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  Heinrich Christian Rust– Herr, bist du es?– Von der Gabe der Geisterunterscheidung

ISBN 978-3-417-22882-3 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:CPI books GmbH, Leck

© 2017 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender

INHALT

Über den Autor

Vorwort

Einführung:
Nicht jeder spirituelle Smoothie schmeckt nach Jesus

Menschliches durch Gottes Geist – Gottes Geist im Menschen

Die Sehnsucht Gottes nach den Menschen

Der Geist Gottes und der Menschengeist

Die Vermengung von Gott und Mensch

Vermischung ruft nach Einmischung

Um welche Geister geht es hier?

Der Geist Gottes

Der Geist Gottes in seiner trinitarischen Dimension

Der Geist Gottes in seinem kosmischen Wirken

Der Geist Gottes in seinem kontinuierlichen Wirken

Der Geist Gottes und die dienstbaren Geister Gottes

Der Geist der Welt und der Geist des Menschen

Natürlich heilig – Geist und Fleisch im Widerspruch und Einklang

Der besudelte menschliche Geist

Der irreführende Geist

Der diabolische Geist – Der Teufel ist keine Erfindung des Menschen

Plädoyer für eine biblische Nüchternheit

Die Benennung des Bösen

Ich höre Stimmen, bin ich besessen?

Die Notwendigkeit der Unterscheidung der Geister

Fundamentalkritierien der Unterscheidung der Geister

Das Ausmaß der Verführung durch Geister

Die Kompetenz zur Unterscheidung der Geister

Die Basis-Kompetenz aller Christen

Die charismatische Kompetenz – Die Gabe der Geisterunterscheidung

Die synodale Kompetenz – Charisma und Amt

Checkpoints – Die Kriterien zur Unterscheidung der Geister

Checkpoint: Jesus Christus

Checkpoint: Bibel

Checkpoint: Gemeinde

Checkpoint: Antriebskräfte

Orientierungskriterien

Checkpoint: Modalität

Checkpoint: Person

Ausblick: Stückwerk oder Werkstück?

Literatur

Anmerkungen

ÜBER DEN AUTOR

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DR. HEINRICH CHRISTIAN RUST ist Pastor der evangelisch-freikirchlichen Braunschweiger Friedenskirche. Er ist als Autor, Referent und theologischer Lehrer bekannt. Über die Konfessionsgrenzen hinweg engagiert er sich in nationalen und internationalen Initiativen.

VORWORT

Wer spricht denn da? Ist es wirklich der Herr? Wenn’s denn immer so einfach wäre! Es ist ein besonderer Ort. Ich liebe ihn. Nicht zum ersten Mal sitze ich in dieser kleinen Kapelle in Flüeli-Ranft im Schweizer Kanton Obwalden. Hier lebte im 15. Jahrhundert Niklaus von Flüe: Einsiedler, Mystiker, Seelsorger, Beter, Friedensstifter. Und bis heute der Nationalpatron der Schweiz.

Mit vielen Fragen bin ich zu diesem Ort gefahren und versuche hier in der Stille Antworten zu finden. Ich will auf Gottes Reden hören. Ich bete das Herzensgebet und lasse mich in die Gegenwart des Augenblicks fallen. Und irgendwann passiert es. Impulse treten auf. Ich bekomme einen Durchblick. Alles wird klarer. Was ist das nun? Ist es das erbetene Reden von Gott? Schwappt vielleicht nur die dichte Atmosphäre des Ortes auf mich über? Oder bilde ich mir das alles ein?

Ich bin zu einer Seelsorgetagung gefahren. In einer Pause kommt eine mir unbekannte Teilnehmerin auf mich zu und erklärt mir sehr gewiss, dass sie für mich von Gott ein prophetisches Wort empfangen hat, das sie mir unbedingt weitergeben müsse. Und nun? Soll ich mich darauf einlassen? Ist das ein Reden von Gott oder doch eher eine grenzüberschreitende Kontaktaufnahme einer Frau, die vielleicht psychische Probleme hat? Überhaupt – muss ich mir diesen autoritären Stil als Reden Gottes gefallen lassen?

Wir sind zusammen auf eine Nordseeinsel gefahren. Ein Freund und ich hatten uns für einige Tage verabredet. Einige Fragen über die berufliche Zukunft galt es zu klären. Wir lesen in der Bibel, beten, unternehmen lange Spaziergänge am Strand, tauschen uns aus und genießen die Abgeschiedenheit in der rauen Luft. Die Zeit tut uns gut. Aber besondere geistliche Eindrücke stellen wir nicht fest. Plötzlich, nach einigen Tagen, bei einem Spaziergang in den Dünen zieht der Freund einen Zettel aus der Tasche mit einem Bibelwort und meint: „Das könnte für dich sein.“ Wirklich? Wie kann ich das überprüfen? Ich will ihn natürlich auch nicht enttäuschen – aber sollte das nun wirklich das erbetene Wort von Gott sein?

Gott sucht die Einheit mit den Menschen. Sein Geist und unser Geist können eine Einheit bilden. Im Reden Gottes mit Menschen wird diese Einheit erlebt.

Aber sein Geist ist mit unserem Geist nicht identisch. Sein Geist ist und bleibt der ganz andere Geist. Eine Differenz bei aller Nähe. Und gibt es nicht auch Impulse in mir, die ich weder meinem Geist noch Gottes Geist zuordnen mag – Dunkles, mitunter auch Böses? Wer spricht denn da? Bist du es, Herr? Gewiss, nicht alle geistlichen Worte im Inneren sind von ihm. Aber auch nicht alle geistlichen Worte in mir sind von mir. Heinrich Christian Rust macht in seinem Buch Mut, sich dieser Spannung zu stellen. Theologisch und ganz praktisch gibt er viele Anregungen. Er fordert heraus, sich auf das Reden Gottes in unserem Leben einzulassen. Immer wieder neu. Es ist eine Einladung zu einem mündigen Christsein, zu dem auch das unmittelbare Reden Gottes in unserem Leben gehört!

Michael Borkowski, Hannover, Systemischer Therapeut, Berater und Seelsorger

EINFÜHRUNG:

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NICHT JEDER SPIRITUELLE SMOOTHIE SCHMECKT NACH JESUS

Es klopft. „Wer ist da?“ Offenbar habe ich den Namen nicht richtig verstanden. Nochmal: „Wer ist da?“ – „Ach, du bist es! Sei willkommen!“ Manchmal fühle ich mich so, wenn mir plötzlich Gedankenblitze durch den Kopf schießen, wenn ich im Gebet in der Stille auf Gottes Stimme hören möchte. Da sind doch nicht alle Gedanken unmittelbar von Gottes Geist initiiert. „Herr, hier bin ich! Ich höre!“ Und das Erste, was mir in den Sinn kommt, ist die Erinnerung an die Notwendigkeiten des alltäglichen Lebens: „Heute unbedingt frisches Brot kaufen!“- „Nicht vergessen: Die Kellerfenster schließen, bevor ich das Haus verlasse!“ Das ist doch nicht Gottes Reden, oder? Sicher, das sind ja noch harmlose Gedanken. Was ist aber, wenn ich spontan in einer solchen Zeit der Stille an einen Menschen erinnert werde, an den ich schon jahrelang nicht mehr gedacht habe? Dann bleibe ich innerlich ein wenig bei dieser Person. Ich rede mit Gott darüber und segne sie im Namen Jesu. Wenn mir dann der Gedanke kommt, dass ich dringend mit dem Betreffenden Kontakt aufnehmen soll, ja, wenn dabei noch eine innere Stimme flüstert: „Da ist ganz große Not, sehr viel Krankheit. Tröste diese Person mit meinem Wort!“, was dann? Wenn mir zu all dem noch spontan ein sehr trostreiches biblisches Wort vor meinen inneren Augen aufleuchtet, dann muss es doch bestimmt der Herr sein, oder?

Ich kenne mich ja nun schon viele Jahrzehnte und weiß, dass Gott mir eine blühende Fantasie gegeben hat. Vieles nehme ich intuitiv wahr. Ich bin viele Jahre in der Nachfolge Jesu und habe gelernt, dass der Geist Gottes diese natürliche Anlage meines Lebens nutzt, um mit mir zu kommunizieren. Zudem habe ich schon seit meiner Jugendzeit Erfahrungen mit dem Charisma der Prophetie gemacht. Wie oft habe ich gestaunt, wenn ich diesem leisen Reden Gottes in meinen Gedanken einen Platz einräumte; wenn ich dieses Flüstern Gottes hörte und es ernster nahm als mein Reden. Ja, ich habe sehr viele Wunder erlebt, wenn ich dieser Stimme vertraute und auch entsprechende Schritte veranlasste. Oft musste ich allen meinen Mut zusammennehmen. Was ist, wenn ich mich „verhört“ habe?

Freilich sind nicht alle Empfindungen, Gedanken und Erkenntnisse, die mir in den Sinn kommen oder die auch plötzlich mitten im Alltag auftauchen, unmittelbar von Gottes Geist inspiriert. Es gibt gewiss Anteile in meiner Person, die nicht völlig von Gott durchdrungen sind. Da gibt es Schwäche, Angst, Ohnmacht, Oberflächlichkeit, Faulheit, Eitelkeit, Stolz und vieles andere mehr. All das erinnert mich daran, dass ich ernsthaft darum ringen sollte, dass alle Schichten meines Menschseins von Jesus geprägt werden. Ich bin wahrhaftig kein Heiliger – oder etwa doch? Sollte es wahr sein, dass ich ein Heiliger und ein Sünder zugleich bleibe, so lange, bis Jesus mich zu sich ruft und ich dann bei ihm vollendet werde? Mein Glaube beschränkt sich doch nicht lediglich darauf, dass Jesus meine Schuld und Sünde getragen hat und er mir so zur Gerechtigkeit vor Gott geworden ist! Die Erlösung hält sich nicht nur in einer Seelenspitze von mir auf! Er ist mit allem vertraut, was zu mir gehört; sogar in meinem Körper wohnt er (1Kor 6,19; Röm 8,9-11). Ich bin der tiefen Überzeugung, dass mein Erlöser mein gesamtes Menschsein, auch die Risse und Zerbrochenheiten meines Lebens, unter seinen Einfluss genommen hat. Christus ist mir zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung geworden (1Kor 1,31). Er ist nicht nur für mich, sondern er lebt durch den Heiligen Geist in mir. Alles in meinem Leben gehört zu ihm: jede Zelle meines hinfälligen Körpers; jede Dimension meines Innenlebens, meiner Psyche, meines Denkens und meiner Sehnsüchte. Ja, auch alles, was ich besitze, alle meine sozialen Beziehungen – eben alles, gehört zu ihm, den ich so gerne meinen „Heiland“, meinen „Messias“ nenne. Weil eben alles an mir, in mir und um mich her Jesus gehört, bin ich durch ihn „heilig“.

Und doch schlabbert immer wieder diese Unfertigkeit, die von Sünde geprägte Hinfälligkeit, wie ein alter stinkender Lappen um mich herum. Die Sünde hat ihre Macht verloren und der Satan kann brüllen und tosen, aber er wird mich nicht aus der Hand meines Herrn reißen können! Da spuckt und rotzt er in die Suppe des schmackhaften Glücks und Friedens, den nur Jesus geben kann. Er will verwässern, ausplündern und rauben, was Gott so unter seine Herrschaft genommen hat. Der „altböse Feind“ (Martin Luther) ist immer nur ein vom Neid erfüllter Möchtegern-Gott. Er beneidet Jesus. So zerrt und zieht er mein ganzes Leben lang an mir herum. Er will stehlen, was Jesus gehört. Doch dieser diabolische Neider ist es nicht wert, dass ich mich auf ihn konzentriere. Ich verlasse mich darauf, dass Jesus mit mir schon zurechtkommen wird. Trotzdem muss ich begreifen, dass dieser teuflische Feind ständig versucht, auf allen Ebenen meines Menschseins noch irgendwie zu Wort zu kommen oder sich einzumischen. Bei jenen, die mit Jesus schon vertraut sind, schlüpft er zuweilen sogar in lichte Höhen oder er verstellt sich wie ein „Engel des Lichts“ (2Kor 11,14). Er kommt daher mit frommen Worten und in einer religiös-spirituellen Gemengelage. Ja, ich kenne sehr wohl diese säuselnde Verlockung des Bösen, diese Stimme der Versuchung und Angst, die mich immer aus der Nähe und dem Frieden Gottes ziehen will. Deshalb frage ich lieber noch einmal nach, wenn ich unsicher bin: „Bist Du es, Herr?“

Sicher werden viele Christen diese Frage kennen. Sie gehört zum Leben in der Nachfolge Jesu dazu. Wir müssen es lernen, die Stimmen in uns, um uns, für uns oder gegen uns zu deuten. Das bezieht sich nicht nur auf das persönliche Hören auf Gottes Stimme, wenn wir etwa im täglichen Gebet sind. Diese Unterscheidung der Geister ist dringend erforderlich im gesamten geistlichen Geschehen in einem Gottesdienst, im gemeindlichen Leben. Die Geister sind zu prüfen in der Verkündigung, in den nachhaltigen Wirkungen von dem, was wir heute nur scheu als „Wunder“ bezeichnen. Die Geister sind zu prüfen in der Seelsorge, in der Lehre, ja sogar in der Diakonie. Die innerkirchliche Notwendigkeit der Prüfung der Geister ist hierzulande meines Erachtens zu sehr in eine Ecke von Experten gerutscht. Bei der weltweiten Ausbreitung charismatischer Frömmigkeit und der parallelen Wiederentdeckung der spirituellen Reichtümer einer zweitausendjährigen Kirchengeschichte wird die Frage nach dem Vollzug der Unterscheidung der Geister neu relevant. Es gibt zwar in der katholischen und orthodoxen Kirche eine jahrhundertealte Tradition der Lehre der Unterscheidung der Geister, die allerdings seit der Aufklärung nur noch zögerlich weitergeführt wurde. In den evangelischen theologischen Ausbildungsstätten wurde das Thema sträflich vernachlässigt.1 Doch gerade angesichts der neu aufflackernden Spiritualität und der interreligiösen Begegnung in der westlichen Gesellschaft darf die Fähigkeit und Notwendigkeit der Geisterunterscheidung nicht nur Expertensache sein! Viele Menschen fischen ahnungslos in der unsichtbaren Welt (Transzendenz) umher, weil sie transzendent obdachlos sind. Sie haben vielfach keine kirchliche Prägung und auch kein Vertrauen in diese alte Institution Kirche. So vagabundieren sie spirituell umher. Sie mixen sich ihre spirituellen Smoothies. Einige verirren sich, andere finden dabei den Geschmack an der Quelle allen Lebens in Jesus. In dieser spirituellen Mischkultur braucht die christliche Gemeinde mehr Orientierungshilfen für die Unterscheidung der Geister. Wir können es uns nicht leisten, in einer zunehmend spirituellen Zeit wie spirituelle Analphabeten unterwegs zu sein! So ist es ist mein Anliegen, Ihnen mit diesem Buch eine solche Orientierungshilfe zu geben, wie der Auftrag der Geisterunterscheidung als Basiskompetenz in der Gemeinde Jesu Christi neu entdeckt und wahrgenommen werden kann.

KAPITEL 1

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MENSCHLICHES DURCH GOTTES GEIST – GOTTES GEIST IM MENSCHEN

Es ist erstaunlich! Ich spreche von der Liebe, die Menschen miteinander verbindet und eint. Mit meiner Frau Christiane bin ich nun über 40 Jahre zusammen. Als kleine Kinder saßen wir schon gemeinsam auf der Schulbank. Doch richtig gefunkt hat es dann, als wir uns mit Anfang Zwanzig erneut begegneten. Gott hat uns zusammengeführt. Er hat uns von Anfang an zugemutet, dass wir Freude und Leiden teilen. Mit Kindern und Kindeskindern hat er uns reich gesegnet. Vielleicht sind wir nicht so ein ideales Ehepaar, wie man es bei Eheseminaren vorgestellt bekommt. Wir haben zum Beispiel in all den Jahren nie einen fixen Eheabend gehabt. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir in vielen Dingen sehr ähnlich sind: Wir haben eine gemeinsame Heimatstadt. Unsere Eltern lebten in guten bürgerlichen Verhältnissen. Beide lieben wir die Musik und die Zeiten, wenn wir faulenzen oder mit einem Buch in der Hand im Strandkorb liegen. Wir lachen über die gleichen Dinge. Wir können gemeinsam kommunizieren und auch gemeinsam schweigen. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass unsere Handschriften sich zunehmend ähneln. Es passiert nicht selten, dass wir beide unabhängig voneinander in der Stadt exakt die gleichen Dinge einkaufen. Und doch staune ich immer wieder: Wir sind dennoch unterschiedlich. Sie als Frau; ich als Mann. Immer wieder entdecken wir Seiten beim anderen, die uns wie noch verschlossene Knospen an einem duftenden Rosenstock vorkommen. Die Liebe eint und die Liebe ist wie die Sonne, die jeden einzelnen prächtig aufblühen lässt. Ja, ich staune über das Geheimnis der Liebe! Vielleicht ist die Ehegemeinschaft die intensivste Form der menschlichen Liebe; aber auch die Liebe zwischen Eltern und Kindern trägt in sich diese geheimnisvolle Kraft, die uns staunen lässt: „Fleisch von meinem Fleisch“. Zuweilen mögen wir diese Sprüche nicht hören. Hier und da ehren sie uns auch; je nachdem, worin wir unseren leiblichen Vorgängern bzw. Nachfolgern denn nun ähnlich sind.

Auch die Liebe zwischen Freunden, Geschwistern und Menschen, die durch den gemeinsamen Glauben an Jesus verbunden sind, kann uns nur ehrfurchtsvoll staunen lassen. Da spüren wir eine Einheit, die allerdings nicht vereinheitlicht. Wir gehen miteinander und füreinander auf, ohne uns im anderen zu verlieren. Vielleicht halten Sie es für überzogen, aber mich erinnert diese Erfahrung der Liebe an den einen, der selbst die verkörperte Liebe ist, an den dreieinen Gott. So wie Gott als Vater-Sohn-Geist eine soziale Einheit bildet und sich uns dennoch in der Vielfalt offenbart, so weist doch jede Erfahrung der Liebe auf diesen Gott der Liebe hin.

Wenn ich mit Ihnen darüber nachdenken will, wie wir die Stimme Gottes von unserer eigenen Stimme unterscheiden können, merken Sie sicher, dass es in diesem Buch um mehr gehen muss als um eine Hilfestellung zu einer guten Kommunikation zwischen Gott und Mensch. Die Kommunikation, die Mitteilung, hat ja etwas mit dem Teilen zu tun. Es geht nicht nur um ein Einswerden mit dem Willen Gottes, sondern mit ihm selbst. Darin liegt der Schlüssel für alle Geisterunterscheidung. So möchte ich zuerst darüber nachdenken, wie dieser Gott der Liebe mit uns Menschen in eine Fusion, eine Verschmelzung, eine Verbindung gelangen möchte. Sie merken es sicherlich: Mir fehlen eigentlich die richtigen Worte. Sollte ich womöglich von einer mystischen, sprich geheimnisvollen, Einheit zwischen Gott und Mensch sprechen? Soll ich von der „Erleuchtung“ reden oder von der „Einwohnung Gottes in meinem Herzen“? Alle diese Begriffe und sprachlichen Versuche werden immer an Grenzen kommen, dieses große Lebensgeheimnis einer Liebe zu beschreiben. Sei sie nun zwischen Mensch und Mensch oder sogar zwischen Gott und Mensch. Doch wie könnte ich mit Ihnen über die Unterscheidung der Geister nachdenken, ohne die Farben dieser vereinenden Liebe Jesu aufleuchten zu lassen? Je intensiver und intakter diese Verbindung zwischen Gott und Mensch ist, umso weniger fragt der Mensch ständig nach dem Willen Gottes. Er fühlt es, er weiß es, er kennt doch diesen Gott. Ja, er ist Teil von ihm geworden oder Gott hat sich durch seinen Geist in Jesus „mit-geteilt“, im wahrsten Sinn des Wortes. Diese Einheit zwischen Gott und Mensch ist noch intensiver als die Einheit, die ein reifes Ehepaar genießen kann.

Die Sehnsucht Gottes nach den Menschen

Eigentlich hätte Gott bei sich bleiben können, doch er hat diese wunderschöne Welt geschaffen mit aller Vielfalt des Lebens. Der Schöpfer möchte nicht ohne seine Schöpfung sein. Alles soll etwas widerspiegeln von seiner Identität. Den Menschen erschuf er sogar „als sein Bild“ (1Mo 1,27), und er berief ihn in die Liebesgemeinschaft mit sich selbst und mit seiner Schöpfung. Er vertraute dem Menschen das Geschaffene an (1Mo 2,15). Doch in der Auflehnung gegen Gott und seine Ordnungen, durch die Sünde, kam es zu dem verhängnisvollen Bruch der Gott-Mensch-Beziehung. Aus der Traum! Oder? Hatte Gott den Menschen überschätzt oder diese alte listige Schlange übersehen? Warum dieses verführerische Zischeln des Bösen – „Sollte Gott gesagt haben …?“ – uns schon auf den ersten Seiten der Bibel begegnet, können wir wohl niemals in der gewünschten Logik begreifen, aber dass es diese diabolischen Zwischenrufe schon gleich zu Beginn der Schöpfung gab, bezeugen diese ersten Worte der Bibel. Der Teufel, die alte Schlange, der Widersacher Gottes, der Verkläger (Satan) oder der Durcheinanderwerfer (Diabolos) – wie auch immer die Bezeichnungen für diesen „Möchtegern-Gott“ ausfallen, er will sich einmischen. Er zischelt nicht nur seine verschlungenen Fragen, sondern er „geht umher wie ein brüllender Löwe“ (1Petr 5,8). Wenn ich die biblischen Schriften richtig deute, so wird der Teufel zum Ende dieser Weltzeit immer lauter brüllen, wohl vergleichbar mit dem immer lauteren Schreien einer Kreatur in Todesangst, die weiß, dass sie keine Zukunft mehr hat. Doch niemals kann dieses teuflische Schreien die Rufe des sehnsüchtigen Gottes übertönen!

Die paradiesische Gemeinschaft war beendet, aber weil dieser Gott voller Liebe ist, überließ er seine Schöpfung nicht sich selbst. Er gab weiterhin Grenzen und Schutz. Mit einzelnen Menschen war er sogar wie ein Freund, z.B. mit Abraham (Jak 2,23) oder Mose (2Mo 33,11). Gott streckte neu seine Hand aus, er verband sich mit Noah, mit Abraham, mit Jakob und mit Mose und seinem auserwählten Volk der Juden. Er erwählte Frauen und Männer, die er zeitlich begrenzt mit seinem Geist salbte und dadurch zu außergewöhnlichen Offenbarungen und Taten befähigte. Er gab ein ganzes Ordnungswerk, die Zehn Gebote und die Thora, um den Weg des Lebens aufzuzeigen. In seiner Sehnsucht, bei den Menschen zu wohnen, gewährte er ihnen, Orte der Gottesbegegnung zu schaffen. Gott zeigte seine Präsenz zur Zeit der Wüstenwanderung durch die sichtbaren Zeichen der wegweisenden Wolken-bzw. Feuersäule (2Mo 13,21-22). Er manifestierte seine heilige Gegenwart bis zur Zeit Davids in der Stiftshütte und schließlich im Tempel Salomos (957 – 587 v.Chr.) bzw. im zweiten Tempel, der nach der babylonischen Gefangenschaft erbaut wurde (ab 515 v.Chr). Unter Herodes dem Großen (21 v.Chr) wurde dieser Tempel völlig neu ausgebaut und erweitert und 70 n.Chr. zerstört. Orte der Sehnsucht Gottes nach den Menschen. Aus der Traum?

Von allen diesen heiligen Orten wird uns berichtet, dass Gott dort mit seiner Herrlichkeit (hebr. kavot) erfahrbar war. Gott kommunizierte sein Wesen, seinen Willen. Es gehört zum Wesen der Liebe, dass sie sich mitteilt und kommuniziert. Gleichwohl wurde diese sich mitteilende Nähe Gottes immer unterbrochen und löste nicht selten Erschrecken und Ehrfurcht erregende Distanz aus. Der Grund dafür lag bei der menschlichen Sünde und der Agitation des teuflischen Neiders und Lügners. Die liebende Sehnsucht Gottes nach allem, was verloren schien, bahnte hingegen neue Wege. Schon im alten Bund offenbarte Gott seinen Propheten, dass es eine Zeit geben werde, in welcher er nicht nur an äußerlichen Orten bei seinem Volk wohnen werde. Dann wird er seinen Geist nicht nur einigen Auserwählten senden, sondern ihn ausgießen auf alles Geschaffene (Fleisch) und seine Weisung (Thora) in die Herzen der Menschen geben (Joel 3,1; Jes 44,3; Hes 36,25ff; 39,29). Verknüpft wurde diese Verheißung mit der Sendung eines Erlösers, eines Messias, der diese Einheit zwischen Mensch und Gott wiederherstellen wird. Dieser Messias wird die Sünde überwinden, Heilung und Frieden vermitteln. Mit ihm wird eine neue Zeit anbrechen, eine Zeit der neuen Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch (Jes 2,1ff; 9,1-6; 42,1f; 49,1ff; 50,4-9; 53,1ff). Die sehnsüchtige Liebe Gottes sucht, was verloren ist. Sie sucht den Menschen, der auf das Ewige hin geschaffen ist und sich in der Gegenwart verheddert.

In der rabbinischen Tradition wurde das Motiv der Einwohnung oder Wohnstatt Jahwes unter dem hebräischen Begriff der Schechina bedacht.2 Wenngleich dieser Begriff als Substantiv in der hebräischen Bibel nicht vorkommt, so kennzeichnet er wie kaum ein anderer die Auswirkungen, die immer dann auftreten, wenn Gott bei den Menschen wohnt. Das Bedeutungsspektrum von Schechina erstreckt sich von Glanz, Herrlichkeit, Schönheit, Heiligkeit bis hin zu Frieden und Ruhe. Immer, wenn Gott zugegen ist, ist die Schechina Gottes, die Herrlichkeit Gottes da. Die Liebe ist präsent. In dem Maß, wie der Tempel nicht mehr der „Treffpunkt Gottes“ war, breiteten sich die Messiaserwartung und die Erwartung einer Ausgießung des Heiligen Geistes auf alles Volk im Spätjudentum aus.

Nicht nur die Juden standen und stehen in dieser Erwartung. Gott selbst sehnte den Tag herbei, die Erfüllung der Zeit, in der die Menschen nicht mehr wie Sklaven unter den Mächten dieser Welt und Sünde stehen müssen. Die liebende Sehnsucht Gottes bekommt einen Namen: Jesus. „So waren auch wir, als wir Unmündige waren, unter die Elemente der Welt versklavt; als aber die Fülle der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter dem Gesetz, damit er die loskaufte, die unter dem Gesetz waren, damit wir die Sohnschaft empfingen. Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der da ruft: Abba, Vater!“ (Gal 4,3-6). In Jesus wird Gott ganz Mensch, ganz Fleisch von unserm Fleisch. „Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14). In Jesus offenbart Gott seine ganze Schechina. So sieht es aus, wenn Gott und Mensch sich vereinen. Jesus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes. In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit. Durch ihn hat Gott den garstigen Graben der trennenden Sünde überwunden und alles mit sich versöhnt, „indem er Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes – durch ihn, sei es, was auf der Erde oder was in den Himmeln ist“(Kol 1,20). Es gehört zum Fundament christlicher Wahrheit, dass nur durch Jesu Hingabe am Kreuz, durch sein Blut, die Sünde überwunden werden kann. Da ist keinerlei menschliches Zutun nötig und möglich. Doch durch das Geschehen von Kreuz und Auferstehung ist die Tür für eine neue Gemeinschaft, eine neue Verbindung zwischen Gott und Mensch gegeben. Die Vergebung der Schuld und Sünde soll nicht nur die Tür zum Himmel öffnen, sondern gleichsam dazu befähigen, dass wir hier auf der Erde schon im Geist Jesu leben und handeln. Das erwartete messianische Friedensreich ist angebrochen. In diese neue Existenzweise sollen nicht nur Menschen aus dem jüdischen Volk gerufen werden, sondern alle, die durch „Wasser und Geist“ eine neue geistliche Geburt erfahren (Joh 3,5).

Der auferstandene Jesus erklärt seinen Jüngern vor seiner Himmelfahrt vierzig Tage lang nochmals alle Dinge, die mit dieser neuen Existenzweise im Reich Gottes zu tun haben (Apg 1,3). Er mahnt sie, dass sie auf die Ausgießung des Geistes warten sollen. Gott kann nur in einem Menschen wohnen, wenn auch Jesu Geist in ihm ist. Pfingsten ist nicht nur ein Anhängsel an Karfreitag und Ostern, sondern ermöglicht erst die Ausbreitung des Reiches Gottes. Karfreitag und Ostern bezeugen, dass Jesus für uns ist. Pfingsten ermöglicht es, dass Jesus in uns lebt. Gottes Liebe will ankommen in der Mitte unseres Lebens. „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist“ (Röm 5,5).

Wie und wann Menschen diesen Geist Gottes empfangen, wird uns in unterschiedlicher Weise in den Texten der Apostelgeschichte berichtet. Der Empfang der Gabe des Geistes gehört an den Anfang der geistlichen Geburt. Er steht in einem engen Erlebniszusammenhang mit der Umkehr (Buße) des Menschen und seinem Bekenntnis des Glaubens. Er wird bezeugt im Zusammenhang mit der Taufe. Der Geistempfang kann im Zusammenhang mit der Bekehrung (Apg 10,44ff), mit dem Empfang der Taufe (Apg 2,38) oder auch nach der Taufe (Apg 8,15-16) geschehen. Wichtig ist, dass der Geistempfang geschieht – auf die Art und Weise kommt es nicht an. Die Gabe des Geistes Gottes wird unmittelbar erlebt; er kommt über einen Menschen; Menschen werden damit „getauft“, sprich wie in ein Wasser hineingetaucht. In anderen Berichten der Apostelgeschichte lesen wir, dass die Apostel Menschen die Hände auflegten.

Im Lauf der Kirchengeschichte gelangte man in den verschiedenen Konfessionen zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen darüber, wie man den Heiligen Geist empfängt. Während in der katholischen und orthodoxen Tradition der Geistempfang im Sakrament der Firmung nach dem Empfang der Taufe verortet ist, verbinden die Reformatoren ein solches Geschehen enger mit der Taufe bzw. mit der Buße des Menschen. In charismatisch-pfingstlichen konfessionellen Prägungen wird der Geistempfang vielfach nach der Bekehrung und Taufe erbeten.

Ich bin zunehmend davon überzeugt, dass weder der Zeitpunkt noch die Art und Weise, wie der Geist empfangen wird, entscheidend ist. Ich kenne und schätze vom Geist Gottes erfüllte Menschen in allen mir bekannten christlichen Konfessionsfamilien. Wichtig ist allerdings, dass in allen kirchlichen Gruppierungen das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Empfangs des Geistes Gottes neu in den Blick genommen wird. Denn ohne den Geist Gottes wird ein christliches Leben hier auf der Erde nicht möglich sein. Ohne den Geist Gottes wohnt Jesus nicht im Menschen, mag er auch noch so religiös und spirituell interessiert und gebildet sein. Der Apostel Paulus bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „Ihr aber seid nicht im Fleisch, sondern im Geist, wenn wirklich Gottes Geist in euch wohnt. Wenn aber jemand Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein. Ist aber Christus in euch, so ist der Leib zwar tot der Sünde wegen, der Geist aber Leben der Gerechtigkeit wegen. Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus Jesus aus den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen wegen seines in euch wohnenden Geistes“ (Röm 8,9-11).

Diese Vereinigung der Liebe zwischen Gott und Mensch ermöglicht eine neue Existenz, die wir so schwerlich in Worten beschreiben können. Wir finden im Zeugnis des Neuen Testaments eine christologische Aussage, die geradezu mystisch klingt: „Bleibt in mir und ich in euch! …Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht, denn getrennt von mir könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,4.5). Paulus bezeugt seine neue Existenzweise mit den Worten: „Ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben, und zwar im Glauben an den Sohn Gottes“ ( Gal 2,19-20). Diese Einheit des Menschen mit Gott wird vom Menschengeist sogar bestätigt. Es kommt zu einem kooperativen Vergewisserungsvorgang. „Der Geist selbst bezeugt zusammen mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind“ (Röm 8,16). Hier klingt an, dass diese liebende Verbindung zwischen Gott und Mensch zugleich eine neue Kompetenz und Bestimmung des Menschen mit sich bringt. Durch den Geist Gottes hat der Mensch so etwas wie eine „Christus-Implantation“, ausgehend von einem neuen Identitätszentrum, dem Heiligen Geist, der auch als Christi Geist (Röm 8,9) oder als väterlicher Geist Gottes (Röm 8,14) bezeichnet wird. Der Heilige Geist operiert in der gleichen Sendung, im gleichen Auftrag wie Jesus, bzw. Gott-Vater. „Wie der Vater mich ausgesandt hat, sende ich auch euch!“(Joh 20,21). Der vom Geist Gottes erfüllte Mensch handelt, spricht, denkt, fühlt und lebt „im Namen Jesu“ (Kol 3,17). Die Kommunikation zwischen Gott und Mensch gewinnt eine neue Dimension: „Ihr habt nicht mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibe, damit, was ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, er euch gebe“ (Joh 15,16). Die Einheit zwischen Gott und Mensch gibt der gesamten Existenz des Menschen einen neuen Glanz, eine Ausstrahlung. Jesus leuchtet in und durch den vom Geist Gottes erfüllten Menschen. So wie er das Licht ist, sollen auch sie „Licht der Welt“ sein. Die Ausstrahlung des Heiligen aus dem erlösten Menschen hat Auswirkungen. Nicht nur der innere Mensch atmet auf in der Gemeinschaft mit Gott. Nicht nur der Geist des Menschen wird vom Geist Gottes umfangen und nicht nur die Seele des Menschen wird berührt, sondern auch der noch von den Auswirkungen der Sünde gezeichnete Körper wird zu einer Wohnung des Geistes Gottes. „Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes in euch ist, den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?“ (1Kor 6,19). Vom leiblichen Körper eines Christen sollen „Ströme lebendigen Wassers“ (Joh 7,38) fließen. Der Geist Gottes soll durch alle Poren hindurch fließen, ja, selbst durch alle Schwachheit und Gebrochenheit des menschlichen Seins aufleuchten (2Kor 4; 12,10). Gottes sehnsüchtige Liebe hat eine Bleibe im Menschen gefunden. Alle Erfahrung der Vorläufigkeit wird den Glanz der Ewigkeit nicht auslöschen.

Der Geist Gottes und der Menschengeist

Wie geschieht dieses „Wohnen“ des Gottesgeistes im Menschen konkret? Schon als Jugendlicher fragte ich mich, wo denn nun der „Landeplatz“ des Heiligen Geistes beim Menschen ist. Da bietet sich zum einen mein Herz an. Ich spreche hier nicht vom menschlichen Organ des Herzens, sondern von diesem inneren Mittelpunkt allen Menschseins, nicht zu verwechseln mit dem menschlichen Gehirn. Die biblischen Aussagen über den Menschen sortieren sich nicht in der logischen Systematik, die ich mir als Theologe wünsche. Eins allerdings fällt mir auf: Insbesondere im alttestamentlichen Zeugnis wird hervorgehoben, dass der Mensch auf Gott, Mitmensch und Mitschöpfung angewiesen und ausgerichtet ist3. Der Mensch hat eine Mitte, eine Art Steuerungs- und Identitätszentrum. Diese Mitte wird „Herz“ genannt. Im Zeugnis der neutestamentlichen Schriften ist der Einfluss der griechischen Philosophie erkennbar, wenn der anthropologische Dreiklang von Geist, Seele und Leib zur Sprache kommt (1Thess 5,23; Hebr 4,12). Das innere Steuerungs- und Identitätszentrum des Menschen wird u.a. als „Geist“ (griech. pneuma) bezeichnet.4 Der Geburtsort des erlösten Menschen ist in dieser Mitte unseres Lebens angesiedelt, wie immer wir sie bezeichnen wollen. „Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist neu geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes hineingehen“ (Joh 3,5). Jesus betont diese neue Geburt des Menschen durch den Geist Gottes und die ganzheitliche Erfahrung der Taufe (Wasser).

Ich muss offen gestehen, dass ich viele Jahre meines Lebens angenommen habe, dass der Geist Gottes bei meiner Bekehrung an die Stelle meines menschlichen Geistes getreten sei. Oder alttestamentlich gesprochen: Ich habe ein neues Herz, so wie es beim Propheten Hesekiel schon verheißen war: „Ich werde ihnen ein Herz geben und werde einen neuen Geist in ihr Inneres geben, und ich werde das steinerne Herz aus ihrem Fleisch entfernen und ihnen ein fleischernes Herz geben, damit sie in meinen Ordnungen leben und meine Rechtsbestimmungen bewahren und sie befolgen“ (Hes 11,19-20). Wie würde sich aber nun Gottes Geist in die anderen „Etagen“ meines Lebens weiterentwickeln? Meine Annahme war, dass es mit meiner Kooperationsbereitschaft zu tun habe, sprich: Die Verantwortung für die Heiligung meiner Psyche, meines Leibes und meines sozialen Verhaltens könne nur geschehen, wenn diese Kooperation auch funktioniert. Heute sehe ich das im Licht des biblischen Zeugnisses differenzierter. Der Geist Gottes ist nicht nur in eine Seelenspitze ausgegossen, egal ob ich hier vom Geist oder vom Herzen spreche. Die Wohnung und somit der „Landeplatz“ des Heiligen Geistes ist mein gesamtes Leben. Der Geist fließt in der göttlichen Vitalität in alle „Etagen“ und durch alle Poren meines Daseins. Mein menschlicher Geist ist nicht ausgelöscht oder lahmgelegt. Er ist funktionsfähig, denn der Geist Gottes bezeugt in meinem menschlichen Geist, dass ich ein Kind Gottes bin (Röm 8,16).

Wie aber breitet sich dieses neue Leben denn nun in mir aus? Gewiss bedarf es hier einer Zusammenarbeit des Menschen mit Gottes Geist. In der Heiligung sind wir Partner Gottes. Ich bin zwar ein ganz anderer geworden, gleich einer völlig neuen Schöpfung (2Kor 5,17), und dennoch merke ich in allen Bereichen noch die alte Existenz, so als hätte sie Schleifspuren hinterlassen. Diese alte von Unerlöstheit und Gottesferne geprägte Selbstherrlichkeit des Menschen begleitet den Prozess der Heiligung und des Lebens geradezu wie ein fauliger Geruch des Todes. Menschen, die eine tiefgehende Bekehrung erleben, wundern sich anschließend, dass die neue Kreatur in uns nicht so offenkundig hervortritt, wie sie es erwartet haben. Diese Schleifspuren der alten Existenz melden sich allerdings noch bis zum letzten Atemzug. Sie sind nicht nur in den leiblichen Dimensionen des Menschseins offenkundig, etwa durch die Erfahrung des Vergänglichen, sondern auch auf der psychischen und geistigen Ebene. Mein Verstand kennt nicht nur die hellen Momente der Offenbarung, der Gotteserkenntnis, sondern auch die dunklen Zeiten. Meine Emotionen, Motivationen, Intuitionen und meine Beziehungen, alles ist zwar unter die neue Herrschaft Christi gekommen und der Geist Jesu will auch alle diese Bereiche durchdringen, aber da sitzt so mancher Dreck des Hochmuts und der Sünde noch sehr fest. Ich sollte mich nicht darüber wundern, denn die vielen Ermahnungen und Aufrufe in den biblischen Schriften, dem neuen Menschen nun auch genügend Entfaltung zu geben und die Sünde abzulegen, stehen dort ja nicht zufällig. Dennoch verwundert mich die Beobachtung, dass im christlichen Leben himmlische Erfahrungen parallel mit massiven satanischen Triumphschlägen auftreten können. Die Heiligen der Bibel waren immer auch angefochtene, geschlagene, irrende und scheiternde Menschen. Ich denke an Petrus, der Jesus verleugnete, oder an Paulus, der vom „Engel des Satans“ mit Fäusten geschlagen wurde. Dabei handelte es sich offenbar um eine leibliche Erfahrung, denn er spricht von einem „Dorn für das Fleisch“ (2Kor 12,6-7). Paulus weiß, dass Christen auch Niedergeschlagenheit, Ausweglosigkeit, Ablehnung und Angst erleben können (2Kor 4,7-12). Das neue Sein in Christus ereignet sich erfahrungsgemäß in den angeschlagenen Gefäßen unserer menschlichen Existenz. Es kann durchaus sein, dass ich in einigen Bereichen meines Lebens von einem Sieg zum anderen gehe; in einem anderen Moment des Lebens jedoch stolpere ich zwischen Schwächen und sündhaftem Verhalten umher oder ich werde bis zur Unerträglichkeit mit diabolischer Kraft konfrontiert. In solchen Momenten will ich aufgeben, zweifeln und das neue Leben in mir oder auch in anderen Christen infrage stellen.

Was ich hier in Bezug auf persönliche Erfahrungen schreibe, pocht noch stärker an meiner Glaubensgrundlage, wenn ich die soziale oder kosmische Dimension der Erlösung betrachte. Ich bezeuge mit aller Klarheit, dass das Reich Gottes angebrochen ist. Wir leben nach Pfingsten und Gottes Geist fließt hinein in diese geschaffene Welt. Nicht nur einzelne Menschen erleben Erlösung, sondern alles Geschaffene, alle Nationen und sozialen Konstellationen dieser Welt sollen hier und jetzt hören und wahrnehmen, was es bedeutet, wenn der Friede Gottes, der Messias der Welt, auf den Plan tritt. Das biblisch-apostolische Zeugnis weist darauf hin, dass dieses angebrochene Reich Gottes auf den Tag der Vollendung zusteuert. Ich lebe in dieser sehr aufregenden Zeit auf diesem Globus. Als ich geboren wurde, lebten nur etwa ein Drittel so viele Menschen auf der Erde wie heute. Durch die globale und digitale Vernetzung ist die Welt in meinem Wohnzimmer ein Dauergast geworden. Wenn ich gemeinsam mit allen Christen dieser Welt bete: „Dein Reich komme! Dein Wille geschehe!“, so weiß ich, dass sich an jedem Tag Zigtausende Menschen zu Jesus bekehren und eine neue Schöpfung in ihm werden. Halleluja! Mit Staunen und Ehrfurcht erlebe ich, wie die Gemeinde Jesu Christi neu zusammenrückt und wie neue Gemeinden entstehen. Ich selbst darf nicht nur Zeitzeuge sein, sondern Mitgestalter dieses Aufbruchs, dieses angebrochenen Reiches Gottes. Aber zugleich erlebe ich die Zunahme von Sünde, von offenkundiger Bosheit, Kriegen, Flucht, Ausbeutung der Schöpfung und Ängsten. Zaghaft frage ich: Ist das Königreich Gottes wirklich angebrochen? Warum tobt der Böse so sehr? Einerseits ist das Reich Gottes wirklich schon da, andererseits lässt es auf sich warten. Es ist „schon jetzt“ erfahrbar und real. Andererseits erlebe ich, dass es da auch ein „noch nicht“ gibt. Da seufzt dann nicht nur die Schöpfung um mich herum nach Erlösung, sondern auch ich, der ich doch den Heiligen Geist empfangen habe. Freilich, ich bin nicht allein mit dieser Spannung zwischen „schon jetzt“ und „noch nicht“.

Paulus bezeugt diese Wahrnehmung treffend, wenn er schreibt: „Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und in Geburtswehen liegt bis jetzt. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst und erwarten die Sohnschaft; die Erlösung unseres Leibes“ (Röm 8,22-23). Der Geist Gottes selbst vertritt mich dann mit „unaussprechlichen Seufzern“ (Röm 8,26). Ich erlebe die neue Existenz wie ein solches seufzendes Warten, ein hoffnungsvolles Warten, das von zunehmender Gewissheit geprägt ist. Offensichtlich wohnt Gott in diesen Hütten, Ställen und Zelten des Menschen, in diesen Vorläufigkeiten des Lebens. Er hält es mit uns Menschen aus, weil er uns liebt. Die Ewigkeit Gottes vermischt sich mit der Gegenwart des Vorläufigen. Der Geist Gottes kooperiert mit dem Geist des Menschen. Ja, die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen (Röm 5,5); sein Licht ist in uns angezündet, aber wir sehen es noch nicht so klar, wie es wirklich ist. Da ist immer noch der Nebel des „noch nicht“, da ist immer noch die Erkenntnis, die neugierig macht, weil sie auf das Vollkommene verweist: „Denn wir erkennen stückweise, wir weissagen stückweise; wenn aber das Vollkommene kommt, wird das, was stückweise ist, weggetan werden“ (1Kor 13,9-10).

Die Vermengung von Gott und Mensch

Vielleicht reiben Sie sich gerade die Augen. Was ist denn das? Eine Vermengung von Gott und Mensch? Ist das nicht anmaßend, so etwas zu denken oder sogar zu schreiben? Ich darf Ihnen versichern, dass ich selbst gezögert habe, diesen Ausdruck zu wählen, um die Einwohnung Gottes bei uns Menschen zu beschreiben. Vielleicht fühlen Sie sich wohler, wenn ich es mit Jesu Worten christologisch formuliere: Christus in uns und wir in Christus (vgl. Joh 15,1ff). Oder ich hätte schlicht das Bekenntnis des Apostels zitieren können „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir!“ (Gal 2,20). In vielen pietistischen, evangelikalen und pfingstlich-charismatischen Gemeinschaften gibt es durchaus eine Art der verkappten Jesusmystik, welche die Grenzen zwischen Mensch und Jesus verschwimmen lässt. In anderen christlichen Frömmigkeitskulturen herrscht hingegen eine ausgeprägte Sprache der Distanz zwischen Gott und Mensch, die häufig als Ausdruck der Ehrfurcht gewählt wird. Da ist man mit Gott sozusagen per „Sie“ und nicht per „Du“; er ist der Allmächtige, der Ewige und weniger der Freund und Vertraute. Wie immer auch die persönliche spirituelle Prägung sein mag, so ist eines im biblischen Zeugnis eindeutig: Der ewig Heilige, der „ein unzugängliches Licht bewohnt, den keiner der Menschen gesehen hat, und auch nicht sehen kann“ (1Tim 6,16), ruft uns in Jesus zu: „Ihr seid das Licht der Welt!“ (Mt 5,14). Gemeinsam dürfen wir bekennen: „Gott, der gesagt hat: ‚Aus Finsternis wird Licht leuchten!‘, er ist es, der in unseren Herzen aufgeleuchtet ist zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi“ (2Kor 4,6). Ist das nun eine Vermengung von Licht und Finsternis? Erinnern wir uns an das Stichwort der Schechina, der Wohnung Gottes bei den Menschen. Da lesen wir sehr klar: „Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14). Da „vermengt“ sich doch Gott selbst mit uns Menschen, sodass wir bekennen, dass Jesus Christus „wahrer Mensch und wahrer Gott“ zugleich ist. Er kommt ins Fleisch, er wird Mensch, damit wir Menschen „gleichwie“ er werden. Die Genetik des Himmels, des Heilandes Jesus soll sich fortpflanzen in allen Menschen, die ihn aufnehmen. Sie sollen in seinem Namen beten, reden und handeln (Kol 3,17), sie werden im Anschauen seines Bildes verwandelt in dasselbe Bild „von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie es vom Herrn, dem Geist, geschieht“ (2Kor 3,18). In diesem Sinn möchte ich den Begriff der „Vermengung“ verstanden wissen.

Das Zusammenwirken von Gott und Mensch ist bei Jesus allerdings anders, als es sich nun im Leben seiner Jünger niederschlägt. Der Mensch wird nicht in gleicher Weise wesenseins mit Gott, so wie Jesus als Mensch wesenseins mit Gott ist. Wenn ein Mensch durch den Geist Gottes neu geboren wird, stößt Gott damit einen Prozess an, der aber immer unter Mitwirkung des Menschen erfolgt. Der Theologe Rudolf Bohren hat den Begriff der „theonomen Reziprozität“5 aufgenommen und bezeichnet damit diesen Vorgang der Einwohnung folgendermaßen: „Der Geist wird anonym, ist kaum mehr zu identifizieren; er mischt sich mit dem Menschlichen. Er kann sich im Menschlichen verstecken, er kann sich verlieren; denn nun vereinigt er sich nicht nur mit dem Sündlosen aus Nazareth, sondern mit dem Sünder von überall und anderswo, und dieses Vereinigen und 67