Aram Mattioli

Verlorene Welten

Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas
1700–1910

Klett-Cotta

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Karten: Rudolf Hungreder, Leinfelden-Echterdingen

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96325-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10857-6

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»It’s been seven lifetimes since Europeans first arrived on the shores of North America. Our ancestors, of course, had already lived here for many thousands of years. But as early as that very first encounter, extraordinary events began to occur among us. That initial meeting touched off a shock wave that was felt by Indian people right across the continent. And is still felt to this day.«

Tomson Highway(1), Angehöriger der Cree(1)-Nation, 1989

»The cyclone of civilization rolled westward; the forests of untold centuries were swept away; streams dried up; lakes fell back from their ancient bounds; and all our fathers once loved to gaze upon was destroyed, defaced, or marred, except the sun, moon and starry skies above, which the Great Spirit in his wisdom hung beyond their reach.«

Simon Pokagon(1), Potawatomi(1), »The Red Man’s Rebuke«, 1893

Vorwort

Es gibt Themen, die lassen einen ein Leben lang nicht los, ohne dass man genau zu sagen wüsste, weshalb. Ein solcher Gegenstand war und ist für mich die Zerstörung des indianischen Nordamerikas und die damit einhergehende Beinahe-Ausrottung der First Peoples. Wie viele Jungen meiner Generation wuchs ich mit den »Lederstrumpf«- und »Winnetou«-Verfilmungen auf, mit den »Silberpfeil«-Heften und natürlich den amerikanischen Filmwestern, die in den 70er Jahren zu den besten Sendezeiten über den Bildschirm flimmerten. Früh ahnte ich, dass mit diesen Heldenepen etwas nicht stimmen konnte. Obschon es weiße Trapper, Siedler, Cowboys und Kavalleristen waren, die sich in die »Wildnis« aufmachten, sich fremdes Land aneigneten und »feindliche Indianer« in großer Zahl niedermachten, wurden sie stets als die Guten gezeigt. Die durch das Fernsehen weltweit verbreitete Nachricht, dass militante Anhänger des American Indian Movement den symbolträchtigen Weiler Wounded Knee in South Dakota besetzt hätten, erschütterte im Februar 1973 meine von Comics, Filmen und Büchern genährte Fantasiewelt. Über Wochen lieferten sich Oglala(1) Lakota und ihre Sympathisanten in Pine Ridge Scharmützel mit der schwer bewaffneten Nationalgarde, um auf ihre schwierige Lage im Reservat aufmerksam zu machen. Selbstbewusst engagierten sich die Nachfahren der Besiegten für mehr Selbstbestimmung und nahmen für dieses Ziel den eigenen Tod in Kauf. Dass die untergegangen geglaubten Indianer nach wie vor existierten und sich wieder wehrten, faszinierte mich ungemein.

Als ich einige Zeit später Arthur Penns(1) Spielfilm »Little Big Man« zum ersten Mal sah, ging mir an der fiktiven Figur des Jack Crabb (gespielt von Dustin Hoffman(1)) auf, dass die darin behandelten Ereignisse erst ein paar Generationen zurücklagen und die letzten Zeitzeugen aus dem 19. Jahrhundert noch gar nicht lange tot waren. Wie Hunderttausende andere Menschen in der westlichen Welt las ich bald danach mit Dee Browns(1) Bestseller »Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses« (1972) mein erstes Geschichtsbuch zum Thema. Es öffnete mir die Augen für die Tragödie, die sich zwischen 1860 und 1890 in den Great Plains, aber auch im Südwesten abgespielt hatte. Während meines Studiums an der Universität Basel besuchte ich auch Vorlesungen von Hans R. Guggisberg(1) zur Geschichte der USA und las dessen Standardwerk über die Entstehung und den Aufstieg der atlantischen Modellrepublik, in dem die »Indianerkriege« am Rande behandelt werden. Bis ich selber zum Thema zu forschen begann, sollte noch einige Zeit verstreichen, ungeachtet dessen, dass ich der Geschichte von Massengewalt, Rassismus und Siedlungskolonialismus in meiner eigenen Lehrtätigkeit von Beginn weg einen bedeutenden Platz einräumte. Aus dieser Schwerpunktsetzung ging mein 2005 erschienenes Buch über Benito Mussolinis Expansionsprojekt in Ostafrika (1935-1941) hervor, das mich an meine aktuellen Forschungsinteressen heranführte. Jedenfalls hat sich mein Interesse für die Besiegten der Geschichte, die, obwohl sie sich als Subjekte entschieden dagegen wehrten, von der heraufziehenden modernen Welt zermalmt wurden, über die Jahrzehnte nicht verändert, auch wenn die geografischen Schauplätze sich änderten.

Gewidmet ist das Buch dem Andenken von Lucy Pretty Eagle(1), die eigentlich Take the Tail hieß. Zwei Jahre vor der Schlacht von Greasy Grass (Little Bighorn) geboren, nahmen Regierungsbeamte das Lakota-Mädchen(1) im November 1883 ihren in der Rosebud-Reservation lebenden Eltern weg, um sie in die weit entfernte Carlisle Indian Industrial School nach Pennsylvania zu verfrachten. Wie Tausende andere indianische Kinder seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch sollte sie »amerikanisiert« und radikal umerzogen werden. Nach der Ankunft im Internat ging es Take the Tail, die gesundheitlich schon angeschlagen war, bald so schlecht, dass sie bereits am 9. März 1884 an einer Krankheit starb. Take the Tail war das 32. von insgesamt 190 indianischen Kindern, die zwischen 1879 und 1905 auf dem Schulfriedhof dieses Modellinternats zur letzten Ruhe gebettet wurden. Sie wurde gerade einmal zehn Jahre alt.1

Aram Mattioli, 12. Juni 2016

1.

Einleitende Bemerkungen

»Wo sind heute die Pequot(1)? Wo sind die Narragansett(1), die Mohawk(1), die Pokanoket(1), und viele andere einst mächtige Stämme unserer Rasse? Die Habgier und Unterdrückung des weißen Mannes haben sie dahinschwinden lassen wie Schnee an der Sommersonne.«1

Tecumseh,(1) 1811

Die beinahe vollständige Ausrottung der First Peoples gehört zu den zentralen Vorgängen der nordamerikanischen Geschichte. Zusammen mit dem Kollaps der indianischen Kulturen in Mittel- und Südamerika zählt sie zu den großen Menschheitskatastrophen vor dem 20. Jahrhundert.2 Das Ausmaß der Zerstörung lässt sich kaum in Worte fassen und auch durch nackte Zahlen nur andeuten: Während im riesigen Gebiet nördlich des Rio Grande 1492 schätzungsweise fünf bis zehn Millionen Native Americans lebten, waren 1900 bloß noch 237 000 Menschen indianischer Herkunft auf US-amerikanischem Territorium übrig.3 Seit der spanische Konquistador Juan Ponce de León(1) 1513 die Halbinsel Florida entdeckte und dort als erster Europäer seit den Wikingern nordamerikanischen Boden betrat, ging eine unbekannte, niemals mehr exakt ermittelbare Zahl von nordamerikanischen Indianern an Krankheiten, Hunger, Versklavung und staatlicher Vernachlässigung, aber auch in Kriegen, Massakern, Umsiedlungsaktionen, Kopfgeldjagden und an systematischer Kulturzerstörung zugrunde. Bald nach den Erstkontakten mit den Europäern verschwanden schon etliche indianische Völker vom Antlitz der Erde, während die anderen, die den Zusammenprall mit den Newcomern überlebten, teilweise bis in die Gegenwart von den Schockwellen der euroamerikanischen Kolonisierung gezeichnet sind.4

Die in ihrer wahren Dimension bis heute unverstandene Katastrophe wirft beunruhigende Fragen an das »normative Projekt des Westens« (Heinrich August Winkler(1)) auf; sie stellt die noch immer weitverbreitete Ansicht in Frage, die euroamerikanische Inbesitznahme des Kontinents sei für alle dort lebenden Menschen gleichermaßen eine Fortschrittsverheißung gewesen.5 Heute wird immer deutlicher, dass die ebenso rasante wie radikale Umgestaltung der Welt nach 1780 mit der Verdrängung, Unterwerfung und Dezimierung der indigenen Völker einherging. Jedenfalls lösten der Siegeszug der Moderne und die immer stärkere wirtschaftliche Integration der Welt Verdrängungsprozesse von beispielloser Dynamik aus. Im langen 19. Jahrhundert verringerten diese die einstige Vielfalt menschlicher Kulturen und bewirkten einen »Beinahetod des Ureinwohners« (Christopher Bayly(1)). Durch das Abholzen der Wälder, den Abbau von Rohstoffen und das Umpflügen von früheren Graslandschaften veränderten sie überdies die Ökosysteme der außereuropäischen Räume tiefgreifend.6 Die »globale Offensive gegen tribale Lebensformen«7 lässt sich an der Zerstörung des indianischen Nordamerikas aufzeigen. Dafür ist jedoch eine andere Perspektive auf die Geschichte der USA notwendig als die, welche dies- und jenseits des Atlantiks lange Zeit vorherrschte und unser Bild teilweise bis heute prägt.

Bis in die 1960er Jahre hinein schrieben die allermeisten Historiker die US-Geschichte so, als hätten die First Peoples nie existiert, oder sie verkleinerten ihre historische Bedeutung derart, dass sie in ihren Darstellungen bestenfalls als Statisten erschienen.8 Freilich war die Unsichtbarkeit der Native Americans in den Geschichtsdarstellungen das »Nebenprodukt ihrer militärischen Niederlage und ökonomischen Enteignung«9. Im dominierenden Narrativ wurde die nationale Geschichte der USA als einzigartige Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte geschrieben, in der das aufklärerische Freiheitsprinzip frühe Triumphe gefeiert habe und englischstämmige Pioniere die »Wildnis« durch ihrer Hände Arbeit in einen blühenden Garten verwandelt hätten.10 Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts behauptete der Historiker George Bancroft(1), dass der Kontinent, bevor die Euroamerikaner ihn in Besitz nahmen, eine einzige »unproduktive Wüste« gewesen sei, lediglich von ein paar »versprengten Stämmen von kraftlosen Barbaren« bewohnt, welche weder Handel gekannt noch ein bedeutendes Bauwerk errichtet hätten.11

Ohne Respekt für die indigenen Vorbesitzer des Kontinents argumentierte auch Frederick Jackson Turner(1), als er 1893 anlässlich der Weltausstellung von Chicago zum ersten Mal seine Frontier-These vortrug. Wie viele Historiker nach ihm sah Turner die bisherige Geschichte der USA entscheidend durch die dauernde Westexpansion geprägt. »Die Existenz eines Areals freien Landes, sein kontinuierlicher Rückgang, und das Vordringen der amerikanischen Siedlungen westwärts, erklärt die amerikanische Entwicklung«12, lautete die Schlüsselaussage in seinem berühmten Vortrag. An der Frontier hätten »Pioniersiedler« die typisch amerikanischen Eigenschaften (wie Individualismus, Egalitarismus, Freiheitsliebe) ausgebildet und eine frühe Nachbarschaftsdemokratie erprobt, die als Labor des gesamten politischen Systems verstanden werden müsse. Und mehr noch: Im Grenzland seien die Siedler erst zu Amerikanern geworden und hier und nirgendwo sonst liege der Ursprung wichtiger nationaler Traditionen. In der Frontier-These blieben die First Peoples und ihre »primitiven Gesellschaften« gesichtslos und waren überhaupt nur als Kontrast zu »Zivilisation« und »Fortschritt« von Interesse. Tatsächlich sah Turner in ihnen nie mehr als einen Teil einer ungebändigten »Wildnis«; sie hätten eine »allgemeine Gefahr« für die Frontiersiedlungen dargestellt und eine »gemeinsame Aktion« verlangt. Auf diese Weise sei die Frontier auch zu einer »militärischen Trainingsschule« für die junge Nation geworden.13

Mit einem Wort: Amerikanische Geschichte handelte bis um 1970 vorzugsweise davon, wie aus Untertanen Seiner Majestät, des Königs von England, mit Gottes Hilfe tatendurstige »Pionierfarmer« wurden, die wagemutig in die Weiten des Westens vordrangen, diesen besiedelten und dem Land durch ihrer Hände Arbeit zu beispiellosem Wohlstand verhalfen. Der Untergang der indianischen »Steinzeitkulturen« erschien in dieser Meistererzählung als ein letztlich unvermeidbares, ja als notwendiges Kapitel in der Geschichte Nordamerikas.14 Denn diese seien einer Nutzbarmachung der riesigen Landmasse bloß im Wege gestanden.

Allzu lange sahen die meisten Amerikaner über die düsteren Seiten ihres durch kontinuierliche Westexpansion entstandenen Nationalstaats hinweg. »Die Erzählung von der wundersamen Gründung der USA«, hat Manfred Henningsen(1) unlängst festgestellt, kam ganz ohne »Hinweise auf die Ökonomie der Gewalt« aus, die nicht aus der neueren Geschichte Amerikas wegzudenken ist.15 Sie blendete aus, dass die Geschichte der US-Indianerpolitik eine hässliche Angelegenheit war, »markiert durch Tod, zwangsweise Umsiedlung, rassistische Bigotterie und kulturellen Genozid«16. Denn von Beginn an vollzog sich das amerikanische Empire Building keineswegs in einem menschenleeren Land. Das amerikanische Landimperium verdankte sich vielmehr einer erfolgreichen Invasion und war das Ergebnis einer Wiederbesiedlung des Kontinents.17 Neuere Untersuchungen gelangen zu der bitteren Erkenntnis, dass die US-Gesellschaft auf den Gräbern von Hunderttausenden von Indianerinnen und Indianern errichtet wurde.

Als 1763 der Siebenjährige Krieg zu Ende ging, war Nordamerika noch weitgehend indianisches Land.18 Von den Küstenkolonien am Atlantik, den Landstrichen entlang des Sankt Lorenz-Stroms und einer Handvoll kleiner Siedlungen an den Großen Seen sowie am Golf von Mexiko abgesehen, war die euroamerikanische Präsenz auf der riesigen Landmasse zwischen Appalachen und Pazifik überschaubar. Unzählige indianische Gesellschaften teilten sich in den Besitz des weiträumigen Kontinents und nutzten den amerikanischen Westen für ihr Überleben, trotz des an seinen Rändern schon spürbaren Siedlungsdrucks. Viele Indianer hatten bislang nie einen »weißen Mann« zu Gesicht bekommen.19 Kaum 150 Jahre später hatte sich das Bild vollends gewandelt. Der Vorabend des Ersten Weltkriegs fiel mit dem absoluten Tiefpunkt der indianischen Geschichte in Nordamerika zusammen. Militärisch in die Knie gezwungen und in Reservate gepfercht, enteignet und einer forcierten Kampagne der Zwangsassimilation ausgesetzt, schien es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die unter US-Herrschaft stark dezimierten Indianer aussterben würden. Diese katastrophale Entwicklung reichte bis in die Anfänge der Kolonisierung im 16. Jahrhundert zurück. Doch erhielt sie 1783 mit der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika eine neue Qualität.

Mit der Unabhängigkeit der USA begann für die nordamerikanischen Indianer eine gänzlich neue Ära, die weit mehr als durch einen bloßen Herrschaftswechsel von König Georg III.(1) zu Präsident George Washington(1) markiert war. Denn innerhalb von nur einem Jahrhundert bewirkte die Durchsetzung des amerikanischen Gesellschaftsmodells eine tiefgreifende Transformation Nordamerikas, so dass um 1880 kaum mehr etwas an die Welt des späten 18. Jahrhunderts erinnerte. »Die neue Nation, die in einer blutigen Revolution geboren wurde und sich zur Expansion verpflichtete«, hat Colin G. Calloway(1) hervorgehoben, »konnte Amerika nicht als indianisches Land tolerieren. In zunehmendem Maße sahen die Amerikaner die Zukunft als eine ohne Indianer.«20 Bezeichnenderweise verlief der demografische, kulturelle und militärische Niedergang des indianischen Nordamerikas parallel zum Aufstieg und der Entfaltung des amerikanischen Imperiums, das – als demokratische Republik organisiert – diesseits und jenseits des Atlantiks lange Zeit bloß als ein »aufgeklärt-liberales Utopia«21 Beachtung fand. Wer genau hinsieht, wird erkennen: Die aufklärerische Modellrepublik betrat die Weltbühne immer auch als »expansiver Staat mit imperialen Ambitionen«22, der gegenüber den First Peoples als verdrängende wie unterwerfende Kolonialmacht auftrat.23

Ohne dass dafür ein von Beginn an bis in alle Einzelheiten festgelegter Masterplan existierte, verleibte sich die »imperiale Großrepublik« (Hans-Ulrich Wehler(1)) nacheinander ehemals britische, französische, spanische, mexikanische und russische Gebiete ein – teils durch Kauf, vertragliche Abtretungen oder betrügerische Machenschaften, teils durch kriegerische Eroberung und Annexion.24 In all diesen Territorien traten die Euroamerikaner mit den dort siedelnden First Peoples in einen Verdrängungswettbewerb ein. Über kurz oder lang eigneten sie sich deren Land an, so dass diesen schließlich vom einstigen Alleinbesitz des Kontinents nur mehr 2,3 Prozent der Landfläche verblieben.25 Das amerikanische Empire Building war nie eine Frage von Diplomatie, militärischer Machtentfaltung und territorialer Besitzergreifung allein. Schließlich erprobten die Vereinigten Staaten – im globalen Maßstab gesehen – nichts weniger als ein neues Gesellschaftsmodell, in dem Grund und Boden zu einem gleicherweise begehrten wie handelbaren Gut wurde.26 Besonders die Erwartung, rasch eigenes Land erwerben zu können, war der Magnet, der viele Hunderttausende aus Europa anzog.27 Jenseits des Atlantiks hofften diese Menschen zu finden, was ihnen in ihren Ursprungsländern allzu oft versagt blieb. Erstmals in der Neuzeit gab es in Nordamerika für jene, die den Mut zu einem radikalen Neuanfang aufbrachten, fruchtbares Land in Hülle und Fülle. Seit dem späten 18. Jahrhundert entfaltete sich hier in historisch einzigartiger Weise eine kapitalistische Eigentümergesellschaft, deren Ziel die »transkontinentale Privatisierung des Bodens« (Karl Schlögel(1)) war. Nie zuvor verwandelten sich die Mitglieder einer Gesellschaft so rasch und in so großer Zahl zu Eigentümern von Land, auf dem seit vielen Jahrhunderten andere Menschen gelebt hatten.28 Der amerikanische Landrausch aber wurde erst durch eine Enteignung größten Stils möglich.

Während des langen 19. Jahrhunderts gerieten die American Indians unter eine besondere Form von kolonialer Dominanz, die sich als Siedlerkolonialismus beschreiben lässt.29 In der ersten Zeit ihrer Existenz entfalteten sich die USA als agrarische Siedlergesellschaft, die das, was sie in ihrer Ausdehnung über den Kontinent antraf, zerstörte, um auf den Ruinen eine neue nationale Gesellschaft zu erbauen.30 Zusammen mit der britischen Landnahme in Australien handelte es sich dabei um das erfolgreichste und gewalttätigste Exempel von Siedlerkolonialismus in der Weltgeschichte überhaupt.31 Bis heute tut sich die große Mehrheit der US-Bürger schwer mit der Vorstellung, dass sich der von ihnen lange verklärte »Winning of the West« (Theodore Roosevelt(1)) in imperialen und kolonialen Kategorien beschreiben lässt.32 Denn diese Interpretation passt schlecht zum traditionellen Selbstbild der US-Gesellschaft, die sich als erste selbstbefreite Kolonie der Welt sieht, die sich nur »freies Land« angeeignet habe.

Doch inzwischen vertritt eine Reihe von angesehenen Historikern die Ansicht, dass die USA in ihren von Gouverneuren regierten Territorien eine koloniale Fremdherrschaft über die First Peoples errichteten und ihnen gegenüber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als kolonisierende Macht auftraten.33 Wie für Siedlerkolonien charakteristisch entschied in diesen Gebieten immer mehr eine landfremde Elite darüber, wie die Native Americans ihr Leben einzurichten hatten, damit sie einen Platz an den Rändern der neu entstehenden Gesellschaft finden konnten.34 Immer stärker fremdbestimmt verloren die indigenen Gemeinschaften im Zuge ihrer kolonialen Unterwerfung weit mehr als ihre angestammten Lebensräume, büßten sie doch neben ihrer politischen Autonomie auch ihre wirtschaftliche Überlebensfähigkeit und ihre kulturelle Selbstbestimmung ein. Die koloniale Fremdbestimmung gipfelte im späten 19. Jahrhundert in dem Sozialexperiment, die nunmehr in Reservaten konzentrierten Indianer so vollständig ihrer traditionellen Kultur zu entfremden, bis sie schließlich im Mainstream der US-Gesellschaft auf- und damit untergingen. Freilich war diese Politik der nationalen Binnenhomogenisierung nie ein nur auf die Vereinigten Staaten beschränktes Phänomen. Seit 1880 setzten auch andere westliche Nationalgesellschaften ethnische Minderheiten und soziale Randgruppen einem verstärkten Assimilationszwang aus.35

Die zentrale Herausforderung an jedes Buch zu dieser Thematik stellt die Deutung der demografischen Katastrophe dar, welche die First Peoples ereilte, nachdem sie während des 16. Jahrhunderts in Kontakt mit den euroamerikanischen Einwanderern gekommen waren. Durch eine nicht abreißende Folge von Epidemien und Kriegen brach die Zahl der Native Americans in den ersten 200 Jahren des Kontakts massiv ein. Der demografische Rückgang setzte sich im 18. und 19. Jahrhundert fort. Allein für die Zeit zwischen 1700 und 1910 muss von mindestens 1,3 Millionen weiteren Indianern ausgegangen werden, die den Folgen des unfreiwilligen Kulturkontakts erlagen.36 Bis heute ist die Debatte darüber, auf welche Ursachen und Umstände dieser hohe Blutzoll zurückzuführen ist, keineswegs abgeschlossen. In der Forschung finden sich dazu drei Positionen. Der erste Interpretationsansatz misst dem Thema eine untergeordnete Bedeutung für die Geschichte der USA im 19. Jahrhundert bei. Beim dramatischen Rückgang der indianischen Gesamtbevölkerung hätte es sich um eine unbeabsichtigte Nebenfolge der Westexpansion gehandelt, keinesfalls aber um eine systematische Politik der Extermination, wie sie etwa das nationalsozialistische Deutschland mit der Vernichtung des europäischen Judentums betrieb. »Letztendlich steht das traurige Schicksal von Amerikas Indianern«, hat der Politologe Guenter Lewy(1) die Kernaussage dieses Ansatzes auf den Punkt gebracht, »nicht für ein Verbrechen, sondern für eine Tragödie, die sich aus einer unversöhnlichen Kollision von Kulturen und Werten ergab.«37

Seit dem 500-Jahr-Jubiläum der Entdeckung Amerikas38 etablierte sich in den wissenschaftlichen Debatten ein zweiter Argumentationstyp. Er geht davon aus, dass die nordamerikanischen Indianer seit dem Beginn der europäischen Expansion Opfer eines gezielten und systematisch betriebenen Völkermords wurden. Der Weg nach Auschwitz, so der Historiker David E. Stannard(1) in seinem Buch »American Holocaust« (1992), führe geradewegs durch das indianische Nord- und Südamerika. Und mehr noch: »Die Vernichtung der Indianer in den Amerikas war der bei weitem massivste Akt von Genozid in der Weltgeschichte.«39 Dieser Interpretationsansatz blieb keine Einzelmeinung eines akademischen Außenseiters. Nur wenig später hielt auch der an der Universität Colorado lehrende Ethnologe Ward Churchill(1) fest: »Der Genozid, der an den indigenen Völkern dieses Kontinents verübt wurde, ist eine Erfahrung, die hinsichtlich seiner Reichweite, Größenordnung und seiner Dauer ohne Beispiel ist.«40 In dieser Deutung erscheint die USA als Siedlerdemokratie, die im 19. Jahrhundert bereits viel von dem praktizierte, was die Eruptionen von Massengewalt im Katastrophenzeitalter zwischen beiden Weltkriegen charakterisierte.41 Eine solche Sicht auf die US-Geschichte wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten zu geben vermag. Überdies ist sie einfach zu widerlegen, wenn Völkermord im Sinne der Genozidkonvention vom 9. Dezember 1948 aufgefasst wird. Denn Kriterien für Völkermord sind dann weder die Opferzahl noch die Tötungsart oder die Dauer der Mordaktionen, sondern allein der belegbare Vorsatz einer Regierung und damit die Planmäßigkeit und Systematik der Durchführung.42 Und genau dieses Kriterium lässt sich selbst für die indianerfeindlichsten Administrationen in Washington nicht nachweisen.

Einen Ausweg zwischen Beschönigung und schwarzer Legende weist der dritte Interpretationsansatz. Er geht davon aus, dass weder die These von der unbeabsichtigten Tragödie noch eine pauschale Völkermordbehauptung vor der historischen Wirklichkeit standzuhalten vermögen. Während der Kontinentalexpansion der USA erlitten die First Peoples unterschiedlichste Formen der Massengewalt. Todesmärsche während Umsiedlungsaktionen, Auslöschung von Winterlagern und Massaker gehörten ebenso dazu wie Kopfgeldjagden, Unterversorgung in Reservaten, Vergewaltigung von Frauen, Kindswegnahmen und zwangsweise Umerziehung in Internaten. So viele Indianer an diesen Gewaltformen auch zugrunde gingen, bewegten sich die meisten von ihnen unterhalb der Schwelle von Völkermord.43 Längst nicht alle tödlich endenden Gewaltakte verübten Organe der Staatsmacht. Weit häufiger als reguläre Militäreinheiten traten sich selbst ermächtigende Siedler und ihre Milizen als Gewaltakteure in Erscheinung, so dass ihre antiindianischen Untaten oft mehr regional als national orchestrierte Phänomene waren. Jedenfalls stellte die physische Ausrottung aller Native Americans zu keinem Zeitpunkt das Ziel der Bundesregierung in Washington dar. Keine Administration verfolgte jemals eine Politik, die darauf zielte, restlos alle Indianer physisch zu vernichten, und keine gab entsprechende Befehle an die Kommandeure der Frontierarmee aus.44 Und doch spielte Gewalt bei der Eroberung des Westens eine unübersehbare Rolle.

Um unzulässige Generalisierungen zu vermeiden, plädieren die Vertreter der dritten Richtung dafür, Fallstudien auf der regionalen Ebene zu erstellen.45 Sie erklären den Kollaps des indianischen Nordamerikas mit einem Ursachengeflecht, für das neben Kriegen und Massakern auch Epidemien, Hunger, Zwangsumsiedlungen, staatliche Vernachlässigung in den Reservaten und die Folgen forcierter Assimilation verantwortlich waren.46 Zunehmende Beachtung schenken sie überdies allen Formen der versuchten kulturellen Auslöschung, in den wissenschaftlichen Diskussionen heute oft »Ethnozid« genannt. Ethnozid meint die vorsätzliche, von Staats wegen betriebene Zerstörung indigener Kulturen, also die systematisch angestrebte Zersetzung von traditionellen Sozialorganisationen, Subsistenzformen, Wertvorstellungen, Sprachen und Religionen, ohne die Indianer physisch auszulöschen. Solche Ideen waren in der politischen Elite schon in der Gründungszeit der USA präsent; doch erst nach 1880 machten sie die US-Administrationen systematisch zum Programm ihrer Indianerpolitik.

Dem dritten Ansatz folgt auch die hier vorliegende Synthese. In ihr wird zu zeigen versucht, dass die US-Indianerpolitik im langen 19. Jahrhundert nicht auf einen alles erklärenden Nenner zu bringen ist. Vielmehr kannte sie unterschiedliche Phasen mit ihren je eigenen Zielsetzungen und Methoden. Bekanntlich war die amerikanische Westexpansion ein 120 Jahre dauernder Prozess, der in Hunderte von Einzelereignissen auf dem Territorium von schließlich 48 Bundesstaaten zerfiel.47 An ihr wirkten zahlreiche staatliche und nichtstaatliche Akteure mit: das offizielle Washington mit seinen wechselnden politischen Mehrheiten, die Bundesstaaten, die US-Armee und die Milizen in den Territorien, das Bureau of Indian Affairs mit seinen regionalen Agenturen, aber auch die Trapper und Siedler an der Frontier, dazu die Missionare der diversen christlichen Denominationen, die Inhaber von Handelsposten und später die Eisenbahngesellschaften. Wenngleich die unterschiedlichen Gruppen der neuen Siedlergesellschaft letztlich dasselbe Ziel verfolgten, zogen sie in der Frage, wie die indigenen Amerikaner am besten Platz zu machen hätten, längst nicht immer am gleichen Strang. Umgekehrt existierte auf dem Territorium, das sich die Vereinigten Staaten aneigneten, nie nur eine einzige indianische Großnation, sondern Hunderte von unterschiedlichen, untereinander oft uneinigen Völkern, die alle ihre eigene Geschichte, Kultur und Interessen besaßen und keineswegs einheitliche Beziehungen zu Washington unterhielten.48 Schon deshalb ist es ratsam, von einer Vielzahl indianischer Erfahrungen unter der US-Kolonialherrschaft auszugehen.

Die hier vorliegende Synthese erhebt keinen Anspruch auf eine lückenlose Darstellung der Ereignisse auf dem riesigen Staatsgebiet der USA. Um Wiederholungen zu vermeiden, setzt sie stattdessen auf die Erklärungskraft von exemplarischen Gebietsstudien, die sich aber dennoch zu einem aussagekräftigen Mosaik fügen sollen.49 Dabei ist sie stets bestrebt, die übergreifenden Entwicklungen im Auge zu behalten und diese, wenn immer dies sinnvoll scheint, globalgeschichtlich einzuordnen. Folgende Schauplätze stehen im Vordergrund: der Nordosten in der ersten Kolonialzeit und den Gründungsjahren der Vereinigten Staaten von Amerika (1700–1809); der Südosten während der Umsiedlungsära (1815–1839); das ursprünglich spanische, dann mexikanische und schließlich amerikanische Kalifornien in den Goldrausch-Jahren (1848–1860) sowie die Konflikte in den Great Plains (1840–1890). Dazu kommt als letzter Themenschwerpunkt die erste Zeit des versuchten Ethnozids (1880–1909). Mit dieser Fokussierung wird ein problemorientierter Gesamtüberblick über die beiden Jahrhunderte zwischen 1700 und 1910 angestrebt, auch wenn zum Beispiel die Geschichte des einstmals spanisch geprägten Südwestens, die des pazifischen Nordwestens oder Alaskas nicht oder lediglich am Rande behandelt werden.

Diese Darstellung baut auf den Einsichten der neueren Forschung auf, die den Blick auf das Nordamerika des 18. und 19. Jahrhunderts entscheidend veränderte, ohne dass davon bislang allzu viel über den Atlantik nach Mitteleuropa drang. Seit Anfang der 1970er Jahre hat sich in den USA, Kanada und England eine überaus lebendige Forschungslandschaft entwickelt, die im Zeichen eines grundlegenden Paradigmenwechsels steht.50 Immer mehr Forscherinnen und Forscher befreiten sich im Zuge dieses Perspektivenwandels von traditionellen, stets auch ideologisch aufgeladenen Narrativen und nahmen die variantenreichen Interaktionen von sehr unterschiedlich gearteten Kulturen in den Blick. (Ethno-)Historiker wie James Axtell(1), James Merrell(1) oder Richard White(1) haben der indianischen Geschichte seither nicht nur zu ihrem eigenen Recht verholfen, sondern auch aufgezeigt, wie begrenzt unser Wissen war, bevor die Geschichte nicht auch von der anderen Seite beleuchtet wurde.51 Ihr Hauptverdienst liegt sicher darin, die Native Americans als eigenständige Akteure der Geschichte sichtbar gemacht zu haben. In der Tat stieß den indigenen Amerikanern die Westexpansion der USA und die daraus hervorgehende Kolonialherrschaft nie einfach nur zu. Wie alle Menschen gestalteten sie ihre Gegenwart unter nicht selbst gewählten Umständen selber mit. Trotz aller erlittenen Gewalt gelang es den Native Americans als selbstständig handelnde Subjekte, das Überleben vieler ihrer Gemeinschaften bis heute zu sichern.52

Anders als frühere Historikergenerationen glauben machten, erschöpft sich die neuzeitliche Geschichte Nordamerikas nicht in der Westwanderung der USA. Tatsächlich muss diese Sicht durch neue Blickrichtungen ergänzt werden, wenn man wichtige Entwicklungen der indianischen Geschichte verstehen will. Colin G. Calloways(2) Meisterwerk »One Vast Winter Count« (2003) zum Beispiel, in dessen Zentrum die Kulturgeschichte des indianischen Nordamerikas von seinen Anfängen bis ins Jahr 1800 steht, blickt nicht so sehr vom Atlantik zum Pazifik. Es steht vielmehr im Zeichen einer innovativen Süd-Nord-Betrachtung. In dieser magistralen Darstellung wird die Bedeutung von aus Mexiko stammenden »Neuerungen« wie dem Maisanbau und dem Pferd betont, aber auch der aus Mittelamerika stammenden Pockenepidemie große Beachtung geschenkt, die zwischen 1775 und 1782 das indianische Nordamerika verheerte und damit den Westen schon während der Amerikanischen Revolution für die spätere Eroberung durch die USA ausdünnte.53

Die indianische Seite ernst zu nehmen, bedeutet, die Geschichte Nordamerikas neu zu denken. Die meisten unserer Vorstellungen über die Indianer, noch immer stark durch Karl May(1) und die Hollywood-Western geprägt, sind wenig hilfreich und erweisen sich als von Grund auf revisionsbedürftig. Streng genommen haben die Indianer zu keinem Zeitpunkt der Geschichte existiert. Denn vergebens wird man nach einer gemeinsamen Sprache und Spiritualität, einer durchgehend gleichbleibenden Sozialorganisation, einer für alle Völker charakteristischen Lebensweise und bis in die Zeit vor 1970 nach einem gemeinsamen panindianischen Bewusstsein suchen.54 »Es gibt keinen Einheitsindianer«, hat es der Lakota-Gelehrte(2) Vine Deloria(1) Jr. 1973 auf den Punkt gebracht. »Denn die einzige gemeinsame Erfahrung war die Invasion ihrer Heimat durch den Mann aus Europa.«55 Nordamerikas indigene Kulturen waren und sind mindestens ebenso verschieden wie jene Europas.56

Heute besteht die Aufgabe darin, die nordamerikanische Geschichte konzeptionell und terminologisch zu dekolonisieren.57 So gilt es, die Native Americans als Subjekte der Geschichte ernst zu nehmen und die »Sicht der Besiegten« (Miguel León-Portilla(1)) möglichst gleichberechtigt in die Betrachtung einzubeziehen. Allerdings ist dies weit leichter gesagt als getan. Denn traditionell kannten Nordamerikas indianische Kulturen keine alphabetische Schrift und basierten auf mündlicher Überlieferung, die ihrer eigenen Logik folgte. Gerade für entfernte Jahrhunderte aber ist die Mündlichkeit für die Forschung noch weit unzuverlässiger, als es das geschriebene Wort ist.58 Außerdem waren bis 1850 die allerwenigsten von Nordamerikas Indianern des Schreibens kundig. Die allermeisten Schriftquellen über sie stammen folglich aus der Feder von kulturell Außenstehenden, zuweilen auch von feindselig gesinnten Fremden, welche die Ereignisse durch eine koloniale Brille lasen.59 Es führt kein Weg an der bitteren Erkenntnis vorbei, dass die Quellenlage zur Zerstörung des indianischen Nordamerikas äußerst lückenhaft ist und es auch in Zukunft bleiben wird, so dass die Geschichte nicht in all ihren Facetten ausgeleuchtet werden kann. Insbesondere diejenigen, welche die nordamerikanische Kolonialgeschichte erlitten, haben bis ins späte 19. Jahrhundert nur ganz ausnahmsweise direkte Zeugnisse hinterlassen. Wer die indianische Seite gleichberechtigt in sein Narrativ integrieren will, stößt deshalb auf fast unüberwindbare Schwierigkeiten.

Es bleibt nur zu versuchen, die vorhandenen Quellen gegen den Strich zu lesen und soweit dies überhaupt möglich ist, mit indianischen Augen sehen zu lernen. Selbst wenn diese Versuche ethnologisch angeleitet sind, wird immer ein schönes Stück von Nicht-verstehen-können bleiben. Schon vor mehr als 80 Jahren machte der Oglala(2) Luther Standing Bear(1) dies an einem eindrücklichen Beispiel deutlich. Luther Standing Bear kannte beide Welten, da er als Kind die letzten Jahre der freien Sioux(1) in den Great Plains erlebte, bevor er 1879 auf eine Internatsschule in Carlisle, Pennsylvania, kam. In seinen Erinnerungen »Land of the Spotted Eagle« (1933) hielt er fest, dass die Lakota(3) ihren angestammten Lebensraum auf den Great Plains nie als »wild« empfunden hätten: »Nur dem weißen Mann erschien die Natur als eine ›Wildnis‹ und nur ihm erschien sie als mit ›wilden‹ Tieren und ›unzivilisierten‹ Völkern bevölkert. Wir erlebten sie als friedlich. Die Erde war freigiebig und wir waren umgeben von den Segnungen des großen Mysteriums. Erst als der haarige Mann aus dem Osten kam und mit brutaler Raserei Ungerechtigkeiten über uns und die Familien brachte, die wir lieben, wurde sie ›wild‹ für uns.«60

Seit den 1980er Jahren gibt es eine nach wie vor unabgeschlossene Debatte darüber, wie die nordamerikanischen Indianer korrekt zu bezeichnen sind. Als Oberbegriff ist »indigene Völker« inzwischen allgemein und auch von der UNO akzeptiert. So verabschiedete die UNO-Generalversammlung am 13. September 2007 eine »Allgemeine Erklärung der Rechte der indigenen Völker«.6162