was in aller Welt war das denn für ein Zeug? Das schmeckte wie Kaugummi! Bäh. Verstohlen blickte sie Kim und Franzi an. Doch die schienen das Getränk zu mögen. Franzi hatte ihren Cocktail sogar schon halb leer.

Als Marie Franzi ohne Worte zu verstehen geben wollte, dass die sich des Inhalts ihres Glases unbedingt annehmen musste, knallte jemand seine Hand auf ihre rechte Schulter. Ihr Cocktail schwappte auf ihr rosafarbenes Seidenkleid. Mist! Nun war sie den Cocktail zwar los, aber dafür war ihr Kleid ruiniert. Sie drehte sich um. Hinter ihr stand Bodo B. Boost. Warum war der Modern-Dance-Lehrer aus dem Ballettstudio überhaupt hier? Immer, wenn sie Unterricht bei ihm genommen hatte, wetterte er gegen das klassische Ballett. Und nun feierte er zusammen mit Lara die Tanzschul-Premiere von Schwanensee? Merkwürdig. Marie wusste nie so recht, ob sie Bodo nun leiden konnte oder nicht. Klar, er war ein guter Tänzer, aber seit er bei Dance along, einer Tanz-Castingshow im Regionalfernsehen, als Juror aufgetreten war, war sein Selbstbewusstsein größer als er selbst. Bodo grinste breit. Offensichtlich hatte er gar nicht bemerkt, dass Marie sich seinetwegen bekleckert hatte. Er strich sich über den Sixpack am Bauch. Moment mal. Warum konnte man den denn so gut sehen? Ach du meine Güte, Bodo trug nur ein hauchdünnes Trainingsshirt! Offensichtlich wusste Bodo weder, wie man sich für eine Theaterpremiere kleidete, noch, wie man sich bei einer benahm.

»Hallo, Marie. Die Aufführung war mega, oder? Kann gut sein, dass du mich bald auch mal im Unterricht der Semova siehst. Oder bei Oleg. Aber ich weiß gar nicht, ob der auch Stunden gibt«, meinte Bodo.

Marie überlegte, ob er das ironisch gemeint hatte. Aber Bodos Gesicht blieb ganz ernst. Und Oleg? Wer war Oleg?

Ein Mann um die vierzig kam auf Bodo zu. Offensichtlich hatte er Bodos letzten Satz mitbekommen. »Oh nein«, sagte er. »Ich bin nur zu Besuch bei Lara. Nicht, um zu arbeiten. Tut mir leid.«

»Das ist echt schade, Oleg«, meinte Bodo. »Ein Star des klassischen Balletts unterrichtet einen Star des Modern Dance. Wär das nicht was fürs Fernsehen?«

Oleg lächelte höflich, aber schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Tut mir leid, aber das ist nicht meine Welt. Ich mache mir noch eine schöne Woche hier mit meiner alten Freundin und dann werde ich ihre Tochter mit nach Russland an mein Theater nehmen. Ich habe Anna eine Choreografie direkt auf den Leib geschneidert.«

»Ah, ich hab’s!«, erklärte Marie im Flüsterton. »Jetzt erkenne ich ihn auch wieder. Oleg ist Laras früherer Tanzpartner. Sie hat ein paar Bühnen-Fotos von ihren Auftritten in der Garderobe hängen. Nur ist er da zwanzig Jahre jünger.«

»Kindchen«, rief Lara Semova in diesem Augenblick entrüstet. »Dein wunderschönes Kleid hat einen fürchterlichen blauen Fleck. Unmöglich sieht das aus. Komm mit in meine Umkleide, da kannst du versuchen, die Schweinerei rauszuwaschen.«

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Spieglein, Spieglein an der Wand

»Komm, komm. Bestimmt weiß Pamina, was man in so einem Fall macht. Sie ist Fleck-weg-Meisterin. Ich vertraue ihr die empfindlichsten Kostüme an.« Lara hakte Marie unter und zog sie mit sich. »Außerdem trifft sich das gut. Vielleicht kann Pamina dann gleich dein Schwänchen-Tutu abstecken.«

Marie wollte zwar viel lieber bei der kleinen Feier und bei Franzi und Kim bleiben, aber sie wollte gleichzeitig auch Lara nicht verärgern. Und vielleicht bekam Pamina, die Assistentin von Lara, ja tatsächlich den doofen Fleck aus ihrem neuen Kleid? Also ging sie folgsam mit.

Durch eine schwere Eisentür gelangten sie hinter die Bühne. Von einem langen Flur gingen die Türen zu den Künstlergarderoben ab. An der dritten klebte ein Zettel mit der Aufschrift: Lara Semova.

Lara öffnete die Tür und rief: »Pamina?« Niemand antwortete. Es war dunkel.

Marie drückte auf den Lichtschalter und im gleichen Augenblick begann Lara hysterisch zu schreien.

Und zwar direkt neben Maries Ohr. Marie erschrak so sehr, dass sie erst einmal gar nicht klar denken, geschweige denn die Ursache für Laras Kreischattacke ausmachen konnte.

Reflexartig setzte sie die Primaballerina auf das rote Plüschsofa, das mitten im Raum stand. Sofort hörte Lara auf zu schreien, stattdessen begann sie leise zu schluchzen. Das war Marie fast lieber. Sie sah sich um.

Auf dem großen Spiegel stand mit Lippenstift geschrieben: NUN BIST DU DRAN! Das »DU« war dabei fett und rot unterstrichen.

Auf dem Schminktisch lagen bunte Holzsplitter neben der Make-up-Dose und den falschen Wimpern. Marie ging näher heran. Inmitten der Splitter lag ein hölzerner runder Puppenkopf. So etwas hatte sie doch schon mal gesehen. Genau! Das war der Kopf einer russischen Matrjoschka. Einer Puppe aus Holz, die man in der Mitte öffnen konnte. Darin lag dann stets eine kleinere Ausgabe der gleichen Puppe, bis ganz zum Schluss die kleinste Holzpuppe zum Vorschein kam, die man nicht mehr öffnen konnte. Ihre Mama hatte so eine besessen. Doch warum hatte jemand die äußerste Hülle einer solchen Puppe zerschlagen und auf Laras Schminktisch gelegt? Und was hatte die Drohung auf dem Spiegel zu bedeuten?

Noch bevor Marie Lara fragen konnte, ob sie wusste, was hier vor sich ging, rannten Kim und Franzi in die Garderobe. Pamina, die sich wegen ihres steifen Beins auf einen Stock stützen musste, kam ebenfalls herbeigeeilt.

»Was ist passiert?« »Können wir helfen?« »Ich war doch nur kurz auf dem Klo!«, riefen die drei durcheinander.

Lara legte die Hand an die Stirn und sackte zusammen.

»Oh mein Gott, sie ist ohnmächtig!« Pamina riss eine dicke Federboa vom Garderobenständer und wedelte Lara damit vor der Nase herum.

Marie kramte in ihrer silbernen Handtasche und zog eine grüne, schmale Phiole heraus. »Frau Fletscher, lassen Sie mich mal«, sagte sie ruhig und hielt Lara das geöffnete Fläschchen unter die Nase.

Die Ballerina kräuselte ihre Nase und richtete sich auf. Etwas benommen klemmte sie eine lose Strähne in ihren strengen Dutt zurück. Sie schnupperte und zog dann Maries Hand mit dem Parfüm noch einmal zu sich. »Was ist das? Das riecht wunderbar!«

»Das Parfüm habe ich selbst zusammengestellt«, erklärte Marie stolz. »Wir haben neulich einen Fall in einer Parfümerie gelöst. Und seitdem haben Kim, Franzi und ich jeweils einen ganz individuellen Duft.«

Lara sah Marie erstaunt an. »Fall? Was meinst du damit?«

»Ich meine damit, dass Kim, Franzi«, sie zeigte auf ihre beiden Freundinnen, »und ich ein erfolgreiches Detektivteam sind, das schon viele Fälle gelöst hat.« Sie öffnete erneut die kleine Silbertasche, zog eine Visitenkarte heraus und gab sie Lara.

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»Die drei !!!«, las Lara vor. »Ja, aber wenn ihr Detektivinnen seid, dann könnt ihr vielleicht herausfinden, wer mir das hier angetan hat?«, überlegte sie.

»Mach dich doch nicht lächerlich«, fuhr Pamina Fletscher dazwischen. »Wie sollen dir drei Mädchen, die ein bisschen Detektiv spielen, helfen können? Du wirst sehen, die Sache klärt sich bestimmt ganz von allein auf.«

Lara funkelte Pamina wütend an. »Würdest du das bitte mir überlassen? Ich wünsche mir, dass die drei !!! sich der Sache annehmen. Ich habe Angst. Und die Polizei kann ich schlecht einschalten. Bei so einer Kleinigkeit würde die mich doch sicher auslachen.«

»Was ist denn eigentlich genau passiert?«, fragte Kim. Sie mochte undurchschaubare Situationen nicht und versuchte stets einen kühlen Kopf zu bewahren und Fakten zu sammeln.

Marie zeigte ihr die zertrümmerte Holzpuppe. »Und die Drohung, die am Spiegel steht, ist auch nicht ohne«, sagte sie.

»Wurde irgendwas gestohlen?«, fragte Franzi. »Haben Sie wertvollen Schmuck in der Garderobe oder so etwas?«

Lara sah sich eine Weile um. »Nein«, sagte sie. »Es fehlt nichts.«

»Können Sie sich erklären, was mit der Drohung am Spiegel gemeint sein könnte?«, fragte Kim. »Haben Sie Feinde?«

Lara schüttelte den Kopf. »Ich kann mir überhaupt keinen Reim auf die Sache machen. Alle waren glücklich, dass die Premiere ein so großer Erfolg war. Und jetzt das!« Sie begann wieder zu schluchzen, stand auf und ging zum Schminktisch. Traurig nahm sie den Kopf der Matrjoschka und strich darüber. »Diese Puppe ist mein Glücksbringer. Besser gesagt, sie war es. Mein Vater hat sie mir geschenkt, als ich die Ausbildung zur Tänzerin abgeschlossen hatte. Sie hat keinen besonderen Wert. Außer für mich, weil sie mich an meinen verstorbenen Vater erinnert …« Lara legte die Holzsplitter fein säuberlich aufeinander.

Genau wie bei mir, fuhr es Marie durch den Kopf. Ich wäre auch todtraurig, wenn jemand meine Matrjoschka mutwillig kaputt machte. Sie hing an ihr, weil sie das Gefühl hatte, wenn sie sie in der Hand hielt, ihrer Mutter für einen Augenblick wieder ganz nahe sein zu können.

Kim trat zu Lara. »Mein Vater ist geschickt mit Holzarbeiten. Er baut Kuckucksuhren. Geben Sie mir die Teile mit, bestimmt kann er sie wieder zusammenleimen! Allerdings kann es etwas dauern. Seine Uhren werden immer beliebter und ich weiß nicht, wann er sich darum kümmern kann.«

»Zeit spielt keine Rolle.« Lara sah Kim dankbar an. »Ich würde mich sehr freuen, wenn du ihn fragen könntest.«

Kim sammelte die Reste der Holzpuppe ein und legte sie vorsichtig in eine Plastiktüte mit Zip-Verschluss, die sie immer für eventuelle Beweisstücke mit sich trug. Dann holte sie ihren Notizblock aus der Tasche und fragte: »Frau Semova. Haben Sie heute oder in letzter Zeit irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt? Haben Sie Neider? Oder Schulden?«

Lara zuckte mit den Schultern und ließ sich mutlos auf den Schminksessel sinken.

»Nein, wirklich nicht. Eine erfolgreiche Ballerina muss zwar immer auf der Hut vor der Konkurrenz sein. Denn es gibt häufig Ärger mit den anderen Tänzerinnen, die nicht die Hauptrollen tanzen. Aber ich bin seit fünf Jahren nicht mehr im Theaterensemble und seitdem Lehrerin an der Tanzschule. Wer hätte etwas davon, mir zu schaden?«

Pamina, die sich mittlerweile anscheinend damit abgefunden hatte, dass die drei !!! den Fall übernommen hatten, schaltete sich ein: »Ich bin seit fünfzehn Jahren die engste Vertraute von Lara«, sagte sie. »Ich bin ihre Assistentin, ihre Freundin und die Patin von Anna. Glaubt mir, ich hätte es mitbekommen, wenn sich in Laras Umfeld irgendetwas Ungewöhnliches getan hätte. Da ist nichts. Nichts, was euch irgendwie weiterhilft.«

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Angst im Studio

Detektivtagebuch von Kim Jülich

Samstag, 23:41 Uhr