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Armin Nassehi
Editorial

Es ist ein alter Topos, dass die Kunst nicht nur das Schöne und das Erhabene darstellt, sondern auch ein besonderes Erkenntnismittel ist und der Wahrheit womöglich näher kommt als die begrifflich und methodisch geschärfte, deshalb rational genannte, weil wiederholbare und rekonstruierbare Form, die Welt auf den Begriff zu bringen. Oh – das Schreiben ist schneller als das Denken: eben nicht auf den Begriff zu bringen, sondern zu begreifen oder wenigstens in eine Form zu bringen oder ins Bild zu setzen. Freilich ist der Topos nicht allzu alt – er stammt aus der bürgerlichen Gesellschaft, also aus einer Zeit, in der das »Auf-den-Begriff-Bringen« in den unterschiedlichen sich dynamisierenden Bereichen der modernen Welt exorbitant wächst – in der Wirtschaft ebenso wie in der Wissenschaft, in der politischen Programmierung ebenso wie in der philosophischen Methodik, im gesetzten Recht ebenso wie in den Verwaltungsstäben. Nicht dass man das nicht zuvor auch schon gemacht hätte, aber mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten und mit der Verbetrieblichung des Ökonomischen, mit der Verwissenschaftlichung des Wissens, vor allem aber damit, dass organisierte Bildungsprozesse zur obligatorischen Lebenserfahrung kompletter Bevölkerungen werden, wird dieses »Auf-den-Begriff-Bringen« letztlich zum Hauptmodus der Welterfahrung und Informationsverarbeitung.

In dieser Gemengelage konnte die Kunst erst jenen Sonderstatus beanspruchen, den sie seit ihrer bürgerlichen Neuformierung erfahren hat. Sie sollte das ganz Andere sein – und zwar sowohl als ein gewisser Ausgleich für die sich rationalisierenden Lebenswelten in affirmativer Hinsicht als auch als Stachel und Relativierung jener Welt in kritischer Hinsicht. Diese Unterscheidung – kritisch und affirmativ zu sein, sogar affirmativ in ihrer kritischen Attitüde, auch umgekehrt: sogar noch dort kritisch, wo sie habituell und in der Rezeption affirmativ war – gehört zum Standradrepertoire der Reflexion übers Künstlerische und über die Kunst. Und letztlich hat sich daran bis heute nicht prinzipiell etwas verändert. An der Kunst sich zu reiben, heißt nach wie vor, ihren Sonderstatus als Erkenntnismittel, als Kritikmedium und als das ganz Andere in den Blick zu nehmen – um dann am Ende doch darauf zu kommen, dass die Kunst der Gesellschaft und der Welt nicht gegenübersteht. Das wirklich Aufregende an der Kunst ist ihre Gesellschaftlichkeit, ihre Weltlichkeit – und zugleich die Frage, wie man auf die Idee kommen kann und wie diese Idee begründet wird, sie für etwas zugleich Internes wie Externes zu halten.

Es sieht fast wie eine Kränkung aus – dass das ganz Andere stärker am Selbigen hängt, als es zunächst den Anschein hat, ähnlich der Kränkung, die wir erfahren, wenn wir das Transzendente religiös behaupten, es aber stets nur mit den Mitteln der Immanenz tun können. Der Religion stehen dafür Figuren wie die Begrenztheit menschlicher Perspektiven, das Erstarren vor der Größe Gottes oder die Erbsünde zur Verfügung, was zumindest die Selbstüberhöhung jener ermöglicht, die im Namen der Unüberwindlichkeit des Immanenten auf das Transzendente sich beziehen dürfen. Der Kunst stehen dagegen keine priesterlichen Autoritätsrollen zur Verfügung, sondern nur ein Habitus, sich der Welt in der Welt als das ganze Andere zu zeigen.

All das kann man freilich wissen, wenn man nicht in Substanzen, sondern in Unterscheidungen denkt. Das Andere ist eben das Andere dessen, was nicht anders ist – und schon ist man mittendrin in der Welt: die Kunst, die in ihrer Selbstbeschreibung so gerne behauptet, der einzige Raum in der Gesellschaft zu sein, in dem es nicht um Zwecke und Ziele, nicht um Funktionen und die Erfüllung von Aufträgen geht, sondern um jenen Selbstzweck, in den sich der Zweck dann doch wieder hineingeschlichen hat. Freilich ändern sich die Schnittstellen zwischen der Kunst und der sie umgebenden Gesellschaft – und zugleich ändern sich auch die Zwecke, Ziele und Funktionen, die eigentlich keine sein wollen oder sollen.

Dieses Kursbuch setzt genau hier an. Es präsentiert keine Kunsttheorie. Es bringt nicht die Erhabenheit selbst auf den Begriff – und wie wir aus der Geschichte wissen, gefallen sich Texte über die Erhabenheit der Kunst gerne selbst in einem Habitus, der Erhabenheit zu beanspruchen scheint. Texte über die Kunst scheinen sich selten dagegen zu wehren, unter Kunstverdacht geraten zu können, wie übrigens auch Texte übers Politische allzu oft politische Texte werden, womit sie zwar durchführen, was sie beschreiben, es darin aber auch kategorial verfehlen. Das also macht dieses Kursbuch – über die weitesten Strecken wenigstens – nicht. Es nimmt sich vielmehr die Schnittstellen vor, also jene Verbindungen der Kunst zu den anderen gesellschaftlichen Formen und Handlungsbereichen, an denen die sich reiben, die selbst unter Kunstverdacht geraten oder die bestimmte Vermögen und Leistungen der Kunst in Anspruch nehmen, um ihr eigenes Geschäft zu erledigen.

Diese Schnittstellen reichen in diesem Kursbuch von der geradezu klassischen Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wahrheit, wie es Boris Groys besorgt, bis hin zur Frage von Jürgen Dollase, ob denn die Kochkunst Kunst sei und was denn diese Frage eigentlich bedeuten soll. Groys stellt die klassische Frage vor dem empirischen Hintergrund der (Selbst-)Vermarktung der Kunst im Internet, das mit seinen technischen Möglichkeiten selbst für eine ganz andere Wahrheit über die Kunst sorgt. Dollase behauptet nicht einfach, dass gutes Kochen eine Kunst sei, weist aber darauf hin, dass es beim Kochen auf Kunstniveau darum geht, Wahrnehmungsmuster aufzubrechen. Mit den Wahrnehmungsgrenzen des Publikums rechnet auch Peter Rawert, dessen Einblick in die Arbeit eines Zauberers vor allem zeigt, wie dieser mit den Wahrnehmungsroutinen seines Publikums rechnen muss. An der Schnittstelle von Kunst und der Führung von Organisationen arbeitet Martin Kornberger. Auch er behauptet nicht einfach die Übertragbarkeit der Kunst aufs Management. Mit der metaphorischen Unterscheidung von Karte und Territorium weist er darauf hin, was das Management mit seinen eigenen kartografischen Mitteln eigentlich sehen kann – und was nicht. Conny Habbel arbeitet sich an der Frage der Politisierbarkeit der Kunst ab und stellt fest, dass der Gegner mit künstlerischen Mitteln nicht so einfach dingfest zu machen ist – und dass der Gegner bisweilen in den eigenen Reihen zu suchen ist. Der Gegner bewegt sich also auf dem Boden der Ästhetik und nicht des Politischen selbst. Auch mein eigener Beitrag nimmt diese Schnittstelle in Anspruch und behauptet, dass die Kunst als Hinweis auf die Kontingenz von Blicken und Sehgewohnheiten auch eine ästhetische Kritik des Politischen erlaubt. Friedrich von Borries und Mara Recklies schließlich plädieren für eine selbstreflexive, autoethnografische Perspektive als Methode der Designforschung, um die politische Dimension des Gegenstandes freizulegen.

Auf einem anderen Feld bewegt sich Karl Bruckmaier. Er beschreibt den Pop, der nicht einmal ein Vier-Buchstaben-Wort sei, als eine Form der Selbstermächtigung und Selbstaneignung der Kunst und damit eine Erweiterung des Zugangs zu den künstlerischen Produktionsmitteln, während Stephan Opitz leidenschaftlich für eine staatliche Förderung jener Produktionsmittel eintritt, die politisch ermöglicht, aber weniger politisch kontrolliert werden sollten. Jakob Schrenk hat sechs Kuratoren ziemlich verfängliche Fragen gestellt. Etwa, was ein Kurator macht, und was die Kunst, und wie es sich mit Museen verhält – und manche von ihnen schauen sogar aus dem Fenster. Vielleicht weil Menschen viel zu viel Gehirn haben. Das jedenfalls schreiben Ernst Pöppel, Eva Ruhnau und Alexandra von Stosch, die den Rahmen für ästhetisches Erleben und Erzeugen abstecken.

Es sollte deutlich geworden sein, dass dieses Kursbuch tatsächlich die Frage danach stellt, was die Kunst macht, nicht was sie ist – was ja ernsthafterweise nicht beschrieben werden könnte, ohne zu sagen, was sie macht. Es schließt dann übrigens mit der Frage nach den sich verändernden Bedingungen, unter denen man heute Bücher und Zeitschriften machen kann. Peter Felixberger macht sich Gedanken über die Kunst des Buch- und Zeitschriftenverlegens. Selbstverständlich behauptet er nicht, das Bücher- und Zeitschriftenmachen sei eine Kunst im engeren Sinne. Er kommt aber zu erstaunlichen Einsichten, die hier nicht vorwegzunehmen sind, die aber darauf verweisen, dass es auch hier darum geht, gewohnte Blicke und Sehgewohnheiten zu ändern und so genau das zu tun, was ganz offensichtlich ein Proprium der Kunst ist: zu zeigen, dass schon kleine Perspektivenverschiebungen und kleine Veränderungen von Wahrnehmungsgewissheiten zu ganz anderen Welten führen.

Was sie wirklich macht, die Kunst – dafür lohnt sich ein Blick in die wunderbaren Bilder von Wilfried Petzi. Ein Blick freilich genügt nicht – die Bilder erzwingen sofort mehrere. Vielleicht hätte das schon ausgereicht, um unsere Titelfrage zu beantworten.

Hanno Rauterberg danken wir, dass er unsere Kolumne »Brief eines Lesers« fortführt.

Hanno Rauterberg
Brief eines Lesers (12)

Was macht die Kunst? Sie macht, das hat sich herumgesprochen, ein Vermögen. Geschätzte 50 Milliarden Euro konnten die Galerien, Auktionen und Messen 2014 umsetzen, denn es gilt die Regel: Je schlechter die Weltwirtschaft dasteht, desto besser steht es um die Kunst. Sie ist ein Krisengewinnler, produziert einen Millionenrekord nach dem nächsten, sie wird zum ultimativen Statussymbol einer postfordistischen Gesellschaft.

Natürlich bleibt die fast schon hysterische Ökonomisierung des Kunstfelds nicht ohne Folgen für die Macht der Ästhetik. Neben den glanzvollen Auktionsergebnissen erscheint die Kunst oft seltsam ermüdet und ausgehöhlt. Sie hat eine schlagende Konkurrenz bekommen. Denn, so formuliert es der Theoretiker Jörg Scheller, der Markt beginnt sich als ein eigenes Artefakt zu begreifen. »Mehr noch, er wird autonom, er beerbt die in die Jahre gekommene autonome Kunst. Was Mittel war, wird zum Zweck.«

Die Folgen sind oft Ratlosigkeit und Depression, abgemischt mit einer gehörigen Portion Bigotterie, wie sich auf der Biennale in Venedig im Sommer 2015 beobachten ließ. Im Zentrum der gewaltigen Kunstausstellung stand kein Bild, keine Skulptur oder Installation, sondern ein schwarzer leerer Raum, ein Auditorium, in dem neben einigen musikalischen Einlagen vor allem das Kapital von Karl Marx verlesen wurde, alle Bände von der ersten bis zur letzten Seite. Arrangiert und organisiert wurde die Lesung von dem Künstler Isaac Julien, offenbar ein engagierter Antikapitalist. In einem Nebenraum unterhielt er sich, dargeboten auf großen Bildschirmen, mit dem Marxisten David Harvey über die Abgründe des Neoliberalismus. Zugleich präsentierte Julien auf der Biennale seinen neuen Film, in Auftrag gegeben von Rolls-Royce. Offenbar gehört es zu den hinnehmbaren Nebenwidersprüchen der Gegenwartskunst, einerseits die wachsende Ungleichheit zu beklagen und zugleich von ihr zu profitieren.

Entsprechend doppelzüngig kommen mir manche der Aussagen Okwui Enwezors vor, der in München das Haus der Kunst leitet und als Kurator die Biennale ins Werk gesetzt hatte. Einerseits beschwört er in seinen Katalogbeiträgen die hellseherische Macht der Kunst. Andererseits sieht er sie in heilloser Ohnmacht gefangen. Mit Blick auf die 120-jährige Geschichte der Biennale erinnert er daran, wie eilfertig diese oft mit den Mächtigen paktierte, vor allem mit den Faschisten. Auch heute, so Enwezor, habe sich das Kunstsystem in »stillschweigendem Einverständnis« mit den Interessen des Kapitals arrangiert und seine Autonomie ebenso eingebüßt wie jede Art von transformierender Kraft. Enwezor spricht von »vollständiger Machtlosigkeit«.

Was also macht die Kunst, was bleibt ihr anderes übrig, als sich nach neuen Geschäftsmodellen umzuschauen? War sie bislang dem Ideal eines Angebotsmarkts verpflichtet, setzt sie nun, so kommt es mir vor, auf das Prinzip der Nachfrage und findet nichts dabei, den Wünschen und Begehrlichkeiten ihrer Kunden zu entsprechen. Mal sind es Kuratoren, mal reiche Sammler, mal Museen, die als Patrone fungieren und damit eine Form der Kunstproduktion reetablieren, die über weite Strecken der Moderne ausgeschlossen schien, weil sie gegen das Reinheitsgebot der Autonomie verstieß. Ich nenne es die Wiederkehr der Auftragskunst. Selbst ein Maler wie Michaël Borremans, eigentlich als eigensinniger Geist bekannt, lässt sich für ein Auftragswerk im neohöfischen Sinne gewinnen, wenn er auf Bitten des Händlers und Sammlers Axel Vervoordt dessen Reitpferd auf die Leinwand bringt, lebensgroß und naturgetreu.

Gebraucht werden die Künstler aber nicht nur für Ausstattungszwecke. Sie dienen auch als Reputationsbeschaffer, als Produktveredler, als Bedeutungsgaranten. Sogar einem Wäscheunternehmen wie Schiesser scheint es nun hilfreich und angemessen, ein Doppelrippunterhemd für Herren künstlerisch aufwerten zu lassen. Das Unternehmen lud 2012 zehn namhafte Künstler dazu ein, dem üblicherweise verdeckt getragenen Kleidungsstück zu markanter Sichtbarkeit und einem neuen Image zu verhelfen. Tobias Rehberger, Marc Brandenburg, Monica Bonvicini oder Thomas Zipp ließen sich nicht lange bitten, entwarfen mal bunte Muster, launige Streifen oder auch einen Totenschädel und stellten sich außerdem für den Prospekt als Models zur Verfügung, bekleidet mit einem weißen, ungestalteten Schiesser-Unterhemd. Vertrieben werden die von den Künstlern bearbeiteten Hemden als »limitierte Sonderedition« für einen Stückpreis von 129 Euro. In gehobenen Kaufhäusern wurden Fotografien der Sonderstücke im Stile einer aufwendigen Kunstausstellung dargeboten, und der Konzern rühmte sich der Inszenierung als eines »Kunst und Mode überschreitenden Werks«.

Aufschlussreich an dieser »Artists for Revival« betitelten Unternehmung ist vor allem der enorme rhetorische Aufwand, der im begleitenden Prospekt getrieben wird. Dort erklärt der Konzern sein Selbstverständnis und damit auch, warum er Kunst und Künstlern eine besondere Bedeutung zumisst. »Mit Neugier und Entdeckungslust«, heißt es dort, »mit Innovation und höchster Qualität kleiden wir lebenshungrige Individualisten und Pioniere, die selbstbewusst und wagemutig in die Zukunft vorausgehen.«

Manche mögen darin ein fortschrittliches Moment erkennen, gehört es doch spätestens seit den 1960er-Jahren zu den selbst gesetzten Zielen vieler Künstler, das vermeintlich elitäre Museum zu verlassen und die ästhetische Wirklichkeit des Alltags für sich zu erobern. Unter dem Stichwort »Entgrenzung« ging es lange Zeit darum, high culture mit low culture zu vereinen. Design, Werbung, Mode, Kino, Fernsehen und die ganze Welt der Unterhaltung wurden nun nicht mehr als mindere Sphären der Gestaltungskultur angesehen. In gewisser Weise folgten auch die Museen diesem Credo, indem sie sich für Rockkonzerte öffneten oder Modeschöpfern eine Ausstellung ausrichteten. Der Prinzipienlosigkeit des »anything goes« folgend, löste man sich von vielen Traditionen und erklärte die Verschmelzung der vormals getrennten Sphären zum produktiven, ja emanzipatorischen Ereignis. Allerdings erschien dieses Credo nur glaubwürdig, solange sich eine deutliche Differenz zwischen Hoch- und Populärkultur ausmachen ließ. Waren es anfangs die Künstler, die sich bei Werbung, Design und dem Unterhaltungskino bedienten, so den Spielraum ihrer Kunst erweiterten und zugleich ihre Allzuständigkeit unter Beweis stellten, so drehten sich die Verhältnisse rasch um. Nun begann low auf high zuzugreifen, und die anfänglich bereichernde Bewegung der Kunst heraus aus den üblichen Gefilden der Stile und Sujets wurde mit einem Mal von ökonomischen Interessen durchzogen.

Allerdings gibt es, das sollte nicht verschwiegen werden, auch eine Gegenbewegung: Künstler, die sich einer vorschnellen Vereinnahmung durch den Markt entziehen, die andere Produktionsformen erproben, die aussteigen aus dem System der Galerien und Museen und sich ihre eigenen Aufträge suchen. Ihr Ziel ist der soziale Wandel. So sammelte 2008 der Künstler Pedro Reyes für sein Projekt »Palas Por Pistolas« in einer mexikanischen Stadt mehrere Hundert Waffen ein und ließ sie zu Schaufeln umschmelzen, mit denen dann mehrere Hundert Bäume gepflanzt wurden. In Argentinien kümmerte sich die Künstler- und Umweltgruppe Ala Plástica um die Folgen einer Öltankerkatastrophe. Die dänischen Künstler der Gruppe Superflex wiederum halfen brasilianischen Bauern, eine eigene Limonade namens Guaraná Power herzustellen und zu vermarkten, um so das Monopol der Getränkeindustrie aufzulösen. Und die Künstlerin Suzanne Lacy lud 2013 rund 400 Frauen in New York zu öffentlichen Gesprächen über Genderfragen. Die Kunst macht sich nützlich. Von den Zwecken der Zweckfreiheit will sie nichts wissen.

Mitunter ist der Drang zur sozialen Tat so stark, dass sich manche Hilfseinrichtungen schon bedrängt fühlen und die Künstler um Zurückhaltung bitten. Die in Melbourne ansässige Flüchtlingsorganisation Rise veröffentlichte im Oktober 2015 einen geradezu flehentlichen Appell an jene Künstler, die sich beständig bei ihnen meldeten und ihre Unterstützung anboten: »Wir sind nicht dein nächstes interessantes Kunstprojekt«, heißt es dort. Statt vorschnell den eigenen, vermeintlich guten Absichten zu folgen, sollten die Künstler lieber innehalten und sich fragen, welche Intentionen sie tatsächlich verfolgten. »Wir sind ganze Menschen mit verschiedensten Erfahrungen, Kenntnissen und Fähigkeiten. Wir können uns zu vielen Dingen äußern, reduziere uns nicht auf ein einziges Narrativ.«

Auch andernorts drohen meiner Beobachtung nach die eigentlich Hilfsbedürftigen zu Objekten einer künstlerischen Selbstbestätigung zu werden. Aus Sicht des Künstlers Renzo Martens scheitern etliche der sozialen Interventionisten mit ihren Vorhaben schon deshalb, weil sie sich außengesteuert um die Anerkennung der Kunstwelt bemühten und »überall auf der Welt alle möglichen Dinge tun, doch entfalten diese Dinge ihre wahren sozialen Auswirkungen an den Orten der Rezeption und nicht an den Orten, an denen sie angeblich intervenieren«. Selber um eine politische Kunst der Veränderung bemüht, war Martens 2008 in den Kongo gereist, gelangte dort allerdings zu der Erkenntnis, dass Künstler unweigerlich zu einem Teil jener Hilfsindustrie werden, die sich über das Elend definiert und vom Elend profitiert, das sie doch eigentlich bekämpfen möchte. Am Ende erschien es ihm am sinnvollsten, einem Plantagenarbeiter eine Mahlzeit zu kochen, ohne dabei die Rolle des Künstlers einzunehmen.

Nicht selten gerät der Selbstwiderspruch, in dem sich nicht wenige der Sozialkünstler verheddern, zu einer eigenen Form der Bigotterie, dann nämlich, wenn sich jemand nur deshalb Künstler nennt und seine Arbeit nur deshalb als Kunst bezeichnet, weil er das symbolische Kapital, das der Kunstbegriff noch immer verspricht, verwenden möchte, um so seinen sozialen Absichten nachkommen zu können. Möglicherweise gibt es Fördertöpfe, die sich nur öffnen, wenn sich mit einem Projekt ein künstlerisch-kreativer Mehrwert verbinden lässt. Deshalb wird dieser Mehrwert für das Vorhaben behauptet, auch wenn es im besten Sinne allein um soziale Hilfe geht. Somit verhält sich der Künstler im Prinzip wie jene Unterwäschefirma, die mehr Trikotagen verkaufen will und deshalb ihr Produkt zum Kunstwerk erhebt. Der Zweck heiligt die Mittel, nur dass dieser Zweck mal sozial, mal ökonomisch definiert ist.

Was also macht die Kunst? Nicht unbedingt den besten Eindruck, so viel lässt sich sagen.

Kunst kann was
Gespräche mit Kuratoren & Direktoren (1).

Von Jakob Schrenk

Chris Dercon

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1. Was macht eigentlich ein Kurator?

Ein intelligenter Kurator bringt Objekte zusammen, die für den Durchschnittsbetrachter überhaupt nicht zusammengehören – und mit einem Mal macht diese Kombination Sinn. Der Kurator kann so die Bedeutung des Zwischenraums zeigen, das Gefäß der Zeit fühlen, von Unterschieden und Ähnlichkeiten berichten, Einzelheiten in einen größeren Zusammenhang stellen, die Imagination des Künstlers re-imaginieren, den Künstler auf neuen formalen Wegen begleiten, die erste Darstellungsebene einer künstlerischen Vision entdecken und hoffentlich auch tiefere Bedeutungsschichten beilegen. Das Ziel ist, den Betrachter zu verblüffen: Er hat das auf diese Weise noch nie gesehen, gerade wegen der Distanz zwischen den Objekten. Und ohnehin befindet sich ja jedes künstlerische Objekt auf Distanz zum Betrachter. In letzter Zeit muss ein intelligenter Kurator übrigens auch noch den Unterschied zeigen und erklären, der zwischen Kunstobjekten der Luxusindustrie herrscht und jenen Kunstobjekten, die wahre kulturelle Errungenschaften sind.

2. Was kann die Kunst?

Die Kunst, an der ich interessiert bin, entdeckt Formen und Ideen, an die ich noch nie gedacht habe, die ich nicht auf Anhieb oder gar nicht vollständig verstehe. In letzter Zeit interessiert mich vor allem die Kunst, die sich im sozialen und politischen Raum positioniert. Es ist Zeit, dass sich die Kunst neu definiert. Die Ethik ist ein Schlüsselwert für alle Kunstinstitutionen.

3. Und was nicht?

Die Kunst alleine kann nicht die schwache Verbindung zwischen Kunst und Politik überbrücken. Aber dennoch muss die Kunst ihren Glauben an eine starke, idealerweise politische Idee ausdrücken. Die Kunst kann nicht die Politik ersetzen, aber sie kann die Realität der Ereignisse stark machen, die sie zeigt und auf die sie sich einlässt. Ganz allgemein sind Künstler in einer viel besseren Position als andere Menschen, um den Wandel zu zeigen und von ihm zu sprechen, schon weil sie so sichtbar sind. »Shock and Awe« sind aber keine brauchbaren Werkzeuge mehr, das sind die Instrumente der alten Avantgarde. Der intelligente Künstler ist auf vollkommen neue Weise sozial.

4. Ein Museum, in das jeder gehen sollte.

In diesen Zeiten würde ich die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden empfehlen. Nicht nur wegen der prächtigen Architektur, der ausgestellten Schätze, der Schaukästen. Das alles ist alt und neu, groß und nicht ganz so groß, komplex und direkt, autonom und praktisch, privat und öffentlich. Tatsächlich ermöglichen nur große Kunstsammlungen solche Gegensätze. Und natürlich ist das Museum auch ein Gegensatz zu dem, was derzeit jeden Montag in Dresden geschieht. Das Museum ist auch ein Symbol der Andersartigkeit, des Ernstes, der Eigentümlichkeit, der Durchlässigkeit, der Beweglichkeit und des Unterschieds. Also ein Ort, an dem die Perversitäten von PEGIDA keinen Platz haben.

5. Schauen Sie manchmal im Museum nur aus dem Fenster?

Das Museum ist ein einzigartiger Ort. Es ist erlaubt, hier Menschen anzuschauen. Und diese Menschen schauen auf … Kunst. Deswegen ist das Museum der ideale Dating-Ort.

6. Wie sieht das Museum der Zukunft aus?

Das Museum der Zukunft wird ein Ort der Begegnung sein, wo die Menschen sich auf die Welt und auf sich selbst einlassen. Der Guardian hat neulich, zugegebenermaßen provokant, geschrieben: Eine Galerie ohne Bilder, warum nicht? Tony Bennett, der so brillant über die Geburt des Museums schrieb, hat formuliert: Gebt mir ein Museum und ich werde die Gesellschaft verändern. Durch die wohlüberlegte Manipulation der Beziehung zwischen Menschen und Dingen in einer maßgefertigten Umgebung ist das Museum in der Lage, neue Instanzen zu schaffen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Museums mobilisiert werden können. Das ist auch die perfekte Zusammenfassung aller meiner Antworten, die ich weiter oben gegeben habe, aller meiner Hoffnungen und Wünsche.

Foto: Klaus Haag