Über Helga Schütz

Helga Schütz wurde 1937 in Falkenhain/Schlesien geboren. 1944 übersiedelte sie nach Dresden. Sie erlernte den Beruf der Gärtnerin, anschließend studierte sie an der Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg und schloß als Diplom-Dramaturgin ab. Sie schrieb Drehbücher und Szenarien für Spiel- und Dokumentarfilme. Seit 1962 ist sie freie Autorin, 1993 erhielt sie eine Professur für Drehbuchschreiben an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam. Unter anderem gewann sie den Stadtschreiber-Literaturpreis des ZDF und der Stadt Mainz und den Brandenburgischen Literaturpreis. Helga Schütz lebt in Potsdam.

Zuletzt erschienen die Romane Grenze zum gestrigen Tag (2000), Knietief im Paradies (2005) und Sepia (2012).

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Ein poetischer, schwebender, humorvoller Roman

Es war ein Wunder, daß Eli die Dresdener Bombennacht überlebte. Seitdem fühlt sie sich sicher, nicht wahrnehmbar, nicht faßbar. Wie ein perfekter Schatten, unerkannt und unbeachtet, zieht die gestiefelte Gärtnerin ihren Karren durch die Stadt: mit festem Schritt und brennender Seele, im Herzen die große Sehnsucht, nach einem Menschen, für den sie wichtig ist. Eli übt das Unsichtbarsein, denn sie will retten, helfen. Besonders den beiden Männern, die sie auf ihre Weise liebt, heimlich und ungeschickt.

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Helga Schütz

Knietief
im Paradies

Roman

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Impressum

Bis hierher und nicht weiter. Der Großvater hält das Fahrrad. Ich schnappe den Rucksack vom Gepäckträger, die neuen Gummistiefel binde ich los. Sie glänzen wie Lackleder, die will ich anziehen. Wir sind ins Schwitzen gekommen. Sieben Kilometer sind wir gelaufen. Immer bergan, über den Roten Buckel. Man kann die Grenze im Tal nicht sehen. Sie ist ein schmaler Bach. Wir haben nicht geredet unterwegs. Wir haben überhaupt wenig gesagt in den vier Wochen. Jetzt will er wissen, ob ich weiß, wo die Fahrkarte steckt.

Ich sage: Im Rucksack.

Ich bin in meinem Leben schon ein paarmal schwarz von einem zum anderen Großvater über die grüne Grenze gegangen. Immer mit Glück, ohne Zwischenfälle. Vom Sachsen-Anton im Osten zum schlesischen Heinrich im Westen und zurück. Ich bin auf der Rückreise. Die Fahrkarte hat Anton gekauft. Sie gilt ab Dresden bis zur Grenze und von da ab wieder nach Hause.

Das vorige Mal, da hat die schlesische Großmutter noch gelebt, und ich konnte staunen, was man sich nach der Währungsreform binnen kurzer Zeit aus dem Nichts hatte schaffen können. Das Albatros-Fahrrad. Blaugeblümte Meterware für viermal zum Beziehen. Sie lebten nicht mehr wie die Jahre nach der Flucht im Notquartier, sie wohnten nun in einer eigenen Unterkunft, im Birkenbusch, außerhalb des Dorfes, in einer geräumige Hütte, wo vor dem Zusammenbruch Körnerfutter für Hühnerfarmen gelagert worden war. Der schlesische Großvater hatte die Hütte außen mit wetterfesten Hartfaserplatten verklinkert und drinnen die Wände der Wohnküche mit marmorierten Hartfaserplatten gefliest, mit den Marmorresten hatte er eine Toilette gestaltet, den kastenartigen Sitz, den Deckel für das Loch, ringsherum in Augenhöhe: Marmor. Die Buchte hatte im Fundament eine Grube, die von draußen leer geschöpft werden konnte. Eine Einrichtung ohne fließend Wasser, also Plumps – doch man darf sagen: geflieste Innentoilette, denn man mußte nicht mehr wie früher in Schlesien im Regen über einen Hof, man erreichte den lichtgrau gestalteten Abtritt direkt über den Flur. Aus holzfarbenen Hartfaserplatten hatte er Paneele und Schränke geschaffen, in denen die Großmutter schon ihr geschneidertes Winterkleid aus blauem Kattun einmotten konnte. Das wichtigste, Großvater bekam wieder Post, jeden Monat ein Kuvert mit einer gedruckten Mitteilung des Imkervereins, dazu den Immenvater, ein Heft mit Ratgeberseite. Drei drohnenbrütige Völker hatte Bienenhalter Heinrich inzwischen erfolgreich beweiselt. Die Trachtbienen flogen. Ins Kleefeld, in den Raps oder in die Robinien.

Es war an einem Sonntag gewesen, ich weiß es, weil der Großvater nach Naphthalin roch, weil er seine guter Manchesterhose anhatte und weil wir alle drei unsere neuen Strickjacken trugen, maschinell-, aber hausgemacht. Von einer schlesischen Landsmännin, die in der Heimat einmal unsere Nachbarin gewesen, jetzt im Dorf im Lehrerhaus neben der Schule untergekommen war. Sie besaß eine Strickmaschine, in Minuten war damit ein Ärmel, an einem Vormittag eine Jacke mit allem Drum und Dran fertig. Großvaters kaffeebraune, Großmutters dunkelblaue, meine war fliederfarben. So sonntäglich baute sich der Großvater mitten hinein in seine eigene Stube: Das ist für dich, sagte er.

Ein Zehnmarkschein und zwei Fünfmarkstücke. Und bereute im selben Augenblick seine Geberlaune, denn er hatte mir angesehen, daß ich das Kapital schlecht verwalten würde. Kauf dir aber keinen Fingerring, murmelte er, ohne viel Vertrauen in mich zu setzen. Ich schüttelte bloß meinen schamroten Kopf und überlegte, ob ich ihm das Geld gleich wortlos auf dem Küchentisch heimzahlen sollte oder besser später im Leben hundertfach in einem feinsinnig zugeklebten Kuvert. Mir mußte einfallen, wo ich das Geld lassen konnte. Zwei große Fünfmarkstücke und ein Zehnmarkschein. Ich wollte es nicht ausgeben, ich wollte das Geld bis auf weiteres im Wäldchen verstecken.

Die schlesische Großmutter hatte Heinrichs zwischen Geiz und Güte schwankenden Allüren im Griff, die Stricksachen, das Albatros, die Bohnen für den guten Sonntagskaffee, die Butter für den Streuselkuchen, die frisch gesommerten Betten, die geblümten Bezüge. Das Neuste: ein Mietvertrag für ein Schließfach im Großraumkühler, der im Dorf an der Kirchhofmauer gebaut worden war; in besserem Stand als die altansässigen Bauersfrauen, hatte sie darin, schon in gute Sonntagsportionen zurechtgefleischert, eine halbe Sau auf Vorrat. Der Winter kann kommen. So lautete ihr listiger Spruch.

Die meisten Veränderungen nahm sie auf ihre Kappe. Der Großvater hütete im Kasten unter der Matratze ein Postsparbuch und ein paar glatte, frische Scheine ohne Eselsohren, ohne Knick. Er fragte jedesmal am Rentenzahltag den Geldbriefträger nach gutem, neuem Geld. Sie dagegen war froh, wenn der Geldbriefträger gute alte Scheine mitgebracht hatte, denn sie brauchte so einen guten schlappen Zwanziger gleich. Meine schlesische Großmutter stand für Sachwerte ein, die sie sofort aus der Schürzentasche heraus bezahlte. Die Vertreter von Witt Weiden brachten die Ware ins Haus, oder die Großmutter schickte mich hinter Großvaters Rücken mit einem Weckglas und passendem Geld hinunter ins Dorf. Bratheringe in viel saurer Zwiebelsoße, die gab es beim Fischhändler Tepperwin. Wenn die Teller auf dem Tisch standen, die Fische golden, in goldenem Saft, silberner Knoblauchduft, dann war es um ihn geschehen, dann leuchteten Großvater Heinrichs Augen. Stolz auf sein geklinkertes Heim und auf so eine angetraute Frau Unternehmerin wie Berta. Was kost die Welt. Dann hatte er genau den richtigen Appetit.

Die schlesische Berta ist nicht mehr da. Ich bin trotzdem noch einmal gekommen. Schweren Herzens. Vor vier Wochen hat mich Heinrich wie immer am Roten Buckel abgeholt. Ich war wie immer aus dem Osten, letzte Bahnstation Schwiegershausen, schwarz über die grüne Grenze zu ihm herübergewandert. Er hatte schon im Busch gewartet, leider mit einem Dreiangel in seiner Sonntagshose. Ein leeres Holzfuhrwerk hatte ihn mitgenommen bis zur Einschlagstelle im Wald, beim Absitzen ist es passiert. Ein Loch im Hosenarsch. Hätte böser kommen können. Es gibt Schlimmeres. Nicht nur in den sieben Büchern, sondern im Leben.

Dreiangelwiebeln, sogar Kunststopfen, darin war ich ziemlich gut. Das hatte ich in der Schule gelernt. Es war das Beste, was ich machen konnte. Trotzdem hat der Großvater vor der perfekt reparierten Hose geflennt. Das Taschentuch. Die Tränen. Woher und wohin damit. Herrgott, ach Gott, ach Herr Jesus. Donnerschock. Ich bin die langen Wochen mit dem Albatros unterwegs gewesen. Viele Tage auf Tour. Meine letzten Schulferien. Ich will Bratheringe holen. Der Großvater gibt mir zwanzig Pfennige und flennt und flennt, auch ich habe die Augen voll Tränen, unterwegs bis ins Dorf und wieder zurück. Am Tisch mit dem glatten Wachstuch, wo Holländerinnen zwischen Windmühlen tanzen, nagen wir an den Gräten. Essigsauer und Salz. Wenn die Tränen heimlich auf den Teller tropfen. Ich setze mich vor die Haustür auf die Schwelle. Weil sich in der Stube lange nichts rührt, klopfe ich ans Fenster und rufe: Die Bienen schwärmen. Wahrscheinlich ist die neue Königin mit einem Volk fortgeflogen. Ausgekrochen und fort. Die Königin, während du in der Stube gewesen bist. Ich weiß, was ihm die Laune verdirbt. Ich hoffe, ein tüchtiger Ärger, ein altvertrautes Kümmernis, hilft gegen ein schweres Herz.

Schon höre ich ihn fluchen. Biester, verdrehte, garstige. Er glaubt mir, aber in Wahrheit glaubt er mir nicht. Weil ich schon wieder taub, blind und stumm auf der Haustürschwelle sitze, macht er einen Schritt. Steigt über mich drüberweg. Er schimpft, wie er immer geschimpft hat, wenn bei den Bienen ein Nachschwarm samt Weisel wer weiß wie weit ausflog und die Großmutter immer noch die Ruhe selbst war. Manchmal konnte er die Schwärmer noch mit einem Regenschirm oder einem Fetzen Tüllgardine einfangen. Um der Bienen willen hält Gott den Menschen.

Aber das Leben ist falsch. Alles ist falsch geworden, seit sie nicht mehr da ist. Seine Berta ist ihm weggestorben. Sie lebt nicht mehr. Mich hat er kaum angesehen in meinen letzten vier Schulferienwochen. Wenn ich nicht auf Fahrradtour war, habe ich im Dorf beim Dreschen geholfen und so viel verdient, daß ich mir offiziell Gummistiefel kaufen konnte. Die nehme ich mit, weil ich von nun an Arbeitskleidung brauche. Auch das Geld nehme ich diesmal in einer Eingebung mit, ich möchte dem Alten beibringen, wer ich bin. Leichtlebig, wie er fürchtet, so bin ich. Am Vorabend habe ich die Blechschachtel aus der Erde gegraben. Es hat kein Aufsehen gemacht. Wie auch seinerzeit das Eingraben am Telegrafenmast fünf Schritt vor dem Hühnergehege kein Aufsehen erregt hatte. Das sind diese Augenblicke, wo ich mich frage: Bin ich Luft? Ich müßte längst einmal erwischt worden sein.

Ich habe mich daran gewöhnt, daß ich nicht erwischt und auch nicht getroffen, abgeschlagen oder beiseite gestellt werde. Die Bälle fliegen beim Völkerballspielen an mir vorbei. Ich bin Luft. Ich weiß, daß mich keiner sieht, keiner ruft und gleich gar niemand aussucht, um mir schöne Kleider und das Leben der Prinzessin anzubieten. Es sind andere da. Die sind an der Reihe.

Meine schwarzen Grenzübertritte, ohne Zwischenfälle. Die gelingen mir, weil Großvater Heinrich in Schwiegershausen direkt hinter dem Graben auf östlicher Seite eine Vertrauensperson wohnen hat, eine aus der alten Heimat. Unsere schlesische Tante Selma. Sie kennt sich unterdes aus im neuen Gehege, da macht ihr keiner was vor, nicht mal die uralten heimischen Kater. Selma überwacht den Betrieb vor dem Behelfsbahnhof, wo die Kleinbahn hält und kehrtmacht. Sie beobachtet das Gelände. Sie hilft mir, sie hat ein Herz für alle, die über die Grenze wollen, und, für Nichtschlesier, eine offene Hand. Sie weist in die Schleichwege ein, läßt zu bestimmter Stunde aus der Hintertür in ihren planvoll urbar gemachten Garten, lauter mannshohes Gemüse, sie führt durch das Spalier der raffiniert aufgezogenen Stangenbohnen, hält noch einen Augenblick zurück, bis die Flintenpatrouille vorbei ist. Nun muß man ein grünes Kopftuch aufsetzen, das man gut aufbewahren und auf dem Rückweg wieder mitbringen soll. Jetzt aber los. Hast du, was kannst du, den Abhang hinunter, ein Sprung über den Graben. Schon erledigt. Schon kann dich von den Grenzsoldaten, ob Russe oder kasernierter Volkspolizist, keiner mehr packen. Aber du sollst trotzdem machen, daß du weiter ungesehen davonkommst, bergan nun wieder, klein, unterm grünen Kopftuch versteckt, du sollst dich beeilen, damit man von einem beweglichen Objekt am Wiesenhang keine Rückschlüsse zieht auf Tante Selma. Die führt inzwischen für die Patrouille ihr Spiel auf: Ein wütiges Weib jagt mit fürchterlichem Gezänk die Gänse aus dem Salat, oder sie füttert die Hühner, ruft: putputput, als hätte sich ihre Henne bis sonstwohin verlaufen, oder sie schimpft, macht Aufsehen, wie eine strategisch kluge Amselmutter, die eine Katze von einem Jungvogel weglockt. Kommt zu mir. Ich bin der Braten. Selma auf dem Tablett. Miezmiezmiez. Echo von der Patrouille. Hier ist keine Miez. Wir passen auf. Wir schicken Ihre Mieze, wenn wir sie treffen, nach Hause. Patrouillesoldaten schützen die Haustiere und das Wild von hüben und drüben. Rehe bekommen Äpfel. Für uns Menschen tragen sie ihre Flinte.

Zurück läuft die Aktion andersherum.

Heinrich und ich erkennen vom Roten Buckel aus, daß das Gras im Wiesental bis hinunter zum Graben noch steht. Die Schwiegershausener Landwirte haben sich konspirativ verhalten. Sie wissen, daß ich in einem Schritt über den Grenzgraben vom Westen in die Ostzone wechsle, von Großvater zu Großvater, von Heinrich zu Anton. Sie warten auf mich, erst wenn ich bei Selma auf Nummer Sicher bin, erst dann wird gemäht. Man erkennt die Maschine, drüben vor einem Scheunentor, mit gehobenen Sicheln, wie auf dem Sprung. Morgen wird angespannt. Das Wetter hält. Mariä Empfängnis bringt trockenen Halm. Die Gummistiefel habe ich angezogen, die zwei Fünfmarkstücke habe ich unter die großen Zehen geklemmt, so bin ich sie immer gewahr, der Zehnmarkschein steckt im Büstenhalter, den ich seit gestern besitze und trage. Ein heimlicher und überstürzter Kauf vom Restlohn. Ich bin deswegen extra mit dem Albatros in die Stadt gefahren. Es ist ein hellfliederfarbener Erstling mit Patentverschluß, Marke Triumph. Eine Anschaffung für später. Ich denke an die Zukunft. Abends hinterm Bienenhaus, versteckt vor Großvaters Augen, habe ich lange probiert, zuschnappen, aufriegeln, das Patent wollte mir nicht gehorchen, also mußte ich vor dem Anziehen die Spange schließen, dann umständlich einsteigen, das war die einzige Möglichkeit. Hätte ich mich bei Miederwaren-Wulff für einen altmodischen mit Haken und Öse entscheiden sollen? Was man tut, ist nie bis zum Ende bedacht.

Zu Ende denken, das geht nicht.

Unten am Bach keine Bewegung.

Dann das ferne, aber deutlich vernehmbare Signal. Miezmiezmiez. Tante Selma ruft nach der schwarzen Katze, einem Tier, das weder leibt noch lebt. Ich setze das grüne Kopftuch auf. Großvater prüft unter meinen Achseln die Rucksackgurte, weil er davon etwas versteht. Links zwei Loch länger, soviel Zeit muß noch sein. Das Damenfahrrad, Großmutters Anschaffung, lehnt derweil an der einzelnen Fichte, gewiß hätte sie es mich erben lassen, wenn sie noch Atem gehabt hätte für ein Vermächtnis. Aber sie ist von einer Sekunde auf die andere hinübergegangen. Grade noch lebendig in der Stube und zehn Minuten später tot. Man hatte sogar im Boten eine Meldung gebracht: »Heimatvertriebene neben ihrem Fahrrad auf dem Weg ins Dorf an Schlaganfall verschieden«.

Selbst wenn das Albatros mein Erbteil wäre, man kann es nicht unter die große Zehe stecken und auch nicht in einen Erstlingstriumph, ich hätte sowieso Abschied nehmen müssen. Ich streichele das Damenrad mit einem letzten tapferen Blick. Den Großvater. Die Fichte, die sogar rauscht. Ich lasse euch zurück. Mein Gang ins Tal ist gemessen. Die Fünfmarkstücke, die lackglänzenden Gummistiefel, der knisternde Zehner, der verrutschte Triumph, die angelegten Ohren, der Rucksack voll Schätze für Anton, den anderen Großvater, meinen Erzieher. Die Grashalme beugen sich, sie stehen hinter mir auf.

Großvater Heinrich versteckt sich hinter den Büschen, damit er nicht in einen Feldstecher oder in ein Zielfernrohr gerät, die womöglich nach verdächtigen Personen im Grenzgebiet Ausschau halten. Durch die Zweige sieht er, wie ich über den Graben springe. Immer noch hört er Selmas Katzenruf.

Ob mich der schlesische Großvater jetzt noch sieht?

An Selmas Hintertür. Wieder nicht erwischt. Ich bin heute die dritte Heimkehrerin, aber morgen ist erst mal Schluß, keine schwarzen Grenzübertritte mehr durchs Wiesental und durch Selmas Garten. Nach dem Grashauen müssen Wochen vergehen, bis der Halm wieder hoch genug steht.

Selma fragt mich nach den anderen aus und erzählt. Immer das Alte. Dabei wirft sie manchmal einen Blick auf den Wecker, sie prüft die Zeit, weil unten am Bach die Patrouille geht. Sie sagt, es ist gut, daß ich ab jetzt im Leben auf eigenen Beinen stehe. Die Gummistiefel habe ich ausgezogen. Sie passen in den Rucksack, die Fünfmarkstücke stecke ich ins Portemonnaie. Ob das Rote Kreuz etwas ermittelt hat um Mamas Grab? Grab, sie sagt Grab.

Wo Mama wohl unterdes stecken mag, so haben sie sonst immer gesagt. Ob Susanne jetzt an uns denkt? so hat die schlesische Großmutter sich gefragt, wenn sie sonntags in der Stube ihren Schlucken hatte. Richtung Osten wird sie getreckt sein. Hinter die Front, wo es schon Ruhe gibt und Wald und Blaubeeren zum Sattwerden, wie man sich hier gar nicht vorstellen kann. Wir warten jeden Tag auf ein Lebenszeichen aus einem weit entfernten Lager oder von einer Insel, aus einer Schutzhütte, die sie selber gebaut hat, weil sie mit zwei geschickten Händen und einem klugen Kopf weiß, wie man das macht. Mama in Gesellschaft von Reh, Hase und einer Vogelschar. Mama an einem Ort, den sie nicht ohne weiteres verlassen kann, um zu uns zu kommen.

Mama füttert Vögel. Sie sät, sie erntet. Pflichten halten sie auf. Selma sagt Grab.

Ich kann Selma nur wiederholen, was eigentlich alle schon seit Jahren wissen, und sie weiß es gewiß am besten, denn sie erzählt jedesmal von vorn, wie es in den letzten Tagen zu Hause war.

Wir hoffen noch, sage ich. Ich stottere zwischen Trotz und Demut, und weil das wahrscheinlich überhaupt nicht zu verstehen ist, fängt Selma wieder an.

Es muß vor Frankfurt in Richtung Eberswalde passiert sein. Plötzliche Kampfhandlungen zwischen deutscher Infanterie und vorrückenden russischen Truppen. Mama hatte sich ganz alleine von Liegnitz aus bis nach Dresden mit den schlesischen Federbetten durchschlagen wollen. Alle redeten in Probstein noch vom Bleiben, egal, was kommt.

Selma erzählt. Immer das alte, wie sie in der Heimat alle zusammen auf dem Sofa gesessen haben. Das halbe schlesische Dorf, mit Hoffnungssprüchen und mit Mama. Mama, im Marschgepäck zwei geschlachtete Hühner, die frisch gestopften Betten zu einer Rolle geschnürt. Warme Daunen fürs Großstadtleben.

Heinrich legt der Kuh das Geschirr um, bindet schon den Reisekorb auf den Tafelwagen. Da ist ein Soldatenmotorrad mit einem Befehl aus dem Niederdorf heraufgekommen. Keiner darf das Grundstück verlassen. Sie haben auf das fertige Bündel geguckt und dienstlich hinzugefügt: Wir tun nur unsere Pflicht, und privat aufmunternd gefragt: Wo soll es denn hingehen?

Nach Dresden, hat deine Mama gesagt.

Dresden ist Schutt und Asche, haben die Soldaten behauptet.

Das kann nicht sein, hat deine Mama gesagt, wir wohnen doch dort, mein Mann und mein Mädel, ich hab doch vor sieben Jahren nach Dresden geheiratet, und deine Mama hat gleich noch wissen wollen, ob sie zufällig vom Stalingrader 16. Infanterieregiment kämen oder vielleicht jemanden von dort kennen würden, den sie fragen könnte, ob sie von einem Paul Reich gehört haben. Paul Simon Reich. Fragen kost ja nichts. So ein Blonder, Großer, man kennt ihn heraus, weil er groß ist. Und weil er selber die Augen aufmacht. Er hat als Meisterstück die langen Beine von Bismarck für die Bismarckhöhe gegossen. Auch den Lulatsch sieht man bis weit ins Elbtal. Der kommt durch, weil er ein Stadtmensch ist. So hat deine Mama gesagt.

Von dort kommt keiner mehr, haben die Soldaten steif und fest gesagt. Deine Mama wollte sich damit nicht abfinden. Seit die schwarze Stalingradliste amtlich bekanntgegeben worden war, hatte sie die Tage jeden Soldaten, der aus dem Osten bei uns vorbeikam, gefragt. Dein schlesischer Großvater hatte gemeint, beim Rückzug geht alles drunter und drüber, da kommt es schon mal vor, daß einer fälschlich als vermißt gemeldet wird oder als gefallen.

Bei Stalingrad hat es keinen Rückzug gegeben, das war ein totaler Einschluß. Da sind alle steckengeblieben. Im Kessel und im Schnee.

Das muß nicht wahr sein, es stimmt manches nicht. Dein Großvater Heinrich hatte sein Bescheidwissergesicht aufgesetzt. Seine Veteranenmiene. Erster Weltkrieg. Verdun, der Hölle entkommen. Kessel, was heißt Kessel, hatte er hinter den fortfahrenden Soldaten her gemeutert. Schnee fällt bei uns hier auch und nicht zu knapp.

Hauptsache, wir leben, hat Heinrich stur gesagt, wer weiß, von welchem Berg Paul Simon wie ein Überraschungsbesuch zu uns herabsteigt. Spitzberg. Mehlgelte. Hogul. Lauter Hügel, die uns eigentlich in Richtung Welt im Wege stehen. Auf die wir jedoch, wenn nötig, unsere Hoffnung pflanzen.

Angespannt war. Wir alle sind neben der Fuhre her Richtung Neukirchner Bahnhof mitgegangen. Von da kam uns der Gendarm entgegengeritten. Er rief schon von weit: Macht, ein Zug steht auf dem Gleis, lauter Verwundete, die verlegt werden sollen nach Sachsen. Die Kuh wollte nicht galoppieren, aber sie mußte. Wir sind alle gerannt. Mama hat den Zug noch erreicht. An den Reisekorb hatte Heinrich Kufen getischlert. So konnte deine Mama den Korb quer über die verschneiten Gleise ziehen. Erst hatte sich das Personal stur gestellt, dann aber durfte sie mit. Wir dachten: zum Glück.

Zum Glück, das soll man vor dem Ende nie denken.

Papa im Kessel von Stalingrad.

Mama soll mit dem Rotkreuzzug bis zur Oder gekommen sein.

Mich haben sie nicht erwischt.

Die Bomben haben mich nicht getroffen, weil ich scharf auf die silbernen Stanniolstreifen war, die immer vom Himmel flatterten, wenn feindliche Verbände den Luftraum störten. So bin ich als einzige von einundzwanzig Personen aus dem Haus Altenzeller Straße 41 in Dresden-Süd überraschend oder wie durch ein Wunder übriggeblieben. Auch Papas Papa Anton Reich, mein sächsischer Großvater, ist woanders durch ein anderes Wunder übriggeblieben. Er war es, der mich eines Tages gefunden und mitgenommen hatte vom Schloß Hirschstein in Lommatsch an der Elbe zurück in seine nicht von Bomben getroffene Unterkunft nach Dresden-Neustadt in die Wilder-Mann-Straße 8.

Eigentlich sucht er nach seinem Sohn Paul und nach Susanne. Er sucht, wo noch ein Funken Hoffnung ist. Er sammelt die Briefe vom Roten Kreuz. Es ist wichtig, daß sie ihn dort im Büro nicht vergessen, er schreibt jede Woche, weil er bisher noch kein Lebenszeichen bekommen hat von seinem Sohn Paul aus Rußland. Noch nicht, es ist wichtig, daß Paul bis dahin ein Suchvorgang bleibt. Wie auch die Suchnummer seiner Schwiegertochter nicht unter erledigte Hoffnungen abgelegt werden darf. Susanna Reich, die auf dem Weg gewesen ist, schlesische Federbetten vor den in Richtung Westen vorrückenden Russen zu retten, für uns in die weltbekannte bombensichere Kunststadt Dresden, weil wir dort wohnen, weil wir uns dort warm zudecken wollten, bis die Kälte und der Krieg vorüber sein würden. An Dresden, so wußten wir alle, da geht der Krieg in einem gehörigen Bogen vorbei.

Susanna Reich ist verschollen, hieß es, und von Papa Paul hieß es: vermißt. Immer wieder vermißt. Im Kessel von Stalingrad.

Vermißt und verschollen, das heißt Hoffnung. Wer seit Faschingsdienstag unter Trümmern liegt, der ist tot. Verbrannt, erstickt oder in Stücke gerissen.

Daß ich noch existiere, das wollte Großvater Anton nicht glauben, auch nicht, als ich ihm im Spiegelsaal des Schlosses Hirschstein vorgeführt wurde. Die Leiterin des Kinderheims hatte mich rufen lassen, Kind, weiblich, sechsundsiebzig Zentimeter, dreiunddreißig Pfund, ein menschenähnliches Wesen mit Glatze und verquollenen Augen, Brandmale am Hals, Grind, Bindehautentzündung, Typhus schon überstanden, jetzt Verdacht auf Gelbsucht, beide Knie mit Bettstoff verbunden. Barfuß, die Luftschutztasche mit schlecht leserlichem Namen um den Bauch festgeschnallt. Fundort: Elbufer. Zwischen Marien- und Augustusbrücke. Die Totgeglaubte.

Freue dich, Raphaela, dein Großvater Anton wartet im Saal.

Anton in seinem gestreiften Werftarbeiterhemd, seiner blauen Alletagejoppe schüttelt den Kopf: Er wendet sich ab, aber ich bin überall. Hintereinander aufgereiht, bis in die Unendlichkeit auferstanden. Er will den Spiegeln nicht glauben und mir in der Mitte gleich gar nicht.

Sie sind alle umgekommen, verbrannt, das Haus ist von mehreren Sprengbomben getroffen worden, Volltreffer, und bündelweise sind Stabbrandbomben reingefallen. Anton sagt, er sei erst Tage später bis an die Stelle vorgedrungen, da habe der Trümmerberg noch geglüht. Kochendheiß die Steine. Kein Fensterloch, keine Tür, kein Raus und kein Rein: Ein Schornstein ragte an der Seite, der qualmte, als hätte grade einer Feuer gelegt, aus allen Ritzen quoll Rauch. Das Einwohneramt hatte mit Kreide ein Kreuz an einen Mauerrest gemalt. Daneben stand untereinander 9 Frauen, 11 Kinder, 3 Männer.

Papa war laut Einberufungsliste und Heeresamtsmeldung nicht im Haus. Er zählte nicht zu den drei umgekommenen Männern.

Mama und mich hatten sie mitgerechnet. Von Mama wußte Anton, daß es nicht stimmen konnte. Sie war ja unterwegs, in Schlesien die Federbetten holen, damals dachte er noch: zum Glück. Aber mir hatte er ja, weil er in der Zeit, während Mama nicht da war, auf mich aufpassen sollte, in der Küche unseres total zertrümmerten Hauses in der Altenzeller Straße vor seiner Nachtschicht die Suppe zum Abendessen hingestellt und das Frühstück für den nächsten Morgen, und er hatte mir erklärt, daß ich beizeiten im Stubenofen zwei Briketts auflegen möge: das Zuschrauben nicht vergessen, weder zu spät noch zu früh, sonst platze der Kachelofen, denn das hatten wir im Winter zuvor schon einmal erlebt: Ein Knall und wir danach wie die Mohren im Mohrenland. Das glaubt man nicht, wo überall der Ruß hingeflogen war. Mama hatte den Zeigefinger hochgehoben. Ganz schwarz. Sogar meine Puppenstube. Zum Schluß haben wir über uns selber gelacht und Papa die Geschichte in einem Feldpostbrief an die Front geschrieben, damit er sich unser Pech vorstellt und ebenfalls lacht. Der Brief war zurückgekommen. Mit einem Stempel. Empfänger vermißt.

Vor dem Trümmerberg mußte Anton denken, daß ich das elfte verbrannte Kind bin.

Ich war es nicht. Ich hatte als einzige überlebt.

Anton war an jenem Abend kaum zur Nachtschicht durch unsere quietschende Haustür verschwunden, da habe ich angefangen, von der süßen, im Sommer gekochten Frühstücksmarmelade zu essen und Kleider aus Mamas schöner Modezeitung auszuschneiden, Blusen, Röcke, komplett gekleidete Damen, Handtaschen. Hüte. Ich dachte nicht daran, ins Bett zu kriechen. Schuhe mit Schnallen, französische Absätze, Pelz, eine Federboa. Die verbotene Schere. Die hatte ich mir aus dem Nähkorb genommen. So war ich noch wach, als genau um 21 Uhr 45 die Sirene heulte und gleich auch der Luftschutzwart wegen des Vollalarms an die Wohnungstür klopfte. Ich zog mein bestes, mein Dirndlkleid an, raffte die Modepuppen zusammen, die silberne Kugel, meine Dünndruckbibel, meine Schutzbrille, die Alarmtasche, ich machte, wie es Vorschrift war, das Mundtuch naß. Ich setzte mich im Keller dorthin, wo unser Stammplatz war, unser guter Platz am Schornstein. Dort stand meine Fußbank. Ich spielte mit der Silberkugel. Meine Kugel war groß wie eine Kartoffel, aber sie sollte noch größer werden. Ich brauchte Lametta. Die Stanniolstreifen. Der Luftschutzwart stand mit den Löscheimern in der Haustür. Er starrte in den voll Feuer hängenden Himmel. Jetzt sind wir dran. Er schrie: Mach dein Maul auf, sonst zerfetzt dir der Luftdruck die Lunge. Lalala. Am besten ist Singen. Es krachte. Ich nutzte sein Entsetzen und die blendende Flamme, die uns entgegenschlug. Ich verschwand, um draußen Stanniol zu sammeln, denn draußen gab es bei Alarm stets genug. Silber vom Feind, das unsere Flak verwirren sollte Es regnete nur so herab. Ich mußte mich beeilen. Denn der Wind wollte mir meine Schätze aus den Händen reißen. Ich rannte dem vor mir treibenden Silber hinterher. Mein Eifer war schneller als das Feuer.

Freue dich, Raphaela.

Ich blinzle in das viele gebrochene Licht. Blasenkatarrh, Nierenbeckenentzündung, aus mir läuft ein warmes Bächlein auf das Parkett. Als erste Sünde fällt mir ein, daß ich vor dem Alarm die Frühstücksmarmelade aufgefressen hatte. Auf dem Küchentisch ein leeres Glas. Ich hatte am Abend, gleich nachdem Anton fortgegangen war, angefangen zu essen. Löffel für Löffel und auch noch den heiligen Rest, der sich nachts hätte ausdehnen können wie Hefeteig oder wie Honig im Märchen. Wenn der kleine Zeiger auf acht steht, sollte ich schlafen gehen. Den Ofen hatte ich ganz vergessen. Und was mein Dresdner Großvater sonst noch von mir gewollt hatte auch. Die Marmelade, die verbotene Schere, zum Schluß die silberne Kugel.

Meine Angst verstand ich als himmlische Strafe. Es war gewiß meine Schuld, daß es so gekommen war. Hab ich unrecht heut getan. Ich hatte unrecht getan, der liebe Gott hatte das Unrecht angesehen, und er hatte umsonst gewartet, daß ich wenigstens bete. Kein Gebet, keine Reue, nichts. Da mußte er bombardieren und die Stadt verbrennen. Strafe muß sein.

Anton wischt sich die Augen. Er legt mir seine Jacke um die Schultern. Es ist heiß, August 45. Die dicke Jacke, die schweren Ärmel. Die Verbände sind von den Knien heruntergerutscht, ich stolpere über die mit Blut verkrusteten Lappen.

Laß liegen den Dreck, sagt Anton. Das heilt von selber. Ich laufe hinter ihm her. Bergab Richtung Elbe, rechts, links Stoppelfelder, in der Ebene das welke Kraut der wunderbar erntereifen Kartoffeln. Gerettet, mein Finder geht schnell, aber nicht zu schnell, er bremst manchmal, damit ich in gehörigem Abstand folge, und so hätte ich, meine Schuld vergessend, beinahe wieder angefangen zu singen. Mein liebstes Lied von der Lerche, die auffliegt vor Lust. Der Staub ist wie Samt, und die Luft ist wie Seide.

Soweit soll es nicht kommen, dazu ist der Sommer nicht da. Zum Singen und Wandern.

Alarm. Trompetenalarm.

Hab ich dich grade noch erwischt. Ein Knüppel droht aus den Ackerfurchen, springt über den Rain auf den Feldweg. Militärhose, Bluse, Turban, blitzende Ohrringe. Röte von Hitze, Zorn und vom Trompeteblasen. Der Lärm sollte uns lähmen und dingfest machen. Anton pflanzt reglos hinter einem Strauch, ich sehe sein Hemd. Sein Kopf verschwindet zwischen den Schultern. Igel oder Schildkröte müßte man sein, oder man müßte giftige Zähne haben und scharfe Augen, nicht solche entzündeten wie ich. Hände packen mich, schütteln die Jacke, greifen nach meiner Luftschutztasche. Die Bibel, Schnipsel aus einem Modejournal, eine silberne Kugel aus Stanniolpapier, die Kugel lasse ich mir nicht nehmen. Die halte ich fest, während die Frau meinen Dirndlrock hochhebt. Da findet sie nur meine nackte Haut.

Ich mach dir Beine, sagt sie. Von wegen Kartoffeln mausen. Und schon bläst sie wieder in die Trompete, aber nicht wegen mir. Sie tutet die Krähen vom Feld. Weil auch die hier nichts zu suchen haben. Kein Hase, kein niemand.

Anton nimmt unten am Anlegesteg die Hände aus den Hosentaschen.

Kartoffeln, was dachtest denn du!

Ich bin ein Kind, ich bin noch nicht einmal acht Jahre alt. Ich denke: Donnerwetter, der traut sich was.

Wir werden auf einem Schleppdampfer mitgenommen. Elbaufwärts bis nach Übigau. Anton redet mit der Besatzung. Die beiden Männer zeigen ihm die schlechten Stellen am Schiff. Herausgefallene Nieten und Rost. Anton arbeitet auf der Werft in Übigau. Dort sind keine Bomben gefallen. Nicht weit von der Werft wohnen wir. Anton und ich. In der Wilder-Mann-Straße gab es nur einen Treffer, die Bomben sollten die Eisenbahnbrücke zerstören, aber sie sind auf den Hof vom Nährmittelamt gefallen.

Das Nährmittelamt hat dreimal in der Woche offen. Ich bin nun auch ein Einwohner der Wilder-Mann-Straße. Anton muß mich registrieren lassen, denn ich brauche eine Lebensmittelkarte. Erst impfen, heißt es. Und zwar dreimal gegen