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»Wer den Lärm duldet, ist schon eine Leiche.«

Guido Ceronetti

Geschenkt

Neben mir atmet mein Vater, wir sind im Hotel, heute ist sein Geburtstag, morgen ist meiner, vielleicht ist jetzt morgen, vielleicht habe ich schon Geburtstag, vielleicht bin ich bereits acht, ich weiß es nicht, es ist dunkel. Mein Vater schläft nicht, er liegt nur da. So soll er die ganze Nacht liegenbleiben – kaum schläft er, ängstigt mich sein Atem. Wahrscheinlich denkt er, ich schlafe. Jetzt bewegt er die Hände, vielleicht hat er ein Geschenk für mich, das er unter der Decke versteckt, damit ich es gleich auspacken kann, wenn ich aufwache. Oder er sucht, wie ich, einen Platz für die Hände vor dem Einschlafen. Meine Augen sind zu. Er glaubt, ich schlafe, aber ich belausche ihn. Ich habe Angst, er könnte weinen. Doch jetzt steht er vorsichtig auf, öffnet die Tür zum Bad und schließt sie ganz leise, ganz sachte, bevor er Licht macht. Er wäscht sich die Hände, warum schläft er nicht einfach?

Heute ist sein Zweiundsechzigster, mein Einunddreißigster ist morgen, und wieder ist meine Mutter nicht dabei, keiner konnte ahnen, daß plötzlich eine Freundin stirbt. Heute und morgen, das sollen wieder Tage werden, an denen mein Vater das restliche Jahr messen will. Alle Zimmer voller Blumen, es riecht wie in einer Kapelle. Mein Vater steht am hellerleuchteten Buffet. In seinem Haus gibt es keine dunklen Ecken, seine Frau schläft neben ihm, mit mir spielt er Tennis. Manchmal glaube ich, er hat mich markiert, wie der Hund einen Baum. Sein Hals und Gesicht sind gleichmäßig naß vom Schweiß, sein Haar, eine schöne weiße Landzunge in der Mitte des Kopfes, reicht vorn bis an die Stirn. Das Telefon – kabellos – steckt in seiner Jackettasche. Es läutet ständig und macht meinen Vater zum Kirchturm. Im Nebenzimmer zirpt das neue Faxgerät – Grüße von irgendeinem medizinischen Institut, Geschenk folgt. Sicher etwas, was mein Vater schon hat. Wahrscheinlich eine Klassik-CD, dann gehört die mit dem weniger berühmten Orchester mir.

Seit mir ein Busen gewachsen ist, schenkt mir mein Vater Geld zum Geburtstag. An meinem dreizehnten sagte er, jetzt siehst du aus wie die Frauen auf Cranach-Bildern, und ich wußte nicht, was er meinte, nahm mir aber vor nachzusehen; er meinte die kleinen Brüste, für die ich mich schämte, doch dann drückte er mir ein paar Scheine in die Hand. Ein Jahr lang überlegte ich, was ich kaufen sollte, so wurde ich vierzehn. Frische Scheine vom Vater. Ich kaufte mir ein Fahrrad, es wurde gestohlen. Die Anzahl der Scheine nahm jedes Jahr zu. In den folgenden Jahren floß mir das Geburtstagsgeld davon. Sechstausend Zigaretten, siebenhundert Tassen Kaffee, neunzehn Lippenstifte, Markenkondome, ungezählt, Fromms Gesammelte Werke. Mit zwanzig entwarf ich Glückwunschkarten, und prompt reichten Vaters Gaben für einen graphikfähigen Computer.

Dieses Jahr sind es zehn große Scheine. Für ein Auto reicht es nicht, ich falte das Bündel zusammen, stecke es in die Tasche. Warum willst du schon fort? sagt mein Vater. Ich weiß es nicht, sage ich.

Besser samstags in einer Großstadt ankommen als sonntags. Die Leute schimmern schon ein bißchen vor Hoffnung auf eine lange Nacht. Am Bahnhof kaufe ich das Annoncenblättchen. Im Taxi finde ich unter Kontakte zwei Anzeigen, die nicht für Männer bestimmt sind, und schreibe mir die Nummern auf den Handrücken. So tauche ich in die Stadt, in der mich keiner erwartet. Im Treppenhaus höre ich mein Telefon klingeln. Zwei Stufen auf einmal, bis unters Dach; vielleicht ist das Sportstudio doch der einzige Ort, an dem man was Brauchbares lernt.

Wie war’s? sagt mein Vater. Der Zug überfüllt, sage ich, Sitzplatz im Großraumwagen, neben mir ein junger Mann. Nett? fragt er. Ich sage, ich weiß es nicht, ich hatte keinen Kontakt, nicht mal mit den Augen. Mein Vater holt tief Luft, er glaubt es nicht, er glaubt mir nie, wenn es um Männer geht.

Weiter, sagt er. Ich werde nicht verhungern, sage ich, was im Kühlschrank liegt, reicht bis Montag. Und: die zehn Scheine alle unversehrt in meiner Tasche. Du hättest noch bleiben können, das weißt du. Dann wärst du jetzt nicht allein in der Wohnung, sagt er und meint sich selbst. Was machst du heute noch? Komm, ich geb dir Glückszahlen, sage ich und lese eine der Telefonnummern von meiner Hand ab, 46925238 – sechs Richtige in der Samstagsziehung, das könnte mich ersetzen, und mein Vater traut es mir zu.

Mit fünfzehn nahm er mich zum ersten Mal mit ins Kasino. Zu jung zum Spielen, hieß es am Eingang, als mein Paß kontrolliert wurde. Das verfolgte mich. Als Glücksfee meines Vaters ließ man mich ein, auf hohen Hacken stand ich hinter ihm, flüsterte ihm Zahlen ins Ohr, bis ich nicht mehr stehen konnte. Hatte er genug verloren, verließ er das Gebäude hastig, dann sprang das Auto nicht an, dann waren die Ampeln rot, Papa raste, Papa bremste, Papa raste. Ich legte mich auf den Rücksitz, schaute in den Himmel, betete zur Muttergottes, an die ich nicht glaubte, Zweige, Lichter, Zweige, ich blieb liegen, im Sitzen wollte ich nicht sterben.

Mein Vater notiert die Zahlen, dann legen wir auf. Später wähle ich die erste Nummer. Einer nimmt ab. Bitte beschreib dich, sage ich. Ich meine es ernst. Er zählt mir seine Einzelteile auf. Ziemlich schnell weiß ich, daß ich ihn nicht sehen will. Ich wähle die Zahlen, die ich meinem Vater gab. Einer nimmt ab. Wellensittiche zwitschern. Groß, sagt er, dunkel, dreiundzwanzig, Südländer. Wieviel? sage ich. Wieviel hast du? fragt er, und schon lieb ich ihn. Endlich einer, mit dem ich sprechen kann. Ich könnte auch still sein. Belehrt er mich, schick ich ihn weg. Er muß mich hinnehmen. Ich kann ihn berühren, wo ich will. Seine Brust soll mir dieser Junge zeigen, und er soll mich bitten, ihm die meine zu zeigen. So werde ich den Abend bezwingen, den Sonntag und vielleicht das Märzwetter.

Am Abend ruft mein Vater an, er braucht nur zu atmen, und ich weiß, wer dran ist. Hör auf zu rauchen, sage ich. Was hast du alles gemacht? sagt er. Das will er immer wissen. Immer will er wissen, wo ich gewesen bin, wer mit mir war, was wir gemacht haben, und was noch. Je munterer ich klinge, desto mehr bohrt er. Was würde er sagen, wenn ihm einmal die Fragen ausgingen? Aber sie gehen ihm nicht aus. Er könnte höchstens auf die Fragen aus seinem Vorrat stoßen, die er mir nie gestellt hat: Wer liebt dich, wieviel ist er wert, wer glaubt an dich, wer ist reingefallen, wer hängt an deinem Haken, wer zahlt für dich, wie reich ist er, wie stark ist er, wer holt uns aus unserer Scheiße, was hast du getan, bist du wie ich, warum bist du wie ich, wer rettet uns jetzt, wie geht es deiner Fotze, lohnt es sich, wird sie gut bezahlt, warum machst du keine Kinder, wo bleibt dein Messias? Ich möchte ihm etwas antworten, das keine weiteren Fragen zuläßt.

Es ist schon gut gewesen, daß ich gestern gekommen bin, sage ich, Pläne hatte ich keine, aber mit dem Geld in der Tasche war das halb so schlimm.

Es beunruhigt meinen Vater, daß ich nur noch acht Scheine besitze. In der Spielbank war ich nicht, sage ich. Ich habe mir einen Jungen gekauft, und schnell spreche ich weiter, mein Vater soll nicht nach dem Gesicht des Jungen fragen. Es war ein unfertiges Gesicht, ich dachte, der Junge wird noch allerhand probieren müssen, bevor sein Gesicht sich festigt. Ich hätte zum Beispiel sagen können, ein italienisches Gesicht, aber lieber hätte mein Vater gehört: ein Mauerstürmergesicht, eines aus der Ex-DDR, da hätte mein Vater geklatscht über den Mut, über das bißchen historische Wahrhaftigkeit, diesen Gutschein, den der Junge dann besessen hätte, einfach so, ohne was dafürzukönnen. Ich sage also nur, daß sein Haar dunkel war, schwarz, aber nicht bläulich, ungekämmt. Früher, sage ich meinem Vater, nach dem Baden, hast du mich immer mit einer frisch geschälten Frucht verglichen. So ein Junge war das, und ich frage meinen Vater, ob er das verstehe. Nein, sagt er, fax ihn mir. Im Stehen beginne ich zu zeichnen.

Der Atem meines Vaters wird übertönt vom Geräusch einer Tür, mein Vater tritt in den Garten. Vielleicht holt er nur Luft, aber er liebt es auch, einfach mit seinem Telefon umherzuspazieren, selbst Sonntag morgens, zu einer Zeit, zu der kein Mensch anruft, hat er das Telefon dabei. Frau und Tochter schlafen noch, und er geht im Pyjama über den Rasen, hebt einzelne Zweige auf, die über Nacht vom Wald in den Garten herübergeweht worden sind. Ich sehe was, was du nicht siehst, sagt er. Weißt du, was? Ich sehe den Wald. Der Wald ist dunkler als die Nacht. Heute war der Himmel blendend grau. Ein Tag wie von Armani. Gestern sah ich eine junge Frau hinter einem Kinderwagen, früher ging sie mit dir zur Schule, saß neben dir. Wir haben keinen Kontakt mehr, sage ich. Deine Generation, sagt er. Was machen die anderen in deinem Alter? Ich weiß nicht, wen du meinst, sage ich. Kinder kriegen. Ausreden suchen. Weiße Hemden tragen. Reisen. Du kaufst dir also einen Mann, sagt er plötzlich. Ausnahmsweise, sage ich. Erzähl – er zündet sich eine an.

Bevor es dämmerte, aßen wir in einem Restaurant, das war mein Wunsch, und ich durfte bestimmen. Allein wäre ich nie dorthin gegangen. Schwere Tische, alle von der Brauerei gestellt. War das Essen wenigstens gut? unterbricht mich mein Vater. Seine Stimme klingt wie Bitten um ein Ende ohne Schmerzen. Wie unwichtig das Essen war, begreift er nicht. Gehe ich mit meinem Vater essen, bestellt er mir den bunten Teller, von allem ein bißchen, zu verspielt für Erwachsene, zu ernst für einen Kinderteller. Oder Meereszeugs, das er selbst nie bestellt. Er will, daß ich für ihn die Austern esse.