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Die Autorin

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Silvia Pixner

ist Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin. Ihr Schwerpunkt ist die Erforschung der Entwicklung der Zahlenverarbeitung und des Rechnens bei Kindern und Jugendlichen mit oder ohne Rechenstörung. In ihren meist internationalen Publikationen befasst sie sich neben der Zahlenforschung mit dem Einfluss der Sprache, der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses auf unterschiedliche kognitive Prozesse. Ihr Bemühen gilt den Kindern und das versucht sie in ihrer praktischen Arbeit mit betroffenen Kindern wie auch in ihren Studien zum Ausdruck zu bringen.

Silvia Pixner

Dyskalkulie

Ein Ratgeber für Eltern,
Lehrer und Therapeuten

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Die Informationen in diesem Ratgeber sind von der Verfasserin und dem Verlag sorgfältig erwogen und geprüft, dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Eine Haftung der Verfasserin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Besuchen Sie uns im Internet: www.schulz-kirchner.de

1. Auflage 2010
E-Book ISBN 978-3-8248-0794-9
Alle Rechte vorbehalten
© Schulz-Kirchner Verlag GmbH, 2010
Mollweg 2, D-65510 Idstein
Vertretungsberechtigter Geschäftsführer: Dr. Ullrich Schulz-Kirchner
Umschlagfoto: © Hannes Eichinger – Fotolia.com
Lektorat: Doris Zimmermann
Fachlektorat: Prof. Dr. Claudia Iven
Umschlagentwurf und Layout: Petra Jeck
Druck und Bindung:
wd print + medien GmbH, Elsa-Brandström-Str. 18, 33578 Wetzlar
Printed in Germany

Auch als Buch erhältlich unter der ISBN 978-3-8248-0843-4

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Reihe

Wie lernen Kinder, sich in der Welt der Zahlen zu orientieren?

Kurzer Ausflug in die Neuropsychologie der Zahlenverarbeitung und Dyskalkulie

Woran erkenne ich, dass mein Kind Schwierigkeiten hat?

Wie wird eine Rechenstörung festgestellt?

Überblick über aktuelle Dyskalkulie-Tests

Unterschiedliche Gesichter einer Dyskalkulie

Kinder mit Dyskalkulie sind nicht doof …

Dyskalkulie und Legasthenie: eine schwierige Hürde …

Auch Dyskalkuliker können hyperaktiv sein …

Dyskalkulie und emotionale Störungen …

Die psychischen Folgen einer unbehandelten Dyskalkulie …

Förderung und Therapie

Überblick über aktuelle Förderprogramme, Bücher und Lernspiele zur Dyskalkulie

Was kann ich zu Hause für mein Kind tun?

Schlusswort

Ausgewählte Web-Adressen

Vorwort zur Reihe

Die Ratgeber für „Angehörige, Betroffene und Fachleute“ vermitteln kurz und prägnant grundlegende Kenntnisse auf wissenschaftlicher Basis und Hilfestellungen zu ausgewählten Themen aus der Medizin, der Sprach- und der Ergotherapie. Die Autor(inn)en der Reihe sind ausgewiesene Fachleute mit langjähriger Erfahrung in Diagnostik, Therapie, Beratung und Lehre.

Der Ratgeber zur Dyskalkulie befasst sich mit einem Störungsbild, das gar nicht so selten ist, aber selten früh erkannt und gezielt behandelt wird. Kinder, die Schwierigkeiten mit dem Erwerb von Zähl- und Rechenfähigkeiten haben, und ihre Eltern sind aber auf kompetente Hilfe angewiesen, und dieser Ratgeber möchte einige der zentralen Fragen dazu beantworten: Er informiert über den normalen Erwerb von Mengenverständnis, Zahlbegriffen und Zählfähigkeiten als Voraussetzungen der Rechenkompetenz, er erläutert, wie Entwicklungsprobleme erkannt werden können, er gibt Hinweise zu Zielen und Vorgehensweisen in der Diagnostik und er gibt einen Überblick darüber, wie in der Schule und zu Hause geholfen werden kann.

Nicht zuletzt durch die Fülle an Fallbeispielen und die Übersicht über Förderprogramme und -materialien empfiehlt sich der Ratgeber auch als Informationsquelle für Lehrer, die rechenschwache Kinder unterstützen möchten. Es ist zu hoffen, dass dieser Band dazu beiträgt, das Verständnis für die Probleme der Kinder mit Dyskalkulie zu verbessern und ihre Therapie- und Fördermöglichkeiten zu vergrößern.

Prof. Dr. Claudia Iven

Herausgeberin

Wie lernen Kinder,
sich in der Welt der Zahlen zu orientieren?

Zahlen oder Mengen spielen nicht nur in unserer modernen Gesellschaft eine entscheidende Rolle. Vielmehr benutzten bereits primitive Völker Zahlwörter und zum Teil sogar symbolische Darstellungen von Mengen. Der Umgang mit Mengen ist jedoch nicht nur den Menschen vorbehalten. Wissenschaftliche Untersuchungen konnten zeigen, dass viele Tierarten Mengen mit unterschiedlichen Anzahlen von Objekten unterscheiden können. So ist es für einen Fisch lebenswichtig zu entscheiden, wohin der größere Schwarm schwimmt (um sich diesem anzuschließen). Je größer der Schwarm, desto höher die Überlebenschance des Einzelnen. Ähnliche Beispiele könnte man für unzählige andere Tierarten anführen. Kehren wir aber lieber zum Menschen zurück und verfolgen die Entwicklung eines Säuglings.

Säuglinge können bereits in den ersten Monaten kleinere Mengen unterscheiden. Diese Leistung geht jedoch nicht primär auf die Kenntnis von Anzahlen oder auf rechnerische Fertigkeiten zurück. Vielmehr ist diese frühkindliche Fertigkeit durch das Phänomen der „Kontinuität der Menge“ erklärbar. Damit bezeichnet man die Vorstellung, dass drei Birnen einen größeren Raum einnehmen als eine Birne. Obwohl sich Säuglinge sehr stark nach diesem Prinzip orientieren, sind sie unter gewissen Umständen auch fähig, sich nach anderen Kriterien zu richten. Untersucht man in der Forschung den Zusammenhang von Objektgröße und Mengenbeurteilung, können bereits 6 Monate alte Kleinkinder Mengen unterscheiden, die in einem Verhältnis von mindestens 1:2 stehen (d.h. die Kinder erkennen, dass 2 größere Birnen numerisch weniger sind als 4 kleinere Birnen). Ein weiteres Experiment konnte zeigen, dass Babys auf Veränderungen der numerischen Menge reagieren. Die Forscher ließen Babys zwei Puppen beobachten. Dann wurde ein Vorhang vorgezogen und eine Hand nahm – gut sichtbar für das Baby – von der Seite eine Puppe weg. Hat man danach den Vorhang wieder entfernt, haben die Babys irritiert reagiert, wenn die Menge (also zwei Puppen) unverändert war. Weil auch Säuglinge oder Tiere ohne spezifisches Training solche Aufgaben beherrschen, wird angenommen, dass gewisse Aspekte der numerischen Mengenverarbeitung bereits angeboren sind. Lange bevor die Kinder in der Schule oder im Kindergarten an einem spezifischen Unterricht teilnehmen, erwerben sie bereits im Rahmen von Alltagsaktivitäten spielerisch wichtige numerische Kompetenzen.

Die Kinder machen schon sehr früh ihre ersten Erfahrungen mit (An-)Zahlen und Mengen. Dies wird zum Beispiel bei Kinderliedern wie „Backe, backe Kuchen … der muss haben sieben Sachen“ oder „1, 2, 3 im Sauseschritt“ deutlich. Beim Spielen machen Kinder die ersten Erfahrungen mit Mengen. Lange bevor die Kinder Objektmengen abzählen können, können sie die einzelnen Zahlwörter rezitieren. Dies geschieht anfangs meist in zufälliger Anordnung (eins, drei, fünf …), mit zunehmender Übung jedoch bald in der richtigen Reihenfolge (ein, zwei, drei …). Dieses Prinzip wird auch als das Prinzip der stabilen Reihenfolge (also die korrekte Abfolge der Zahlenwörter) bezeichnet. Bereits vor vielen Jahren haben Wissenschaftler die Zählprinzipien beschrieben. Es sind Regeln, die ein Kind im Laufe der Entwicklung entdeckt und anzuwenden lernt und die notwendig sind, um den Zählprozess korrekt durchführen zu können. Dieses oben beschriebene rezitierende Zählen ist aber noch nicht mit dem Zählen eines Schülers vergleichbar. Das initiale Zählen ist vielmehr wie ein Gedicht, das von den Kindern in diesem frühen Alter (wir sprechen hier von 2- bis 3-jährigen Kindern) ohne Verständnis für die dahinterstehende Anzahl (bzw. numerische Menge) aufgesagt wird. Beobachtet man ein 3- bis 4-jähriges Kind beim Zählen, kann man noch sehr oft sehen, dass dieses gesprochene „Gedicht“ und die gezählten Objekte noch nicht synchronisiert werden (zeitlich übereinstimmt), was zwingend zu einem falschen Ergebnis führt. Ein häufiger Zählfehler ist beispielsweise die Zuordnung von zwei Zahlwörtern zu einem Objekt (siehe Abbildung 1). Die Kinder entdecken in diesem Stadium das weitere Zählprinzip und zwar die Eins-zu-eins-Zuordnung. Zu jedem Objekt kann nur ein Zahlwort zugeordnet werden, damit die Zählprozedur zum Erfolg führt.

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Die Kleinkinder erforschen mit einer enormen Motivation die Welt. Entdecken sie etwas Neues, üben sie oft unermüdlich weiter. Sie sortieren Gegenstände nach Größe, Farbe oder Form und bald zählen sie die ersten kleineren Objektmengen und ordnen ihnen die ersten Zahlwörter zu. Bei diesen Spielen entdecken sie oft weitere Zählprinzipien. Sie lernen zum Beispiel, dass dieses „Gedicht“ aufeinanderfolgender Zahlwörter auch noch eine weitere wichtige Information liefert: Die letzte genannte Zahl bildet die gezählte Menge ab. Liegen also 5 Legosteine auf dem Tisch und dem Kind gelingt es, diese Menge von 5 Legosteinen korrekt zu zählen, heißt das noch lange nicht, dass das Kind auch begreift, dass die Zahl Fünf die zu zählende Menge von 5 Legosteinen abbildet. Dieses Kind würde die Fünf lediglich dem letzten Legostein in der Reihe zuordnen. Fragen Sie dieses Kind, wie viele Legosteine auf dem Tisch liegen, würde es keine adäquate Antwort geben können. Erst mit der Zeit begreifen Kinder, dass das Ergebnis des Zählens die zu zählende Menge widerspiegelt. Sind die zu zählenden Objekte linear angeordnet, fällt es den Kindern meist leichter, diese zu zählen, als wenn die Anordnung der Objekte ungeordnet ist (siehe auch Abbildung 2).

Bei der ungeordneten bzw. irregulären Anordnung müssen Kinder (so wie auch Erwachsene) den Zählprozess genauer überwachen. Das Kind muss sich also genau merken, welche Objekte es bereits gezählt hat. Dafür braucht es gewisse Strategien. Gelingt es dem Kind nicht, eine irreguläre Menge zu zählen, ist dies nicht unbedingt ein Hinweis für das Vorliegen einer Dyskalkulie. Mögliche Ursachen für Zählfehler können vielschichtig sein. Korrektes Zählen erfordert beispielsweise gute Aufmerksamkeitsleistungen und gute Steuerungsmechanismen (so muss man sich erinnern, welches Objekt in der Menge bereits gezählt wurde und welches noch nicht). Das bedeutet, dass fehlerhaftes Zählen nicht immer ein Hinweis für schlechtes Mengenverständnis sein muss, sondern auch durch eine mangelnde Aufmerksamkeitssteuerung verursacht sein kann.

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Eine interessante Beobachtung konnten Wissenschaftler bei einer Untersuchung machen, bei der Kinder beurteilen sollten, ob ein vom Versuchsleiter demonstrierter Zählprozess richtig oder falsch ist. Dazu wurden den Kindern Steine in zwei unterschiedlichen Farben vorgelegt. Der Versuchsleiter zählte zunächst die blauen und erst dann die grauen Steine (ohne einen Stein auszulassen oder doppelt zu zählen). Im Vergleich zu Kindern ohne Dyskalkulie beurteilten Kinder mit Dyskalkulie diese Zählweise signifikant häufiger als falsch. Dieses Ergebnis zeigt, dass Kinder mit Dyskalkulie kein Gefühl für die Menge haben und daher nicht mit Sicherheit bestätigen können, dass eine nicht lineare Zählweise zu einem korrekten Ergebnis führt, wenn die restlichen Zählprinzipien eingehalten werden.

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Um Mengen vergleichen zu können, benutzen Kinder anfangs eine weitere Eigenschaft, die mit jeder natürlichen (Objekt) Menge verknüpft ist – die räumliche Ausdehnung (siehe auch Abbildung 3