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Giselher Schubert

Paul Hindemith

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Giselher Schubert

Paul Hindemith

konzis

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dn-b.de abrufbar.

Bestellnummer SDP 154

ISBN 978-3-7957-8578-9

© 2016 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer SEM 8086

© 2016 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

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Inhalt

Kindheit und Jugend

Immer Neues ans Licht bringen

Neue Sachlichkeit

Musik nach Maß

Musikmachen als Widerstand

Ein bisschen daheim sein

Melancholie des Vermögens

Zeittafel

Zeugnisse

Anmerkungen

Werkverzeichnis

A) Kompositionen

B) Schriften

Bibliographie

Namensregister

Über den Autor

Quellennachweis der Abbildungen

Kindheit und Jugend

Paul Hindemiths Vater Robert Rudolf Emil Hindemith (1870–1915) entstammte einer alteingesessenen schlesischen Familie von Kaufleuten und Handwerkern. Zu keiner Zeit hat er seiner eigenen Familie eine sorgenfreie Existenzgrundlage sichern können. Die Schuld für dieses Versagen, unter dem er litt, suchte er in seiner eigenen Kindheit: »Ich habe an mir selbst erfahren, und jetzt wo ich so alt bin, sehe ich erst recht ein, wie verderblich es ist, wenn ein Kind so früh aus dem Elternhaus kommt, traurig genug, wenn die Notwendigkeit da ist, wie bei mir es war, eine Stiefmutter etc. etc. etc.«1* Robert Rudolf soll von zu Hause davongelaufen sein2, als sein Vater Carl Wilhelm Paul Hindemith (1835–1901), ein geachteter Kaufmann und Ratsherr im schlesischen Naumburg am Queis, sich seinem heißen Wunsch widersetzte, Musiker zu werden.

Robert Rudolf wurde Maler und Anstreicher; in seiner Freizeit spielte er begeistert Zither. Ins Hessische verschlagen, heiratete er Maria Sophie Warnecke (1868–1949), die aus einer Familie von Schäfern kam, und betrieb glücklos einen Weißbinderladen, zunächst in der näheren Umgebung Frankfurts (Hanau, Niederrodenbach, Mühlheim am Main), dann seit 1905 in Frankfurt. Das erste, am 16. November 1895 in Hanau geborene Kind nannten sie Paul nach Robert Rudolfs Vater; 1898 folgte die Tochter Toni; 1900 kam der zweite Sohn Rudolf zur Welt. (1905 geborene Zwillinge starben während bzw. kurz nach der Geburt.)

Paul Hindemiths Vater muss für seine Kinder wohl gleich den Musikerberuf bestimmt haben, denn er unterwarf sie schon in ihrer frühesten Kindheit einem erbarmungslosen musikalischen Drill. »Ich habe einmal in meinem Leben«, berichtet er stolz in dem bereits zitierten Brief, »unseren ältesten [also Paul] mit 3 Jahren zu meinen Eltern gegeben bis zu 6 Jahren. Wie ich den Jungen fortgab, hatte ich ihn in punkto Gehör & Musik recht schön hoch geschafft & und wie ich ihn zur Schule holte, war der Junge total verdorben. Trotzdem waren meine Eltern feine gebildete Leute, aber sie waren alt & das Enkelchen war dort so ein junger Herrgott, das hat der Bengel die erste Zeit büßen müssen, bis der Pfiff wieder drinnen war.«

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Die Jahre 1899 bis 1902 bei den Großeltern in Naumburg waren für Paul die einzige glückliche Zeit in seiner Kindheit. Mit »peinlicher Aufsicht«, »haarscharfer Kontrolle« und »colossal strengem Drill von frühestem Alter an« wollte der Vater seinen Kindern den sozialen Aufstieg aus eigener Kraft sichern, den er für sich selbst vergeblich erträumt hatte. »Ich verlange, das merke Dir«, schreibt er noch dem achtzehnjährigen Paul, »vom wahren Künstler asketische Strenge gegen sich selbst, eben deshalb heißt es, soll der Künstler neben dem König stehen, weil er als Mensch sich so in der Gewalt haben muß.«3 So war es für Robert Rudolf wohl schon ein Erfolg, dass die drei Kinder in zahlreichen Dörfern seiner oberschlesischen Heimat (aber nicht in Frankfurt selbst) als das »Frankfurter Kindertrio«4 auftraten – Paul und Toni spielten Violine, Rudolf Cello; der Vater soll bei einigen Stücken auf der Zither begleitet haben –, ohne dass sie offenbar bereits regelmäßigen Musikunterricht erhielten. Denn in diesen bescheidenen Erfolgen seiner Kinder mit selbstverfassten Bearbeitungen gängiger Unterhaltungsmusik fühlte sich Robert Rudolf endlich bestätigt. Es ist kaum anzunehmen, dass er das ungewöhnliche musikalische Talent seiner Söhne anerkannte, vielleicht hat er es nicht einmal erkannt.

Pauls erster Musiklehrer wurde schließlich ein gewisser Eugen Reinhardt in Mühlheim am Main, und nach dem Umzug der Familie nach Frankfurt (1905) in die Frankenallee übernahm die Schweizer Geigerin Anna Hegner seine musikalische Ausbildung. Sie empfahl ihn 1907 an den weithin geachteten Geiger Adolf Rebner, der Lehrer am Hochschen Konservatorium, Konzertmeister im Opernorchester und Primarius eines Streichquartetts war. Bis zu Pauls Volksschulabschluss (1908) unterrichtete Rebner ihn als Privatschüler.

Zum Wintersemester 1908/09 vermittelt Rebner seinem Schüler eine Freistelle an Dr. Hochs Konservatorium in Frankfurt, eine der geachtetsten Einrichtungen ihrer Art in Deutschland. Diese hatte eine streng konservative Direktionszeit des Brahms-Freundes Bernhard Scholz hinter sich, in der sie immerhin ihren Ruf festigte, den sie mit Lehrkräften wie Clara Schumann oder Julius Stockhausen erworben hatte, und öffnete sich nun unter der Leitung von Iwan Knorr neueren Musikströmungen. Paul konzentriert sich in den ersten sieben Semestern auf sein Geigenspiel; Rebner erinnert sich später an die seiner »Jugend fast widersprechende Geduld«, mit der er, vom Vater offensichtlich peinlich kontrolliert, die »Studienwerke von Kreutzer, Rhode, Fiorillo und Ševčík«5 durcharbeitete. Die konventionellen Programme seiner obligatorischen Vortragsabende belegen einen stetigen Fortschritt, der auf Hindemiths großer Begabung und seinem ungewöhnlichen Fleiß gründete.6 In seinem Geigenspiel, das durch einen großen tragenden Ton, einen durchdachten, ausdrucksvollen Vortrag und eine mühelose Technik charakterisiert ist, melden sich Konstanten seiner ästhetischen Einstellung an, die einer aufdringlichen Brillanz oder einer überredenden sinnlichen Süße misstraut: Uneingeschränkt bewundert er schon damals das Violinspiel von Adolf Busch, während er Henri Marteau, bei dem er in Berlin als Stipendiat hätte studieren können, verachtet7 (sein späterer Quartett-Genosse Licco Amar ist dagegen Marteau-Schüler).

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Pauls Talent und vor allem seine charakterlichen Eigenschaften, die – im Gegensatz zum eher »sprunghaften«, als Instrumentalist nicht weniger begabten Bruder – als zuverlässig, verantwortungsbewusst und zurückhaltend beschrieben werden, ließen ihn bald dem freudlosen häuslichen Umkreis entwachsen. Er tat sich mit Kameraden aus dem Konservatorium zum »Urian-Club«8 zusammen, hauptsächlich um sich zu amüsieren, suchte und fand engen Kontakt zu etablierten bürgerlichen Familien (Ronnefeldts in Frankfurt, Webers in Aarau/Schweiz), die ihn nicht nur materiell unterstützten. In Rudolf Ronnefeldt, Gustav Weber, dem Altphilologen Carl Schmidt aus Friedberg (Hessen) und später in seinem ersten Kompositionslehrer Arnold Mendelssohn sowie in dem Regimentskommandeur Graf von Kielmannsegg fand er väterliche Freunde, denen er sich eng anschloss. Das prekäre Verhältnis zum eigenen Vater und zu der falschen oder angemaßten Autorität seiner Lehrer9 sublimierte er in zahlreichen kleinen Sketchen, Theaterstücken und Opernparodien (Winter 1919; Der Bratschenfimmel, Ein neues Traumspiel, Die Tragödie im Kino, Der verschleierte Raub usw.), die er mit seinen Freunden aus dem »Urian-Club« aufführte. Noch als zweiundzwanzigjähriger Konzertmeister im Opernorchester und Komponist der Drei Gesänge für Sopran und großes Orchester op. 9 spielt er ungewöhnlich ausdauernd mit den Kindern der Familie Ronnefeldt Puppentheater, vor allem nach Stücken des Grafen Pocci, für das er wie selbstvergessen eine geradezu dilettantische Musik schreibt; sein Leben lang fertigt er skurrile, groteske Zeichnungen an (nach dem Zeugnis der Schwester soll Paul sogar kurz zwischen Malerei und Musik geschwankt haben) und spielt leidenschaftlich gern mit der Eisenbahn. Zugleich zeigt er ungewöhnlich intensive bibliophile Neigungen: Seinen ganzen Ehrgeiz legt er in die Vervollständigung seiner nicht großen, aber schönen Bibliothek10.

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Erst seit Herbst 1912 ergänzen Kontrapunkt und Komposition Hindemiths Ausbildung (1914/15 treten Partiturspiel bei Karl Breidenstein, 1915/16 Dirigieren bei Fritz Bassermann hinzu). Sein erster Kompositionslehrer, der als Komponist vergessene, imposante, universal gebildete Arnold Mendelssohn (1855–1933), hat mir einen vernünftigen Satz beigebracht, bekennt Paul bereits 1913; er habe ihn gelehrt, das, was ich früher gelernt hatte, auszubeuten und zu verwerten11.

Mendelssohn hat demnach konzessionslos auf einer satztechnischen und formalen Logik der im Unterricht angefertigten Kompositionen bestanden. Hindemith, der bislang nur kleine, belanglose Klavierstücke, Trios und Sonaten in einer allerdings erstaunlich großen Anzahl angefertigt hatte, empfand das zunächst offenbar als bedrückende Last und Disziplinierung. Man bemerke, wie der jugendliche Komponist das Thema ausnutzt und in jeder Beleuchtung zur Sprache bringt, heißt es in einer Anmerkung zu endlosen Sequenzen eines Taktmotivs in der Parodie-Oper Der verschleierte Raub. So war er denn auch unzufrieden mit seinen Kompositionen, die er bei Mendelssohn begonnen hatte und die heute leider verschollen sind; er trug sie dennoch in sein Werkverzeichnis als erste vollendete Kompositionen ein, versah sie aber nicht mit einer Opus-Zahl. Zu Thema mit Variationen in Es dur für Klavier heißt es dort: Endlos daran herumgearbeitet. Ich konnt’s dem Alten [Mendelssohn] kaum recht machen. Das Große Rondo in B dur für Klarinette und Klavier ist nie ganz fertig geworden; zu viel daran herumgebosselt. Die Sonate in d moll für Klavier und Violine habe ich schon während der Arbeit nicht gerne gehabt, aber der Alte bestand darauf, daß ich es fertig mache. Doch seine letzte bei Mendelssohn in Angriff genommene Komposition, das Singspiel Der Vetter auf Besuch nach Wilhelm Busch, hat er nicht mehr vollendet: Gott, wie kam ich mir vor, als ich zum ersten Mal eine Orchesterpartitur anfing. Schon nach den ersten zwanzig Seiten verachtete ich mich und diese Sorte Musik und so wurde das Stück nie ganz fertig – gottlob.

Mendelssohn erkrankt im Oktober 1913, und als Bernhard Sekles die Ausbildung übernimmt, klagt Paul Hindemith: Prof. Mendelssohn versteht es besser, einem die Sache klarzulegen, und hilft einem und arbeitet selbst mit, als wenn er auch noch mit uns lernen würde. Hoffentlich kommt er nach Neujahr wieder.12 Indessen blieb von nun an Sekles sein Kompositionslehrer.

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Sekles (1872–1934), kompositorisch moderner eingestellt als Mendelssohn, dessen Werke aber ebenfalls vergessen sind und der nur durch einige bedeutende Schüler (Rudi Stephan, Hans Rosbaud, Ottmar Gerster, Theodor W. Adorno) in Erinnerung geblieben ist, hat Hindemiths Kompositionstalent sogleich erkannt; er nennt mich immer »Herr College«, weil ich jetzt vollendete Kompositionen bringe, während meine Arbeiten bis vor kurzem unvollkommen waren, schreibt Paul und entdeckt überrascht seine neu gewonnene kompositorische Einstellung: Seit einiger Zeit neige ich zu einer ganz anderen Kompositions-Richtung; ich will einmal sehen, wo das noch hinausläuft.13 Obwohl sich hier erstmals das eigene Kompositionstalent ankündigt, erklärt Hindemith sich die oft hinter einer distanzierenden Ironie verborgene, aufrichtige Kollegialität Sekles’ doch noch als einen Mangel in der erwarteten kompositorischen Anleitung. Hans Rosbaud, zu jener Zeit Studienkamerad Hindemiths, erinnert sich: »Sekles war ein witziger Geist. Er verstand es, mit wenigen Worten Probleme deutlich und scharf zu umreißen. So saßen wir also begeistert bei Sekles im Kontrapunktunterricht …«14 Hindemith dagegen schreibt Im Kontrapunkt machen wir 2-stimmige Klavierfugen. Da ist es bei Sekles ziemlich langweilig.15 Wahrscheinlich suchte Hindemith, der Mendelssohns Strenge bespöttelte, jetzt dort noch Anleitung oder Reglementierung, wo Sekles nicht mehr helfen konnte oder wollte. Hindemiths bei Mendelssohn angefertigte Kompositionen sind offenbar aus dem Unterricht herausgewachsene, unselbständige Studien; die Kontrapunktübungen bei Sekles dagegen entwickeln sich zu selbständigen Kompositionsskizzen. Hindemith konzentriert sich in diesen Übungen auf das bestimmte, vorgegebene satztechnische Problem, das er möglichst vollständig zu lösen versucht. Er durchdenkt beispielsweise bei Engführungsfugen sämtliche Möglichkeiten der thematischen Engführung; die Ausarbeitung der Fuge selbst schien ihm dann der Mühe nicht mehr wert zu sein.

Die Ansicht, der Wechsel von Mendelssohn, der ihn »gewähren« ließ, zu dem auf »Leitbilder« hinweisenden Sekles habe in Hindemith eine Krise ausgelöst16, dürfte kaum zutreffen. Mendelssohn hat wohl eher auf eine folgerichtige Anordnung der musikalischen Gedanken, Sekles ergänzend auf die großformalen Proportionen des ganzen Werkes gedrungen. Zudem kann der kompositorische Ertrag dieser Jahre 1914 /15 mit dem Streichquartett op. 2 und dem Cellokonzert op. 3 nur dann gering geschätzt werden, wenn übersehen wird, dass Hindemith sich in jenen Jahren gezwungen sah, durch sein Geigenspiel finanziell zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Die Komposition betrieb er ohnehin gegen den Widerstand des Vaters und zudem verstand er sich noch nicht als Komponist.

Bereits in den Sommerferien 1913 spielte er in Kurkapellen auf dem Bürgenstock (Schweiz) und in Lugano, und ab Dezember 1913 nahm er eine Stelle als Konzertmeister im Frankfurter »Neuen Theater« an, das ausschließlich Operetten – der konzentrierteste Blödsinn17, klagt er – aufführte. Diese Tätigkeit gab er offenbar erst auf, als er eine Anstellung im Orchester der Frankfurter Oper bekam. Pfingsten 1914 riskiert Paul Hindemith einen Bruch mit der Familie; wohl wegen seiner Mutter und der Geschwister ist er jedoch zurückgekehrt. In den Sommerferien 1914 schließt er sich wieder einer Kurkapelle in Heiden (Schweiz) an; hier überrascht ihn der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Sein Vater meldet sich fünfundvierzigjährig sofort freiwillig an die Front und fällt am 25. September 1915 in Flandern. Unter der Vorstellung, der Vater könne plötzlich vor der Tür stehen, soll Hindemith lange Zeit gelitten haben.

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Paul, der sich für seine Mutter und seine Geschwister verantwortlich fühlt, unterrichtet private Geigenschüler, vertritt vorübergehend seinen Lehrer Rebner im Konservatorium, hat lawinenartig anwachsenden Konzertverpflichtungen in der Frankfurter Umgebung nachzukommen und wird Mitglied im Rebner-Quartett, in dem er abwechselnd zweite Geige oder Bratsche spielt. In seinen Briefen klagt er über ständige Arbeitsüberlastung:

Das verflossene Studienjahr [1914/15] war für mich eine Zeit der anstrengendsten Arbeit. Im Frühjahr habe ich im hiesigen großen Saalbau (Frankfurter Tonhalle) das Beethovenkonzert mit großem Erfolg gespielt. Ich habe viel daran schaffen müssen. Danach stand ein Kompositionsabend im Konservatorium in Aussicht, an dem mein Streichquartett [op. 2] aufgeführt werden sollte. Da ich jedoch dasselbe erst bis zur Hälfte fertig hatte, hatte ich noch fabelhaft zu tun, wenn ich die Sache zum festgesetzten Zeitpunkt fertig bringen wollte. Es gelang, jedoch unter Aufopferung jeder verfügbaren Minute. Jede Nacht saß ich bis 2 oder 3 Uhr und schrieb Noten… Nach diesen Arbeitsnächten, von denen ich das Zittern in allen Knochen und einen halbverrückten Schädel bekommen hatte, begannen die entnervenden Proben für das Stück… Die Sache ging aber auch nicht ohne Schaden für mich ab: ich mußte mich 3 Wochen ins Bett legen, weil ich total mürbe war. Diese viele Arbeit noch einmal– das hielt ich nicht mehr aus.18

Die Unterrichtsstunden am Konservatorium, die erst 1917 ihr nominelles Ende finden, schränkt Hindemith ein, als er zum 24. Juni 1915 als erster Geiger, dann zum 1. September 1915 als erster Konzertmeister im Frankfurter Opernorchester angestellt wird. Das obligatorische Probespiel zeigt ihn ganz auf der Höhe seiner geigerischen Kunstfertigkeit:

Am Donnerstag absolvierte ich noch einmal ein Probespiel, wo außer den genannten Herren noch der Amsterdamer Kapellmeister Willem Mengelberg (Leiter der hiesigen Museumskonzerte) und eine Menge unserer Orchestermitglieder da waren. Ich spielte Mendelssohn, Brahms und Bach. Es ging alles gut, aber Mengelberg, ein mir durchaus unsympathischer, rothaariger Mensch, wollte mir absolut die Stelle nicht zuerkennen, »weil ich viel zu jung« sei, ich habe aber gehört, daß er einen anderen Geiger dafür in petto hatte. Als ich dann noch äußerst schwierige Stellen aus der Salome [von Richard Strauss] vorgelegt bekam (die ich nie gesehen hatte) und sie glatt vom Blatt spielte, konnte er natürlich auch nichts mehr einwenden.19

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Hindemith teilt seine später revidierte Aversion gegen Mengelberg, den unermüdlichen Vorkämpfer von Richard Strauss und Gustav Mahler, mit dem damals in Frankfurt wirkenden einflussreichen Musikkritiker Paul Bekker (Adorno hielt ihn für den bedeutendsten Musikkritiker zwischen den beiden Weltkriegen), dem die Museumsgesellschaft aufgrund »gehässiger« und »bösartiger« Kritiken – Mengelberg: »ein Berg von Mängeln« – die Pressekarten für ihre Veranstaltungen entzog.20 Die sich mit Bekker solidarisierende regionale und überregionale Kritik boykottierte daraufhin acht Jahre lang (1912 /13–1920 /21) die Konzerte der Gesellschaft. Uneingeschränkt dagegen bewunderten sowohl Hindemith als auch Bekker den von Brahms und von Bülow an die Frankfurter Oper empfohlenen ersten Kapellmeister jener Jahre, Ludwig Rottenberg (1864–1932). Er verhalf Schreker zum Durchbruch, brachte die deutschen Erstaufführungen der Opern von Debussy, Dukas, Delius und Bartók in Frankfurt heraus und galt vor allem als vorbildlicher Mozart-Interpret (er pflegte auch den ersten Akt der »Walküre« auswendig zu dirigieren). Wurde Mengelbergs Frankfurter Wirken von der Presse ignoriert, so verblassten Rottenbergs Leistungen rasch durch die wesentlich glanzvolleren von Clemens Krauss, der ab 1924 in Frankfurt als Intendant der Oper wirkte.

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Als Unterhaltungsmusiker in Kurkapellen, Konzertmeister im »Neuen Theater«, das auf Operetten spezialisiert war, und im Opernorchester, das zugleich die repräsentativen Symphoniekonzerte der Frankfurter Museumsgesellschaft und des Cäcilienvereins betreute, als Mitglied des Rebner-Quartetts und ein geradezu besessen Violine, Bratsche oder Klavier spielender Kammermusikpartner seiner Freunde, sah sich Hindemith mit dem gesamten, primär das 19. Jahrhundert umfassenden musikalischen Repertoire des in Frankfurt dominierenden, gehobenen Bürgertums konfrontiert. Mengelberg und Rottenberg hatten es zusätzlich um die Moderne der Jahrhundertwende (Strauss, Mahler, Schreker, Delius, Debussy) erweitert. Diese Tradition beherrscht auch Hindemiths Jugendwerke op. 1–9, die unter Aufsicht Sekles’ entstanden oder doch zumindest mit ihm durchgesprochen sind und von denen lediglich die 3 Stücke für Cello und Klavier op. 8 zu Hindemiths Lebzeiten publiziert worden sind. Den Hintergrund dieser Werke – sieht man einmal ab von den in den Ferien komponierten 7 Liedern in Aargauer Mundart op. 5 und den sich an Brahms orientierenden Walzern für Klavier zu vier Händen Drei wunderschone Mädchen im Schwarzwald op. 6 (1916) – bildet die von Sekles geförderte Haltung einer musikalischen Fortschrittlichkeit im Sinne der Jahrhundertwende. So zielen alle diese Werke ins Großformatige, und selbst die Kammermusik folgt nicht so sehr einer abstrakten Idee ihrer Gattung, sondern ist eher von der Orchestermusik als der repräsentativsten musikalischen Gattung jener Zeit her konzipiert. Das zweisätzige Trio für Klarinette, Horn und Klavier op. 1, dessen Scherzo Hindemith für hochmodern und erstklassig hielt, löst vorrangig klangliche, nicht satztechnische Probleme. Auch das Streichquartett op. 2 ist alles andere als akademisch und trocken: Den ersten Satz, kommentiert Hindemith im Werkverzeichnis, habe ich bald verachtet, weil er so altmodisch war– aber stolz war ich besonders auf die beiden letzten.

Das Konzert für Violoncello mit Begleitung des Orchesters op. 3 und die zum Gedächtnis an Christian Morgenstern geschriebene programmatische Lustige Sinfonietta op. 4 (1916) zeigen in der großformalen Disposition verwandte Züge: Der letzte Satz geht jeweils aus dem vorletzten unmittelbar hervor und exponiert noch einmal das Hauptthema des ersten Satzes. In beiden Werken scheint sich eine analoge musikalische Haltung gleichsam entgegengesetzt zu aktualisieren: Im Cellokonzert, das der Tradition der Virtuosenkonzerte des 19. Jahrhunderts folgt, ist sie auftrumpfend und effektvoll ausgearbeitet; in der Lustigen Sinfonietta dagegen, die Hindemith höher einschätzte, karikiert und distanziert er: Der erste Satz bezieht sich auf Morgensterns Die Galgenbrüder – das als Durchführung dienende Fugato nennt Hindemith Das große Lalulā –, der zweite Satz schildert zoologische Merkwürdigkeiten, der dritte Variationssatz ist Palmström gewidmet, der vierte bleibt programmatisch unfixiert. Das Cellokonzert erlebte zu Hindemiths Lebzeiten nur eine einzige, von ihm selbst am 28. Juni 1916 geleitete Aufführung im Konservatorium; die Sinfonietta wurde erst 1980 uraufgeführt, 17 Jahre nach seinem Tod.

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Das leider verschollene Klavierquintett op. 7 und die 1974 uraufgeführten Drei Gesänge für Sopran und großes Orchester op. 9 (1917) hat Hindemith als die Höhepunkte seiner Jugendwerke angesehen. In dem einsätzigen Quintett – ohne Rücksicht auf überlieferte Form, auf den so sehr gerühmten »Kammermusikstil« gearbeitet – überträgt er nun die formalen und klanglichen Errungenschaften der modernen Orchestermusik vollständig in den Bereich der Kammermusik. Ihr müßt das Stück so spielen, schreibt er an seine Freundin Emma Lübbecke-Job, die den jungen Hindemith durch ihre Interpretationen entscheidend förderte, daß die Zuhörer von einer Raserei ergriffen werden. Beim Hören darf man keinen Augenblick zur Ruhe kommen. Selbst die wenigen ruhigen Stellen müssen etwas beängstigend Gewitterschwangeres an sich haben. Vor allen Dingen darf das Stück nicht wie ein ordnungsgemäß gesetztes Quintett mit I. and II. Thema usw. klingen. Es muß an einem vorüberziehen wie eine farbenreiche Improvisation. Gespenster und Drachen, Bergstürze, Kämpfe, Blut, Bäume, Wälder, Sonne und Sommer, das muß alles drinnen sein.21 Später kommentiert Hindemith im Werkverzeichnis: Das war ganz ernst gemeint, ich habe mir manches dabei »abgerungen«. Es sollte ein Riesenwerk werden: dieses war nur der erste Teil. Bald schien es mir ein bißchen lächerlich, und so ließ ich’s bleiben.

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Die Drei Gesänge op. 9 sind für die größte Orchesterbesetzung vorgesehen, die Hindemith jemals schrieb; er bedient sich in diesem Werk noch einmal jener bereits verfestigten spätromantischen Gesten, die ihm wohl als der Inbegriff musikalischer Modernität galten, mit einer gleichwohl ausdrucksstarken, unmittelbaren und spontanen Musik, die frei von epigonalen Zügen bleibt. Die Wahl der Gedichte »Weltende« von Else Lasker-Schüler sowie »Meine Nächte sind heiser zerschrien« und »Aufbruch der Jugend« von Ernst Wilhelm Lotz verrät zudem Hindemiths genaue Kenntnis der damals neuesten literarischen Strömungen und sein ungewöhnlich sicheres literarisches Urteilsvermögen.

Hindemith setzt sich in seinen Jugendwerken nicht so sehr mit dem musikalischen 19. Jahrhundert auseinander, vielmehr akzeptiert er es zunächst einmal als das fortgeschrittenste kompositorische Niveau. Was bei Strauss oder Schreker, denen er neben Reger damals kompositorisch besonders verpflichtet war, als Errungenschaften zu gelten hat, arbeitet er auf, um sich davon abzusetzen: Bald fand ich aber, daß man’s anders versuchen müsse, heißt es im Werkverzeichnis zu op. 3, und an einer anderen Stelle: Um diese Zeit bin ich herumgewackelt und wußte nicht, was los ist. Aber schließlich bleibt einem doch nichts übrig, als zu komponieren.

* Die hochgestellten Ziffern verweisen auf die Anmerkungen

Immer Neues ans Licht bringen

Von der Euphorie bei Kriegsausbruch läßt sich Hindemith im August 1914 zunächst noch mitreißen, wie aus Briefen an seine Schweizer Freunde hervorgeht. Spätestens nach dem Tode des Vaters aber reagiert er auf die ihm unverständlich gewordenen Umstände mit Galgenhumor. Der ganze Krieg ist traurig genug, schreibt er 1916 aus seinen Pfingstferien in die Schweiz, und da ist es gut, wenn man dieser ganzen Zeit die »Singspielhalle des Humors« gegenüberstellen kann, das hilft über vieles hinweg. Zum 13. August 1917 muss er einrücken, man gibt ihm jedoch zunächst noch Gelegenheit, weiterhin im Opernorchester mitzuspielen. Am 16. Januar 1918 fährt er zu seinem Regiment, das an der Elsässer Front bei Tagolsheim stationiert ist und in der Mitte des Jahres nach Flandern verlegt wird. Der Regimentsmusik zugeteilt, übernimmt er die große Trommel und spielt als Primarius in einem aus Soldaten rekrutierten Streichquartett; in den letzten Kriegsmonaten wird er zum Schanzen abkommandiert und muss Posten stehen.

Mit den Quartettgenossen, denen er auch Grundbegriffe der Harmonielehre beibringt, studiert er neben Quartetten von Schubert, Dvořák, Haydn und Mozart auch das von Debussy ein. Der musikverständige Regimentskommandeur Graf von Kielmannsegg lässt sich die Werke vorspielen. Die Platzkonzerte der Regimentsmusik werden immer häufiger durch Granatbeschüsse und Fliegerangriffe beendet. Während sich ihm grauenvolle Szenen fest einprägen – Ein entsetzlicher Anblick. Blut, durchlöcherte Körper, Hirn, ein abgerissener Pferdekopf, zersplitterte Knochen. Furchtbar; während fast jede Nacht böses Trommelfeuer herrscht und er selbst einen Granatbeschuss nur wie durch ein Wunder überlebt22 –, gelingt es ihm gleichwohl zu komponieren. Es entstehen vor allem das Streichquartett op. 10, die beiden Violinsonaten op. 11 Nr. 1 und 2 sowie das Lied Nebelwehen aus dem Zyklus Melancholie nach Christian Morgenstern op. 13 für Mezzosopran und Streichquartett, den er dem gefallenen Freund Karl Köhler widmet. Sein Entsetzen drückt sich in einigen Sätzen aus diesen Werken mit einer Trauer aus, die für einen Komponisten, der noch mit den Drei Gesängen für Sopran und großes Orchester op. 9 ein plakatives »Bekenntniswerk« schuf, überraschend sprachlos ist; hier findet er erstmals jenen Ton »leiser Klage«. Seine Einstellung zur Kunst hat sich in diesem Jahr 1918 denn auch grundsätzlicher und tiefer gewandelt, als es bislang ohne die Kenntnis der Jugendwerke gesehen werden konnte. Hindemith selbst hat das bestätigt; er berichtet später, dass er von Debussys Tod erfahren habe, als sie gerade den zweiten Satz aus dessen Streichquartett gespielt hatten:

Wir fühlten aber hier zum ersten Mal, daß Musik mehr ist als Stil, Technik und Ausdruck persönlichen Gefühls. Musik griff hier über politische Grenzen, über nationalen Haß und über die Greuel des Krieges hinweg. Bei keiner anderen Gelegenheit ist es mir je mit gleicher Deutlichkeit klargeworden, in welcher Richtung sich die Musik zu entwickeln habe.23

Diese Vorstellung von einer Musik, die weder Ausdruck persönlichen Gefühls, noch Bekenntnis und auch nicht erhabene Weltanschauung sein will, sondern zunächst einmal, um von allen Menschen genutzt werden zu können, nichts als Musik sein möchte, prägt sich in den 1918 komponierten Werken vor allem durch ihre relative Schlichtheit und Einfachheit aus. Er komponiert die beiden Violinsonaten von vornherein im Gedanken an eine ganze Werkreihe. Das erinnert eher an das vorklassische Verfahren der Zusammenfassung mehrerer gleichartiger Werke unter einer Opus-Zahl. Die beiden Sonaten tragen auf dem Manuskript auch noch die erst nachträglich abgeänderte Bezeichnung Sonatine. Das Quartett op. 10, gesteht Hindemith, sei viel bräver 24 als das Quintett op. 7. Konsequent integriert er in die Werke Charakterstücke, welche die musikalischen Ausdrucksmittel konzentrieren, während sie diese noch in den 3 Stücken für Cello und Klavier op. 8 (1917) eher wie zufällig erweitern. Entsprechend modifiziert Hindemith auch die Sonatensatzform des ersten Satzes aus dem Quartett op. 10: Er legt Fugatogeheimnisvoll; im gleichen Tempo, jedoch gänzlich apathisch, empfindungslos