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Fana Asefaw

Weibliche Genitalbeschneidung

Neuauflage 2017

Fana Asefaw

Weibliche Genitalbeschneidung

Hintergründe, gesundheitliche Folgen

und

nachhaltige Prävention

Neuauflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

©2017 boox-verlag, Urnäsch

Cover: Das Bild «Fügung» von Erika Dreier, art99, wurde uns von der

Künstlerin für dieses Buch freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

ISBN 978-3-906037-30-1 (Taschenbuch)

ISBN 978-3-906037-31-8 (ebook)

www.boox-verlag.ch

Für meine Mutter, Sellas Tzegai,
die mich vor einer Beschneidung bewahrt hat.

Inhalt

Dank

Vorwort

Einführung

1Soziale Strukturen in Eritrea

2Beschneidungsformen

3Zur Situation der weiblichen Genitalbeschneidung in Eritrea

4Kontexte und Hintergründe

5Sozialer und kultureller Kontext von Deinfibulation und Reinfibulation

6Frühkomplikationen nach weiblicher Genitalbeschneidung

7Spätkomplikationen

8Komplikationen bei der Erstgeburt

9Störungen des sexuellen Erlebens

10Psychische Leiden – Vergleich beschnittener und unbeschnittener Frauen

11Kompetente und kultursensible Behandlung beschnittener Frauen in der Gynäkologie und Geburtshilfe

12Gesetzeslage in der Schweiz und in Deutschland

13Prävention in den Migrationsländern

14Präventionsbemühungen in Eritrea

15Die Interviews: deskriptive offene Fragen und Antworten beschnittener Frauen

16Zusammenfassung der methodischen Einleitung

Anmerkungen

Literatur

Dank

Für die Realisation einer zweiten, völlig überarbeiteten Auflage dieses Buches bin ich meiner Familie für ihre Geduld und meiner Verlegerin, Verena Schneider Müller, für ihre Unterstützung zu grossem Dank verpflichtet.

All meinen Freunden und Bekannten die mich in Diskussionen auf erwähnenswerte Aspekte aufmerksam gemacht haben, gebührt ein herzliches Dankeschön.

Die eritreische Botschaft in Berlin, dem eritreischen Gesundheitsministerium sowie der Frauenorganisation HAMADEE in Eritrea möchte ich ganz herzlich für die Unterstützung der Studie und die wertvollen Kontakte danken.

Dem medizinischen Personal in Eritrea danke ich für die Betreuung und die Hilfe, Kontakte zu Patientinnen herzustellen.

Mein besonderer Dank geht an die betroffenen Frauen und ihre Angehörigen. Ich danke ihnen für ihre Bereitschaft und ihr Vertrauen, sich interviewen zu lassen.

Vorwort

Als Ärztin begegne ich häufig beschnittenen Frauen und ihren Angehörigen. Diese Begegnungen zeigen mir immer wieder, dass sich die Betroffenen in der internationalen Diskussion über Beschneidung der weiblichen Genitalien ausgeklammert erleben, obwohl sie entscheidend daran beteiligt sein sollten.

In den Medien wird hierzulande die weibliche Genitalbeschneidung als barbarisches Ritual dargestellt. Dies hat für die Betroffenen oft negative Folgen und erschwert die Auseinandersetzung mit dem Thema mehr, als dass es positiv zur Aufklärung beiträgt.

Ein Schwerpunkt in diesem Buch liegt darauf, die Sichtweise der Betroffenen innerhalb ihres kulturellen Gefüges, ihrer sozialpolitischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zu erörtern. Wichtig sind mir der respektvolle Forscherblick und das Verständnis der historischen und politischen Unterschiede sowie ökonomischen Entwicklungsstadien.

Dieses Buch ist ein Plädoyer für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema unter Einbezug der Betroffenen.

Weil es viele Verdachtsfälle in Migrationsländern wie Deutschland und der Schweiz gibt, wo Massnahmen schon ergriffen wurden, ohne mit den Betroffenen gesprochen zu haben, wurde diese Neuauflage meines Buches mit dem Kapitel «Kompetente und kultursensible Behandlung beschnittener Frauen in der Gynäkologie und Geburtshilfe» erweitert.

Das Kapitel «Gesetzeslage in der Schweiz und in Deutschland wurde aktualisiert.

Einführung

Die weibliche Genitalbeschneidung ist heute in 28 Staaten Ost-, West- und Nordafrikas sowie vereinzelt in Teilen Asiens und des Nahen Ostens verbreitet.1 In folgenden Ländern wird die weibliche Genitalbeschneidung praktiziert:

Ägypten, Äthiopien, Benin, Burkina Faso, Djibuti, Elfenbeinküste, Eritrea, Gambia, Ghana, Guinea-Bisseau, Indonesien, Jordanien, Kamerun, Kenia, Liberia, Malaysia, Mali, Mauretanien, Niger, Nigeria, Senegal, Sierra Leone, Somalia, Sudan, Tansania, Togo, Tschad, Uganda, Zentralafrikanische Republik.

Diese Länder gehören den sogenannten Entwicklungsländern an. In den meisten dieser Staaten wurden gezielt Gesetze gegen die Praxis der weiblichen Genitalbeschneidung erlassen. Dennoch gibt es schätzungsweise 130 bis 170 Millionen betroffene Frauen und die Praxis der Beschneidung hält immer noch an.

Die weibliche Genitalbeschneidung ist aber nicht in ganz Afrika üblich. Afrika, einem Kontinent mit 53 Staaten, in dem mehr als 1.1 Milliarden Menschen leben (Stand 2014) und über 1‘300 Sprachen gesprochen werden. Mehr als 220 Millionen Afrikaner leben in absoluter Armut und haben nur bedingt Zugang zu sauberem Trinkwasser.2 Die anhaltende Armut ist nach wie vor das Hauptproblem dieses Kontinents.

Im internationalen Sprachgebrauch hat sich für die weibliche Genitalbeschneidung der Ausdruck Female Genital Mutilation (Verstümmelung weiblicher Genitalien), FGM, durchgesetzt.

Damit soll die dramatische Dimension dieser Praxis betont und wohl ebenso ein politischer Akzent gesetzt werden.3 Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet diesen Begriff.

«FGM bezeichnet alle Praktiken, die eine partielle oder gesamte Entfernung der externen weiblichen Genitalien beinhalten oder die Verletzung der weiblichen genitalen Organe aus kulturellen oder anderen nicht-therapeutischen Gründen.»4

In den betroffenen Gesellschaften werden für die weiblichen Genitalbeschneidung hingegen Begriffe verwendet, die positiv konnotiert sind. Entsprechend leicht fällt es den Betroffenen, sich mit ihnen zu identifizieren. So wird beispielsweise in Eritrea für die Beschneidung von Mädchen der Ausdruck «Mekinschab» (= rein) verwendet, und im Nachbarstaat Sudan spricht man von «Tahur» (tahir = rein).5

Im vorliegenden Buch verwende ich bewusst den Begriff Female Genital Cutting (Weibliche Genitalbeschneidung), FGC, weil sich gezeigt hat, dass sich die von mir interviewten beschnittenen Frauen am ehesten mit diesem Terminus identifizieren, da dieser Begriff auch ihren gesellschaftlichen Kontext einbezieht. Keine der interviewten Frauen hat, auf sich selbst bezogen, die Bezeichnung FGM akzeptiert. Selbst afrikanische Aktivistinnen, die gegen die weiblichen Genitalbeschneidung kämpfen und die diesen Begriff im Rahmen ihrer Öffentlichkeitsarbeit verwenden, bezeichnen bzw. erleben sich nicht als «Genitalverstümmelte», sondern als beschnittene Frauen.

«Wenn ich gefragt werde, ob ich genital beschnitten bin, sage ich ja und lasse mich auf eine Auseinandersetzung ein. Wenn ich jedoch angesprochen werde, ob ich genital verstümmelt bin, antworte ich mit nein und lasse mich auch weiter nicht darauf ein.»6

Auch andere Autoren und Organisationen verwenden den neutralen Begriff FGC, um negative Implizierungen zu vermeiden und einen objektiven Umgang mit dem Thema zu ermöglichen, der den Kontext berücksichtigt.7

Ich persönlich bin eine entschiedenen Gegnerin der weiblichen Genitalbeschneidung. Mir ist es wichtig, eine inhaltliche Diskussion zu führen und Massnahmen zur Prävention anzuregen. Es sollte zu denken geben, dass den jahrelangen internationalen Bemühungen, die Praxis der weiblichen Genitalbeschneidung abzuschaffen, weltweit bislang wenig Erfolg beschieden ist. Ein Gebot der Stunde ist es deshalb, Diskussionen zu führen, in der sozialpolitische, ökonomische und kulturelle Aspekte der betroffenen Gesellschaften einbezogen werden.

Dieses Buch basiert auf den Ergebnissen einer mehrjährigen medizinischen Studie, die ich in Eritrea und Deutschland durchgeführt habe, und meinen Erfahrungen, die ich in Deutschland und der Schweiz als Ärztin und Kulturvermittlerin sammeln durfte:

Zwischen 1999 und 2005 wurden in Eritrea 420 Frauen und 50 Männer von mir zum Thema weiblicher Genitalbeschneidung befragt.8 Zentrale Fragestellung meiner Forschung sind:

Welche Bedeutung hat FGC für die Betroffenen?

Welche Hintergründe und Zusammenhänge erhalten FGC aufrecht?

Wie kann von aussen sinnvoll dazu beigetragen werden, dass eine nachhaltige Veränderung eintritt?

Ein weiterer Schwerpunkt dieses Buches befasst sich mit den gesundheitlichen Folgen von FGC für die Betroffenen und deren Partner. Ein Fokus richtet sich dabei auf die beschnittenen Frauen und ihre Familien in der Migration – 98 Migrantinnen aus verschiedenen afrikanisch-arabischen Ländern wurden zur weiblichen Genitalbeschneidung und insbesondere zu ihren persönlichen Erfahrungen mit dem Thema in Deutschland befragt. Zwei Aspekte werden hierbei besonders beleuchtet: der öffentliche Diskurs und die Gesundheitsversorgung.

Meine Forschungsergebnisse aus Eritrea sind beispielhaft für die vielen afrikanisch-arabischen Gesellschaften, in denen die weibliche Genitalbeschneidung noch heute praktiziert wird. In den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dieser Länder finden sich zahlreiche Parallelen: Zuallererst haben die Menschen dort gravierende existentielle Probleme zu bewältigen. Strategien zur Beendigung weiblicher Genitalbeschneidung sind folglich aus ihrer Sicht vorerst kein grundlegendes Anliegen.

Die in Deutschland gemachten Untersuchungen spiegeln die Situation der beschnittenen Frauen und ihrer Familien in den Migrationsländern wider.

Hierbei wird deutlich, wie diskriminierend der öffentliche Diskurs auf die Betroffenen und ihre Familien wirkt und welch gravierende Folgen die mangelnde Kenntnis des medizinischen Personals über das komplexe Thema auf die Betroffenen haben kann.

Ersichtlich wird, wie wenig die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft über den Hintergrund von FGC wissen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Frauen- und Menschenrechtsorganisationen das Thema seit Jahren in ihre Agenden aufgenommen haben und Aufklärungskampagnen sowie Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Warum erreichen die Bemühungen dieser Organisationen die beschnittenen Frauen und ihre Familien kaum? Verschiedene Berufsgruppen wie medizinisches Personal und Pädagogen, die in ihrem beruflichen Umfeld mit beschnittenen Frauen und ihren Angehörigen in engem Kontakt stehen, sind häufig von der Art und Weise, wie der öffentliche Diskurs abläuft, beeinflusst und reagieren im Umgang mit den Betroffenen dann unangemessen. Dabei könnten gerade Personen aus dieser Berufsgruppen massgeblich zur Prävention von FGC beitragen.

Aus diesem Grund widme ich in der vorliegenden Neuauflage meines Buches ein neues Kapitel dem Umgang mit betroffenen Frauen durch medizinisches Fachpersonal (Kapitel 11: Kompetente und kultursensible Behandlung beschnittener Frauen in der Gynäkologie und Geburtshilfe).

Es ist es mir ein Anliegen, die weibliche Genitalbeschneidung in ihren verschiedenen Kontexten zu erläutern und den verzerrenden öffentlichen Diskurs in unserer hiesigen Gesellschaft über dieses Thema nach seinen Motiven zu hinterfragen.

Dabei werde ich versuchen zu analysieren, inwiefern die Tendenz, das Thema zu einem Phänomen der «primitiven Afrikaner» zu stilisieren, nicht auch ein unbewusster Versuch ist, sich zu distanzieren – obwohl Manipulationen an den weiblichen Genitalien aus nicht-medizinischer Indikation auch in Europa und Amerika historisch belegt sind.

Gegenwärtig boomen in den reichen Industriegesellschaften kosmetische Operationen an den weiblichen Genitalien – man denke nur an die sogenannten «Designer-Vaginas».

Solche Phänomene bleiben bislang im öffentlichen Diskurs ausgeblendet. Sie sollen hier ebenso hinterfragt werden.

Die Normen und moralischen Werte, denen Manipulationen an weiblichen Genitalien zugrunde liegen, sind unterschiedlich und kulturell geprägt. Was Aussenstehenden als Entstellung erscheint, wird aus der kulturspezifischen Innenperspektive heraus als richtig und schön wahrgenommen, weil gesellschaftliche Akzeptanz und soziale Identität damit verknüpft sind.

Sozialisation und familiärer Hintergrund erschweren die Wahrnehmung der Motive und Beweggründe von Menschen, die einer anderen, fremden Kultur angehören.

«Man kann nie wirklich ausserhalb der eigenen Kultur sein. Man kann nicht an <keinem Platz> sein, es gibt keine <Sicht vom Nirgendwo> her.»9

Eigene kulturelle Prägung und subjektive Voreingenommenheit haben Einfluss auf die Methodik und Analyse des untersuchten Themas. Kulturelle Barrieren erschweren es, die komplexen Zusammenhänge zu begreifen und einen Dialog mit den Betroffenen zu führen.

Somit ist ein ethnozentrischer Blickwinkel für diese Debatte bezeichnend. Zwischen den verschiedenen ethnozentrischen Blickwinkeln zu vermitteln, ist mein grosses Anliegen.

1Soziale Strukturen in Eritrea

Eritrea ist ein Staat im nordöstlichen Afrika und grenzt an Äthiopien, den Sudan und Dschibuti sowie im Roten Meer an Jemen.1 Die Fläche Eritreas umfasst ca. 117‘000 Quadratkilometer und ist damit etwa dreimal so gross wie die Schweiz.

Das Land ist in sechs Zonen unterteilt: Anseba, Northern Red Sea, Central Region und Southern Region.

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Abbildung 1: Geografie2

Eritreische Geschichte – ein kurzer Überblick

Eritrea war eine von 1890 bis 1945 italienische Kolonie und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Grossbritannien übernommen. 1952 wurde das Land der Obhut der Vereinten Nationen anvertraut. Schon 1950 hatte die UNO einseitig auf eine Föderation Eritreas mit Äthiopien gedrängt, die später erzwungen wurde. Ab 1960 wurde die Unabhängigkeit Eritreas von Äthiopien schrittweise aufgehoben, etwa durch die Herabstufung der autonomen Regierung zu einer Verwaltungsbehörde. 1961 löste sich das Parlament auf und Eritrea wurde vollkommen dem Staat Äthiopien einverleibt. In der Folge bildeten sich Unabhängigkeitsbewegungen. So entstand 1961 die Eritreische Befreiungsfront (ELF). 1970 spaltete sich von dieser die Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) ab. Im April 1993 kam es zu einem Referendum, in dem 99.8 Prozent für die Unabhängigkeit Eritreas stimmten. Die Beziehungen Eritreas zu Äthiopien blieben angespannt. 1998 erklärte Äthiopien Eritrea nach einem Grenzzwischenfall den Krieg. Hart umkämpft war insbesondere das Grenzgebiet Yirga, das nach eritreischer Auffassung zur Region Gash-Barka, nach äthiopischer dagegen zu Tigre gehört. Im Mai 2000 lehnte Äthiopien Friedensverhandlungen mit Eritrea ab und begann seine dritte Offensive. Trotzdem kam es im Juni zu einem Waffenstillstand und im Dezember wurde der algerische Friedensplan von beiden Seiten angenommen. Dieser Friedensplan sah vor, dass eine unabhängige Grenzkommission in Den Haag über den strittigen Grenzverlauf entscheiden sollte. Allerdings akzeptierte Äthiopien den Schiedsspruch im Oktober 2003 nicht.3 Auch heute ist zwischen den beiden Regierungen keine Einigkeit in Sicht. Deshalb halten sich die UNO-Friedenstruppen seit Jahren im Land auf – und Äthopien weigert sich, die selbst ausgehandelten Verträge endgültig anzuerkennen.4

Bevölkerung und Volksgruppen

Die Bevölkerung Eritreas umfasst ca. 6.4 Millionen Menschen (Quelle: CIA Juli 2014). Zusätzlich leben über eine Million Eritreer als Emigranten in allen Teilen der Erde. Etwa die Hälfte der Eritreer bekennt sich zum Christentum, die andere Hälfte zum Islam. Dazu bilden Anhänger von Naturreligionen eine kleine Minderheit.

Ein Stadt-Land-Gefälle ist für Eritrea bezeichnend: Der Anteil der Bevölkerung in ländlichen Gebieten liegt bei 80 Prozent. Es handelt sich vor allem um sesshafte Bauern und halb nomadisierende Viehzüchter. Es gibt nur eine kleine Gruppe von echten Nomaden, die Raschaidas. Etwa 20 Prozent der Eritreer leben in den Städten. Die Alphabetisierung beträgt ca. 70 Prozent bei den Männern und 46 Prozent bei den Frauen. Die meisten Frauen erlernen nie einen Beruf. Alle eritreischen Gesellschaften messen, mit graduellen Unterschieden, Frauen und Töchtern einen deutlich geringeren Wert bei als Männern und Söhnen. Bereits bei der Geburt wird der höhere Wert eines männlichen Neugeborenen dadurch zum Ausdruck gebracht, dass ihm siebenmalige Uliilation5 zusteht, einem weiblichen Neugeborenen dagegen nur dreimalige Uliilation zu. Dass Mädchen in Eritrea weniger wert sind, drückt sich auch darin aus, dass sie, besonders in dörflichen Gegenden, deutlich kürzer in eine Schule gehen als ihre Brüder und ihnen nicht die gleichen Besitz- und Familienrechte zustehen.

Eritrea ist ein Vielvölkerstaat, in dem neun Volksgruppen leben. Die Tigrinya und die Tigre sind mit einem Bevölkerungsanteil von 41 Prozent, bzw. 30 bis 32 Prozent, die beiden grössten Volksgruppen des Landes. Die Afar machen fünf bis acht, die Saho vier bis fünf und die Kunama zwei bis fünf Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Bilen und Hedareb stellen einen Anteil von je drei Prozent, die Nara und Rashaida von je zwei Prozent.6 Jede Volksgruppe hat ihre eigene Sprache und Kultur. Alle Volksgruppen weisen patriarchale Strukturen auf, ausgenommen die Kunama, die als einzige matrilinear7 organisiert ist.

Soziodemografische Unterschiede beschnittener und unbeschnittener Frauen

Hinsichtlich ihres Alters unterschieden sich im Durchschnitt die von mir interviewten beschnittenen Frauen in Eritrea nicht wesentlich von den unbeschnittenen. Jedoch waren die ältesten der unbeschnittenen Frauen um die 35 Jahre alt, während ich mit beschnittenen Frauen sprach, die bis 70 Jahre alt waren.

Dies ist darauf zurückzuführen, dass die unbeschnittenen Frauen grösstenteils Töchter der sogenannten FreiheitskämpferInnen waren und während des 30-jährigen Unabhängigkeitskrieges zwischen Äthiopien und Eritrea geboren wurden, also zwischen 1961 und 1991.

Die beschnittenen Frauen waren überwiegend Hausfrauen, die meisten von ihnen vertraten eher religiöse, traditionelle und konservative Werte als die unbeschnittenen Frauen. Sie wohnten zumeist in ländlichen Gegenden.

Die unbeschnittenen Frauen waren überwiegend in den Städten zuhause und verfügten meist über eine höhere Schulbildung als die beschnittenen. Die vergleichsweise höhere Schulbildung der unbeschnittenen Frauen hängt mit dem Wohnort zusammen, denn in den Städten Eritreas gibt es, umgerechnet auf die Bevölkerungszahl, mehr Schulen als auf dem Land.

Ein zentrales Problem besteht darin, Bildung und berufliche Perspektiven für Frauen und Mädchen zu ermöglichen. Derzeit nehmen weniger als 40 Prozent der Mädchen am Schulunterrischt teil. Ihre Analphabetenrate ist mit mit über 50 Prozent sehr hoch. Meine empirische Untersuchung zeigt, dass die weibliche Beschneidung in Eritrea noch heute einen positiven Ruf geniesst, insbesondere in ländlichen Gegenden, wo für Mädchen noch seltener als in der Stadt ein Schulbesuch möglich und die Analphabetenrate der Frauen am höchsten ist.

Die gebildeten Männer und Frauen befürworten grösstenteils die Beendigung der weiblichen Beschneidung, während die Analphabeten überwiegend für deren Fortführung sind. Die Beschneidungsrate nimmt also mit höherer Schulbildung ab.

Überraschend ist, dass viele Frauen in den ländlichen Gegenden berufstätig waren – z.Bsp. als Bäuerin, Marktfrau und Friseurin – nachdem ihre Männer als Invaliden aus dem Krieg zurückgekommen oder gefallen waren. In diesem Zusammenhang berichten einige Frauen, sie hätten aus finanzieller Not sogar den Beruf der Beschneiderin ausgeübt.

Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen höherer Schulbildung, städtischer Wohngegend und einem Rückgang der Beschneidungszahlen. Zusätzlich wirkt sich ein höherer sozialer Status positiv auf die Abschaffung der weiblichen Genitalbeschneidung und die reproduktive Gesundheit aus.8

Die soziale Stellung der Frau

«Die weibliche Genitalbeschneidung ist ganz besonders mit kultureller Bedeutung aufgeladen, weil sie eng mit der weiblichen Sexualität und mit der reproduktiven Rolle von Frauen in ihren Gesellschaften zusammenhängt.»9

Etwa 50 Prozent der eritreischen Frauen werden verheiratet, bevor sie ihr 18. Lebensjahr erreichen, in ländlichen Gegenden sogar schon mit 15 Jahren oder früher.10

Die frühe Heirat der Frauen steht in engem Zusammenhang mit ihrer Rolle in der Gesellschaft. Verheiratet zu sein und Kinder zu haben, ist für sie mit einem hohen sozialen Status verbunden und hat zudem ökonomische Gründe. Beschnittene Frauen sind bei der Heirat durchschnittlich 16, unbeschnittene 19 Jahre alt. Ihr erstes Kind bekommen beschnittene Frauen mit 17, unbeschnittene mit 20 Jahren.

Letztere bekommen durchschnittlich weniger Kinder als beschnittene Frauen. Weitere Forschungsergebnisse bestätigen ebenfalls, dass Frauen aller Volksgruppen und Religionen sehr früh ihr erstes Kind bekommen.11

Für dieses relativ niedrige Erstgeburtsalter gibt es mehrere Gründe: In Eritrea haben nur wenige Frauen Zugang zu modernen Verhütungsmitteln, nur 5 Prozent verwenden überhaupt Kontrazeptiva. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Zahl bei 72 Prozent.12

Ein Schwangerschaftsabruch wird in Eritrea strafrechtlich verfolgt, nur bei bestimmten Indikationen wie beispielsweise gesundheitlicher Gefährdung der Mutter oder des Kindes ist er erlaubt. Besonders junge unverheiratete Frauen setzen sich daher bei ungewollten Schwangerschaften illegalen Aborten aus13 und erleiden schwere gesundheitliche Komplikationen, die sie nicht selten mit dem Leben bezahlen.

Leider ist ein uneheliches Kind in Eritrea nach wie vor in den meisten Fällen ein Stigma für die ganze Familie und die Chance der ledigen Mutter auf einen Ehemann sinkt gegen null.

Kinder haben in Eritrea eine zentrale Rolle bei der Altersvorsorge und Zukunftssicherung der Eltern. Kinderreichtum ist gleichbedeutend mit der wirtschaftlichen Absicherung der Eltern, wohingegen Kinderlosigkeit in der eritreischen Gesellschaft mit «sinnloser Eheführung» gleichgesetzt wird und ein regelmässiger Scheidungsgrund ist. Frauen in Eritrea dürfen offiziell erst nach der Eheschliessung sexuell mit einem Mann verkehren und Kinder bekommen.

Die von mir Interviewten betonen, dass sie sofort nach der Heirat unter sozialen Druck gerieten, schwanger zu werden, weil ihnen andernfalls gesellschaftliche Ächtung drohte.Vergleicht man das Reproduktionsalter von Frauen in Eritrea und Deutschland14 stellt man fest, dass zwölf Prozent der eritreischen Frauen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren Kinder bekommen, während dies nur auf ein Prozent der deutschen Frauen zutrifft. Betrachtet man das Alter der Erstgebärenden, ist in Deutschland im Vergleich zu den Vorjahren eine stetige Zunahme der Anzahl der Schwangeren über 35 Jahre auffällig.15 Hingegen ist es in Eritrea ungewöhnlich, dass eine Frau erst mit 30 Jahren oder später zum ersten Mal schwanger wird; dies trifft nur auf 0.5 Prozent zu.16 Erwähnt werden sollte ferner, dass die von mir interviewten Männer bei der Heirat deutlich älter waren als die interviewten Frauen.

Diese Divergenz ist in der eritreischen Gesellschaft nicht ungewöhnlich, sondern spiegelt die ungleichen Rechte und Perspektiven der Geschlechter wider: Während Männern die Möglichkeit einer persönlichen und beruflichen Entwicklung zusteht, auch mit der Option, später eine Familie zu ernähren, werden Frauen ihre ganze Kindheit und Jugend über darauf vorbereitet, einen Ehemann zu bekommen, um wirtschaftlich abgesichert zu sein.

Allerdings geht mit der wirtschaftlichen Entwicklung eine Veränderung des Rollenverständnisses der Frau in der Gesellschaft einher. Das bedeutet, dass mehr Rechte und mehr Bildung für Frauen und Mädchen zur Verbesserung ihrer gesundheitlichen Situation führen. Somit haben Frauen die Möglichkeit weniger Kinder zu bekommen und wirtschaftlich unabhängig zu sein.17 Wenn sich also die gesellschaftliche Rolle der Frau grundsätzlich änderte, sprich Frauen und ihren Töchtern Bildung und berufliche Perspektive als Werte vermittelt werden würde, die besser sind als früh zu heiraten und Kinder zu gebären, ist zu erwarten, dass die weibliche Genitalbeschneidung in diesem neuen Rollenverständnis keinen Platz mehr haben und eher hinderlich sein wird.

Rahmenbedingungen afrikanischer Gesellschaften: Eritrea, Äthiopien und Tansania

Beim Vergleich der drei in Tabelle 1 ausführlicher betrachteten Gesellschaften, die weibliche Beschneidung ausführen, lässt sich Folgendes feststellen: In allen drei Ländern – Eritrea, Äthiopien und Tansania – ist das Wirtschaftswachstum niedrig und die Bevölkerungszunahme hoch. Kennzeichnend für diese drei afrikanischen Gesellschaften ist die fehlende Schulbildung, insbesondere bei Frauen und Mädchen.

Fast die Hälfte der interviewten Frauen waren Analphabetinnen, Frauen mit höherer Schulbildung machten nur etwa ein Drittel aus. Die Frauen mit höherer Bildung waren jüngeren Alters und wohnten in städtischen Gegenden.

Die Lebenserwartung der Menschen in den drei untersuchten afrikanischen Ländern ist, verglichen mit europäischen Ländern, niedrig: Frauen in Eritrea werden im Durchschnitt 55, Männer 52 Jahre alt. Die niedrigere Lebenserwartung wirkt sich auf die demografische Alterung aus: circa 44 Prozent der Bevölkerung sind nicht älter als 15 Jahre.