Karin Koch

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Peter Hammer Verlag

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Ich sitze in der S-Bahn und schaue aus dem Fenster. Graue Häuserfassaden und mit Autos verstopfte Straßen ziehen vorüber, am Straßenrand produzieren ein paar müde Bäume tapfer ein bisschen Sauerstoff und die Sonne scheint matt und geduldig auf meine Lieblingsstadt herab.

Früher habe ich hier gewohnt. Jetzt bin ich nur noch zu Besuch in Berlin. Jedenfalls fühlt es sich so an, wenn ich jedes Wochenende zu meiner Mutter fahre.

Meine Mutter ist sauer auf mich. Seit drei Jahren ist sie wütend. Und ich versuche, sie seit drei Jahren zu besänftigen. Ich versuche, artig zu sein. Ich halte ihre Regeln ein. Meistens. Sie hat viele Regeln. Kein Zucker, zum Beispiel. Kein Handy, geschweige denn ein Smartphone. Kein Faulenzen. Überhaupt niemals Untätigkeit.

„Was tust du?“, fragt sie mich.

„Nichts“, sage ich immer dann, wenn ich sie ärgern will. Mit meinem Willen zur Besänftigung ist es nicht weit her.

Dabei tu ich niemals komplett nichts. Ich liege auf dem Fußboden, strecke die Beine die Wand hoch und denke darüber nach, wie es wäre, eine erfolgreiche Schriftstellerin zu sein. Oder ich drehe mich ununterbrochen auf dem Schreibtischstuhl im Kreis, bohre in der Nase und stelle mir vor, im Dschungel von Ecuador das Leben der kleinen grünen Winzmakuken zu erforschen. Nicht dass es die kleinen grünen Winzmakuken gäbe, aber es wäre doch ziemlich klasse, wenn ich es wäre, die sie entdeckt. Ich versetze mein Bett in rhythmische Schwingungen, während ich davon träume, eine berühmte und atemberaubend schöne Sängerin zu sein, die sich aus all den Jungs, die ihr hinterherlaufen, in aller Gelassenheit den süßesten und witzigsten aussuchen kann. Ist das nichts?

Ich glaube, meine Mutter hält Nichtstun für einen gefährlichen Zustand. Eine Krankheit, die es zu verhindern gilt, ein unberechenbares Virus, das sich ausbreiten wird, wenn es nicht im Anfangsstadium ausgemerzt wird. Gegen das Nichtstun hat sie sich eine Strategie namens ‚Der Tagesplan‘ ausgedacht. Immer wenn ich bei ihr bin, soll ich einen Plan schreiben, in dem ich jede einzelne Minute des Tages mit einer Aktivität versehe. Ich betrete ihre Wohnung, setze mich an den Computer von Gerold und bin schon wütend.

16.30 Uhr bis 16.50 Uhr: Tagesplan, schreibe ich und dann fällt mir nichts mehr ein. Also strenge ich mich unbändig an, tippe irgendwelches Zeugs und hoffe auf ihre Gnade. Ich bin Optimistin.

„Was soll das sein: 13.45 Uhr bis 14.20 Uhr verdauen?“, fragt sie.

„Ich muss mich nach dem Essen ausruhen, das ist gut für den Organismus“, antworte ich.

„Wo steht das?“ Wenn etwas irgendwo niedergeschrieben steht, kann es nicht ganz falsch sein, glaubt sie.

„In meinem Biologiebuch“, lüge ich.

„Lüg mich bitte nicht an, Junika Berkel“, sagt sie.

Wenn sie mich mit vollem Namen anspricht, macht mich das jedes Mal fertig. Ich heiße Juni, wie der Monat. Und der Rest der Welt nennt mich auch so. Nur sie muss anscheinend immer wieder darauf herumreiten, dass sie und Papa geschieden sind und sie anders heißt als ich. Sie heißt übrigens wirklich Anders. Angelika Anders, was für ein Witz!

Ich mag meinen Namen. Juni, das klingt nach Sommer und Ferien und heißen Sonnentagen am See mit Kaya.

Ach, Kaya. Wenn ich an sie denke, rutscht mir das Herz in die Kniekehlen. Kaya ist meine beste Freundin. Letzte Woche ist sie nach Süddeutschland umgezogen.

„Nächster Halt: Sundgauer Straße.“

Ich schrecke hoch. So ein blöder Mist, jetzt habe ich den Ausstieg verpasst und bin eine Station zu weit gefahren. Ich spurte zur Tür und springe auf den Bahnsteig. Die Bahn in die Gegenrichtung fährt gerade aus dem Bahnhof. Das heißt, dass ich die ganze Strecke bis in die Berlepschstraße zu Fuß zurücklegen muss. Das heißt, dass ich mindestens zehn Minuten zu spät komme. Das heißt, dass meine Mutter sich aufregen wird. Sie wird mich wieder Junika Berkel nennen, und die beiden senkrechten Linien zwischen ihren Augenbrauen werden ungefähr so tief wie der Marianengraben sein.

Während ich zur Treppe laufe, fährt die S-Bahn, mit der ich angekommen bin, langsam an mir vorüber. Es ist seltsam, aber mein Blick wird wie von einem Magneten in das Innere des Waggons gezogen, und da sehe ich ihn: den Jungen aus dem Politikprojekt von Tina Wigand. Er steht innen an der Waggontür und schaut mich an. Ich erkenne ihn sofort, obwohl ich ihn nur einen halben Vormittag lang gesehen und kein Wort mit ihm gesprochen habe, und er erkennt mich auch. Ich sehe, wie er erschrickt und hastig sein Gesicht abwendet – und da ist die Bahn auch schon weg. Komisch, denke ich, während ich die Treppe hinunterrenne und mich durch die Menschenmassen auf dem Bürgersteig schlängle, das ist jetzt echt seltsam, dass er sich wegdreht und mich nicht kennen will. Irgendwie bin ich enttäuscht.

Tina Wigand, die obligatorische Klassenbeste, hatte sich ein ganz besonderes Thema für den Politikunterricht ausgedacht, ein wahnsinnig ambitioniertes, zeitaufwändiges, einzigartiges Projekt: Sie hat einen jungen Flüchtling aus irgendeinem bettelarmen afrikanischen Land aufgetrieben und ihn aus einem Wohnheim in Steglitz in unsere Klasse eingeladen, hat einen Übersetzer organisiert und ein dreißigseitiges Dossier über dieses Land verfasst, das niemand gelesen hat. Ich jedenfalls nicht, und ehrlich gesagt hab ich auch vergessen, um welches Land es ging. Von dieser ganzen Flüchtlingskrise wollte doch sowieso keiner mehr was hören.

Aber dann stand da dieser Junge und erzählte von seiner Flucht. Er ist durch mehrere Länder gereist, zu Fuß und auf Lastwagen durch die Wüste, und hat das Mittelmeer auf einem dieser klapprigen Boote überquert, die viel zu oft untergehen. Sein Boot hat es geschafft und trotzdem sind einige Leute gestorben, weil sie krank waren oder über Bord gingen, ich weiß es nicht mehr genau. Ich habe das alles in dem Moment, in dem es mein Gehirn erreicht hat, verdrängt, weil es so schrecklich war. Seinen Namen hab ich mir gemerkt. Er heißt Sahal. Ich weiß noch, dass ich die ganze Zeit dachte, dass er bestimmt dauernd friert, denn draußen auf dem Schulhof lag Schnee, es muss kurz nach den Weihnachtsferien gewesen sein.

Ich weiß nicht, wer von uns beiden damit angefangen hat, aber wir sahen uns da im Klassenzimmer immer wieder an. Sogar während er redete (in einer ziemlich komischen, singenden Sprache), sah er mich an und ich ihn, und irgendwann sahen alle mich an, weil sie seinem Blick folgten, und ich habe es erst gemerkt, als mir Kaya (ach, Kaya!) einen Stoß mit dem Ellenbogen versetzte.

„Was ist mit dem?“, flüsterte sie, während Sahal, als fühle er sich ertappt, den Kopf abwandte und den Rest seiner Geschichte der Wand erzählte. Ich guckte Kaya an und hob ratlos die Schultern.

Bis heute kann ich nicht sagen, was das war, warum wir uns so ansehen mussten. Ich wurde von seinem Blick angezogen wie von einem Vakuum, wie von einem gigantischen schwarzen Loch im Universum. Ich spüre jetzt den Nachhall der ungeheuren Neugierde, die mich damals erfasst hatte. Ich wollte so dringend wissen, was in diesem schwarzen Loch zu finden ist und wohin es führt – und dann war die Stunde um und ich habe Sahal einfach vergessen. Bis eben gerade habe ich tatsächlich nie mehr an ihn gedacht, ich habe diesen ernsten, verletzten, frierenden Jungen mitsamt seiner unerhörten Geschichte einfach aus meinem Gedächtnis verbannt.

Ich reiße mich aus meinen Gedanken. Ich muss mich jetzt beeilen, mehr als zehn Minuten Zuspätkommen könnte tödlich werden … und dann laufe ich zehn Minuten am Stück. Eigentlich ist es ein kühler Frühsommertag, aber jetzt gerate ich ins Schwitzen. In neun von zehn Fällen muss ich rennen, wenn ich meine Mutter besuche, weil ich aus unerfindlichen Gründen immer zu spät dran bin. Sie ist fest davon überzeugt, dass mein Vater nicht imstande ist, mir Ordnung und klare Regeln beizubringen. Leider bestätige ich sie viel zu oft in ihrem Glauben. Dabei kommt meine permanente Schlamperei ganz bestimmt nicht davon, dass ich jetzt bei meinem Vater lebe und nicht mehr bei ihr. Es ist einfach angeboren. Und unheilbar.

So wie mein Bruder Alexander von Geburt an ein Genie ist, bin ich halt eine genetisch bedingte Chaotin.

„Er ist dein Halbbruder“, sagt meine Mutter über Alex, aber was soll das sein, ein Halbbruder? Welche Hälfte ist meine? Die mit dem großen Kopf, auf dem ein paar blonde Härchen in die Höhe ragen und eine viel zu große Brille den armen Jungen aussehen lassen wie einen Idioten (was er nicht ist)? Oder gehört die Hälfte mit den dürren Beinchen zu mir, die wirken, als würden sie jeden Augenblick einknicken wie Streichhölzer, und mit denen er nie in seinem ganzen Leben auch nur einen Ball kicken wird, weil die Muskeln, die man dafür benötigt, völlig unterentwickelt sind? Ich mag beide Hälften. Und ich bin mir sicher, er mag auch meine sämtlichen Hälften, er freut sich wie Bolle, wenn ich freitags komme.

Als ich in die Berlepschstraße einbiege, bin ich ziemlich aus der Puste. Wenn ich so fix und fertig und dann auch noch zu spät bei ihr auftauche, will meine Mutter sicher ganz genau wissen, weshalb ich den Ausstieg verpasst habe. Es könnte ja sein, dass ich ein Körnchen Zucker gegessen habe und dadurch unausweichlich die sofortige Aufweichung meines Gehirns eingesetzt hat.

Vor dem großen Schaufenster des Autohändlers bleibe ich kurz stehen und begutachte mein Spiegelbild. Ich bin knapp fünfzehn und für mein Alter ganz schön groß. Meine dunkelbraunen Haare sind zerzaust und mein orangefarbener Pulli völlig verrutscht. Ich fahre mit allen zehn Fingern durch mein Haar und versuche, so etwas wie eine Frisur zu zaubern. Dann glätte ich meine Kleider, zwinge mir einen ruhigeren Atemrhythmus auf und überquere die Straße.

Eigentlich ist die Gegend hier ganz hübsch. Die Häuser sind höchstens dreistöckig, die Straßen breit und von kräftigen Bäumen gesäumt, und es gibt riesige Hinterhöfe mit hohen Bäumen und kleinen Gärten.

Ich drücke auf die Klingel mit den altmodischen runden Knöpfen aus Kupfer. Aus der Gegensprechanlage höre ich zuerst ein Knacksen und Knattern und dann das dünne Stimmchen von Alex. „Wer ist da, bitte?“

„Ich bin’s, Juni!“

Der Summer ertönt, ich stemme mich mit der Schulter gegen die Tür und hüpfe die Treppe in den dritten Stock hinauf.

Alexander steht im Trainingsanzug und mit strahlend weißen Turnschuhen an den Füßen im Türrahmen und sieht ziemlich unglücklich aus. Aber für mich ist er der Überbringer einer frohen Botschaft.

„Mama ist nicht zu Hause“, sagt er. „Sie ist noch etwa …“, er schaut auf seine Armbanduhr, „… eine Stunde und zehn Minuten unterwegs, um verschiedene Besorgungen zu machen. Du sollst bitte mit mir auf den Spielplatz gehen, ich soll mich an der frischen Luft bewegen.“

Alex ist fünf und geht in die erste Klasse einer Schule für Hochbegabte. Nicht nur, dass ich jedes Mal beim Schach gegen ihn verliere, ich verliere auch bei seinen selbst erfundenen Mathespielen, ich verliere beim Scrabble und natürlich beim Memory. Nur wenn wir Uno spielen, gewinne ich öfter mal gegen ihn. Mein kleiner Bruder muss keinen Tagesplan schreiben, er ist immer mit irgendetwas beschäftigt. Er liest und rechnet und bastelt und spielt ungefähr so gut Klavier wie Beethoven, als der noch hören konnte. Glaubt nicht, dass meine Mutter glücklich und zufrieden wäre, weil sie einen so begabten Sohn hat. Ständig macht sie sich Sorgen darüber, dass er so unsportlich ist. Jedes Mal, wenn ich bei ihnen bin, muss ich mit Alex auf den Spielplatz gehen und mit ihm turnen. Es soll außerdem die Geschwisterbindung stärken, wenn wir zwei alleine etwas unternehmen, sagt sie. Na, wenn sie meint.

„Okay, dann lass uns gleich losgehen!“

Wie es sich gehört, hänge ich meinen Rucksack ordentlich an den Haken im Flur, nehme Alex an die Hand und führe ihn zu dem Spielplatz an der Ecke. Missmutig und mit hängenden Schultern trottet er neben mir her. Er sitzt am liebsten den ganzen Tag an seinem Schreibtisch. Vielleicht hat er ja eine Frischluftallergie.

Wir machen ein paar popelige Klimmzüge an der Stange, ich helfe ihm bei den Aufschwüngen und das war’s dann. Hey, ich mag meinen Bruder. Soll ich ihn mit Sport quälen?

Damit wir wenigstens unsere Sauerstoffration abbekommen, setzen wir uns noch ein bisschen auf die Rücklehne einer Bank und atmen ein paarmal tief durch.

„Ich habe mir einige interessante Gedanken gemacht“, sagt Alex.

Ich muss grinsen. Dieser Satz ist immer die Einleitung für ellenlange Vorträge über Physik. Meistens hat er sich irgendwelche sehr praktischen Erfindungen ausgedacht: einen Materieverdichter, mit dem beispielsweise Schulbücher und Hefte so verkleinert werden können, dass der Schulranzen nicht größer als ein Briefumschlag sein muss. Und in der Schule wird dann alles mit einem Exponator wieder vergrößert. Oder Treibstoff aus Abfall, mit dem Raumschiffe bis zum Ende des Universums herumdüsen können, und außerdem ein Auto, das seine Größe automatisch der Anzahl der Mitfahrer anpasst. Ich bin sicher, er wird all diese Sachen irgendwann tatsächlich erfinden und reich und berühmt werden.

Ich könnte auch reich und berühmt werden. Ich bin gut in Sport und ich habe eine schöne Singstimme, meint mein Vater. Er sagt auch, ich hätte eine Affinität für Sprache. Das stimmt echt, ich mag zum Beispiel so altmodische Wörter wie „duldsam“ oder „saumselig“ oder „Zankapfel“. Vielleicht werde ich Schriftstellerin. Oder Sängerin. Alex wird Physikprofessor, so viel steht fest.

Ich werfe einen Blick auf die Armbanduhr, die an seinem dünnen Ärmchen schlackert.

„Wir müssen nach Hause, Alex. Mama ist bestimmt schon zurück“, sage ich und helfe ihm von der Rücklehne.

Es ist komisch, dass ich immer noch ‚nach Hause‘ sage, denn mein Zuhause ist seit drei Jahren in Caputh bei Potsdam. Als ich beschlossen habe, bei meinem Vater zu wohnen, hat er sofort seine kleine Wohnung in Kreuzberg aufgegeben und sich das Haus in Caputh gekauft. Er dachte wohl, er tut mir damit einen Gefallen, von wegen frischer Luft und Ruhe auf dem Land und gesunder Umgebung und so. Einstein hat in Caputh gewohnt. Das ist der zauselige Typ mit der Relativitätstheorie und der herausgestreckten Zunge.

Zuerst war ich wütend, als ich erfuhr, dass wir umziehen. Aber dann habe ich das charmante kleine Häuschen gesehen und mich sofort verliebt. Es steht auf einer kleinen Anhöhe, nicht weit vom See. Hinterm Haus gibt es einen grandiosen Garten und neuerdings ein gigantisches Gewächshaus. Mein Vater ist Biologe. Genauer gesagt Professor für Agrarbiologie. Wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, verschwindet er meist sofort im Gewächshaus und betüddelt seine Pflanzen. Manchmal übernachtet er sogar darin.

Man könnte jetzt denken, er sei das glatte Gegenteil meiner Mutter. Das ist er nicht. Er ist mindestens genauso ordentlich wie sie. Unseren kleinen Haushalt hat er perfekt organisiert. Er ist schweigsam, penibel und ernst. Leider bin ich diejenige, die aus der Art schlägt. Aber mit meinem Chaos kommt er gut klar.

Früher war er es, den ich besucht habe. Er wirkte immer so verlassen, wenn ich an den Wochenenden zu ihm kam. Wie ein vergessener Teddybär auf einer Parkbank. Als ich dann zwölf geworden bin und selbst entscheiden durfte, bei wem ich lebe, bin ich zu ihm gezogen.

Als ich mit Alex vom Spielplatz zurückkomme, steht meine Mutter in der Küche und räumt sorgfältig ihre Einkäufe in die Schränke.

„Hallo, ihr wart an der Luft, das ist gut. Du musst wohl noch deinen Tagesplan schreiben, Junika“, sagt sie.

Ich sage kein Wort, gehe an den Computer und fange an zu tippen. Dass sie nach drei Jahren immer noch so sauer ist, macht mich echt fertig.

Ich sitze aufrecht, den Rücken an mein weiches Kopfkissen gelehnt, auf meinem Bett in der winzigen Mansarde und blicke durch das Dachfenster. Es ist dunkel geworden, der Himmel ist bedeckt, weder Mond noch Sterne erhellen diese trübe Nacht. Die Mansarde liegt zwei Stockwerke über der Wohnung unter dem Dach und ist für mich das Schönste am Besuch bei meiner Mutter. Als Alex geboren wurde, hat Gerold sie für mich eingerichtet. Ein altes, gemütliches Holzbett, ein großer, mit grünem Samt bezogener Ohrensessel und ein kleiner Schrank sind alles, was hineinpasst. Die Wände hat Gerold in einem ganz hellen Orange gestrichen, ansonsten sind sie komplett kahl und die einzige Beleuchtung ist die Klemmleuchte, die über dem Bett befestigt ist. Ich verabschiede mich immer ganz früh am Abend, um genug Zeit zu haben, hier zu liegen und nachzudenken. Jedes Mal, wenn ich in der Dachkammer bin, habe ich das Gefühl, nicht ganz auf dieser Welt zu sein. Nicht ganz bei meiner Mutter und auch nicht im Häuschen in Caputh, sondern irgendwo dazwischen, irgendwo in einer Welt, die nur mir alleine gehört. Hier lasse ich noch einmal alles an mir vorüberziehen, was in der letzten Woche passiert ist, und immer fühlt es sich so an, als würde ich mein Leben ein bisschen aufräumen und danach mit vielen Dingen besser klarkommen.

Sahal fällt mir ein, und wieder spüre ich die Enttäuschung darüber, dass er mich so offensichtlich nicht mehr kennen wollte. Er hätte ja ein bisschen winken können, nur so kurz mit der Hand. Oder lächeln. Damals, als er da auf seinem Stuhl vor der Klasse saß und Tina ihn vorstellte und der Übersetzer übersetzte, da hat er ein paarmal so schön gelächelt, und dann, während er erzählte, ist dieses Lächeln verschwunden. Es war einfach weg, als wäre es in ein schwarzes Loch gefallen. Wahrscheinlich habe ich ihn gerade deshalb die ganze Zeit auf diese peinliche Art anstarren müssen. Vielleicht hab ich ja nach seinem Lächeln gesucht, nach irgendetwas Frohem in seiner traurigen Geschichte.

Tina hat für ihr grandioses Projekt natürlich eine Eins plus bekommen, und ich war ganz schön neidisch auf ihre Idee mit der Flüchtlingsgeschichte. Ich habe nicht mehr an Sahal gedacht, obwohl er uns alle irgendwie so beeindruckt hat. Ich stelle mir jetzt vor, dass Sahal mich deshalb nicht mehr kennen wollte, weil ich ihn inzwischen komplett vergessen habe. Es ist total unlogisch, ich weiß, denn das kann er ja nicht wissen. Aber mit der Logik habe ich es nicht so.

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Als ich am späten Sonntagnachmittag nach Caputh komme, ist niemand im Haus. Mein Vater ist sicher mit seinem Kollegen im Gewächshaus und bereitet seine große Reise vor. Sie haben nämlich zusammen ein System zum Anbau von Gemüse in wasserarmen Gegenden entwickelt. Mein Vater hat es im Garten ausprobiert, hat eine Überdachung aus durchsichtiger Spezialfolie gebaut, damit die Beete keinen Regen abbekommen, und es funktioniert super. Letzten Sommer haben wir so viele Tomaten geerntet, dass Frau Spicker hundertzwanzig Gläser Ketchup einkochen konnte. Frau Spicker ist unsere Nachbarin. Sie lebt alleine in ihrem schnuckeligen alten Häuschen, kann unglaublich gut kochen, und sie sorgt für mich, wenn mein Vater verreist ist. Bei ihr esse ich jeden Tag zu Mittag, unterhalte mich ein wenig und verschwinde wieder, um meine Hausaufgaben zu machen. Sie lässt mich so ziemlich in Ruhe, was das Beste an ihr überhaupt ist. Keine Ahnung, wie alt sie ist. Sechzig oder achtzig oder so, ich glaube, sie weiß es selbst nicht, weil es ihr egal ist. Wenn ich mal sechzig oder achtzig bin, will ich sein wie sie.

Ich lasse die Eingangstür hinter mir zufallen, werfe meinen Rucksack auf den Stuhl im Flur und schleudere die Schuhe von den Füßen. Filou, unser roter Perserkater, kommt von irgendwoher angeschlichen und schlängelt sich um meine Beine.

Das Telefon klingelt. Ich hebe ab.

„Hi Juni“, sagt Kaya am anderen Ende der Leitung.

„Kaya!“, schreie ich, denn es ist das erste Mal, dass ich von ihr höre, seit sie weggezogen ist. Dass sie weggezogen ist, ist irgendwie immer noch unfassbar. Außer ihr habe ich keine Freunde in Caputh, und ich fühle mich schon nach einer Woche ohne meine beste Freundin ziemlich einsam.

„Wie geht’s? Wie ist deine Schule, wie sind die Leute da unten, VERMISST DU MICH???“

„Ich vermisse dich wahnsinnig. Aber es ist ganz okay hier“, antwortet Kaya, aber sie hört sich nicht wirklich glücklich an. Und dann erzählt sie: dass die Leute alle in so einem komischen Dialekt reden, dass alle unheimlich strebsam und ordentlich sind, dass wir hier mit dem Schulstoff ganz schön hinterherhinken und dass in ihrer Klasse lauter Langweiler sind.

„Ein Mädchen scheint ganz witzig zu sein, mal sehen. Sie wohnt im Nachbardorf.“

„Und die Jungs?“, will ich wissen.

Sie druckst ein wenig herum.

„Los, komm, sag schon: Ist einer dabei?“

„Jaaaaa!“

„Und?“

„Nichts und. Er heißt Lennart und wohnt bei mir um die Ecke. Sieht gut aus, trägt mir immer die Schultasche zum Bus und ist schon fast sechzehn.“

„Kaya!“, schreie ich wieder, denn dieses Mädchen hat einfach immer ein Riesenglück bei Jungs. Na ja, sie sieht eben auch klasse aus: blonde lange Haare, große dunkelblaue Augen und ein süßer Knutschmund. So wie alle Mädchen gerne aussehen würden, mich eingeschlossen. Aber Kaya ist nicht eingebildet, kein bisschen. Sonst wäre sie auch nicht meine beste Freundin.

„Keine Ahnung, was daraus wird“, sagt sie. „Er lebt auch erst ein halbes Jahr hier, eigentlich kommt er aus Dresden, und er findet es genauso öde wie ich. So was schweißt zusammen.“

„Mail mal ein Bild, sobald du eins hast“, sage ich.

„Klar, wenn es sich ergibt. Ich muss jetzt Schluss machen, Juni, muss helfen, den Gartenteich anzulegen. Wir haben hier ’nen riesigen Garten. Ich melde mich per Mail wieder. Du hast immer noch kein Smartphone, oder?“

„Ach, nein. Meine Mutter ist strikt dagegen.“

„Aber du lebst doch bei deinem Vater!“

„Er hat ihr gegenüber immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich jetzt bei ihm lebe. Irgendwie haben alle ein schlechtes Gewissen.“

„Ich verstehe trotzdem nicht, was so schlimm an einem Smartphone sein soll.“

„Ihrer Meinung nach kriegt man direkt Ohrenkrebs davon.“

„So ein Blödsinn. Man kriegt höchstens Fingerkrebs vom Tippen.“

„Nicht witzig.“

„Mach’s gut und vergiss mich nicht!“

„Nie und niemals!“

Ich lege auf und lasse mich auf das Sofa im Wohnzimmer fallen. Filou hopst mir auf den Schoß und fängt augenblicklich an zu schnurren. Ich kraule ihm das Fell und denke an Kaya. Wir waren fast jeden Tag zusammen. Meistens lagen wir auf meinem Bett und haben ausgiebig unseren Lieblingsbeschäftigungen gefrönt: Nichtstun, Quatschen, Kichern. Artikel für die Schülerzeitung schreiben. Sie hatte die besten Ideen und ich konnte am besten schreiben. Sie hat sich die Fragen für die Lehrerinterviews ausgedacht und es geschafft, dass sich die Lehrer mit den unmöglichsten Requisiten fotografieren ließen. Wer außer ihr könnte Herrn Portisch, den langweiligen Chemielehrer, dazu bringen, sich mit zwei Reagenzgläsern auf der Stirn fotografieren zu lassen? Kaya hat das fertiggebracht! Also, auch rein technisch hat sie das hingekriegt, hat die Dinger mit einem Feuerzeug warm gemacht und dann haben die sich so angesaugt. Sah abartig komisch aus!

Mein Vater kommt herein. Seine Hände sind voller Erde und wie immer sieht er ein wenig verwirrt aus. Als ob er mit seinen Gedanken an verschiedenen Orten gleichzeitig wäre. Vielleicht ist er das auch. Meine Mutter mag vielleicht nicht daran glauben, aber er sorgt gut für mich. Wenn er Zeit hat. Allerdings hat er wenig Zeit.

„Hallo, Juni, schön, dass du wieder da bist. Ich soll dich von Ernst grüßen.“

Ernst ist der Kollege, der mit ihm nach Ecuador reisen wird, um das Projekt zu testen.

„Hey, danke, Gruß zurück!“

„Schau mal in die Küche. Frau Spicker hat dir gefüllte Pfannkuchen gebracht. Die isst du doch so gerne“, sagt er lächelnd und geht sich seine dreckigen Hände abwaschen.

Mein Zimmer in Caputh ist das glatte Gegenteil der Mansarde. Es ist vollgestopft mit Regalen und Schränkchen, in denen Bücher und CDs und meine Steinesammlung und meine Katzenfigürchen und getrocknete Blumen und andere Dinge herumliegen, die mir jetzt gerade nicht einfallen, weil sie sich in Ecken und Winkeln befinden, deren Existenz man in meinem Zimmer nicht vermuten würde, weil wieder andere Dinge davorstehen oder -liegen oder -hängen. Die Wände sind bepflastert mit Postern und Fotos und irgendwelchen Urkunden von Bundesjugendspielen und Vorlesewettbewerben. Niemals, niemals ist aufgeräumt. Auf dem Boden liegen Schmutzwäsche, Schuhe und Hefter mit den Hausaufgaben von gestern, und dazwischen flockt der Staub.

„Es würde mich wirklich interessieren, wie weit die allgemeine Verwahrlosung deines Zimmers noch fortschreiten muss, bevor du anfängst, aufzuräumen und zu saugen“, hat mein Vater vor ungefähr einem Jahr einmal gemeint. Seither hat er nichts mehr dazu gesagt. Ich glaube, er sieht es als eine Art Experiment. Allerdings muss er sich da auf ein langfristiges Projekt einstellen …

Jeden Abend bevor ich ins Bett gehe, werfe ich einen Blick in den Garten. Da ist noch so viel Leben in der Dunkelheit. Fledermäuse sausen durch die Luft, im Gras läuft irgendwelches Kleingetier herum und überall ist ein Rascheln und Knacken. Zwischen den beiden Apfelbäumen kann ich gerade noch meine Hängematte erkennen. In ihr liege ich oft, höre Musik auf meinem MP3-Player und faulenze mit Filou um die Wette. Filou gewinnt immer, denn Filou ist das faulste Wesen auf diesem Planeten. Er ist der Meister aller Klassen im Nichtstun. Meine Mutter würde ihn hassen … Sie hat mir den MP3-Player geschenkt, man höre und staune, mit klassischer Musik drauf. Ich gebe es nicht gerne zu, aber es ist richtig super, was sie da für mich zusammengestellt hat.

„Du könntest mal wieder Opa besuchen“, sagt mein Vater beim Frühstück am nächsten Morgen. „Vielleicht am nächsten Wochenende, bevor du zu Angelika fährst.“

Er schlürft seinen Matetee aus der Tasse mit der schwarzen Katze darauf, die ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe. Sie ist aus echtem Porzellan und stammt aus Opas Trödelladen.

„Du warst lange nicht bei ihm“, sagt mein Vater und nimmt noch einen Schluck Tee.

„Du auch nicht“, erwidere ich.

Mein Vater nickt. „Hast recht, Juni. Vor Ecuador wird das aber nichts mehr werden. Grüß ihn von mir.“

Für meinen Opa ist Kreuzberg der schönste Ort der Welt. Er würde nie dort weggehen, außerdem liebt er seinen Trödelladen viel zu sehr. Mein Opa ist genauso ein Chaot wie ich. Womöglich habe ich das von ihm.

„Kann ich machen“, sage ich. Ich bin gerne in diesem Kiez, wo auch Papa früher gewohnt hat, bevor wir zusammen nach Caputh gezogen sind. Ich streune noch immer gerne dort herum und schaue, ob ich noch jemanden kenne. Kreuzberg ist wie ein Stück Zuhause in meinem Herzen.

„Und du solltest allmählich deine Sachen für die Ferienwochen bei deiner Mutter packen.“

„Erinnere mich doch bitte nicht daran“, stöhne ich. „Müssen es denn unbedingt die ganzen vier Wochen sein? Kann ich nicht einfach nur zwei Wochen dortbleiben und den Rest hier?“

„Angelika wird das nicht wollen. Und ich möchte dich auch nicht alleine hierlassen. Frau Spicker ist ja nicht da, sie wird bei ihrer Tochter an der Nordsee sein.“

„Warum nimmst du mich nicht einfach mit nach Ecuador?“, quengle ich wie ein kleines Kind.

„Ich bin da sehr beschäftigt. Das Projekt erfordert meine ganze Aufmerksamkeit. Wir werden in den abgelegensten Gebirgsregionen arbeiten und teilweise nicht einmal Funkkontakt halten können. Es wäre nicht nur langweilig für dich, sondern auch zu gefährlich.“

„Ich glaube nicht, dass es langweilig wäre. Und gefährlich macht mir nix.“

„Ich bin mir sicher, dass du dich sehr langweilen würdest. Es gibt dort nicht viel Interessantes für ein verwöhntes junges Mädchen wie dich“, foppt er mich.

„Bei Mama ist es auch langweilig! Sie wird wollen, dass ich mich auf die neue Klasse vorbereite. Ich werde mit Gerold Mathe pauken müssen.“

Mein Vater hebt wortlos die Augenbrauen und schlürft seinen Tee.

„Papa, bitte!“

„Juni, ich glaube, du machst dir falsche Vorstellungen von der Reise. Die Unterkünfte sind sehr einfach, es gibt überall Ungeziefer und du willst ganz bestimmt nicht wissen, welches Fleisch in den Kartoffelsuppen schwimmt.“

„Klar will ich das wissen!“

„Im Hochland werden häufig noch Meerschweinchen verspeist.“

„Meerschweinchen! Wie gemein!“

„Siehste!“

Er greift nach der Zeitung. Das Thema ist für ihn beendet.

Ich finde nicht, dass ich verwöhnt bin, im Gegenteil. Ich hatte immer weniger Spielzeug als andere, ich bin das einzige Mädchen in ganz Deutschland, ach was, in ganz Europa, das kein Smartphone hat, mein Laptop ist uralt und ich kauf mir auch nicht ständig neue Klamotten.

Papa legt die Zeitung zusammen. „Wir müssen los!“, sagt er, und ich stopfe mir das Brötchen mit Schokocreme (Zucker!) in den Mund.

Wir räumen zusammen den Tisch ab, dann packen wir unsere Rucksäcke und schwingen uns auf die Räder. Wir haben kein Auto. Mein Vater fährt mit dem Rad zu seinem Institut in Potsdam und ich habe es zu meiner Schule auch nicht weit.

Noch anderthalb Wochen, dann fangen die Ferien an. Ferien, was für ein schönes Wort!

Mein Opa ist ein schweigsamer Mann. Als ich ihn am Freitagnachmittag in Kreuzberg besuche, kriege ich zuerst nichts weiter als ein unverständliches Gebrummel zu hören. Er ist sauer, dass ich so lange nicht bei ihm war, und ich kann ihn verstehen. Seit Papa von hier weggezogen ist, ist Opa ziemlich einsam, außer seinen Kunden hat er keine engeren Kontakte hier im Kiez. Der Laden ist gleichzeitig seine Wohnung. Im hinteren Teil gibt es eine praktische Küchenzeile und eine winzige Dusche hinter einem Vorhang. Er schläft in einer kleinen Kammer zum Hinterhof in einem sehr alten, riesigen Bett, über das sich ein wunderschön gedrechselter Baldachin wölbt. Als Kind habe ich mich so gerne hineingelegt. Unter den zartrosa Vorhängen fühlt man sich wie eine Prinzessin. Sie duften nach Rosen, ich glaube, Opa besprüht sie mit Parfüm. Mein Vater behauptet, ich sei ihm ähnlich, ich sei genauso eigensinnig wie er. Allerdings leider nicht so schweigsam. Aber wenn ich bei Opa bin, rede selbst ich nicht viel. Ich sitze ein wenig auf dem verschlissenen Sofa herum und sehe mir alte Fotoalben von fremden Leuten an. Kaum zu glauben, dass es Kunden gibt, die sich ein Buch voller verblasster Schwarz-Weiß-Fotos kaufen, Fotos von dicht aneinandergedrängten, steif lächelnden Menschen unter einem blühenden Kirschbaum, oder solche, die sich an ein todschickes altmodisches Moped lehnen oder eingehakt an einem halb verfallenen Haus stehen. Aber es muss sie wohl geben, sonst würde mein Opa solche Alben ja nicht aufkaufen und anbieten. Sein Laden läuft ganz gut, seit so viele Touristen im Kiez unterwegs sind.

Heute helfe ich ihm, kaputte Tassen aus den übervollen Regalen auszusortieren, und darf mir aus einer Schmuckschatulle eine Kette mit dunkelroten Granatperlen aussuchen. Er legt sie mir um den Hals und betrachtet mich mit einem seltsamen Blick. Wir haben die ganze Zeit kein Wort geredet.

„Was ist?“, frage ich.

„Du siehst aus wie deine Großmutter“, sagt er. „Sie war so eine schöne Frau.“

Auf einmal bin ich ganz verlegen. Ich taste nach der Kette und weiche seinem Blick aus.

„Ich muss jetzt los“, sage ich. Dabei muss ich gar nicht.