KARL - MAY - VERLAG
BAMBERG · RADEBEUL
Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid
© 2009 Karl-May-Verlag, Bamberg
Alle Urheber- und Verlagsrechte vorbehalten
Deckelbild:
Kostümfoto Karl May: Alois Schießer
Foto des Kriminalgerichts Moabit: Landesdenkmalamt Berlin
Kolorierung und Artwork: Torsten Greis / grafixx media
ISBN: 978-3-7802-1613-7
ISBN der Printausgabe: 978-3-7802-0186-7
www.karl-may.de
Wenn man das umfangreiche Buch über „Old Shatterhand vor Gericht“ gelesen hat, muss man zu der Erkenntnis kommen, dass Karl May außer mit seinem literarischen Werk den größten Teil seiner Lebenszeit mit Prozessen verbracht hat, zum Teil als Angeklagter, Beschuldigter und Beklagter, mehr aber noch als Kläger und Privatkläger. Es ist klar, dass die daraus erwachsene Flut an Prozessmaterialien neben den Selbstbekenntnissen und Briefen des Autors den größten Fundus an biographischen Informationen bietet, über den wir verfügen. Das Aktenmaterial dokumentiert sogar viele Fakten, die nur durch gerichtliche Aussagepflichten und Überprüfungen haben gesichert und beweiskräftig festgestellt werden können. Man kann also sagen, dass die hier vorliegende Dokumentation aller sich um Mays Person rankenden Rechtsstreitigkeiten eine der ergiebigsten biographischen Quellen über das Leben des Autors darstellt.
Vieles, was dieses Buch mitteilt, ist schon veröffentlicht; anderes hat der Autor selbst recherchiert oder aus dem Archiv des Karl-May-Verlegers erhalten. Auch in der zusammenfassenden Darbietung des veröffentlichten Materials liegt ein großes Verdienst. Denn die bereits vorliegenden Veröffentlichungen sind so verschiedenartig, verstreut und zum Teil entlegen, dass es selbst für einen Spezialisten sehr schwierig war, sich im Wirrwarr der Prozesse noch zurechtzufinden. Das alles wird durch die Zusammenfassung des Materials in einer Gesamtdarstellung, durch die Aufteilung in verschiedene Prozesskomplexe und deren weitere Untergliederung dem Leser übersichtlich und dem Forscher benutzbar gemacht. Dankenswert ist auch, dass wichtige Aussagen und Dokumente in der Regel wörtlich wiedergegeben werden, sodass dem Interpreten authentisches Material zur Verfügung steht.
Überblickt man den Prozessstoff im Ganzen, so ergibt sich ein deprimierendes Bild der Alterstragödie Karl Mays. Nicht seine kriminellen Jugendverfehlungen, sondern die Prozesse seiner letzten zehn Lebensjahre haben seine Produktivität beeinträchtigt und schließlich gelähmt. Sie haben auch seine Gesundheit untergraben und seinen körperlichen Verfall und Tod herbeigeführt.
Die Tragik der Vorgänge liegt darin, dass er diese Entwicklung nicht verhindern konnte. Gewiss boten Mays Vergangenheit und auch sein Auftreten als Erfolgsschriftsteller viele Angriffspunkte. Aber er hat nach der Zeit seiner Straftaten, die nur einen sehr geringen materiellen Schaden angerichtet hatten, niemandem mehr etwas Böses getan. Er wollte nur in Ruhe an seinem Werk arbeiten können, und gerade dies wurde ihm durch äußere Umstände verwehrt.
Er hat im Kampf um seine Ehre sicher den einen oder anderen Beleidigungsprozess zuviel angestrengt. Aber den zentralen prozessualen Auseinandersetzungen konnte er nicht ausweichen. Er musste die Prozesse gegen Münchmeyer und Fischer führen, wenn er nicht alles Ansehen und alle seine Ansprüche verlieren wollte. Er musste seine Scheidung durchsetzen gegen eine Frau, die ihn zugrunde gerichtet hätte; nur die häusliche Geborgenheit, die ihm seine zweite Ehe vermittelte, hat es ihm ermöglicht, bis zu den Erfolgen seiner letzten Lebensmonate durchzuhalten. Er musste die Meineidsuntersuchung über sich ergehen lassen. Und er musste sich schließlich eines Mannes wie Lebius erwehren; die Enthüllungen und Verunglimpfungen hätten andernfalls zu seiner öffentlichen Ächtung geführt.
Bemerkenswert ist, mit welch enormem, niemals resignierendem Energieaufwand May seine Sache verfolgte. Wenn man seine Selbstbekenntnisse, seine Rechtfertigungstexte, seine Prozessschriften, Flugblätter, Leserbriefe, seine brieflichen Stellungnahmen, seine Schriftsätze (er überließ diese vielfach nicht seinen Anwälten) und seine protokollierten Zeugenaussagen einmal in geschlossener Form drucken würde – wozu die im Entstehen begriffene historisch-kritische Ausgabe eine gute Gelegenheit bietet –, würde man auf ein mehrtausendseitiges Werk kommen.
Wenn man die Massivität der Angriffe und die Vielzahl der Beschuldigungen bedenkt, ist es ebenso bemerkenswert, dass May bei allen Rückschlägen im Einzelnen im Ganzen gesehen juristisch erfolgreich war. Er hat den Münchmeyer-Prozess in drei Instanzen bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Reichsgerichts gewonnen. Das gegen ihn eingeleitete Meineidsverfahren musste trotz irritierender Begleitumstände auf Seiten der Strafverfolgung eingestellt werden. Das Ehescheidungsurteil, das Emma May die Alleinschuld zusprach, konnte sich gegen verschiedene nachträgliche Anfechtungsversuche behaupten. Und die jedes erträgliche Maß überschreitenden Angriffe von Lebius konnten durch Mays Sieg bei der Berufungsverhandlung in Moabit erfolgreich beendet werden. Man kann May auch nicht vorwerfen, dass er ein unerbittlicher oder rachsüchtiger Prozessierer gewesen sei: Wenn die Gegenpartei ihre Anschuldigungen zurücknahm, war May jederzeit zu einem Klageverzicht oder Vergleich bereit.
Aber das alles ändert nichts daran, dass hier ein Mensch durch die rücksichtslose Enthüllung längst gesühnter Jugendverfehlungen und durch die erbarmungslose Anprangerung der Legendenbildungen, mit denen May seine schwere Vergangenheit überwinden und seine phantastische Anlage auch im Privaten ausleben wollte, in den Tod getrieben worden ist.
Erst der Landgerichtsdirektor Ehrecke hat im Moabiter Prozess1 das richtige Wort gefunden, als er sagte: „Ein Verbrechen wären doch solche phantastischen Dinge bei einem Dichter nicht, und ich halte Herrn May für einen Dichter.“ Man fragt sich, warum erst dieses spontane Wort, das damals durch die Presse ging und dessen Aufnahme durch den Schriftsteller Robert Müller2 Mays späte Rehabilitation einleitete (durch den Wiener Vortrag vom 22. März 1912), etwas aussprach, was in vertiefter und meinungsbildender Form darzulegen die seriöse Literaturkritik jahrelang versäumt hatte.
Diese wenigen Andeutungen mögen zeigen, dass eine Darstellung von Mays Prozessen, wie sie hier vorliegt, nicht nur für Juristen und nicht einmal nur für May-Leser interessant ist. Denn es wird hier ein menschliches Schicksal verhandelt, das zu vielen weiterführenden Überlegungen Anlass gibt. Herrn Seul gebührt für seine enorme Arbeitsleistung und dem Karl-May-Verlag für die Veröffentlichung und tatkräftige Förderung dieses wichtigen Werkes großer Dank.
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin
Karl May [...] war ja fast der berühmteste Kriminelle in unserer Literaturgeschichte.
Claus Roxin3
Bei kaum einem anderen Schriftsteller sind Leben und Werk derart eng miteinander verbunden wie bei ihm: Das Schreiben verhalf May äußerlich zum sozialen Aufstieg vom Proletariersohn und Sträfling zu einem angesehenen bürgerlichen Erfolgsschriftsteller; innerlich diente es ihm zeitlebens zur Kompensation persönlicher Defiziterfahrungen.
Dieter Sudhoff 4
Der Name Karl May fällt immer, wenn von den erfolgreichsten und bedeutendsten Abenteuerschriftstellern des 19. und 20. Jahrhunderts die Rede ist. Er wird dabei gerne mit Jules Verne (1828-1905), James Fenimore Cooper (1789-1851), Mark Twain (1835-1910) oder Robert Louis Stevenson (1850-1894) verglichen – sicherlich nicht zu Unrecht, wenngleich jeder der Genannten seine werkspezifischen Eigenheiten hatte. Nur den wenigsten Lesern ist dabei bekannt, dass jeder dieser literarischen Kollegen seine Berührungspunkte mit der Justiz hatte. Während die einen (Verne, Stevenson) selber Juristen waren, ohne dies freilich beruflich umzusetzen, befanden sich die anderen (Cooper, Twain) in fortlaufenden juristischen Auseinandersetzungen. Dabei bilden Verne & Co. nur die Spitze einer ansehnlichen Ansammlung von Autoren der Weltliteratur, die aus unterschiedlichen Gründen mit der Justiz in mehr oder weniger regelmäßige Berührung kamen.
Und dennoch nimmt Karl Mays Lebensgeschichte sowohl im Reigen der exemplarisch aufgezählten wie auch innerhalb der Schar an dieser Stelle ungenannter Autoren eine bemerkenswerte Sonderstellung ein.
Wie bei keinem anderen großen Literaten bildeten die Straftaten des Schriftstellers auch die psychologische Initialzündung für das literarische Werk. Auch vergleichbare Autoren und Zeitgenossen wie Jack London (1876-1916) erlitten Gefängnisstrafen.5 Doch für kaum einen anderen Schriftsteller waren diese juristischen Konflikte derart lebens- und werkbestimmend wie für Karl May. Seine Straftaten waren entscheidend und prägend für die literarische Laufbahn, sein Werk ist gleichermaßen Rehabilitierung als auch Verarbeitung seiner kriminellen Vergangenheit.
Vom strafrechtlichen Standpunkt her gesehen kommt auch im Fall Karl Mays – wie bei vielen anderen jugendlichen Straftätern – den sozialen und familären Verhältnissen eine besondere Bedeutung zu. Sie waren alles andere als erquicklich.
„Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers“,6 beschreibt May selber seine soziale und familiäre Herkunft. Sein Vater war Weber, die Mutter Hebamme; die Familie gehörte zur Unterschicht. Nicht von ungefähr waren infolge von Unterernährung und mangelnder Hygiene neun Kinder des Ehepaares Heinrich August (1810-1888) und Christiane Wilhelmine May (1817-1885) im Alter von wenigen Monaten gestorben. Es war kein romantisches Weberidyll, in das der einzige überlebende Sohn Karl am 25. Februar 1842 hineingeboren wurde; es herrschte stattdessen jene bedrückende Armseligkeit, wie sie von Gerhart Hauptmann (1862-1946) in seinem Weber-Drama von 1892 geschildert wird. Die Mutter, „eine Frau, die fortwährend mit Schwangerschaften und der Pflege kleiner Kinder beschäftigt ist, die es äußerst schwer hat, ihre größer werdende Familie ausreichend zu ernähren und die durch Näharbeit hinzuverdienen muß, auch noch die Kraft findet, eine relativ anspruchsvolle Ausbildung mit hervorragendem Ergebnis abzuschließen und den erlernten Beruf jahrzehntelang ohne Fehl und Tadel auszuüben“7, war völlig überfordert.
Der Vater zeigte sich als ein strebsamer, aber auch überreizter, launischer und unzufriedener Mensch, der überdies seine Arbeit hasste. Seine höheren Ziele: Bildung, Erfolg, bessere Stellung, projizierte er in die Zukunft des Sohnes. Dieser sollte das werden, was ihm selber versagt blieb. In der Durchsetzung dieses Zieles war er nicht sonderlich zimperlich. Väterliche Gewalt prägte den Alltag des jungen May und seiner Geschwister.
„Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte ‚birkene Hans‘, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im großen ‚Ofentopfe‘ einzuweichen, um ihn elastischer und eindringlicher zu machen.“ 8
Die Demütigung durch diese Erziehungsmaßnahmen grenzte den sensiblen Sohn noch weiter von den überforderten Eltern ab. Der seelische Nährboden für innere Zurückgezogenheit und Einsamkeit wurde damit früh geschaffen. An dieser psychischen Disposition änderte auch die große Zuneigung zur Großmutter Johanne Christiane Kretzschmar (1780-1865) nichts. Sie weckte in ihrem Enkel das Interesse für Märchen und Bibelgeschichten. Seine Fantasie, seine Erzählkunst, sein religiöses Fühlen, seine Leidens- und Liebestheologie, seinen Erwählungs- und Aufstiegsgedanken führte der Schriftsteller später auf diese Großmutter zurück. Mag das auch übertrieben klingen, so kommt ihr für die Entwicklung der May’schen Fantasie dennoch eine Schlüsselfunktion zu. In ähnlicher Weise inspirierend wirkte vermutlich auch Mays Taufpate, der weit gereiste Schmied Christian Weißpflog (1819-1894), der die Märchen der Großmutter um reale Erlebnisberichte ergänzte.
Mays Kindheit fand ohne das Erleben wirklicher Freundschaften statt; Ersatz bot die Hohensteiner Bibliothek mit abenteuerlicher Literatur wie Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann von Christian August Vulpius, Der Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas oder Die Geheimnisse von Paris von Eugène Sue.
Im Alter betrachtete der Schriftsteller diese Lektüre als eine der Vorbedingungen für seine Straftaten. Ob der Einfluss dieser Literatur tatsächlich so außerordentlich prägend war, muss jedoch bezweifelt werden. Nachhaltiger erscheint da schon der Einfluss der Bücher auf Mays literarischen Werdegang, vor allem in den Anfangsjahren seiner späteren Romanschriftstellerei.
Am 16. März 1856 endete die Volksschulzeit. Das Abschlusszeugnis bescheinigte ihm in den ‚Wissenschaften‘ die Note II und im ‚sittlichen Verhalten‘ die Note I. Einen Grund zu Beanstandungen gab es nicht. Mays Berufsziel lautete zu diesem Zeitpunkt noch Arzt, ein Wunsch der unerfüllt bleiben sollte.9
Wenn man von Karl Mays Straftaten spricht, wird man um die Schilderung jenes Waldenburger Vorfalls im November 1859 nicht herumkommen. Dieses Ereignis ist insofern von Bedeutung, weil es dem jungen May eine erste schwere Demütigung durch die Obrigkeit einbrachte. Der Vorfall deckt auch exemplarisch ein Verhaltensmuster des jungen Webersohnes auf, vor allem sein teilweises Ignorieren gesellschaftlich-konventioneller Gefahrensituationen, das ihn sein Leben lang begleiten sollte.
Waldenburg, im mittelsächsischen Hügelland gelegen, zählte Mitte des 19. Jahrhunderts etwa 3000 Einwohner. Am südlichen Ufer der Zwickauer Mulde erstreckte sich damals noch die selbstständige Gemeinde Altstadt Waldenburg. Auf Veranlassung des Landesfürsten Otto Victor von Schönburg war hier 1844 ein Lehrerseminar eröffnet, ein Jahr zuvor der Seminarbau fertiggestellt worden.
Für den jungen Webersohn setzten die materiellen Bedingungen des Elternhauses bei der Berufswahl enge Grenzen. Der einzige Sohn der Familie sollte nicht in die väterlichen Fußstapfen am Webstuhl treten, sondern eine bessere berufliche Zukunft haben. Aber es wurde sehr bald klar, dass die Mittel für das gewünschte Medizinstudium nicht vorhanden waren. Möglich blieb alleine ein bescheidenes Volksschullehrerstudium.
„Der Herr Pastor legte ein gutes Wort für mich bei unserm Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau, ein, und dieser gewährte mir eine Unterstützung von fünfzehn Talern pro Jahr, eine Summe, die man für mich für hinreichend hielt, das Seminar zu besuchen. Zu Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis bestand ich die Aufnahmeprüfung für das Proseminar zu Waldenburg und wurde dort interniert. Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist! Nicht akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden!“ 10
Eine andere finanzielle Unterstützung, etwa durch das Ernstthaler Armenkomitee oder aus dem fürstlichen Fond für mittellose Seminaristen, blieb trotz Anträgen versagt. Die finanzielle Hauptlast hatte die Familie zu tragen. Die Aufnahmeprüfung absolvierte May am 29. September 1856 erfolgreich. Er tauchte in den bedrückenden Waldenburger Alltag ein, der zwischen täglichen Andachten reichlich Religions-, Bibel- und Gesangstunden bot. „Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab.“ 11
Mays Skizzierung von Waldenburg zeichnet ein Horrorszenario für einen jungen Menschen voller Fantasie und Wissensdrang. Trotzdem erwies sich der junge Webersohn als ein guter Seminarist, der zu Michaelis 1857 in das Hauptseminar (4. Klasse) aufrückte und auch diese Klasse erfolgreich durchlief. Er habe – so berichtet er später – in seiner Freizeit komponiert und bereits gedichtet. Seine Beziehungen zum Lehrkörper dürften stets gespannt gewesen sein. Wesentlich zum Unwohlsein in Waldenburg werden auch die Begleiterscheinungen der Pubertät beigetragen haben, die sich mit den strengen Regeln einer solchen Anstalt nur schwerlich vereinbaren ließen. Überhaupt zog es ihn, wann immer die Möglichkeit bestand, in das zwei Fußstunden entfernt gelegene heimatliche Ernstthal zurück.
Das Ungemach nahm für den jungen Seminaristen seinen Lauf, als er das harmlose Amt des ‚Lichtwochners‘ übertragen bekam. Diese Aufgabe bestand darin, verbrauchte Talgkerzen, die der Beleuchtung der Unterrichtsräume dienten, gegen neue auszutauschen. Eines Tages nahm er sechs Kerzen aus dem Vorrat der Anstalt an sich und versteckte sie in seinem unverschlossenen Koffer in einer Rumpelkammer. Selber spricht May von „Talgresten“12, die er an sich genommen hatte und in den Weihnachtsferien mit nach Hause nehmen wollte, um den armen Angehörigen damit eine Freude zu machen. Unglücklicherweise wurde dieser Vorgang jedoch von zwei Mitschülern entdeckt, die den geheimen Kerzenvorrat in einem unverschlossenen Koffer vorfanden und sie dem fungierenden Lichtwochner übergaben. Eine Mitteilung an die Seminarleitung unterblieb einstweilen. Das änderte sich erst im Rahmen einer Untersuchung, die den Diebstahl zweier Thaler aufzuklären versuchte. Jetzt wurde auch Mays ‚Kerzendiebstahl‘ der Seminarleitung zur Kenntnis gebracht. Damit schien auch der Gelddieb ermittelt zu sein. Die Seminarlehrer traten zur Konferenz zusammen, in der May Rede und Antwort zu stehen hatte. Ein Bericht13 über diese Konferenz gibt Auskunft: Mays Einlassung, „er habe die Rückgabe der Lichter nur vergessen“, wurde verständlicherweise kein Glauben geschenkt. Zur Beurteilung des Falles zogen die Pädagogen das bisherige Verhalten des Seminaristen heran.
„Die Lehrer haben“, so berichtet der Seminarleiter Friedrich Wilhelm Schütze (1807-1888),
bei diesem Schüler hie und da über arge Lügenhaftigkeit und über rüdes Wesen Klage zu führen gehabt. Wie schwach sein religiöses Gefühl sein müsse, geht unter Anderm aus folgendem Falle hervor. Als die Anstalt in der Fastenzeit dieses Jahres zum heiligen Abendmahl gewesen, hatte sich May von dem angeordneten Besuch des Nachmittagsgottesdienstes absentirt. Dem die Tagesinspection führenden Lehrer hatte er seine heimliche Entfernung anfänglich geleugnet und sogar Mitschüler genannt, neben denen er in der Kirche gesessen haben wollte.
Derlei Verhaltensauffälligkeiten eskalierten bei den Bildungs- und Erziehungswächtern der Lehranstalt rasch zur Feststellung, dass man bei dem Zögling May
die Verdorbenheit seines Gemüthes und Herzens gleichsam offen darlegen konnte.
Nicht beweisen ließ sich dagegen,
daß May die dem Proseminarist Schäffler abhanden gekommenen zwei Thaler an sich genommen habe.
Und obwohl der Gelddiebstahl nicht aufgeklärt werden konnte, genügte das gegen Karl May Vorgebrachte, um das Schönburgische Gesammtconsistorium in Glauchau zu bitten:
Hochdasselbe wollen geruhen, diesen Bericht mit thunlichster Beschleunigung an das Hohe Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts gelangen zu lassen und Hochdasselbe um eine Entschliessung darüber zu ersuchen, ob und in welcher Weise der Zögling unserer zweiten Seminarclasse, Carl Friedrich May, aus Ernstthal bei Hohenstein gebürtig, aus dem Seminar entlassen werden sollte.
Unterzeichner der Bitte war Seminarleiter Schütze, der May selber in den Fächern Biblische Geschichte und Pädagogik unterrichtete. Das Ministerium reagierte mit unnachgiebiger Härte und entschied mit Beschluss vom 17. Januar 1860,
den Zögling der zweiten Classe des Schullehrerseminars zu Waldenburg, Karl Friedrich May aus Ernstthal bei Hohenstein, wegen sittlicher Unwürdigkeit für seinen Beruf auf Grund von § 51 der Seminarordnung vom Jahre 1857 aus dem Seminar auszuweisen. Denn würde auch das von gen. May selbst eingeräumte Factum, daß er in der Zeit seines Lichtwochneramtes sechs Lichter zurückbehalten und in seinem Koffer länger als 14 Tage verborgen gehalten hat, obwohl dasselbe, bei der Unglaubhaftigkeit der von May hierunter vorgebrachten Entschuldigung, als eine Veruntreuung sich darstellt, an und für sich die Zuerkennung des letzten Strafgrades nicht nothwendig zur Folge haben müssen, so gebieten dies doch – wie das Geheime Consistorium ganz richtig bemerkt – die sonstigen über das sittliche Verhalten Mays seitens des Lehrercollegii vorgebrachten Klagen in ihrem Zusammenhange mit jenem Vergehen. Hiernach ist nämlich, da sich bei dem Angeschuldigten seither schon arge Lügenhaftigkeit, ein rüdes Wesen, Mangel an religiösem Sinn bemerklich gemacht und er auch sonst bei seinen Mitschülern in dem Verdachte der Unehrlichkeit steht, das Vorhandensein der Haupteigenschaften, die zu dem Berufe eines Lehrers befähigen, bei ihm nicht anzunehmen, und es wird dadurch seine Entfernung aus dem Seminar zur Nothwendigkeit.14
Das Ministerium hatte damit die höchstmögliche Strafe gegen Karl May ausgesprochen und das, obwohl das Vergehen „an und für sich die Zuerkennung des letzten Strafgrades nicht nothwendig zur Folge haben müsse“. Die Gründe für die ultimo-ratio-Entscheidung wurden offenbar mehr in Mays Gesamtverhalten als in dem Vorfall selber erblickt. Am 28. Januar 1860 erfolgte die entwürdigende Entlassung des siebzehnjährigen Karl May im Rahmen einer exekutorischen Prozedur. Die Kurzbeschreibung des Vorgangs lautete:
In Gemäßheit der Hohen Ministerialentschließung ist der seitherige Seminarist C. F. May s. Ernstthal heute vor versammeltem Lehrercollegio aus der Anstalt entlassen worden.15
Nach Auffassung von Claus Roxin würde „die Entscheidung des Ministeriums heutigen rechtlichen Maßstäben nicht standhalten“ und er begründet dies mit der unzureichenden Berufung der Behörde „auf einen völlig unbewiesenen Verdacht der Unehrlichkeit“.16 Der Entlassene reichte am 6. März des Jahres ein unterwürfiges Gnadengesuch ein:
„So wage ich es denn, einem Hohen Königlichen Ministerio die ganz unterthänigste Bitte vorzulegen, Hochdasselbe wolle in Gnaden geruhen, mir zu gestatten, daß ich mich entweder auf der Anstalt zu Waldenburg oder auf einem anderen Seminare des Landes fortbilden lassen dürfe, damit ich als gehorsamer Schüler und einst als treuer Lehrer im Weinberge des Herrn die That vergessen machen könne, deren Folgen so schwer auf mir und meinen Aeltern ruhen!“ 17
Der Ernstthaler Pfarrer Carl Hermann Schmidt (1826-1901), der sich schon für den Erhalt des Stipendiums eingesetzt hatte, schloss sich mit einem eigenen Gesuch der Bitte Mays an. Und tatsächlich zeigten die Gnadengesuche schließlich Erfolg, denn am 15. März 1860 geruhte das Ministerium, den Bitten zu entsprechen und „bewandten Umständen nach, auch in Folge der Verwendung des Pfarrer Schmidt, welcher dem Ministerio als ein völlig urtheilsfähiger und gewißenhafter Mann bekannt ist, geschehen lassen, daß May in ein anderes Seminar des Landes wieder aufgenommen werde [...].“18
Da keine Bedenken gegen eine Wiederaufnahme in ein anderes Seminar ersichtlich waren, entschied auch das Gesammtconsistorium am 21. März 1860 zu Gunsten Karl Mays auf Wiederaufnahme seiner Lehrerausbildung.19 Das Lehrerseminar in Plauen im Vogtland kam in Betracht. Die Aufnahmeprüfung bestand May am 2. Juni 1861 mit Bravour. Er absolvierte den Rest seiner Ausbildung ohne besondere Vorkommnisse und bestand die Kandidatenprüfung vom 9. bis 12. September 1861 mit der Gesamtnote ‚gut‘. Es fällt jedoch auf, dass Mays Abgangszeugnis in der Rubrik ‚sittliches Verhalten‘ nur die Beurteilung ‚zur Zufriedenheit‘ aufwies, während sich die Mitschüler meist ‚zur besonderen Zufriedenheit‘ verhalten hatten. Vielleicht waren Mays Eigenarten im Umgang mit den Seminargepflogenheiten – zumindest in harmloser Form – auch hier in Plauen zu Tage getreten.
In den ersten Wochen nach der bestandenen Examensprüfung hielt sich der frischgebackene Junglehrer bei seinen Eltern in Ernstthal auf. Es galt nun, sich nach einer ersten Anstellung als Schulamtskandidat umzuschauen. Die Stellensuche führte ihn alsbald nach Glauchau. Die aufstrebende Textilstadt, am südöstlichen Ufer der Zwickauer Mulde gelegen, bildete Mitte des 19. Jahrhunderts den Verwaltungssitz der gemeinsamen gräflich-schönburgischen Behörden. Von Alters her dominierte in Glauchau das Tuchmacher- und Leinewebergewerbe; daneben florierten Färbereien, Kattun- und Wolldruckereien. Um 1860 zählte die Stadt ca. 16.000 Einwohner. Glauchau verfügte über eine Armenschule, deren Anfänge auf die Hungerjahre von 1771/1772 zurückgingen. Damals erhielten die Kinder mittelloser Eltern Unterricht. Eben diese Armenschule hatte um jene Zeit ihr Domizil im Gebäude der Glauchauer Mädchenschule am Kirchplatz 4.
Am 5. Oktober 1861 sprach May beim Superintendenten der Ephorie Glauchau, Konsistorialrat Dr. Carl Wilhelm Otto (1812-1890), wegen einer Anstellung als Hilfslehrer an der Armenschule vor. Mit „Handschlag an Eidesstatt“ und einem dazugehörenden Protokoll nahm Otto Mays Einstellung als „Hülfslehrer an den hiesigen Schulanstalten“ vor.20
Bereits zwei Tage später unterrichtete der Junglehrer für ein Jahresgehalt von 175 Talern und 25 Talern Logisgeld21 die Klasse IV der Armenschule. Der Klasse gehörten 64 Schüler, 34 Knaben und 30 Mädchen, zwischen sieben und acht Jahren, an. Mindestens zwei Jahre galt es für May, sich als Schulamtskandidat zu bewähren. Danach erwartete ihn eine ‚Wahlfähigkeitsprüfung‘. Erst nach deren Bestehen gab es Aussicht, eine feste Dienststelle anzutreten.
In der Glauchauer Großen Färbergasse Nr. 17 im Hause des Kaufmanns Ernst Theodor Meinhold (1835-1890) kam May zur Untermiete unter. Alles schien bestens anzulaufen. Aufgrund seiner musikalischen Begabung erteilte er auch der Ehefrau seines Vermieters, Henriette Christiane (1842-1891), Klavierunterricht. Aus dieser Unterweisung entwickelte sich schon nach wenigen Tagen eine Liaison, die nicht unentdeckt blieb. Der Kaufmann ertappte die beiden, als sie sich gerade küssten. Die Empörung über die außereheliche Aktivität führte den Vermieter am 17. Oktober 1861 zu Mays Vorgesetzten Otto. Dem Superintendenten zeigte er empört an, „daß der Hilfslehrer Carl Friedrich May bei ihm seit dem 5ten October d. J. sich in Wohnung & Kost gegeben, während dieser kurzen Zeit aber in der unwürdigsten Weise durch Lügen u. Entstellungen aller Art sich bemüht habe, die Ehefrau von ihm abwendig und seinen schändlichen Absichten geneigt zu machen.“22
Die behördliche Maschinerie begann zu laufen. Otto wollte May zu einem Gespräch vorladen, obwohl seine Entscheidung „daß May entlaßen werden muß, zumal die Meinholdschen Eheleute ihre Aussagen eidlich bestärken wollen“,23 bereits feststand. Doch die Vorladung blieb erfolglos, da der Beschuldigte die Meinholdsche Wohnung mit der auf einen Zettel geschriebenen Abschiedsbotschaft, „ein unglückliches Opfer der Verkennung“24 zu sein, überstürzt verlassen hatte. Diese Reaktion sollte sich als symptomatisch dafür erweisen, „wie May auf hereinbrechende Konfliktsituationen reagierte: Er flieht aus der Wohnung und versucht in einem emotionalen Ausnahmezustand mit rastlosen Wanderungen durch die Nacht sein seelisches Gleichgewicht wiederzuerlangen.“25
In einem dann doch noch erfolgten Gespräch bei der Superintendantur gab May die Annäherungen an die Wirtsfrau zu, weshalb er ohne weitere Umstände am 20. Oktober 1861 aus dem Schuldienst entlassen wurde.
Die nächste Lebensstation führte den Junglehrer in den Chemnitzer Vorort Altchemnitz. Die dort seit jeher vorherrschende bäuerliche Besiedelung war um diese Zeit bereits vor allem durch die am Chemnitzfluss entstehenden Manufaktur- und Fabrikunternehmen verdrängt worden. Spinnereien und andere Textilbetriebe dominierten. Alle sächsischen Unternehmen dieser Art waren auf Grund der sächsischen Schulordnung von 1773 und der damit eingeführten Schulpflicht gezwungen, den bei ihnen beschäftigten Kindern einen obligaten Unterricht zu bieten. Auch die Altchemnitzer Kammgarnspinnerei C. F. Solbrig & Söhne sowie die Baumwollspinnerei Julius Claus unterhielten daher derartige Fabrikschulen. Sie inserierten am 10. und 18. September 1861 eine offene Lehrerstelle in der Leipziger Zeitung, auf die sich der Arbeit suchende Junglehrer May meldete.
Gegenüber dem Diakon Eduard Otto Pfützner (1822-1912), der als Lokalschulinspektor für die Altchemnitzer Fabrikschulen zuständig war, gab May bei seiner Bewerbung für die Stelle über seine kurze Glauchauer Lehrtätigkeit an, er „habe dort das Unglück gehabt bei einem dem Trunke ergebnen Wirthe zu wohnen. Bei einem Streite nun, in den er deshalb mit diesem Manne gerathen sei, habe er unverhohlen demselben sein schändliches Treiben aufgedeckt. Darüber sei nun jener Mann in großen Zorn gerathen und habe ihn nicht nur bei dem Herrn Consistorialrath und Superintendenten Dr. Otto verklagt, sondern auch anderen Leuten gegenüber verunglimpft. Weil nun diese unangenehme Sache seinem Rufe in Glauchau geschadet habe, so sei er nach dem Rathe des Herrn Dr. Otto wieder von Glauchau weggegangen [...].“26
Diese Darstellung der Glauchauer Vorkommnisse wurde May nicht so ohne Weiteres geglaubt. Der Chemnitzer Superintendent Robert Kohl (1813-1881) richtete deshalb am 8. November 1861 eine entsprechende Nachfrage an seinen Glauchauer Kollegen Dr. Otto. Dessen Antwort vom 14. November 1861 entlarvte Mays Darstellung als unkorrekt; er äußerte die Schlussfolgerung: „Leider giebt die Lüge, mit welcher der p. Mai sein hiesiges Verhalten zu bemänteln versucht hat, den Beweis, daß der Lügengeist, dem der junge Mensch, wie die Superintendantur anderweitig weiß, sich ergeben hat, von ihm noch nicht gewichen ist. Sollte daher beabsichtigt sein, dem p. Mai eine dauernde Stellung an der Fabrikschule zu geben, so kann die Superintendantur nur rathen, den jungen Menschen zuvor einer sorgfältigen Überwachung und einer längeren, scharfen Prüfung zu unterwerfen.“27
Diese Mitteilungen führten zu einer umgehenden Vorladung Mays durch Kohl, der ihm eröffnete „daß er [May] nur provisorisch und unter speciellster Controlle sein Amt als Fabrikschullehrer zu Altchemnitz verwalten kön(n)e, und daß er bey der geringsten Veranlaßung zu Unzufriedenheit mit ihm in Lehre, Lebens-Wandel seiner Stellung wieder werde entlassen werden.“28
Und tatsächlich erteilte der Superintendent Kohl dem Lokalschulinspektor Pfützner auch die aus Glauchau empfohlene „Anweisung, May nicht aus den Augen zu lassen“.29
Trotz dieses problematischen Einstieges erhielt der Bewerber die Stelle zugesprochen. Er hatte drei Klassen zu unterrichten, zwei in der Fabrikschule der Baumwollspinnerei von Julius Friedrich Claus (1816-1873) und eine in der Fabrikschule von C. F. Solbrig & Söhne. Seine Arbeitszeit sah 30 Wochenstunden mit zehn- bis vierzehnjährigen Kindern vor, die täglich noch zehn Stunden in den Fabriken arbeiten mussten.
Mit dem ebenfalls bei C. F. Solbrig angestellten Herrmann Julius Scheunpflug (1820-?) musste sich May die vertraglich vereinbarte freie Wohnung in Harthau, auf dem Werksgelände im Wohngebäude der Familien Mittländer und Claus, teilen. Über Scheunpflug konnte der May-Forscher Hainer Plaul30 erst vor Kurzem einige Einzelheiten in Erfahrung bringen, die belegen, dass es sich bei Mays damaligem Zimmergenossen um einen Expedienten (Ausschreiber im Versand) gehandelt hatte und nicht – wie May und seine Biografen später immer wieder angaben – um einen Buchhalter. Die Wohnung befand sich in fast halbstündiger Entfernung von der unteren Schule und war Bestandteil der Baumwollspinnerei von Julius Friedrich Claus.
„Hierdurch verlor er [Scheunpflug] seine Selbständigkeit und seine Bequemlichkeit; ich genierte ihn an allen Ecken und Enden, und so läßt es sich gar wohl begreifen, daß ich ihm nicht sonderlich willkommen war [...]“,31 empfand May später.
Der Junglehrer konnte sich angesichts seines bescheidenen Gehalts von jährlichen 200 Talern – nebst freier Wohnung
– keine eigene Uhr leisten.32 Nun kam es zu einer für ihn zunächst sehr günstigen Vereinbarung mit dem Zimmergenossen: Scheunpflug stellte May für die Schulstunden eine alte Taschenuhr zur Verfügung, die danach täglich an einen dafür bestimmten Nagel an der Wand wieder aufgehängt werden sollte.
„In der ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später unterblieb das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie nicht mir gehöre, kam mir nicht gewissenhaft, sondern lächerlich vor. Schließlich nahm ich sie sogar auf Ausgängen mit und hing sie erst am Abend, nach meiner Heimkehr, an Ort und Stelle.“ 33
Am 24. Dezember 1861 beging May dann den schicksalhaften Fehler, der den weiteren Verlauf seines Lebens entscheidend prägen sollte: Anstatt die entliehene Taschenuhr zurückzuhängen, nahm er sie nebst einer Zigarrenspitze und einer Pfeife seines Zimmergenossen mit auf seine Weihnachtsheimreise nach Ernstthal. Scheunpflugs Utensilien stellten wichtige Requisiten zur Außendarstellung vor allem gegenüber der Familie dar. Nach einer Erlaubnis hatte er nicht gefragt. Ungefähr gegen 19.00 Uhr wird er vermutlich in Ernstthal eingetroffen sein.
Als der Zimmergenosse seine Habseligkeiten vermisste, erstattete er eine Strafanzeige. Am ersten Weihnachtstag wurde May im Hohensteiner Hotel ‚Drei Schwanen‘ beim Billardspielen verhaftet.
Bei der Chemnitzer Superintendantur trafen am 28. Dezember 1861 gleich zwei Briefe ein, die auf die Verhaftung Mays Bezug nahmen. So wandte sich der besorgte Vater an Robert Kohl und sprach in seinem Brief die Überzeugung aus, dass er „kaum glauben [könne], daß mein Sohn die Uhr in der Absicht an sich genommen hat, um einen Diebstahl begehen zu wollen, ich glaube vielmehr, daß er es gethan hat, besagte Uhr während der Feiertagsferien zu benutzen und sie dann stillschweigend wieder an den Ort ihrer Bestimmung hinzubringen.“34
Im zweiten Brief teilte das Gerichtsamt Chemnitz mit: „Der Fabrikschullehrer Mai in Altchemnitz befindet sich wegen Diebstahls hier in Haft, und hat die Ansichnahme einer Uhr, einer Tabakspfeife und einer Cigarrenspitze, seinem Stubengenossen gehörend, eingeräumt, wiewohl er läugnet, dieß in gewinnsüchtiger Absicht gethan zu haben. Die Königliche Superintendantur wird davon hierdurch vorgeschriebenermaaßen in Kenntniß gesetzt.“35
Die Untersuchungssache mündete in eine Anklageerhebung vor dem Gerichtsamt Chemnitz gegen „C. F. Mai in Ernstthal“.36
Auf Grund der damaligen Regelung war das Gerichtsamt und kein Bezirksgericht als erstinstanzliches Gericht zuständig. Die Bezeichnung ‚Gerichtsamt‘ ist insofern ein wenig irreführend, weil es sich dabei konkret um einen Einzelrichter handelte, der u. a. für Diebstähle und Delikte nach Art. 330 des sächsischen Strafgesetzbuches37 zuständig war. Die Hauptverhandlung fand im Februar 1862 (das genaue Datum ließ sich nicht ermitteln) statt. Da die Akten nicht mehr vorhanden sind und sich auch in der zeitgenössischen Presse kein Bericht über die Verhandlung finden lässt, kann an dieser Stelle lediglich berichtet werden, dass May „wegen eines zum Nachteil eines Amtsgenossen verübten Diebstahls einer Taschenuhr in Untersuchung kam und ungeachtet seines Läugnens für überführt erachtet und zu einer sechswöchigen Gefängnisstrafe 1862 verurtheilt wurde.“38
Die Berufung Mays gegen das erstinstanzliche Urteil wurde vom Oberappellationsgericht Zwickau abgewiesen. Zu jener Zeit hatten die Oberappellationsgerichte die Stellung der heutigen Oberlandesgerichte inne. Eine Abwendung oder Milderung der Strafe „nach Abschlagung der von ihm [May] und bez. seinen Eltern angebrachten Gnadengesuche“39 fand nicht statt. Die Entscheidung war damit rechtskräftig und unabänderlich geworden. Das Urteil muss auf Mays Psyche eine verheerende Auswirkung gehabt haben:
„Ob und womit ich mich verteidigt habe; ob ich zur Berufung, zur Appellation, zu irgend einem Rechtsmittel, zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt meine Zuflucht nahm, daß weiß ich nicht zu sagen. Jene Tage sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie möglich erzählen, kann das aber leider nicht, weil Alles infolge eigenartiger, seelischer Zustände, [...] aus meiner Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß nur, daß ich mich vollständig verloren hatte [...].“40
Diese erste Verurteilung wirft mancherlei Fragen auf. „Tatsächlich und rechtlich birgt der Fall viele Dunkelheiten“ – so Roxin – „Mays Behauptung, er habe die Gegenstände nach den Ferien zurückbringen wollen, ist glaubhaft. Denn da nach Lage der Dinge nur er die Gegenstände an sich genommen haben konnte, wäre er als Dieb von vornherein entlarvt gewesen.“41
Die Gesamtumstände lassen den Schluss zu, dass sich May allenfalls einer widerrechtlichen Benutzung fremder Sachen im Sinne des Art. 330 des sächsischen Strafgesetzbuches strafbar gemacht hatte. Dieses Delikt existierte einige Jahre später mit Einführung des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 nicht mehr. Möglicherweise aber ist May auch wegen dieses Deliktes und eben nicht wegen Diebstahls verurteilt worden. Für diese Annahme spricht das ausgesprochene Strafmaß von sechs Wochen Gefängnis, das dem Höchstmaß nach § 330 Abs. 3 SächsStGB entspricht. Andererseits sprechen verschiedene behördliche Schreiben, vor allem ein noch erhaltenes des Gerichtsamtes Chemnitz ausdrücklich davon,
daß der Fabrikschullehrer Carl Friedrich Mai zu Altchemnitz durch den in zweiter Instanz bestätigten Bescheid des unterzeichneten Gerichtsamtes wegen Diebstahls zu 6 Wochen Gefängniß verurtheilt worden ist.42
Ob nun wegen Diebstahl oder doch wegen widerrechtlicher Benutzung fremder Sachen – die Verwirklichung beider Delikte erscheint jedenfalls zweifelhaft. Diese Zweifel werden zusätzlich durch das Verhalten anderer Beteiligter in diesem Fall genährt. Eine maßgebliche Rolle scheint die Schulbehörde beim Zustandekommen des ganzen Malheurs gespielt zu haben, vergegenwärtigt man sich, dass der ohnehin unter „speciellster Controlle“43 des Lokalschulinspektors Pfützner stehende May von diesem „nicht aus den Augen zu lassen“ war und „bei der geringsten Veranlaßung zu Unzufriedenheit mit ihm in Lehre, Lebens-Wandel seiner Stellung wieder [...] entlassen werden“ sollte. Und tatsächlich hatte Pfützer anlässlich einer Revision der Fabrikschule Solbrig weder May noch seine Schüler vorgefunden und sofort empört seiner vorgesetzten Stelle gemeldet:
Solch ein Benehmen und solch eine Untreue widerstreitet so sehr aller gesetzlichen Ordnung, daß ich diesen Fall sogleich zur Cognition der Königlichen Superintendantur bringen und um Vernehmung und respective ernstlicher Verwarnung des Fabriklehrers May bitte.44
Zwar klärte sich das Fehlen von Lehrer und Schüler schließlich als zulässig auf, doch zeigt schon dieser harmlose Vorgang, wie rasch der Kontrolleur Pfützner May ein ordnungswidriges Verhalten unterstellte. Und natürlich blieb May trotz der irrtümlichen Verdächtigung unter dem gestrengen wachsamen Auge dieses Diakons.
Nicht überliefert ist, an wen sich Scheunpflug als Erstes wandte, als er feststellte, dass die entliehene Taschenuhr am 24. Dezember nicht wieder an ihrem Haken hing und sein Stubengenosse schon in Richtung Heimat abgereist war. Die Vermutung liegt nahe, dass seine Mitteilung an Pfützner ging. In diese Richtung deutet auch eine kurze Beschreibung Mays von einem Wiedersehen mit Scheunpflug:
„Er gab mir die Hand und bat mich, ihm zu verzeihen. So, wie es gekommen sei, das habe er keineswegs gewollt. Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere verdorben zu haben!“ 45
Es bleibt allerdings nur Spekulation, dass Scheunpflug gegenüber einem Vertreter der Schule, vielleicht Pfützner, die an sich harmlose, aber leichtsinnige Handlung eines – wie Ernst Bloch46 es später beschrieb – jungen und armen, verwirrten Proleten unnötig aufbauschte, bis sie zu einem Strafrechtsfall eskalierte.
Aus heutiger Sicht und unter Zugrundelegung der dargelegten Fakten stellte die Uhrenaffäre nur die unbesonnene Handlung eines Heranwachsenden dar, der keine strafrechtliche Relevanz zukommt. Das heutige Strafgesetzbuch kennt nur die strafbare unbefugte Benutzung bei Kraftfahrzeugen und Fahrrädern; für die von May benutzten Gegenstände sieht es keine Bestrafung vor. Aber auch unter dem Blickwinkel eines Diebstahlsvorwurfs gelangt man bei May zu keinem anderen Ergebnis, denn das entscheidende subjektive Element, der Vorsatz, sich die Gegenstände des Zimmerkollegen anzueignen, sie also auch nach den Weihnachtsferien nicht wieder zurückzugeben, lässt sich bei May nicht nachweisen. Alle Umstände lassen stattdessen nur den Schluss zu, dass May die Gegenstände von Anfang an zurückgeben wollte, also ohne kriminelle Intention handelte. Über den Grund, warum das Gerichtsamt Chemnitz sechs Wochen Gefängnis aussprach, lässt sich nur mutmaßen, doch es scheint wahrscheinlich, dass man auch Mays Verhalten in Waldenburg, die Meinhold-Affäre sowie seine gesamte Personalakte zur Beurteilung seiner Täterpersönlichkeit herangezogen hatte und zu einem ungünstigen Ergebnis gekommen war.
„Hätten für Karl May schon die Möglichkeiten bestanden, die das 1923 eingeführte Jugendstrafgesetz in seinen späteren Ausprägungen geboten hat und bis heute bietet, so wäre die kleine Verfehlung mit der Taschenuhr des Kollegen mit ziemlicher Sicherheit nur informell und ohne eigentliche Sanktion erledigt worden.“47
Dieser erste strafrechtlich geahndete Fall Karl Mays wurde zu seinem vermutlich entscheidensten Lebensereignis. Er floss in vielfacher Hinsicht auch in sein literarisches Werk ein. Bereits der erste Band des großen Orient-Zyklus, Durch Wüste und Harem (Gesammelte Werke Band 1, Durch die Wüste), lässt den Leser an Mays Reise ins Innere, seinem literarischen Verarbeiten dieser kriminologischen Urszene teilhaben. Der Ich-Erzähler Kara Ben Nemsi reitet, begleitet von seinem Diener Hadschi Halef Omar, durch die Sahara und entdeckt ein Verbrechen. Sie finden die Leiche eines ermordeten französischen Kaufmannes. Die Mörder haben die Leiche bis auf einen Ring ausgeraubt. Scheinbar arglos steckt sich Kara Ben Nemsi den Ring – ungeachtet der Gefahr, vielleicht selber für den Mörder gehalten zu werden – an den eigenen Finger. Kara Ben Nemsis Handlungsweise erinnert an den Leichtsinn des Lehrers Karl May, als dieser das für ihn so verhängnisvolle corpus delicti in den Weihnachtsurlaub mitnahm. Zu keinem Zeitpunkt fürchtet Kara Ben Nemsi das offensichtlich Kompromittierende seiner Handlung, ganz so, als wolle er plakativ das Rechtmäßige seiner Handlungsweise zum Ausdruck bringen. Es lassen sich noch weitere literarische Spuren dieser Glauchauer Urszene finden.
Mays Strafverbüßung erfolgte schließlich im Chemnitzer Bretturm. In dem heute nicht mehr vorhandenen Gebäude war der inhaftierte Karl May vom 8. September 1862 bis 20. Oktober 1862 untergebracht.
Die Verurteilung und Inhaftierung zeitigte zwei katastrophale Folgen. Zum einen stürzte sie May in eine tiefe Depression:
„Die [...] .“