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»You can get much farther with a kind word and a gun than you can with a kind word alone.«
Al Capone

Prolog

Den zerbrochenen Spaten trug er wie eine Trophäe zum Geräteschuppen. Der Frühlingstag war kalt, aber er schwitzte unter seinem Arbeitskittel. Seine Kehle war trocken und die Hose zu eng. Schuld daran war der kleine Zettel in der Hosentasche, der Zettel mit der unmißverständlichen Botschaft: 14 Uhr, Geräteschuppen, alles, was du willst! Das war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er malte sich aus, wie es sein würde. Dort, wo er vorher zwei Jahre lang gewesen war, wäre sowas unmöglich gegangen, aber hier war alles viel lockerer. Bei der Gartenarbeit war man relativ unbeobachtet, wenn man es darauf anlegte, dann konnte man sogar abhauen. Aber das wollte er gar nicht. Wenn er keinen Scheiß baute, dann war in einem halben Jahr Schluß, dann wäre er frei. Er wollte, nein, er mußte nur um zwei Uhr in diesem verdammten Schuppen sein. Also hatte er vorhin den Stiel des Spatens auf einen Stein donnern lassen. Das Holz war sofort geborsten.

»Hol dir einen neuen aus dem Schuppen, und paß nächstens ein bißchen auf«, hatte der Typ, der für die Gartengeräte zuständig war, gebrummt und war wieder hinter seiner Motorfräse hergelaufen.

Für einen flüchtigen Moment bekam er Angst. Womöglich war das eine Falle, vielleicht wartete da drin eine Schwuchtel auf ihn, oder zwei oder drei. Denn die Botschaft war klar, nicht aber von wem sie stammte. Seine Bedenken wurden zerstreut, als er sich dem Ziel näherte. In der Tür stand ein Mädchen. Er sah nur das lange, dunkle Haar und ihren Körper, ein bißchen mager, aber unter den gegebenen Umständen durfte man nicht wählerisch sein. Unter dem T-Shirt zeichneten sich die Brüste ab. Ihr Gesicht sah er nicht, es lag im Schatten einer Baseball-Kappe, und auf das Gesicht kam es schließlich nicht an. Sie verschwand in der Tür, als sie ihn kommen sah. Er mußte sich zurückhalten, um die letzten Meter nicht zu rennen. Das würde auffallen. Er trat durch die Tür. Sein Blut kochte. Drinnen war es dunkel, er sah nichts, auch nicht das Blatt der Schaufel, das die Luft durchschnitt und gegen seine Stirn donnerte.

Als er zu sich kam, saß er in einem Wagen. Der Wagen stand. Draußen waren Bäume, ein Wald. Sein Kopf tat weh, er wollte sich bewegen, aber etwas hielt ihn auf dem Sitz fest. Klebebänder. Er war mit Klebeband an den Sitz gefesselt, unfähig sich zu rühren. Vor dem Wagen sah er das Mädchen. Sie hatte einen Kanister in der Hand und schüttete Benzin über den Wagen und durch das offene Seitenfenster. Er konnte es riechen, das Benzin. Er öffnete den Mund zu einem Schrei. Sie lächelte. Dann riß sie ein Streichholz an und warf es unter den Wagen.

I.

Der Nebel drang zwischen den Bäumen hindurch und hielt die kleine Gruppe in seiner feuchten Umklammerung, so daß die Stimmen und das Lachen wie durch Mullbinden gedämpft klangen. Jonas hatte etwas am Boden gefunden, das er dringend untersuchen mußte. Die anderen hatten sein Fehlen bemerkt und waren stehengeblieben.

»Was gibt es denn da, Jonas?« fragte Raphael mit einem unterdrückten Seufzen.

»Losung vom Schwarzwild«, erklärte Jonas. »Winterlosung, um genau zu sein.« Er hatte seine Digitalkamera umhängen, ein Geschenk seiner Eltern zu seinem neunten Geburtstag vor drei Wochen, am ersten März. Jetzt fotografierte er damit die schwarzbraunen Knollen.

»Alter, ich halt’s nicht aus! Der knipst Scheiße!« krähte Daniel.

»Das ist keine Scheiße, sondern Losung. Bei Wild heißt es Losung«, erklärte Jonas ernst. »Stimmt’s Raphael?«

Der nickte. »Wenn du es sagst. Aber jetzt bleib bitte bei der Gruppe, sonst verlieren wir dich.« Raphael, der sechzehnjährige Gruppenleiter, hatte zu einem »morgendlichen Erkundungsgang« aufgerufen. Auf dem Rückweg sollte jeder der acht Jungen einen Armvoll Holz sammeln, damit sie ihre Jurte wieder heizen konnten. In der letzten Nacht war das Feuer ausgegangen, Jonas hatte im Schlafsack gefroren.

Seit er vor zwei Jahren den Pfadfindern beigetreten war, war er allmählich zu einem Experten geworden, was Wald und Natur betraf. Er konnte alle Bäume identifizieren, auch im Winter. Er wußte die Namen der Sträucher, Farne und Wildblumen. Er erkannte, ob über der Lichtung ein Bussard kreiste, ein schwarzer Milan oder eine Kornweihe. Wenn er nicht mit dem Mikroskop seines Vaters experimentierte, las er Bücher oder Internetseiten über Tiere und Pflanzen. War das eine Misteldrossel, die da eben gerufen hatte? Oder doch eine Wacholderdrossel? Wenn die da vorne bloß mal ruhig sein könnten! Jonas blieb erneut stehen und horchte. Vergeblich. Es war nichts anzufangen mit den anderen. Sie trampelten durch den Wald, sahen nichts, hörten nichts, lärmten und verscheuchten damit das Wild. Die Wildtiere, die in den heimischen Wäldern und Feldern vorkamen, kannte Jonas alle. Sogar so ausgefallene wie das Mauswiesel oder den Siebenschläfer. Er wußte, wie sie lebten, was sie fraßen, und er erkannte ihre Spuren und Hinterlassenschaften. Das da zum Beispiel, was aussah wie ein Klumpen aus einem Staubsaugerbeutel, das war ein Bussardgewölle. Er fotografierte es für seine Sammlung. Etwas weiter vorn hatte sich ein Hase erleichtert, aber Bilder von Hasenkötteln hatte er schon genug. Doch dort, in diesem Schneerest, das könnte eine Fuchsspur sein. Jonas ging auf den Schneeflecken zu, der sich unterhalb des Trampelpfades am Fuß einer kahlen Eiche befand. Es war März, und diese Wochenend-Freizeit war die erste in dem Jahr. Jonas beugte sich über die Spur. Sie war noch nicht alt, vielleicht einen Tag, und gut erhalten, denn es hatte gestern nacht leichten Frost gegegeben. Er beugte sich weiter hinunter. Die Abdrücke sahen aus wie die eines großen Hundes, aber eine Hundespur hatte immer versetzte Abdrücke. Nur trabende Füchse schnürten so, daß die Pfoten auf einer Linie lagen. Doch die Trittsiegel waren viel zu groß für einen Fuchs. Für alle Fälle machte Jonas zwei Fotos von der Spur. Dann fiel ihm etwas ein. Das kleine Buch mit den Fährten, Tierlosungen und Vogelflugschemen steckte, wie immer, in der Innentasche seiner Jacke. Und wirklich: Es gab eine solche Spur in seinem Fährtenbuch.

Jonas haßte es, wenn im Wald herumgebrüllt wurde, deshalb rannte er den anderen hinterher. Aber das war nicht der einzige Grund, der ihn rennen ließ, so schnell er konnte. Wo waren sie nur? Lief er eigentlich in die richtige Richtung? Er blieb stehen, keuchte. Ganz weit weg glaubte er ihre Stimmen zu hören. Er lief weiter, er wollte raus aus diesem Wald, nur raus. Am Waldrand holte er sie ein. Sie hatten mit Holzsammeln begonnen, und ausnahmsweise war Jonas froh, daß sie so lärmten. Atemlos stolperte er auf sie zu.

»Jonas, du solltest doch bei der Gruppe bleiben, verdammt!«

»Ihr ratet nie, was ich eben gefunden habe«, stieß Jonas hervor.

»Yetischeiße?« fragte einer.

»Eine Spur«, sagte Jonas. »Eine Spur, die …« Er unterbrach sich und verstummte.

»Ja, was nun?« fragte Daniel.

»Ach, nichts.«

Robin starrte auf die leere Bildschirmseite und wartete auf das Aufzucken der ersten Worte. Heute morgen, in der Phase zwischen Schlaf und Erwachen, hatte er den Satz gefunden, den so wichtigen ersten Satz. Glasklar hatte er ihn formuliert, er hätte geschworen, ihn nie mehr zu vergessen, wie eine fette Schlagzeile hatte er vor seinem inneren Auge gestanden. Deshalb hatte er ihn auch nicht aufgeschrieben. Dann hatte sich Klara an seinen Körper gedrückt und versucht, seine Morgenerektion auszunutzen. Auch dabei hatten der Satz und die Idee dahinter noch deutlich vor ihm gestanden. Jetzt war alles weg. Seine Finger lagen auf der Tastatur wie Sprinter vor dem Start, doch die Worte, die allen anderen die Richtung hätten weisen sollen, waren unwiederbringlich verloren. Als hätte sich mit dem mühsam abgetrotzten Orgasmus auch sein Hirn entleert. So ging das nicht weiter. Klara mußte wieder in ihrer Wohnung schlafen, immer, ohne Ausnahme. Das hatte er ihr heute morgen auch gesagt, und prompt war sie eingeschnappt gewesen.

»Man kann nicht so leben als ob man verheiratet wäre und nebenbei einen großen Roman schreiben«, hatte er ihr erklärt. Sein Körper wußte das und tat das einzig Richtige: Er bündelte die Kräfte. Von Impotenz konnte überhaupt keine Rede sein.

Die Standuhr intonierte eine Variation des Big-Ben-Glockenspiels. Viertel vor zwei. Sein Blick glitt resigniert vom Bildschirm nach draußen. Die große Kastanie vor dem Erkerfenster trieb Knospen aus. Sie sahen klebrig aus und prall, als könnten sie jeden Moment mit einem Knall aufplatzen. Obszön, fand Robin. Er mochte den Frühling nicht, diese strotzende Fruchtbarkeit. Er war ein Herbsttyp. Sehnsüchtig erinnerte er sich an das magische Glitzern der Spinnweben in den kahlen Ackerfurchen, das Seidengefühl von Kastanien auf der Handfläche, den Geruch des Laubes. Er liebte das Absterbende, das Vergängliche, das Graue. Den November.

Er schob die Tastatur von sich fort wie einen Teller mit schlechtem Essen, stand auf und schleuste sich zwischen einer Gruppe von Stühlen und einem ovalen Tisch hindurch, vorbei an der Anrichte. Dann stieß er sich, nicht zum erstenmal, seinen rechten Hüftknochen an der Marmorplatte der Kommode. Auf ihr hatte die Stereoanlage Platz gefunden. Robin legte eine CD ein. Er öffnete die Balkontür. Sie wurde von zwei Bodenvasen flankiert und führte auf einen kleinen Romeo-und-Julia-Austritt mit verschnörkeltem Holzgeländer. Für ein Bauernhaus war die Architektur reichlich verschroben, aber Robin gefiel gerade das. Sein Haus. Ein richtiges Haus, kein affiges Loft, wie es Hannes aus der Scheune gemacht hatte. Spanische Keramik, Edelstahlgeländer, Bambusparkett. Lieber Himmel! Bloß gut, daß Robin auf diese ganze Lifestylescheiße gut verzichten konnte. Nein, es war kein Verzicht. Ein Marmorbad würde ihn als Künstler viel zu sehr korrumpieren. Ihm war klar: Wirklich gute Schriftsteller erzielten selten hohe Verkaufszahlen. Er mußte der Möglichkeit ins Auge sehen, mit seinem Schaffen niemals wohlhabend zu werden. Da war es gut, wenigstens ein Haus zu besitzen. Und ein bißchen Land. Er betrat den Balkon, gerade als die ersten Klänge des Triumphmarsches aus Aida ertönten. Obwohl es nicht ganz den Tatsachen entsprach, fühlte sich Robin als Gutsherr. Weit hinten zog Arnes Trecker seine Bahnen. Die umliegenden Felder gehörten zum Gut, waren jedoch verpachtet. Bauer Gamaschke, Arnes Vater, baute auf ihnen Zuckerrüben an und Getreide, mit dem er seine zweihundert Schweine fütterte. Das Getreide spitzelte bereits grasähnlich aus der Erde, von den Rüben war noch nichts zu sehen. Die Luft war schwer wie das Parfum einer Kokotte, mit einer süßlichen Kopfnote, einem Herzton aus feuchter Erde und einem Hauch Schweinemist im Abgang.

Robin genoß die Aussicht, wobei er das unsichtbare Orchester dirigierte, das zu seinen Füßen im Garten saß. In Robins Garten gab es lediglich Beerensträucher und ein paar alte Strauchrosen. Was sonst noch wuchs, wurde zweimal im Jahr mit der Sense gekürzt. Er hatte Klara gebeten, keine weiteren Pflanzungen vorzunehmen, und bis auf ein Kräuterbeet neben der Eingangstreppe schien sie sich an die Weisung zu halten. Kräuter waren zu ertragen, sie waren dezent, nützlich, und manche rochen sogar gut.

Dann verfing sich sein Blick in Hannes‘ Garten, und er hörte auf mit seinem imaginären Taktstock zu fuchteln.

Barbara mußte im Herbst unzählige Zwiebeln im Erdreich versenkt haben, und nun hatten sie die Bescherung: In brüllenden Farben explodierten Hunderte von Tulpen, Hyazinthen stanken zum Himmel, Narzissen neigten ihre Köpfe in krankem Gelb über den phosphorgrünen Rasen. Das war nun also der kreative Rahmen, in dem sich sein Innerstes nach außen kehren und in Worte kleiden sollte. Angewidert verzog er den Mund. Konnte man denn nicht ein klein wenig Rücksicht auf sein ästhetisches Empfinden nehmen? So was hätte man doch besprechen können, mit ihm, dem Erben des ganzen Anwesens.

Als die Pläne, den Gutshof zu renovieren, Gestalt angenommen hatten, war Robin davon ausgegangen, daß Hannes das Landleben bald satt haben würde. Wahrscheinlich brauchte er nur einen Abstellplatz für seine alten Autos und ein vorzeigbares Domizil, in das er Frauen und Fernsehfuzzis locken konnte. Hier, in der niedersächsischen Weltabgeschiedenheit, so hatte Robin spekuliert, würde es ihm auf Dauer sicherlich zu fade werden. Daß Hannes Barbara inzwischen fest auf dem Gut installiert hatte, deutete Robin als Anzeichen einer Midlifecrisis. Nicht, daß an Barbara etwas auszusetzen gewesen wäre. Wie ihre Vorgängerinnen war auch sie jung, blond und niedlich. Niemals betrat Barbara unaufgefordert seine Wohnung, aber dennoch lenkte es ihn von seiner Arbeit ab, wenn sie draußen herumpusselte oder gar mit Klara auf der Terrasse saß und Café latte trank. Was hatten die beiden zu reden und zu lachen? Etwa über ihn?

Robins Blick wanderte über das Pflaster des Hofes, dessen Basaltgrau er als erholsam empfand. Er mochte auch die zwei grimmigen Gargoyles aus Stein, die den Eingang zur ehemaligen Scheune flankierten. Aber irgend etwas war anders als gestern. Da! Diese zwei protzigen Terrakottakübel. Bestückt mit lilafarbenen Stiefmütterchen standen sie zwischen dem Eingang und dem Stall, der nun als Garage diente. Also zwar eindeutig im Herrschaftsbereich von Hannes und Barbara, aber genau in seinem Blickfeld. Das war überhaupt die Crux an der Sache: Mochte sein eigener Garten noch so dezent gehalten sein, von seinem Schreibtisch aus blickte er genau auf Barbaras hemmungslos verwirklichte Hausfrauenträume. Er hatte schon erwogen, Schlaf- und Arbeitszimmer zu tauschen. Das Schlafzimmer ging nach Osten, mit Blick auf die Felder und die Windräder auf dem Vörjer Berg. Aber das Morgenlicht auf dem Bildschirm würde seine Arbeit erschweren, es sei denn, er verbarrikadierte sich hinter Jalousien. Was hätte er dann von der Landschaft? Außerdem befand sich hinter dem Haus der Zwinger, und den wollte er ebensowenig vor Augen haben.

Robin stellte die Musik ab und schlängelte sich durch seine Wohnzimmereinrichtung in die Küche. Er machte Wasser heiß und brühte sich eine Tasse Pulverkaffee auf. Dabei kam ihm eine Idee, wie man diesem lila Kraut da unten beikommen könnte.

Der Bus überquerte die Kreuzung und scherte gleich darauf an der Haltestelle aus. Barbaras Blick fiel auf die Reklame eines Umzugsunternehmens, ohne daß die Worte zu ihr durchdrangen. Sie war zu sehr in Gedanken, zu freudig erregt. Nur eine Formsache, hatte die Leiterin gesagt, aber auch Formsachen konnten schließlich schiefgehen. Übermorgen würde der Ausschuß für Kinder, Jugend, Frauen und Soziales der Gemeinde beraten und über ihr Schicksal entscheiden. Nun ja, nicht gerade über ihr Schicksal, aber doch … Sie zuckte zusammen, als hinter ihr gehupt wurde. Die Ampel zeigte grün, und der Kuhfänger eines Jeeps drohte ihren Polo von der Straße zu schieben. Hastig legte sie den Gang ein und gab Gas. Im Anfahren sah sie aus dem Augenwinkel heraus den Umriß eines Menschen auf sich zukommen, bremste, aber da war die Person auch schon aus ihrem Blickfeld verschwunden. Barbara stieß einen erschrockenen Laut aus und würgte den Motor ab. Sie hatte doch grün gehabt, oder? Sie mußte aussteigen und nachsehen, aber sie zögerte. Die Frau – sie glaubte, daß es eine Frau gewesen war – mußte direkt vor ihrem Wagen zu Fall gekommen sein. Hatte Barbara sie angefahren? Umgefahren? Sie hätte doch zumindest einen Schlag spüren müssen, aber sie hatte nichts gespürt, gar nichts.

Gott sei Dank! Die Gestalt rappelte sich auf. Es war eine junge Frau, sie schaute dem davonfahrenden Bus hinterher. Der Fahrer des Jeeps war ausgestiegen und sprach das Mädchen an: »Sind Sie verletzt?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf, klaubte ihre schäbige Sporttasche auf und stolperte hinüber zur Haltestelle. Hinter ihnen hatte sich eine kleine Schlange gebildet, irgend jemand hupte.

»Glück gehabt«, sagte der Vorstadtcowboy zu Barbara, die das Seitenfenster heruntergelassen hatte und zu dem Mädchen hinübersah. Sie saß auf der Bank der Bushaltestelle und rieb ihr rechtes Knie. In ihrem schwarzen Pullover, mit den schwarzen Haaren und dem schmalen, blassen Gesicht mit der hervorstechenden Nase sah sie aus wie ein trauriger Rabenvogel.

»Sie sollten ihr Ihre Personalien geben. Sonst kann sie Ihnen noch eine Fahrerflucht anhängen.« Der Mann zückte seine Brieftasche und reichte ihr eine Visitenkarte durch das Wagenfenster. »Hier. Falls Sie einen Zeugen brauchen.« Er war ein kräftiger Typ in den Vierzigern. Sein mausgraues Haar wies tiefe Schneisen auf, der Rest war blond gesträhnt. »Womöglich fällt ihr später ein, Sie zu verklagen. Mit denen muß man vorsichtig sein.« Er warf dem Mädchen an der Haltestelle einen mißtrauischen Blick zu. Die versteckte ihr Gesicht hinter einem Vorhang aus dunklen Locken.

Fahrerflucht? Verklagen? Es war doch gar nichts passiert. Verwirrt setzte Barbara den Wagen bis zur Bushaltestelle vor. Dort hielt sie an und atmete tief durch. Der Jeep rauschte vorbei. Barbara stieg aus und fragte über das Dach ihres Wagens hinweg: »Kann ich Sie irgendwohin bringen?«

Die Angesprochene reagierte nicht. Irgendwie kam sie Barbara bekannt vor.

»Der nächste Bus kommt erst in einer Stunde.«

Das Mädchen hob das Kinn. In dem Moment hatte Barbara eine kleine Erleuchtung.

»Nasrin?«

Ein verwirrter Blick aus großen, hellbraunen Augen. Barbara hatte die Augen dunkler in Erinnerung, aber Nasrin hatte sie damals immer schwarz geschminkt.

»Du kennst mich nicht mehr, oder? Vom Kindergarten? Du hast immer deinen kleinen Bruder abgeholt. Ich war die Leiterin seiner Gruppe.«

Das Mädchen lächelte, wie man jemandem zulächelt, der nicht merken soll, daß man sich beim besten Willen nicht mehr an ihn erinnert.

»Barbara Klein«, half ihr Barbara auf die Sprünge. »Ich war damals noch etwas dicker.«

Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage war schwer nachzuprüfen, denn der Kleinwagen versperrte die Sicht auf Barbaras Körperformen. Die hatten sich jedoch tatsächlich verändert, seit Barbara viermal die Woche ins Fitneß-Studio ging. Das Mädchen schwieg noch immer, und Barbara dachte: Ich bin aufdringlich. Ich sollte weiterfahren und sie in Ruhe lassen.

Da stand das Mädchen auf und kam langsam auf den Wagen zu. Auch sie schien abgenommen zu haben, die Jeans waren ihr zwei Nummern zu groß, und auch der Pullover schlotterte an ihr.

»Wohin möchtest du?«

»Zur S-Bahn.« Sie behielt ihreTasche auf dem Schoß und legte den Gurt an.

»Weetzen oder Linderte?«

»Egal.«

Sie zuckelten durch das Dorf, vor sich einen Traktor, der ein Gestänge mit vielen Eisendornen hinter sich herzog. Eine Egge, ein Pflug? Barbara kannte sich mit Landmaschinen nicht aus. Sie waren lediglich lästige Hindernisse auf den engen Straßen. Auch jetzt wagte sie nicht, das breite Fahrzeug zu überholen. In gemächlichem Tempo passierten sie die Kirche, einen Bauernhof, überquerten einen Bach, und dann näherten sie sich auch schon dem Ortsende.

»Wie geht es Nail? Kommt er gut zurecht in der Schule? Ist er immer noch so aufgeweckt?«

»Ja.«

Barbara hatte die Rotznase nie leiden können, weder ihn noch die anderen. Dabei hatte sie die Stelle mit den besten Vorsätzen angetreten. Aber sie hatte es nie geschafft, die Respektlosigkeiten zu ignorieren, mochte sie sich selbst auch noch so oft einreden, daß die Kinder nichts dafür konnten, daß sie milieugeschädigt waren, weil sie aus problematischen sozialen Verhältnissen stammten. Die Unflätigkeiten sämtlicher Sprachen, ob sie sie nun verstand oder nicht, gruben sich dennoch immer tiefer in ihr Herz.

Hinter dem Ortsschild »Holtensen« wurde die schnurgerade Straße noch schmaler. Wolkenschatten rasten über die Felder. Traktoren rissen den Boden auf. Es roch dumpf nach Erde. Das Mädchen war still. Menschen, die nicht redeten, verunsicherten Barbara. Sie fing an, die Leere mit Fragen auszufüllen.

»Wohnt ihr immer noch in Linden?«

»Ja.«

Barbara seufzte. »Manchmal vermisse ich es. Es war da so lebendig.«

Das türkisch dominierte Multi-Kulti-Viertel bildete mit seinen zahlreichen Studentenkneipen und Szenelokalen quasi das Kreuzberg von Hannover.

»Was macht dein älterer Bruder?«

»Nichts.«

Also kriminell. Besser nicht weiterfragen.

»Und was führt dich aufs Land?« fragte sie das Mädchen.

»Ich wollte eine Freundin besuchen.«

»Ach ja?«

»Sie war nicht da.«

Konnte das im Kommunikationszeitalter von E-Mail und Handy noch vorkommen? Andererseits benahmen sich Leute in Nasrins Alter oft nicht ganz rational.

Ihre Beifahrerin schwieg erneut. Als hätte Barbara sie gekidnappt, so steif aufgerichtet hockte sie auf der Sitzkante, schaute konzentriert aus dem Fenster und schien auf eine Gelegenheit zur Flucht zu lauern. Die war nun gekommen, denn vor dem Bahnübergang Linderte/Holtensen gab es einen kleinen Stau. Die Schranke war unten. Das Mädchen löste den Gurt.

»Bleib sitzen, das ist noch nicht die Bahn. Die kommt erst um Viertel nach.«

Im Radio lief Werbung, es war kurz vor zwei.

»Das nervt.« Das Mädchen blieb sitzen, stellte jedoch das Radio ab, was Barbara als Aufforderung verstand, selbst für die Unterhaltung ihres Fahrgastes zu sorgen.

»Ich komme gerade von einem Bewerbungsgespräch. Vielleicht kriege ich eine Halbtagsstelle in Wennigsen, als Schwangerschaftsvertretung. Besser als nichts. Ich bin momentan arbeitslos.«

Ein langer Güterzug donnerte in Richtung Hameln vorbei.

»Anfangs war es okay, es gibt ja viel im Haus zu tun, und dann der Garten … Aber jetzt reicht es langsam, nach einem Jahr. So lange wohnen wir jetzt schon auf dem Land. Es ist ein altes Gut von 1880, die Renovierung hat fast ein Jahr gedauert. Es liegt mitten in den Feldern, das heißt, ein kleiner Wald ist noch …«

»Ist es weit von hier?« stemmte sich Nasrin gegen den Redefluß.

»Nein. Möchtest du es sehen?« Sie wies auf den Rücksitz. Dort stand ein Korb, aus dem es schon die ganze Zeit süßlich roch. »Butterkuchen aus der Landbäckerei. Wenn du Lust hast, mache ich uns Kaffee, und dann bring ich dich später zur Bahn. Oder hast du es eilig?« Die Schranke hob sich, Barbara legte den Gang ein.

Das Mädchen warf ihr Haar nach hinten und lehnte sich zurück. Sie schien ihren Widerstand aufzugeben.

»Nein, überhaupt nicht.«

Klara stand am Fenster. Der Laminatboden verströmte Kälte, und es zog durch den Rahmen, von dem der himmelblaue Anstrich abblätterte. Sie schaute auf die Dächer von Linden. Ein ähnlicher Blick wie aus Robins alter Wohnung in der Bennostraße, gleich um die Ecke. Für einen Moment war ihr, als hätte es die letzten Monate nicht gegeben, und wenn sie sich umdrehte, würde Robin in der Tür stehen, sie ansehen und etwas Kryptisches sagen, und dann würden sie sich in eines der Straßencafés setzen und Milchkaffee trinken. Ihr altes Stadtleben. Jetzt, im nachhinein, glaubte sie zu wissen, daß sie damals glücklich gewesen waren. Aber es gab kein Zurück, also sparte sie sich besser derlei sentimentale Gedanken. Nur Menschen ohne Zukunft hatten es nötig, in Erinnerungen zu schwelgen.

Mario reichte ihr eine Selbstgedrehte, als sie sich wieder zu ihm auf das Bett setzte und ihre eiskalten Füße unter die Decke schob. Eine Weile rauchten sie stumm und konzentriert vor sich hin, zelebrierten ihr post coitum triste, als gäbe es sonst nichts auf der Welt.

Mario drückte seine Zigarette aus und gab Klara ein paar laute, schmatzende Küsse auf den Hals. Sie konnte seine naßkalte Spucke spüren. Sie war unruhig. Daß sie hier war, hatte sich so ergeben. Seltsamerweise mußte sie dabei nicht an Robin denken, sondern an ihre Mutter. Wenn die sie hier sehen könnte, würde sie ihre Lippen zusammenpressen wie die Bügel ihres Portemonnaies.

Mario schlang seine Beine um ihre und streichelte ihr Haar. Das würde sie vermissen: die Art, wie er ihr Haar streichelte, es mit den Fingern nach oben kämmte und Strähne für Strähne fallen ließ. Und das gemeinsame Rauchen, denn abgesehen von diesen Gelegenheiten rauchte Klara nie.

Zeit zu gehen. Im Aufstehen küßte sie ihn heftig auf den Mund.

Sie duschte kalt. Er hatte vergessen, den Boiler für sie anzustellen. In der Küche gammelten die Reste dessen vor sich hin, was Mario Frühstück nannte. Klara trank Wasser aus der Leitung. Sie war zwar hungrig, aber die verschrumpelten Croissants reizten sie nicht.

»Warum gehst du nicht von ihm fort? Ziehst zu mir?« hörte sie Mario sagen, und etwas in ihr krampfte sich zusammen. Sie hörte im Geist Robins Stimme: Was hältst du davon, aufs Land zu ziehen? Hannes renoviert die Scheune für sich, und wir beide wohnen im alten Gutshaus …

»Mein Geld steckt da drin«, sagte Klara und ging ins Schlafzimmer. Es war warm geworden, in der Mansarde roch es wie auf einem Dachboden im Sommer. Ihre Kleidung hing ordentlich über einem Stuhl.

»Du lebst also mit ihm zusammen, weil du Geld verlieren würdest, wenn du ihn verläßt?« Er war ihr nachgegangen und stand in der Tür.

»Wir leben nicht richtig zusammen.«

Weißt du, das alte Haus ist vom Schnitt her eigentlich für zwei Wohnungen prädestiniert. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir wenigstens für den Anfang …

»Dann kann ich ja mal vorbeikommen«, sagte Mario aufmüpfig.

Sie sah ihn an, seine geraden Wimpern über den dunklen Augen, die kräftige Nase. Seine Oberlippe blutete von ihrem Kuß, er tupfte sie mit Klopapier ab.

»Nein, das kannst du nicht.« Manchmal kam sich Klara vor wie seine Mutter. Das mochte auch an den zwölf Jahren liegen, die Mario jünger war. Bis heute hatte Mario nie irgendwelche Forderungen gestellt. Ein pflegeleichter Liebhaber, der sich nicht in ihr Privatleben einmischte. In letzter Zeit hatten sie sich jedoch wenig gesehen, und wenn Klara jetzt an das Feuer der ersten Wochen zurückdachte, war ihr das Ganze zunehmend unverständlich. Sie war nicht mehr die Klara, die unter Robins Kälte litt und sich mit Trotzaffären tröstete. Inzwischen gab es Wichtigeres in ihrem Leben.

»Du liebst ihn doch sowieso nicht mehr, oder?« Marios Stimme sollte sachlich klingen, aber sie zitterte leicht. Ahnte er, was sie ihm sagen wollte, wozu sie ursprünglich gekommen war? Klara schlüpfte in ihre Bluse. Sie war weder willens noch in der Lage, seine Frage zu beantworten.

»Geht es nun zurück auf deinen Landsitz?«

»Nein, ich habe noch etwas im Institut zu erledigen.« Eine kleine Lüge. Dort war sie vorhin schon gewesen. Seit Jahresbeginn arbeitete sie nur noch als freie Mitarbeiterin am Institut für Biometrie, Epidemiologie und Informationsverarbeitung der Tiermedizinischen Hochschule Hannover. Hauptsächlich beschäftigte sie sich mit ihrer Doktorarbeit. Mario hatte davon keine Ahnung, er wußte eigentlich kaum etwas von ihr, aber wozu auch?

Vor dem großen Spiegel im Flur überprüfte sie den Sitz des Hosenanzugs. Das matte Weiß brachte ihr dunkles Haar gut zur Geltung. Mit Sorgfalt zog sie ihre Lippen nach. Es war eine Weile her, daß sie sich gut angezogen und geschminkt hatte.

Mario hatte inzwischen seine Jeans und ein grellorangefarbenes T-Shirt mit einem aggressiven Graffitti-Aufdruck angezogen. Er hielt sie mit einer pathetischen Geste an den Schultern fest und sah ihr in die Augen. Hoffentlich schmierte er kein Blut von seiner Lippe an ihre Kleidung.

»Klara. Ich liebe dich!«

Auch das noch. Klara fühlte sich an eine Filmszene erinnert. Die Reifeprüfung? Die Situation kam ihr irgendwie bekannt vor. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Mario nackt geblieben wäre. Einem Nackten konnte man nicht weh tun, oder jedenfalls nicht so leicht.

»Mach bitte meine Jacke nicht schmutzig.«

»Ich soll deine Jacke nicht schmutzig machen?« rezitierte er schockiert. »Klara, du bist die erste Frau, der ich so etwas sage. Ich meine, bei der ich es ernst meine …«

»Du bist ja auch erst zweiundzwanzig«, gab Klara zu bedenken. Er stand ihr noch immer gegenüber, mit den Pumps überragte sie ihn knapp. Ihr Magen knurrte. Nicht mal etwas Anständiges zum Frühstück hatte er besorgt, und so einer faselte von Liebe.

»Es ist vorbei«, sagte Klara, »ich will das nicht mehr.«

»Du machst Schluß mit mir? Einfach so? Du mit mir?«

Herrje! Verletzter Mannesstolz, wie ungeschickt von ihr. Diplomatie war noch nie Klaras Stärke gewesen. Einen Moment lang war sie überrascht und fasziniert von der Dynamik, mit der Marios Stimmungsumschwung vor sich ging. Sein weicher Mund dehnte sich zu einem zynischen Halblächeln, in seinem Blick lag nun etwas Verschlagenes. Eine Aura der Gemeinheit ging plötzlich von ihm aus. Das war also das andere Gesicht ihres Romantikers. Sie nahm ihre Aktentasche und klapperte hastig und mit viel Radau die abgewetzte Treppe des Mietshauses hinunter. Sie war hohe Schuhe nicht gewohnt.

Im dritten Stockwerk stand die mittlere der drei Türen offen, und eine junge Frau in sehr legerer Kleidung trat ihr entgegen. »So, jetzt reichts mir!«

Klara blieb stehen. Ein Kinderwagen blockierte den Weg zur nächsten Treppe. »Kann ich mal durch?« fragte sie, im Glauben, die Mutter hätte mit dem Klammeraffen gesprochen, der an ihrer Hand zerrte.

»Meine Tochter kann nicht schlafen.«

War sie irre? Das strähnige Haar und der verzerrte Mund in ihrem aufgedunsenen Gesicht verstärkten den Eindruck. Klara hatte die Frau noch nie gesehen, aber die Stimme kannte sie.

»Ritalin«, riet Klara.

Die Frau hob den Zeigefinger der freien Hand zur Decke.

»Könnten Sie in Zukunft da oben etwas leiser vögeln? Man hört Sie durch’s ganze Haus, und das am hellichten Tag.«

Offenbar zog sie die Authentizität gewisser Laute, die häufig lediglich der Beschleunigung der Vorgänge gedient hatten, keineswegs in Zweifel.

»Es tut mir leid«, sagte Klara ehrlich. »Es kommt bestimmt nicht wieder vor. Würden Sie mich jetzt vorbeilassen, ich habe es eilig.«

Aber die Frau schien lange auf diesen Moment gewartet zu haben, jetzt wollte sie ihn auskosten. »Meine Tochter ist schon ein paarmal vom Mittagsschlaf aufgewacht und wollte wissen, was da oben los ist.«

Klara betrachtete das Kind, das an der Hand der Mutter herumzappelte. Es trug ein verkleckertes Hemd und eine Windel und hatte einen rosaroten Propeller auf dem Kopf. Wie alt mochte es sein? Zwei? Drei? Stellten so kleine Kinder solche Fragen?

»Und, haben Sie’s ihr erklärt?«

Obwohl Klara weder gelacht noch gegrinst hatte, keifte die Frau: »Das finde ich nicht witzig! Und die anderen Hausbewohner auch nicht!«

Demnach hatte also schon ein Meinungsaustausch zum Thema stattgefunden. Armer Mario.

 Jetzt linste ein älteres Mädchen aus der Tür – fünf? sechs? – strähnigblond und ebenso teiggesichtig wie die Mutter.

»Wissen Sie«, sagte Klara, »und ich habe mich beim Vögeln schon oft gefragt, was bei Ihnen hier unten los ist. Brüllen Sie nur, oder schlagen Sie auch zu?«

Sie nutzte die Verblüffung ihrer Gegnerin und strebte mit solcher Entschlossenheit auf die Treppe zu, daß die Frau den Kinderwagen wegzog, damit er nicht von Klara die Treppe hinuntergestoßen wurde.

»Schlampe!« zischte sie und knallte die Tür zu.

Mütter, dachte Klara: eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit, aber eine Plage für die Mitmenschen. Sie nahm die Stufen bis ins Erdgeschoß langsamer. Unten, bei den Briefkästen, lehnte sie sich einen Moment gegen die senfgelb gestrichene Wand und holte tief Atem.

 Als sie auf den Gehweg trat, brauchte sie einen Moment, um sich zu erinnern, wo sie ihr Auto geparkt hatte. Es stand eine Straße weiter, in Linden mußte man nehmen, was man bekam. Sie war mit dem nächsten Gedanken schon zu Hause, als sie hörte, wie oben ein Fenster aufgerissen wurde. Gab Mutter Courage eine Zugabe? Aber es war Marios Stimme: »Bleib stehen, du Miststück!«

Klara beschloß, das Gegenteil zu tun, aber schon traf sie der Schwall an Schläfe und Wange und lief ihr den Hals hinunter, über die Bluse und in den BH hinein. Wenigstens hat er lauwarmes Wasser genommen, dachte sie, und bemerkte im selben Moment den scharfen Geruch.

»Du kannst deine Sachen im Wagen lassen, hier klaut niemand«, kicherte Barbara, als sich das eiserne Tor mit dem Niedersachsenpferd hinter ihnen schloß. Nasrin stieg aus und nahm ihre Tasche aus dem Wagen. Aus dem Schatten des Gebäudes löste sich ein Mann und strebte mit eiligen Schritten und eingezogenem Kopf auf die Tür zu, als hätte er keine Berechtigung, sich hier draußen aufzuhalten.

»Hallo, Robin!«

Er blieb stehen. Er war ähnlich gekleidet wie die Besucherin, mit Jeans und einem zu weiten Pullover. Nur war seiner weinrot, nicht schwarz. Er war mittelgroß, feingliedrig und hatte ein schmales Gesicht mit großen, silbergrauen Augen, das eigentlich blaß war, sich aber in diesen Momenten vom Hals herauf der Farbe seines Pullovers anglich. Zögernd kam er näher.

»Nasrin, das ist Robin. Robin – Nasrin. Eine alte Bekannte aus Lindener Zeiten.«

Das Mädchen nickte ihm zu und sagte artig: »Hallo.«

Robin vollführte eine schmierenkomödiantische Verbeugung, wobei ihm der Wasserkocher in seiner rechten Hand etwas hinderlich war.

 »Willkommen, willkommen. Dies ist zwar nicht der Anus des Planeten, aber man kann ihn von hier aus schon sehr gut sehen.«

»Was machst du mit dem Ding da?«

Robin schaute den Behälter an, als wäre er ihm soeben aus der Hand gewachsen.

»Töten. Morden.« Dazu schnitt er eine Fratze.

Barbara schnaufte ungeduldig.

»Ich habe von dort oben …«, er deutete auf seinen Balkon, »… Ameisen auf dem Pflaster gesehen.«

»Ameisen? Wo denn?« Barbara konnte weder Ameisen, noch ausgegossenes Wasser entdecken. »Hörst du auch manchmal Stimmen?« fragte sie.

»Ich muß zugeben: Die feindlichen Horden sind nicht mehr aufzuspüren.« Robin grinste das Mädchen an. Sie mied seinen Blick.

»Du kannst zum Kaffee rüberkommen, es gibt Butterkuchen«, sagte Barbara.

»Butterkuchen«, wiederholte Robin Silbe für Silbe. »Zehntausend Kalorien. Pro Stück. Aber eßt nur, Kinder, eßt. Auf daß eure schroffen Formen anschwellen und Zeugnis ablegen von holder Weiblichkeit.« Mit schmerzvollem Ausdruck deutete er auf Barbara. »Als ich sie traf, erinnerte sie mich an ein Lebkuchenherz, so weich, süß und wohlgerundet. Leider ist aus dem süßen Lebkuchen eine dürre Salzstange geworden.«

Das Mädchen sah diskret auf den Boden und lächelte nachsichtig.

»Robin, hör auf, dich wie ein Arsch aufzuführen.«

Robin verdrückte sich mit beleidigtem Gesichtsausdruck.

»Er ist Schriftsteller«, meinte Barbara entschuldigend.

Die Besucherin sah sich um. Das verwinkelte Haus, das Robin verschluckt hatte, stand im östlichen Teil des Grundstücks. Im Norden erstreckten sich die ehemaligen Stallungen, nahezu fensterlos, aber mit drei breiten, grün gestrichenen Holztoren, auf der Westseite befand sich die ehemalige Scheune. Alle Gebäude waren aus rotbraunem Backstein, mit Fachwerk durchsetzt, typisch für alte Gehöfte in dieser Gegend. Im Süden wurde der Hof von einem Zaun mit Eisenspitzen begrenzt, in dessen Mitte sich das Tor befand, durch das sie gerade hindurchgefahren waren. Dahinter konnte man die lange, gerade Zufahrt sehen, die in die Landstraße mündete. Platanen auf den letzten hundert Metern verliehen dem Ganzen einen Hauch von Noblesse.

Barbara war dem Blick des Mädchens gefolgt und erklärte: »Hannes sagt immer: Wir haben eine Auffahrt von einem halben Kilometer.«

Im östlichen Teil wuchs entlang des Zaunes dichtes, hohes Gebüsch. Offenbar legten die Bewohner großen Wert auf Abgeschiedenheit.

Barbara ging auf die Scheune zu und schloß die Haustür auf. Nasrin folgte ihr. Sie durchquerten eine Diele, dann standen sie in einem lichten Raum, von Balken durchzogen. Man konnte bis unter das Dach sehen. Das ehemalige Scheunentor bildete das Fenster nach Süden, Jalousien filterten das Sonnenlicht. Durch das Geländer der Galerie streckte eine graue Katze ihren Kopf vor und spähte nach unten, verschwand aber sofort wieder, als sie die Fremde sah.

Vor dem Kaffee war eine Besichtigungsrunde zu absolvieren. Beeindruckend war das schneeweiße Bad mit der Wanne, in der eine Großfamilie Platz gefunden hätte. Jemand mußte krank sein, denn ein Glasregal barg zahlreiche Medikamente und Pillenfläschchen. Nasrins Blick saugte sich an der Sammlung fest, was Barbara nicht entging. War das Mädchen vielleicht drogenabhängig?

»Vitaminpräparate und so was«, erklärte Barbara vorsichtshalber.

»Sie müssen sortiert werden.«

»Wie? Ja, das kann schon sein.« Barbara lächelte unsicher und drängte das Mädchen sanft aus dem Badezimmer. Die Schlafzimmertür stand offen und erlaubte einen Blick auf die Kohlezeichnung eines kopulierenden Paares über einem breiten, ungemachten Bett. Ein weißer Schaukelstuhl war mit Kleidung behangen.

»Kleidung gehört in die Schränke«, stellte die Besucherin fest.

»Äh, nun ja, ich wußte nicht, daß heute Besuch kommt«, antwortete Barbara und beschloß, die Hausbesichtigung an dieser Stelle abzubrechen. Leider aber stand die hinterste Tür auf der Galerie sperrangelweit offen, und Nasrin steuerte unaufgefordert darauf zu. Es war ein kleineres Zimmer mit Möbeln verschiedener Stilrichtungen, das seine Bestimmung noch nicht gefunden zu haben schien. Es herrschte ein Durcheinander, für das sich die Dame des Hauses gleich entschuldigen zu müssen meinte: »Momentan ist das unsere Rumpelkammer.«

Das Mädchen wandte sich ab. Ihr Gesicht spiegelte Entsetzen und Resignation, so kam es Barbara jedenfalls vor.

Unten, auf der Ablage der Edelstahlküche, lockte der Butterkuchen. Aber noch war es nicht soweit. Barbara bestand darauf, das »Gästehäuschen«, wie sie es nannten, vorzuführen. Es war ein winziges Häuschen mit steilem Dach, das sich an das rechte Ende des Stallgebäudes anschmiegte. Die Grundfläche war mit etwas Hanfartigem ausgelegt und maß etwa fünf mal vier Meter, es gab zwei größere Fenster zum Hof und ein kleineres Badezimmerfenster nach hinten hinaus. Alle Möbel waren aus weiß lackiertem Holz, dazu blauweißkarierte Gardinen, ein ebenfalls in diesen Tönen gehaltenes Duschbad.

»Alles Ikea«, verriet Barbara. Das Gästehaus war aufgeräumt, denn hier gab es gar nichts Überflüssiges, das herumstehen oder -liegen konnte. Vielleicht machte das den schlechten Eindruck von vorhin wieder wett, hoffte Barbara und zeigte auf eine Klappe in der Decke. »Da oben ist noch ein Speicher. Das Häuschen diente früher als Sattelkammer, jetzt ist es Gästehaus. Es waren aber noch nicht viele Gäste da.«

Seit der Einweihungsparty im letzten Herbst war kein Besuch mehr gekommen, und selbst da hatten etliche der Eingeladenen abgesagt. »Offenbar ist es gerade angesagt, so zu wohnen, daß die Wegbeschreibung eine halbe Faxrolle verbraucht«, hatte jemand genörgelt.

 Geheizt wurde mit einem gußeisernen Kaminofen. »Der ist aus Finnland.« Ein Stapel kleingehackter Holzscheite lag in einem geflochtenen Korb.

»Schön«, stellte Nasrin fest, und Barbara nickte erleichtert.

Als sie über den Hof zurückgingen, stand Robin am Fenster des Erkers, wich aber rasch zurück, als das fremde Mädchen in seine Richtung sah.

Dann, endlich, die Terrasse: Teak auf Naturstein, sattes Grün vor rotem Backstein, zierliche Silbergäbelchen auf weißblauem Meißner. Nasrin aß das zweite Stück Kuchen, langsam und konzentriert, mit exakt gleichen Abständen zwischen jedem Bissen, während Barbara erzählte: »Hannes hat letzten Sommer plötzlich den Gärtner in sich entdeckt und ein wenig übertrieben. Ich hätte es lieber etwas dezenter gehabt, außerdem kann ich Narzissen nicht leiden. Aber sie verblühen ja zum Glück bald wieder. Möchtest du noch Kuchen?«

 »Nein. Sonst bleibt nicht genug für Robin übrig.«

 »Der kommt nicht. Er wollte diese Woche mit seinem neuen Roman beginnen, das hat er großartig angekündigt. Als ob jemand von uns ihn bisher davon abgehalten hätte. Also, wenn du mich fragst …« Barbara winkte ab, spießte ein Stückchen Kuchen auf, schob es sich in den Mund und redete kauend weiter: »… sein Verhängnis ist, daß vor Jahren einmal ein winziger Verlag, der inzwischen schon nicht mehr existiert, ein Buch von ihm gedruckt hat. Ich glaube, es wurden keine tausend Stück davon verkauft, aber in einigen obskuren Literaturzeitschriften, so Dinger, die in Szenekneipen herumliegen, wurde er als der Melancholiker der Generation X bezeichnet. Seither hält er sich für ein Jahrhunderttalent. Und benimmt sich auch so«, fügte sie hinzu. »Du solltest diese Wohnung sehen.« Sie schüttelte den Kopf, führte das Thema aber nicht näher aus, sondern fuhr fort: »Seine Freundin ist auch übergeschnappt. Kündigt ihre Anstellung als Biologin an der TiHo, angeblich, um ihre Doktorarbeit zu schreiben. In Wirklichkeit, damit sie sich um einen Haufen junger Hunde kümmern kann. Wo sie bloß heute so lange bleibt? So lange hat sie sie noch nie alleine gelassen. Aber ich mische mich da nicht ein, sie ist furchtbar eigen mit ihren Hunden. Und nicht nur mit ihren Hunden«, setzte Barbara hinzu. »Ihre Mutter ist eine von Rüblingen.« Barbara spitzte bei den letzten Worten affektiert die Lippen. »Sie war mal hier. So eine Perlenkettenfrau. Das krasse Gegenteil von Klara. Zwanzig Minuten hat es gedauert, dann hatten sie sich in der Wolle.«

Barbara leerte ihre Tasse und schaute ihre junge Besucherin abwartend an. Sie hatte so gar nichts von einem unreifen Teenager. Etwas Melancholisches ging von ihr aus, und etwas Dunkles, Geheimnisvolles.

»Gehst du noch zur Schule?«

»Nein.«

»Was machst du?«

»Ich bin …« In diesem Augenblick hörte man von nebenan ein Geräusch. Ein langgezogener, tierischer Heulton, schrill und tief zugleich, dem sofort ein ähnlicher folgte, und noch einer, ein schauriger Kanon. Nasrin richtete sich auf und sah Barbara mit erschrockenen Augen an. Barbara fuhr wie von einer Nadel gestochen in die Höhe und rannte ins Haus.

»Himmel, schon fünf nach drei!« rief sie, warf sich auf das Ledersofa und griff nach der Fernbedienung.

Entgegen ihrer Gewohnheit sah Klara nicht als erstes nach den Hunden, sondern hastete, kaum daß sie auf den Hof geprescht war, in ihre Wohnung und ins Bad. Sie riß sich die Kleider vom Leib und warf die ganze Ladung in die Umzugskiste, die ihr als Wäschetonne diente. Sie würde die Sachen wegwerfen, beschloß sie, als sie unter der Dusche stand.

Klara seifte sich gerade zum drittenmal ein, als sie einen dunklen Umriß hinter der von Dampf beschlagenen Glaswand wahrnahm. Eine Hand preßte sich von außen an die Scheibe, die Flasche mit dem Duschgel knallte auf ihren großen Zeh. Sie schob die Wand zurück. Robin grinste. Falls er sich über ihre Reinigung zu dieser ungewöhnlichen Zeit wunderte, ließ er nichts davon durchblicken, sondern bemerkte: »Er war schon ein Schelm, der alte Hitchcock. Ich wette, seit Psycho haben Generationen von Frauen dieses ungute Gefühl beim Duschen.«

Ich werde ihm den Schlüssel abnehmen, beschloß Klara. Er war es schließlich, der zwei getrennte Wohnungen wollte. Dann also richtig.

Robin wartete im Wohnzimmer. Es lag genau unter seinem, wirkte aber doppelt so groß. Ein Sofa, drei Bücherregale und ein Schreibtisch mit Drehsessel und PC hatten hier Platz gefunden. Auf einem großen Tisch daneben standen noch ein Computer, ein Drucker, Scanner, Fax, Telefon und weitere, undefinierbare Geräte. Dazwischen herrschte Kabelverhau. Als Couchtisch diente ein Umzugskarton. Überhaupt lagerte noch viel von Klaras Besitz in Kartons. Nicht daß sie zum Purismus neigte. Sie hatte sich in dem knappen Jahr einfach noch nicht aufgerafft, sich um ihre Einrichtung zu kümmern. Eher fuhr sie an einem Tag vierhundert Kilometer, um ein ganz spezielles Hundefutter zu besorgen. Das Wenige, was an Möbeln vorhanden war, stammte aus ihrer alten Mansarde im Zooviertel, das inzwischen gerne »Kanzlerviertel« genannt wurde. Eine leihweise Überlassung von Einrichtungsgegenständen aus dem Erbe von Robins Eltern hatte sie kategorisch, wenn nicht sogar eine Spur hysterisch, abgelehnt.

Klaras Wohnung sah nicht aus wie die einer Frau, fand Robin. Der einzige Wandschmuck war ein Rentierfell, und darüber hing ein Gewehr, von dem Robin wußte, daß es kein Ziergegenstand war.

In ein Handtuch gewickelt, kam Klara aus dem Bad. Robin lehnte mit verschränkten Armen in der Wohnzimmertür und sah ihr nach, als sie an ihm vorbeiging. Klara wurde ein wenig flau im Magen. Warum lungerte er hier herum? Ahnte er etwas? Ausgerechnet jetzt, wo die Sache vorbei war? Zu Beginn der Affäre war Klara nicht besonders vorsichtig gewesen. Vielmehr hatte sie sich gesagt, daß es Robin ganz recht geschähe, sollte er davon erfahren. Nun, da ihre Sinne nicht mehr libidinös getrübt waren, sah sie ihren Exliebhaber mit anderen Augen: ein schmalbrüstiger, dezent sächselnder BWL-Student, der sich die Haare schwärzte und gerne den feurigen Südländer gab. Das Ganze war Klara im nachhinein höchstpeinlich. Niemals durfte Robin von Mario erfahren. Nicht seine Eifersucht fürchtete sie, sondern seine Verachtung.

Im Schlafzimmer waren die Jalousien halb geschlossen. Auf einem kaum benutzten Bügelbrett stapelten sich Pullover, T-Shirts und Unterwäsche, der Rest hing auf einem dieser beweglichen Kleiderständer, wie sie auch in Boutiquen stehen.

»Barbara hat Besuch«, sagte Robin. Er war ihr gefolgt und lehnte nun in der Schlafzimmertür.

»Ein Kerl?« fragte Klara.

»Eine Türkin. Glaube ich.«

Wir sind schon richtige Landeier geworden, dachte Klara. In der Stadt hätte Robin den Besuch garantiert nicht einmal erwähnt, während er hier wie ein aufgescheuchtes Huhn angerannt kam, um die Sensation zu verkünden. Sie schlüpfte in eine Bundeswehrhose und streifte sich ein nicht mehr ganz sauberes, graugrünes Sweatshirt über.

»Ist Krieg?« fragte Robin. Er folgte Klara in die Küche. Ein barbarischer Gestank nagelte ihn im Türrahmen fest. Mit der Hand vor Mund und Nase sah er zu, wie Klara faustgroße Brocken von etwas Undefinierbarem vom Abtropf der Spüle nahm und in eine Schüssel warf.

»Pansen«, lächelte Klara. »Stinkt ein bißchen, ist aber das Allerbeste.«

»Kriegen Sie es wieder vorgekaut oder müssen sie heute selber ran?« Robin ging durch die Küche und riß das Fenster auf.

»Aus dem Alter sind sie doch längst raus.«

»Hallelujah«, frohlockte Robin zum Fenster hinaus. »Du wirst es nicht glauben, aber ich fand es immer ein klein wenig vulgär.«

»Ich habe dich auch schon Tartar essen sehen«, entgegnete Klara. Sie war Vegetarierin. Eingefleischte Vegetarierin, wie Robin gerne formulierte.

»Es kostet Überwindung, eine Frau zu küssen, die rohes Fleisch zerkaut und es ihren Welpen vor die Füße kotzt.«

»Ich kann mich nicht erinnern, wann wir uns in letzter Zeit geküßt hätten.«

»Eben. Sie treibt sich übrigens im Garten herum.«

»In welchem Garten?« fragte Klara alarmiert und eilte ins Schlafzimmer, um durch die Jalousien zu spähen. Die fremde Person stand am Gitter des Zwingers. Klara konnte sie im Profil sehen.

»Ich finde, sie sieht nicht wie eine Türkin aus.«

»Stimmt«, sagte Robin. »Das Kopftuch fehlt.« Er war neben sie getreten. »Sie sieht dir ähnlich.«

»Nicht die Bohne!«

»Nur daß sie natürlich fast deine Tochter sein könnte.«

Klara revanchierte sich auf der Stelle: »Was macht dein großes Werk? Wie lautet der richtungsweisende erste Satz?«

Robin ignorierte die Frage. Beide spähten durch die Jalousie nach draußen, und Klara murmelte: »Was, zum Teufel, hat sie da wieder angeschleppt?«

Alle Prozeßbeteiligten erhoben sich, als Richter Johannes Frenzen im Namen des Volkes das Urteil verkündete: Sechzehn Monate Jugendstrafe, für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Er forderte die Anwesenden auf, sich zu setzen, und verlas die Urteilsbegründung. Der Jugendliche war nicht vorbestraft, er hatte aus seiner Sicht aus hehren Motiven gehandelt, nämlich um seinem pleite gegangenen Vater aus der Klemme zu helfen. Jedoch blieb ein Überfall ein Überfall, auch wenn die Pistole nicht echt gewesen war, was die Kassiererin der Tankstelle schließlich nicht hatte wissen können. Der Jugendliche hatte sich während der Verhandlung ehrlich zerknirscht bei der jungen Frau entschuldigt, was ihm positiv angerechnet wurde.

»Und aus!« tönte es durch den Gerichtssaal. Sofort kam Bewegung auf. Die sechs Kameras schrammten über das Parkett, daß die Dielen knarrten, Darsteller, Kameraleute, Assistenten, Kabelhilfen und Beleuchter wuselten durcheinander, der Angeklagte stand auf und stürzte zum Richtertisch. »Kann ich bitte ein Autogramm haben?«