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INHALT

Vorwort

Gesehen werden

Mit den Augen eines Kindes

Jesus und seine Familie

Pass auf, kleines Auge, was du siehst …

Der weite Blick des Vaters

Erstmals verliebt

Der Blickkontakt zum Pianisten

Stört sie das Kreuz?

Bilder machen

Der Gärtner

Möchten sie vielleicht noch …

Menschenkino

Ich wurde (fern)gesehen

Der Lügenreflex

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“

Geduldsproben

Eile mit Weile

Der erste Eindruck zählt

Vor dem spiegel

Kopf hoch, Smartphone ist heilbar

Er wird deinen Fuss nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?

Übers Dach

In Augenschein genommen

Im Zweifelsfall: großzügig

Einander begegnen

Veränderte Sichtweisen

Gefangen im Netz

Liebe macht sehend

Du siehst mich – ein Ausblick

VORWORT

„Du siehst mich“ – was für eine spannende Aussage, geheimnisvoll, freudig, eindeutig und ambivalent zugleich. Es geht um Wahrnehmung und darum, wahrgenommen zu werden. Doch wer ist mit dem „Du“ gemeint und wer ist das „Ich“? Wenn jemand, wie ich, als Jugendlicher in den 1970er-Jahren aufgewachsen ist, dann wird er bei dieser Aussage hellhörig. Sofort kommen einem der damals als Schreckensvision propagierte „gläserne Mensch“ und ein alles überwachender Vater Staat in den Sinn. Längst wurden Ängste wie der Slogan „Killroy is watching you“ oder das Szenario vom „Big-Brother-Staat“ von der virtuellen Realität eingeholt und teilweise auch überholt. Ohne groß zu überlegen, liefern die meisten Konsumenten den weltweit vernetzten Internet-Giganten wie Facebook und Google bereitwilligst hochsensible, private, selbst intime Daten.

Terrorangst und eine allgemeine gesellschaftliche Verunsicherung ermöglichen – mit breiter Zustimmung der Bevölkerung – mehr und mehr die Schaffung eines Überwachungsstaates.

Doch wie sieht es aus, wenn mit diesem „Du“ Gott gemeint ist und das „Ich“ den Menschen beschreibt, der sich verwundert darüber freut, dass der Schöpfer des Kosmos sich als sein liebevolles Gegenüber erweist? Je mehr ich beim Schreiben dieses Buches über diesen freudig-erstaunten Ausruf nachdachte, desto mehr habe ich auch in meiner eigenen Biografie diesen Wunsch entdeckt: gesehen und wahrgenommen zu werden. Insofern ist dieses Buch ein sehr persönliches, ja oftmals autobiografisches Buch geworden. Das Thema „Du siehst mich“ hat mir geholfen, mein eigenes bisheriges Leben neu zu reflektieren.

Vielleicht erkennen Sie ja beim Lesen dieses Buches so manche Erfahrung schmunzelnd wieder und beginnen, die Schätze Ihrer eigenen Erlebnisse zu entdecken. Ich lade Sie ein zu einer gemeinsamen, spannenden Expedition, bei der Ihnen die Augen für die Kostbarkeiten des Lebens ganz neu geöffnet werden.

Mit den besten Wünschen

Ihr

Clemens Bittlinger

Für die Freunde

Es gibt dich

weil Augen dich wollen

dich anseh’n und sagen

dass es dich gibt.

Hilde Domin

GESEHEN WERDEN

Schon Monate vor meiner Geburt wurde ich gesehen, Ultraschalluntersuchungen in den Arztpraxen gab es damals noch nicht, aber meine Eltern haben mich trotzdem wahrgenommen. Meine Mutter sah und fühlte ihren Bauch wachsen und hat sich vor ihrem inneren Auge vorgestellt, wie ich wohl aussehen würde. Es gab ja schon zwei Geschwister, also hatte sie eine ungefähre Vorstellung davon, wie ich wohl auf die Welt purzeln würde.

Das ist eine spannende Zeit, die Schwangerschaft, eine Zeit der Vorbereitung auf ein völlig neues Leben. Das durfte ich selbst als Vater zweier Kinder erleben – schon lange vor der Geburt haben wir sie vor unserem inneren Auge gesehen, unsere Kinder. Uns vorgestellt und ausgemalt, wie sie wohl zu uns und unserem Leben passen würden. Gesehen haben wir sie natürlich auch auf den Ultraschallbildern, und es war von Monat zu Monat spannend zu beobachten, wie unser Kind heranwächst, wie die einzelnen Gliedmaßen und Organe sich entwickeln und zusammenfügen. Es ist immer ein Wunder, wenn Leben neu entsteht.

Ein neugeborenes Baby muss erst ganz allmählich lernen, seine Umgebung auch über die Augen wahrzunehmen. Denn im Leib der Mutter war die Wahrnehmung vor allem durch das Hören bestimmt. Vor allem anderen und lange vor der Geburt hört ein werdender Mensch. Geräusche, Stimmen und Musik sind das Erste, was ein Embryo wahrnimmt, leider auch Ärger, Lärm und Streit.

So etwa ab der 20. Schwangerschaftswoche funktioniert der Hörsinn, nimmt Töne auf und unterscheidet Stimmen. Dabei hat die Stimme der Mutter eine besonders beruhigende Wirkung. Amerikanische Forscher behaupten sogar, jeder Mensch werde mit einem absoluten Gehör geboren, einer Fähigkeit, die aber dann mangels Training mehr und mehr verloren gehe. Offensichtlich ist, dass Neugeborene eine gewisse Musikalität schon mit auf die Welt bringen und Rhythmus, Ton- und Klangfarben unterscheiden können. Erst relativ spät kommt im Laufe der Entwicklung das Sehen hinzu.

Mit den Augen treten die meisten Menschen zu anderen in Kontakt und schaffen sich ein Bild ihrer Umwelt. Sehen ist für viele der wichtigste Sinn, um sich in der Welt zurechtzufinden. Rund 80 Prozent aller Sinneseindrücke nehmen wir über die Augen wahr.

Wir sehen: Das Lächeln unseres Gegenübers, die Farbe seiner Augen, die fein geschwungene Linie seines Kinns oder die Weite der Landschaft, die leuchtende Schönheit der Blumen, das Tiefblau des Meeres.

Das, was wir sehen, dominiert zunächst einmal unsere Wahrnehmung. Kommunikationswissenschaftler haben herausgefunden, dass wir bei einem Gespräch oder einem Vortrag zu über 50 Prozent auf die Körpersprache achten, d. h., in erster Linie „hört“ das Auge. Nur so ist auch die überwältigende Dominanz des Fernsehens und des Internets in unserer Freizeitgestaltung zu erklären. Sehen und gesehen werden – nur so funktionieren auch die sozialen Netzwerke.

Wenn man nun bedenkt, dass unser Sehen alle drei Sekunden durch den Lidschlag unterbrochen wird, d. h. wir etwa 20 Prozent unserer wachen Zeit mit den Augen theoretisch nichts wahrnehmen, kann man erahnen und auch erforschen, dass unser Gehirn einen Mechanismus entwickelt hat, diese „Fehlzeiten“ zu überbrücken. Man könnte es überspitzt so formulieren: „Auf unsere Augen können wir uns blind verlassen!“

Wenn jemand uns etwas eindrücklich vermitteln und sagen möchte, dann verwendet er idealerweise viele Geschichten und Bilder, die uns den Inhalt des Gesagten gewissermaßen „vor Augen“ malen. Wenn ich ein Buch oder einen Bericht schreibe, dann bleiben die Passagen beim Leser am besten „hängen“, in denen ich eine Geschichte oder ein Beispiel erzähle. Genau aus diesem Grund hat wohl auch Jesus von Nazareth so viele Bilder und Gleichnisse erzählt, weil sie vielschichtig sind und deshalb gut erinnert werden können, weil sie auch das „innere Auge“ stimulieren.

Wenn ich einem blinden Menschen begegne, dann fasse ich ihn an, damit er mich klarer und dreidimensional lokalisieren kann. Bei einem Menschen ohne Augenlicht versuchen die anderen Sinne die verloren gegangenen oder von Anfang an nicht vorhandenen Funktionen so gut es geht zu überbrücken und zu ersetzen.

Ein Baby, das zu sehen beginnt, macht es ganz genauso: Es berührt das, was es sieht, und es nimmt das, was es fühlt, dann oft auch in den Mund. Es ertastet und erfasst mit dem Mund und mit der Zunge die Welt und entwickelt so nach und nach ein dreidimensionales Sehverständnis.

Meine Mutter hat mir von meiner Geburt und der ersten Zeit danach erzählt: Da war ich und wurde bestaunt, alle kamen und wollten mich sehen: Mama, Papa, die große Schwester, der große Bruder, die Oma (es gab nur noch eine) und die Opas, die Onkel und die Tanten, die Nachbarn und die Leute auf der Straße, alle sagten: „Ach, schau mal, ach wie süß, die Augen und die Nase – ganz der Papa –, und der Mund, nein wie entzückend, erinnert an die Mama!“ Schon als Baby wurde ich sehr unterschiedlich wahrgenommen. Meine Eltern sahen mich natürlich mit ganz besonderen Augen an, klar, sie waren entzückt. Wobei mein Vater, als Pfarrer im Reisedienst, mich sicherlich nicht so intensiv begleitet hat wie meine Mutter, die ja zu Hause war. Betreut wurde ich außerdem von einem Kindermädchen, das in mir vor allem eines gesehen hat: eine neue Aufgabe und zusätzliche Arbeit. Meine Schwester und mein älterer Bruder, ja, wie haben die mich wohl gesehen? Natürlich haben sie sich damals über den neuen Familienzuwachs gefreut. Und zugleich war da sicher auch Eifersucht auf den Neuen, der nun auf einmal sehr viel Aufmerksamkeit auf sich zog.

Die letzten Jahre sind wir Geschwister wieder enger zusammengerückt, durch die Geburt unserer eigenen Kinder und durch den Tod unserer Mutter. Wir haben mehr darauf geachtet, dass wir uns regelmäßig sehen, miteinander Feste feiern und Urlaub machen. Viele gute Gespräche und Begegnungen bereichern unser Leben – wir hören aufeinander und freuen uns aneinander.

Die ersten Jahre meines Lebens haben wir in der Pfalz in einem geräumigen Pfarrhaus mit großem Garten gelebt. Da gab es viel zu entdecken und zu erforschen, erste Freundschaften wurden geschlossen, und ich kam in den Kindergarten. Ich erinnere mich nur sehr vage an diese Zeit, aber ich weiß von meinen eigenen Kindern, dass diese Zeit zwischen drei und sechs Jahren eine ungemein wichtige, sehr prägende Zeit ist.

Wie sehen mich die anderen? Wie komme ich an? Wie kann ich mich durchsetzen und die Spiele spielen, die ich möchte? Aus meiner eigenen Kindergartenzeit weiß ich nur noch, dass es eine Kindergärtnerin mit dem Namen Christiane gab, die ich wohl heiß und innig geliebt, aber auch genauso intensiv geärgert habe: „Christiane, Banane!“, hieß damals mein „Schlachtruf“.

Als unsere eigenen Kinder eineinhalb und viereinhalb Jahre alt waren, sind wir für vier Monate in die USA „ausgewandert“. Als Pfarrer hat man nach zehn Dienstjahren Anspruch auf ein Sabbatical und wir haben diese Zeit genutzt, um mit der ganzen Familie nach Berkeley (nahe San Francisco) zu ziehen. Dort durften wir in einem alten viktorianischen Holzhaus leben und konnten uns als Familie neu sortieren. Unser Sohn Robin ging dreimal die Woche in die Monteverde Preschool, einen sehr schönen und kreativen Kindergarten, wo man wirklich das einzelne Kind im Blick hatte. Jeden Morgen gab es eine Begrüßungsrunde, in der gemeinsam gesungen, der jeweilige Tag besprochen und die verschiedenen Angebote vorgestellt wurden. Das war für uns alle eine tolle Erfahrung. In dieser Zeit lernte er, sich verschiedene Möglichkeiten „anzuschauen“ und sich dann zu entscheiden, auf welche Weise er den Tag im Kindergarten verbringen wollte.

Eines Morgens wurde ein sogenanntes Pyjama-Frühstück ausgerufen – Eltern und Kinder sollten im Schlafanzug zum Kindergarten kommen. Ich fand das eine blöde Idee, aber ich wollte meiner Familie nicht den „Spaß“ verderben. Also haben wir uns jeweils einen weiten Schlafanzug über die normale Kleidung gestreift und sind in diesem Aufzug dorthin marschiert – als die Einzigen, wie wir beschämt feststellen mussten. Alle anderen hatten diese Einladung, im Pyjama zu erscheinen, nicht so ernst genommen und waren (bis auf ein oder zwei Erzieherinnen) ganz normal erschienen. Dementsprechend wurden wir in der Runde mit einer Mischung aus Erstaunen und Belustigung beäugt … „diese seltsame Familie aus Deutschland“.

Meine Grundschul-Zeit war von der Tatsache geprägt, dass wir, wegen der unterschiedlichen beruflichen Einsatzorte meines Vaters, oft umgezogen sind. Eine Zeit lang wurde ich bei einer nach meinem Empfinden etwas eigenartigen Tante „geparkt“, die gleichzeitig auch vor Ort meine Grundschullehrerin war. Das war eine schreckliche Zeit, in der ich viel geweint habe. Das haben natürlich die anderen Kinder mitbekommen, und sehr schnell hatte ich den Ruf einer Heulsuse. Hier war ich nun auf sehr unangenehme Weise im Fokus der anderen, denn ich hatte als Neffe der Lehrerin ja einen gewissen Sonderstatus.

Später zog meine Familie nach Laatzen bei Hannover. Auch dort musste ich mich wieder zurechtfinden und mir neue Freunde suchen. Ich weiß noch, dass ich einmal für ein halbes Jahr keinerlei Hausaufgaben gemacht habe – und niemand bemerkte es. Meine Eltern waren so mit sich und vielem anderen beschäftigt, dass dies scheinbar gar nicht auffiel.

MIT DEN AUGEN EINES KINDES

Meine Frau und ich haben mit unseren Kindern sehr viele Reisen in alle Welt unternommen, auch deshalb, weil wir gemerkt haben, dass wir selbst durch die gemeinsamen Urlaube und Reisen immer wieder neu zueinandergefunden und einander neu wahrgenommen haben. Bei diesen Unternehmungen sind natürlich auch sehr viele Fotos entstanden. Ab und zu finden wir die Zeit, uns hinzusetzen und durch die alten Fotos in die Welt von damals einzutauchen. Besonders spannend finde ich dann die Frage: „Wer hat eigentlich dieses Foto gemacht?“ Denn Kinder und Erwachsene gehen das Fotografieren doch sehr unterschiedlich an – Kinder haben einfach eine andere Perspektive und ihnen fallen Dinge auf, an denen wir Erwachsene oft achtlos vorübergehen. Als unsere Kinder noch ziemlich klein waren, haben wir den beiden bei einem dreitägigen Romaufenthalt jeweils eine Kamera in die Hand gedrückt und gesagt: „Nun fotografiert doch mal alles, was euch auffällt und gefällt!“ Beim späteren Betrachten der Bilder bemerkten wir, dass bei ganz vielen Bildern der blaue Himmel zu sehen war – ganz einfach deshalb, weil unsere Kinder aus ihrer Perspektive von unten nach oben fotografiert haben. Dabei musste ich spontan an eine der Seligpreisungen aus der Bibel denken: Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen (Mt 5,8).

Im Lukasevangelium (18,15 ff.) wird berichtet: Mitten in einem Streitgespräch mit Schriftgelehrten ruft Jesus plötzlich ein Kind herbei, stellt es in die Mitte und sagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr das Himmelreich nicht sehen!“ – Das haben wir auf ganz natürliche Weise an den Urlaubsfotos unserer Kinder gesehen, sie hatten einfach, weil sie Kinder waren, den Himmel viel mehr im Blick als wir Erwachsene. Ich übersetze diese Aussage Jesu gerne so: „Wenn wir nicht zurückfinden zu einer Ursprünglichkeit, wie Kinder sie haben, werden wir niemals verstehen, was es heißt, ein Kind Gottes zu sein.“ Das möchte ich von den Kindern lernen, den Himmel im Blick zu behalten.

„Augen sind die Fenster zur Seele“, hat jemand mal gesagt, und wenn ich in Kinderaugen sehe, dann entdecke ich hin und wieder das, was Jesus wohl mit „reinem Herzen“ gemeint hat. Kinder sind natürlich nicht grundsätzlich „reinen Herzens“, aber sie haben, viel mehr als wir Erwachsene, oft noch diese lichten Momente, in denen kein „Falsch“ liegt. Augen, die einen offen und voller Vertrauen ansehen, Augen, die noch staunen können – ungetrübt! Kinder sehen in einer bestimmten Altersspanne die Welt noch relativ klar und rein: Sie kennen noch keine Ironie und schon gar keinen Sarkasmus. Mama und/oder Papa sind die Hauptbezugspersonen, denen vertrauen sie mehr oder weniger blind.

Die Fotos von Kindern, die uns aus den Krisengebieten dieser Welt, z. B. aus der jahrelang schwer umkämpften syrischen Stadt Aleppo, erreichen, sind vor allem deshalb so erschütternd, weil die Augen dieser Kinder schon so viel Leid, Hass und Enttäuschungen mit ansehen mussten, dass aus ihnen der Glanz des reinen Herzens gewichen ist.

Doch zurück zu meiner eigenen Kindheit: Von Laatzen aus sind wir wegen einer „neuen Idee“ meines Vaters nochmals als Familie umgezogen. Diesmal ging es nach Bayern, genauer gesagt nach Unterfranken. Dort hatte mein Vater mit einer Gruppe Gleichgesinnter ein kleines Schloss entdeckt und die gemeinsame Vision entwickelt, dort ein „Begegnungszentrum für die Einheit der Christen“ zu etablieren. Es war ein bunter Haufen von Theologen verschiedenster Glaubensrichtungen, die sich dort in Schloss Craheim zusammenfanden: Baptisten, Methodisten, Pfingstler, Lutheraner, Orthodoxe und Katholiken. Gemeinsam wollte man versuchen, Ökumene zu leben. Das war Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre. Um es gleich vorwegzusagen: Es ging gründlich schief. Für meine Eltern, aber sicher auch für alle anderen Beteiligten war das Projekt „Begegnungszentrum für die Einheit der Christen“ mit vielen Enttäuschungen verbunden.

Mein Vater, Arnold Bittlinger, hatte immer irgendwie die Nase im Wind. Er wollte dort sein, wo etwas passierte – wo vor allem „geistlich“ etwas passierte. Schon Anfang der 1960er-Jahre hatte er die USA bereist und war dabei auf die charismatische Bewegung in den verschiedenen christlichen Gemeinden gestoßen. Dort gab es großartige Gottesdienste, voller Inbrunst und Hinwendung. Geistliche Ereignisse, bei denen er den Eindruck hatte, hier wurde nicht nur über Gott geredet, hier wurde nicht stumpf einer alten Liturgie gefolgt, sondern hier passierte wirklich etwas: Hier wurden Menschen ganz offensichtlich von Gott berührt. Die Urgemeinde, so wie sie Paulus im Korintherbrief beschrieb, schien wieder zu neuem Leben erwacht: Menschen wurden geheilt, die Gemeinde sang in unverständlichen Sprachen (der sogenannten „Zungenrede“), es gab prophetische Reden und eine tiefe innere Hinwendung zu Gott. Das faszinierte den jungen Pfarrer der pfälzischen Kirche. Als er wieder zurück in Deutschland war, berichtete er einem Kreis missionarisch orientierter Kollegen begeistert von seinen Erlebnissen – und stieß auf Ablehnung. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, weiter nach Gleichgesinnten und Verbündeten zu suchen und das erste theologische, lutherisch-charismatische Standardwerk zu verfassen: „Im Kraftfeld des Heiligen Geistes“. Seine Sehnsucht nach Aufbruch, dieses Getriebensein auf der Suche nach einer lebendigen Kirche, hatte zur Folge, dass wir als Familie oft umgezogen sind.

In Craheim entstand die Freundschaft zu einem anderen Pastorensohn. Er war sozusagen „Leidensgenosse“ und ich erkannte in ihm einen wahrhaften Stammesbruder. Ständig waren wir im Freien unterwegs, spielten mit selbst gebastelten Indianeraccessoires und selbst geschnitztem Pfeil und Bogen. Wir waren Uncas und Chingachgook, wobei ich immer nur Uncas sein durfte. Gegen meinen älteren Bruder und seinen Freund lieferten wir uns erbitterte Kämpfe, die schon mal darin endeten, dass ich an einen Baum gefesselt und mit einem Erbsengewehr beschossen wurde.

In dieser Zeit bekam ich auch meinen ersten Hund. Der Busfahrer, der uns Kinder regelmäßig aufsammelte, damit wir in Stadtlauringen in die Grundschule gehen konnten, hielt mir eines Tages ein kleines weißes Bündel entgegen und fragte: „Meinst du, deine Eltern erlauben, dass du den mit nach Hause bringen darfst?“ Da war es schon geschehen: Mein Kinderherz hatte sich voll und ganz in diesen kleinen, goldigen Hund verliebt. Meine Mutter war zunächst überhaupt nicht begeistert, aber der Kleine durfte dann doch bleiben. Als Indianerfan war ich natürlich auch ein eifriger Leser der Comicreihe Silberpfeil. Der Held der Geschichte war ein junger Krieger, der sich, ähnlich wie Winnetou, gegen die üblen Machenschaften des weißen Mannes behaupten musste. Sein Weggefährte war ein kleiner weißer Hund, der „Tinka“ hieß. Und so nannte ich meinen neuen Gefährten ebenfalls so.

Zum ersten Mal erlebte ich die beglückende und bedingungslose Liebe eines Hundes. Leider dauerte dieses Glück nicht sehr lange. Irgendwann war der kleine Zwinger aufgebrochen und „Tinka“ weg. Alles Suchen und Rufen half nichts und ich war unendlich traurig. Ich hatte jemanden verloren, den ich abgöttisch liebte und der mich, so dachte ich damals, allein im Blick hatte.

Meine Mutter war eine liebevolle Versorgerin, die meinem Vater in all den Jahren den Rücken frei gehalten hat. Die beiden waren sich in der kirchlichen Jugendarbeit begegnet und hatten relativ früh geheiratet. Auch wenn sie nicht immer die Visionen meines Vaters teilte, war sie doch eine Partnerin im wahrsten Sinne des Wortes und schaute, wie das Leben in den immer wieder neuen Gegebenheiten für uns alle weitergehen konnte. Um für uns und den Haushalt ganz da sein zu können, hatte sie ihr Theologiestudium abgebrochen. Erst später, mit Mitte 40, entdeckte sie wieder ihr Eigenes, begann zu malen und ihre Träume ernst zu nehmen. In der Begegnung mit dem christlichen Traumforscher Morton Kelsey kam sie mit ihren inneren Bildern in Berührung. Was sehen wir, wenn wir unsere Träume sehen? Und im Alter von 50 Jahren nahm sie ihr Theologiestudium wieder auf, studierte dann, fasziniert von den Gedanken von C. G. Jung, Psychologie und eröffnete mit 60 Jahren ihre eigene psychotherapeutische Praxis. Zur Deutung von Märchen hat sie etliche kleinere Werke veröffentlicht. Sie war eine erstaunliche Frau, die uns leider im Alter von 78 nach einem Schlaganfall viel zu früh verließ.

WIR SIND EINE FAMILIE

Dass wir einander haben

und nicht alleine stehn,

das lasst uns nie vergessen

und die mit einbeziehn,

die sich wohl einsam fühlen,

denn sie gehörn dazu,

zu unserer Familie,

zu uns, zum „Ich“ und „Du“.

Wir sind eine Familie,

sind eine bunte Schar,

aus Eltern, Brüdern, Schwestern,

Oma und Großpapa,

aus Kindern, Männern, Frauen,

so manchen, die da warn,

und jeder, der noch zu uns stößt,

gehört zu dieser Schar.

Dass wir einander haben,

das spürn wir Hand in Hand,

denn unsichtbare Fäden

sind zwischen uns gespannt,

die können wir ertasten,

wir knüpfen daran an,

dass auch die schweren Lasten

dies Netz auffangen kann.

Dass wir einander haben,

dass wir einander sehn,

ist ein Geschenk des Himmels,

Gott gibt uns zu verstehn:

Du Mensch bist nicht alleine

auf dieser weiten Welt,

bist Teil einer Gemeinschaft,

nicht nur auf dich gestellt.

JESUS UND SEINE FAMILIE

Im Matthäusevangelium (12,46–50) wird über folgendes Ereignis berichtet: Jesus war zu Gast in einem größeren Haus, er war dort eingeladen, um zu den Menschen zu sprechen – der Raum war völlig überfüllt.

Nun könnte man meinen, dass die Mutter und die Geschwister Jesu einen derart engen Draht zu ihm hatten, dass sie jederzeit und in jede Veranstaltung reingekommen wären, bei der sie dabei sein wollten. Sie waren selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie auf einer „imaginären Gästeliste“ standen. Und so ließen sie Jesus kurz vor seinem Auftritt ausrichten: „Hey, deine Mutter und deine Geschwister sind hier und sie wollen dich gerne sehen.“ Doch Jesus ließ sie abblitzen, noch dazu mit der eigenartigen Rückfrage: „Wer soll das sein, meine Mutter, meine Geschwister? Diese dort, die da sitzen, sind meine Brüder und Schwestern! Alle, die das tun, was mein Vater im Himmel will, sind mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter!“

Was für ein Affront: Da zieht die Familie schon mal die Promikarte, zückt den VIP-Ausweis und wird dann brüsk abgewiesen. „Meine Mutter? Wer soll das sein?“ – dies zu hören, muss Maria sehr wehgetan haben. Warum hat Jesus so reagiert?

Wir wissen wenig über die Jugend von Jesus, doch es scheint so, dass er relativ lange zu Hause bei seinen Eltern gelebt hat. Als er seinen Auftrag erkannt hatte und von zu Hause fortgezogen war, geschah dies ziemlich kompromisslos und ohne Rücksicht auf seine irdische Familie. Er musste das, was er als gut und richtig erkannt hatte, nun auch leben und wusste ziemlich genau, was er zu tun und zu lassen hatte. Keine privaten Ansprüche, kein Reinreden mehr – er war dabei, etwas ganz Neues aufzubauen, jene Freundinnen und Freunde um sich zu scharen, die seine Vision vom heranbrechenden Reich Gottes teilten. Da war kein Platz für Sentimentalität oder gar für Rollenzuweisungen aus längst vergangenen Tagen. Selbst die Rolle der Mutter, die damals wie heute in unserer Kultur eine sehr große Rolle spielt, wurde relativiert: „Du hast deinen Anspruch auf mich verloren – ich bin ein freier Mensch, und zu dieser Freiheit gehört auch, dass ich mich von den Erwartungen meiner Familie lossage.“

Alle fünf Jahre trifft sich unser Abiturjahrgang zu einem Klassentreffen. Ich habe den Eindruck, dass manche heute gestandene Persönlichkeit nicht zu diesen Treffen kommt, weil sie Angst davor hat, in die alten Schubladen gesteckt und in die alte „Underdog-Rolle“ gepackt zu werden. Das will sich mancher scheinbar nicht antun. Verstehen kann ich es, auch wenn es von keinem sehr großen Selbstvertrauen zeugt. Auch hier geht es wieder um das Ansehen der Person und unser Selbstbild.

Jesus hat alle im Blick, die mit ihm unterwegs sind, er betrachtet sie als seine Geschwister im Glauben und er weiß, dass manch einer Vater und Mutter verlassen wird, um ihm nachzufolgen (vgl. Mt 19,5). Die Tatsache, dass ein junger Mann erst noch seinen Vater beerdigen möchte, bevor er bereit ist, Jesus nachzufolgen, kommentiert er hart: Lass die Toten ihre Toten begraben (Mt 8,22). Jetzt gilt es aufzubrechen, es gibt keinen Aufschub dafür. Dass Jesus eine neue Vision von Familie hat, wird spätestens am Kreuz von Golgatha sichtbar, wo er auf seine Mutter Maria deutet und zu seinem Jünger Johannes sagt: „Schau, das ist nun künftig deine Mutter!“ Und an Maria gewandt, auf Johannes deutend: „Schau, das ist nun künftig dein Sohn!“ (vgl. Joh 19,26 f.). Familie ist Jesus sicherlich nicht egal – aber die Blutsbande sind nicht bedeutsamer als die Seelenverwandten, die ihm nahestehen.

Auf der Suche nach Seelenverwandten sind wir, glaube ich, unser Leben lang. Ein irisches Sprichwort sagt: „Freunde sind Gottes Entschuldigung für Verwandte.“ Ich habe das Glück, einige wenige Menschen zu meinen Freunden zählen zu dürfen. Das wünsche ich jedem!

Doch nicht immer entpuppen sich Menschen, die uns zunächst sympathisch sind, auch auf Dauer wirklich als Freunde.

Jesus-People-