Monsieur Erneste ist Kellner in einem Schweizer Grandhotel. Aufmerksam, unauffällig, tadellos – eben ein perfekter Kellner. In den 35 Jahren seiner Laufbahn hat er nur ein einziges Mal die Stelle gewechselt. Lediglich zwei einschneidende Ereignisse unterbrachen die Monotonie eines jahrzehntelangen Aufwartens, Auftischens, Abräumens: seine große Liebe zu dem 19jährigen Lernkellner Jakob, die nach einem Jahr des Glücks zerbrach, und die Ankunft eines Briefes aus Amerika dreißig Jahre später, der die lange Zeit dazwischen zusammenschrumpfen ließ, als seien »dreißig Jahre hingegangen wie ein Tag«. Darin bittet ihn Jakob, der ihn so schmählich verlassen hatte und einem ehemaligen Hotelgast, dem berühmten Schriftsteller Julius Klinger, als Sekretär und heimlicher Geliebter nach New York gefolgt war, um einen dreisten Gefallen.

»Dies ist ein Roman, den der gemeine Leser atemlos verschlingen wird, während das literarische Trüffelschwein sich an mancherlei Trouvaillen delektieren kann.« Die Welt

Alain Sulzer, geboren 1953, lebt als Schriftsteller in Basel und im Elsaß. Für seinen Roman Ein perfekter Kellner wurde er in Frankreich 2008 mit dem »Prix Médicis étranger« ausgezeichnet.

Alain Claude Sulzer

Ein perfekter Kellner

Roman

Suhrkamp

Der vorliegende Band erschien erstmals 2004 bei Edition Epoca AG Zürich.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 8. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 3741.

© Alain Claude Sulzer 2004, 2016

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Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

Umschlagfoto: Norbert Thormann

eISBN 978-3-518-73039-3

www.suhrkamp.de

Getrennt – wer will es scheiden?

Geschieden – trennt es sich nie.

Richard Wagner,

Götterdämmerung

1

Am 15. September 1966 erhielt Erneste zu seiner Überraschung einen Brief aus New York. Aber es gab niemanden, dem er seine Empfindungen hätte mitteilen können. Erneste war allein, es gab niemanden, dem er hätte anvertrauen können, wie groß das Erstaunen und wie unbändig die Freude war, von seinem Freund Jakob zu hören, dem Freund, den er seit 1936 nicht gesehen hatte. Ernestes innigster Wunsch, Jakob möge eines Tages von dort zurückkehren, wohin er vor dreißig Jahren gegangen war, hatte sich nie erfüllt. Jetzt stand er vor dem Briefkasten und hielt Jakobs Brief in der Hand. Er drehte und wendete ihn und betrachtete die Briefmarke so eingehend, als müsse er sich die Anzahl der Linien einprägen, die sie durchkreuzten, bis er ihn endlich in die Innentasche seines Jacketts steckte.

Erneste erhielt nur selten Post. Von Jakob einen Brief zu erhalten, von Jakob, den er vollständig aus den Augen verloren, aber nicht vergessen hatte, war mehr, als er sich in den letzten Jahren zu erhoffen gewagt hätte. Jakob war nicht tot, wie er manchmal befürchtet hatte, Jakob war am Leben, Jakob lebte noch in Amerika, Jakob hatte geschrieben.

In all den Jahren war kein Tag vergangen, an dem Erneste nicht an Jakob gedacht hatte. Er hatte ihn zwar aus den Augen verloren, aber niemals aus seinem Gedächtnis gestrichen. Die Vergangenheit war in der weitläufigen Erinnerung an Jakob verschlossen wie in einem dunklen Schrank. Die Vergangenheit war wertvoll, aber der Schrank wurde nicht geöffnet.

Erneste wischte mit seiner Serviette schnell über das Tischtuch, die Krümel stoben davon, kein einziger landete auf dem Kleid der jungen Frau, die in ein von gegenseitiger Verlegenheit geprägtes Gespräch mit einem etwas älteren Mann im dunkelblauen Anzug vertieft war, mit dem sie sich, davon war Erneste überzeugt, zum ersten Mal in der Öffentlichkeit zeigte. Hier, wo Erneste seit sechzehn Jahren fester Bestandteil des ansonsten ständig wechselnden Personals war, der Zuverlässigste von allen, der niemals abwesend, niemals krank gewesen war, der im Lauf der Jahre unzählige Kellner und Kellnerinnen, Köche und Küchenhilfen, Untergebene und Vorgesetzte an sich hatte vorüberziehen sehen, war er, wie man sagte, und er hatte nichts dagegen, daß man es sagte, ein Fels in der Brandung. Er war ein unzugänglicher, mittelgroßer Mann ungewissen Alters mit den tadellosen Umgangsformen eines geduldigen und vorausschauenden Bediensteten, ein Herr beinahe, ein wenig blaß, der das Trinkgeld mit unparteiischer Würde entgegennahm, um es verläßlich zu verwahren. Ein Mann, der nicht in Versuchung kam, über seine Verhältnisse zu leben.

Er war ein Schatten, wenn es sein mußte, zugleich ein fürsorglicher Beobachter, der im richtigen Augenblick herbeieilte, vom Scheitel bis zur Sohle aufmerksam, von schneller Auffassungsgabe, mit mehr als nur ausreichenden Kenntnissen in deutscher, italienischer, englischer und natürlich französischer Sprache, denn er war ja Franzose, die Augen überall, unauffällig und allgegenwärtig, ein Mann, über den man wenig wußte. Die Gäste kamen nicht einmal auf den Gedanken, Monsieur Erneste nach seinem Familiennamen zu fragen. Er lebte in einer kleinen Wohnung, zwei Zimmer, möbliert, 280 Franken Miete.

Erneste war gerne Kellner, er hatte sich nie einen anderen Beruf gewünscht. In diesem Augenblick entdeckte er einen winzigen hellen Punkt am feuchten Nacken des Mannes, nur wenige Millimeter über dem Kragen, angeekelt, aber ohne es sich anmerken zu lassen, wandte er sich ab, er verzog keine Miene. Irgendwo hatte sich eine Hand erhoben, eine Stimme rief: »Monsieur Erneste!« Erneste eilte dorthin, wo er verlangt wurde, machte eine kleine Verbeugung und begann abzuräumen. Die Runde, bestehend aus zwei Ehepaaren, wünschte noch Wein und Käse. Ein Architektenehepaar mit unbekannten jungen Freunden.

Er bediente seit Jahren ausschließlich im blauen Saal, in jenem Teil des Restaurants am Berg, der sich deutlich vom verqualmten vorderen Raum unterschied, in dem sich die Künstler und Studenten, die jungen Leute trafen, die Schauspieler und deren Bewunderer, die Bier- und Beaujolaistrinker. Keiner seiner Vorgesetzten, nicht einmal der Chef persönlich, hätte es gewagt, Erneste zu bitten, im braunen Saal zu bedienen, er war allein für den blauen Saal zuständig, für den Saal mit den hellblauen Vorhängen, wo täglich außer sonntags von sieben bis Punkt zehn Uhr abends, keine Sekunde früher, keine Sekunde später, Essen serviert wurde. Vor zehn Uhr abends hatte hier niemand Zutritt, der nicht zu speisen beabsichtigte. Da konnte selbst Monsieur Erneste unfreundlich werden.

Monsieur Erneste gehörte zu einer aussterbenden Gattung, das wußte er, aber ob jene es wußten, die er mit der erforderlichen courtoisie bediente, wußte er nicht, sich darüber Gedanken zu machen, wäre wahrlich verschwendete Zeit gewesen. Doch nicht nur er, auch sie gehörten einer aussterbenden Gattung an, ob sie das wußten, wußte er nicht, vielleicht spürten sie nur, daß sie allmählich älter wurden. Noch nicht gebrechlich zu sein, gab ihnen den nötigen Halt, noch waren sie nicht wie ihre in die Jahre kommenden Eltern, die irgendwo auf dem Land oder in den Vororten, wo man sich nur sonntags hinbemühte, dahinvegetierten, das ging Erneste gerade durch den Kopf, als er sich zum Gehen wandte, um den Château Léoville Poyferré 1953, vier Gläser und les fromages zu bestellen, Camembert und Reblochon, kein anderer Käse hätte besser zu diesem Wein gepaßt. Auch hierzulande wird sich vieles ändern, wenngleich vermutlich etwas moderater als anderswo. Er war nicht blind, im Gegenteil, er hatte gute Augen, er hatte ein hervorragendes Gedächtnis, nicht nur für die Bestellungen, die er entgegennahm.

Erneste ging in seinem Beruf völlig auf. Mit sechzehn war er von zu Hause weggegangen. Er konnte das Dorf, seine Eltern und seine Geschwister, die schon frühzeitig irgend etwas an ihm entdeckt hatten, was ihnen fremd war und was sie abstieß, nicht schnell genug verlassen. Er ging nach Straßburg und wurde Kellner. Er liebte seinen Beruf, weil dieser ihm die Befreiung brachte, nach der er sich so lange gesehnt hatte, die Freiheit, unbeobachtet zu tun und zu denken, was ihm beliebte. Daran hatte sich seit seiner ersten Stelle vor fünfunddreißig Jahren nichts geändert. Er war frei. Er war nicht reich, aber er war erlöst. Ob seine Geschwister noch lebten, wußte er nicht, vermutlich lebten sie noch, sie waren kaum älter, kaum jünger als er. Eines Tages hatten sie ihm mitgeteilt, daß der Vater gestorben war, wenige Monate später starb die Mutter, er antwortete nicht, er erschien nicht zur Beerdigung. Ihr Bild war längst verblaßt. Er hatte auf die Todesanzeige nicht geantwortet. Wie viele Jahre war das her?

Niemand wußte, wer er war, niemand interessierte sich dafür, niemand kümmerte sich um sein Privatleben. Wenn die Gäste ihn fragten, wie es ihm ging, gehörte das zur Begrüßung. Wie geht es Ihnen, gab er dann zurück, während er ihre Mäntel entgegennahm, eine Frage, die im Grandhotel völlig unzulässig gewesen wäre, ein Kellner unterhält sich nur auf ausdrückliche Nachfrage mit den Gästen, am besten aber gar nicht. Doch ein Restaurant ist kein Hotel, im übrigen hatten sich die Zeiten geändert, man achtete vielleicht etwas weniger auf die Regeln.

Die Gäste des Restaurants am Berg wußten nur, daß er Elsässer war, weil das nicht zu überhören war, aber man sagte nicht etwa, er sei Elsässer, man sagte, er sei Franzose, obwohl er einen unverkennbar alemannischen, keinen französischen Akzent hatte. Wie alt mochte er sein? Älter als vierzig, jünger als sechzig, doch gehörte er so selbstverständlich zum Inventar des Restaurants, daß man sich darüber ebensowenig Gedanken machte wie über das wahre Alter oder die Echtheit der verschiedenen Möbelstücke, die schon immer hier gestanden hatten und bei denen es sich natürlich um Kopien handelte. Louis Quinze und Biedermeier. Und er fühlte sich ja selbst dem Inventar zugehörig, kannte er nicht jeden Teller, jede Gabel, jedes Messer, jede Serviette, jede Unebenheit des Parketts, jede Franse jedes Teppichs, jedes Bild, jede Vase? Er war für den Blumenschmuck verantwortlich. Er habe einen Sinn für schöne Dinge, hieß es.

Ihm waren die Wochentage gleichgültig, sie vergingen, während er arbeitete, er arbeitete, während sie vergingen, jeder Tag hatte dasselbe Gewicht. Von den Jahreszeiten nahm er kaum Notiz, im Frühling tauschte er den schweren gegen den leichten, im Winter den leichten gegen den schweren Mantel, und damit hatte es sein Bewenden, erst kam der Frühling, dann kam der Winter, in der Zwischenzeit begnügte er sich mit wechselnden Jacketts, zwei dunklen, einem hellen. Strickjacken trug er nicht. Sonntags schlief er lange aus, das war sein einziger freier Tag, er schlief oftmals bis mittags, er genoß die Stille und dachte an seinen nächsten Arbeitstag, er hörte Radio, klassische Musik, Südwestfunk und Radio Beromünster, am liebsten Arien und Lieder, mit weniger Behagen Chöre, aber er schaltete nie aus, er hörte alles bis zum Ende. In der Oper war er nie gewesen, obwohl sein Lohn ihm erlaubt hätte, sich hin und wieder eine Theaterkarte zu leisten. Im Restaurant hatte er Sängerinnen und Sänger kommen und gehen sehen, ihre Namen hatte er sich gemerkt, doch waren sie Gäste, die nicht lange blieben, denn sie vertrugen keinen Zigarettenqualm, sie rauchten nicht, tranken bloß Mineralwasser und redeten wenig.

So begnügte er sich mit dem Postillon de Lonjumeau, ah qu’il était beau aus dem Radio, er war zufrieden, im Bett war es warm, er war allein, aber er fühlte sich nicht einsam. Nur manchmal. Dann durchzuckten ihn zerstörerische Gedanken. Sie verschwanden, wie sie gekommen waren. Er hing ihnen nicht nach, und sie verfolgten ihn nicht. Urlaub machte er selten, meistens fuhr er in die Berge. Einmal war er auch an der Loire gewesen, ein anderes Mal in Venedig, einmal in Biarritz. Die schöneren Zimmer des kleinen Hotels waren leider besetzt gewesen, so daß er keinen Blick aufs Meer gehabt hatte, das aber Tag und Nacht zu hören war.

Samstags ging er nach der Arbeit manchmal aus, dann lief er aber Gefahr, zuviel zu trinken. Er legte Wert darauf, sich nicht lächerlich zu machen, was in seinem Alter nicht immer einfach war. Wenn er getrunken hatte, fühlte er sich weniger lächerlich und jünger. Wenn er einmal angefangen hatte zu trinken, konnte er nicht aufhören. Dagegen konnte er nichts tun. Oft träumte er, Schulkinder verlangten von ihm einen Ausweis, den er nicht besaß oder nicht bei sich hatte, und wenn sie merkten, daß er nichts vorzuweisen hatte, wurden sie böse, und niemand hielt sie zurück. Er konnte sich nicht wehren. Er war froh, wenn er aufwachte.

Wenn er ausging, kamen nur zwei Lokale in Frage. Dort begegnete er nur selten Gästen aus dem Restaurant am Berg. Wenn es doch vorkam, grüßte man sich, vermied aber eine Unterhaltung. Freizeit und Beruf sollten nicht vermischt werden. Begegnete er ihnen später im Restaurant, tat er, als erkenne er sie nicht wieder, aber ihre Blicke sagten mehr. Es kam vor, daß er in einer der beiden Bars, die erst um drei Uhr morgens schlossen, zwei, drei Zigaretten rauchte und sich mit Fremden oder flüchtigen Bekannten unterhielt, manchmal sprach er niemanden an, manchmal sprach ihn niemand an, danach machte er sich allein auf den Heimweg. Wenn er ins Freie trat, umfing ihn der kalte Morgen wie eine intime Umarmung, eine feuchte, wohltuende Dämmerung, die ihn an Paris erinnerte, auch wenn es hier ganz anders roch. Langsam ging er am See und dann am Fluß entlang, und ganz allmählich drang die Nässe durch seine Kleider bis auf die Haut. Auch das mochte er, er war frei, er hatte keinerlei Verpflichtungen außerhalb seines Berufs. Er blieb nie stehen, er ging immer weiter. Er versuchte, an nichts zu denken. Dann träumte er.

Er hatte Zeit, er wartete. Er ließ sich zwei Tage Zeit, bevor er sich endlich entschloß, den Brief in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag zu öffnen. Während er die Gäste bediente, ließ er seinen Phantasien freien Lauf. Er dachte an den Brief. Indem er ihn nicht öffnete, hielt er die Zeit an. Er las ihn weder am Freitag noch am Samstag. Die Zeit, die er anhielt und die sich im Briefumschlag verbarg, brannte durch das gestärkte Hemd hindurch auf seiner Brust, zwei Tage lang trug er ihn bei sich, nachts stellte er ihn auf den Nachttisch und schlief über seiner Betrachtung ein. Es war ein erregendes Vergnügen. Er hielt die Zeit an, indem er den Brief nicht öffnete, noch nicht, er wartete, er malte sich aus, was er enthielt.

Die Briefe, die er in den letzten zehn Jahren erhalten hatte, konnte er an zehn Fingern abzählen, Gäste schrieben nicht, Kollegen schrieben an die gesamte Belegschaft, Freunde hatte er keine. Wenn er Post erhielt, dann waren es Rechnungen oder Reklamesendungen, an Weihnachten der bunte Katalog von Franz Carl Weber, die Aquarelle behinderter Künstler, manche unbeholfen, andere mit erstaunlicher Fertigkeit mit den Füßen gezeichnet oder mit dem Mund gemalt, hin und wieder eine Karte aus Paris, von seiner Cousine.

Er schob die Lektüre so lange hinaus, bis er den Inhalt des Briefs, den er nicht kennen konnte, zu kennen glaubte. Um den ungeöffneten Brief aus Amerika, um diese seltene Aufregung in seinem an Aufregungen so armen Leben, kreisten zwei Tage lang, von Freitagmorgen bis Sonntagfrüh, fast alle seine Gedanken, sämtliche Empfindungen waren auf diesen Umschlag und auf dessen Inhalt gerichtet, was er auch tat, er tat es mechanisch, er dachte dabei an das Papier in dem Kuvert, an die längst niedergeschriebenen, noch ungelesenen Worte, geschrieben von derselben Hand, die seine Adresse in Blockschrift geschrieben hatte, in einer Schrift, die ihm unbekannt war, denn jener Jakob, den er kannte, hatte ihm nie geschrieben, im Grandhotel war das nicht nötig gewesen, und später hatte er es nicht für nötig gehalten, Erneste zu schreiben. Sie hatten sich ein Zimmer geteilt, der Giessbach hatte alle Geräusche verschluckt, er hörte ihn noch, nach all der Zeit.

»Monsieur Erneste!« wurde gerufen, Erneste eilte an den Tisch und brachte die Rechnung. Er nahm das Geld entgegen und das Trinkgeld. Er schob den Stuhl der Dame zurück und trat zur Seite, er half ihr in den Mantel, dann ihm.

Wenn der Anflug eines Lächelns unvermittelt seine Miene erhellte, so fiel es sicher nicht auf. Die Gäste waren mit sich selbst beschäftigt, und so sollte es auch sein, man durfte den Gästen unter keinen Umständen Anlaß geben, sich mit jenen zu beschäftigen, deren Aufgabe es war, für ihr Wohl zu sorgen. Daß seine Gedanken abschweiften, weil sie ununterbrochen um Jakobs Brief kreisten, blieb sein Geheimnis, er konnte und wollte es mit niemandem teilen. Der Brief war eine Hand, die nach ihm griff, nicht schwer, nicht leicht. Zwei Tage Warten, zwei Tage Aufschub waren keine verlorene Zeit, nicht Ausdruck seines Zögerns, nein, Ausdruck freudiger Erwartung. Er fürchtete sich nicht, noch nicht, eine unbestimmte Bangigkeit überfiel ihn erst kurz vor dem Öffnen des Briefs. Noch nährte die Ungewißheit über den Inhalt seine Vorstellungskraft wie den Hungrigen ein in Aussicht gestelltes Stück Fleisch.

Zwei Tage waren genug, länger hielt er es nicht aus, er griff nach dem Happen, er mußte ihn verschlingen.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag verlor er keine Zeit mit Barbesuchen. Er sah schlecht in der Dunkelheit, aber er trug keine Brille. Er war ein wenig außer Atem. Jakob hatte ihm etwas zu sagen, jetzt wollte er wissen, was es war. Während er ging, fragte er sich: Was schreibt er, wem schreibt er, schreibt er mir oder bleibt er allgemein, schreibt er aus seiner neuen Welt in unsere alte Welt, um ihr etwas zu geben, was sie nicht hat, würdest du mich auf der Straße wiedererkennen, jetzt, wo unsere Jugend längst vorbei und eigentlich ganz uninteressant geworden ist, und würde ich dich wiedererkennen, wahrscheinlich nicht, wir würden aneinander vorbeigehen, ohne einander zu erkennen, zwei Herren, die sich nie zuvor gesehen haben. Und er war voller Erinnerungen an einen jungen Mann. Das Glück war leicht zu erwerben und schnell verloren.

Um Viertel vor eins war er zu Hause. Er schloß die Wohnungstür auf und öffnete eine Flasche Whisky.

Seine Hände zitterten. Er schenkte sich ein zweites Glas ein, füllte es bis zum Rand und trank es in zwei Zügen leer. Die Flasche stellte er hinter sich auf die Ablage des Küchenschranks. Er saß oft in der kleinen Küche, wo es nichts gab, was ihn ablenken konnte. Einen Fernseher besaß er nicht, wann, außer sonntags, hätte er Zeit gehabt, Gebrauch von dieser kostspieligen Anschaffung zu machen (er hatte fünfhundert Franken auf dem Sparbuch, das reichte nicht für einen Fernseher).

Ungeduld und Neugier waren das eine, doch der Mut, sie zu befriedigen, erforderte Übermut. Den hatte er sich inzwischen angetrunken, als ginge es darum, einem Fremden gegenüberzutreten, einem Direktor oder einem unerwünschten Besucher, der auch dann weiter an seiner Tür klingeln würde, wenn er ihm nicht öffnete. Er mußte ihm öffnen, er konnte nicht anders. Ja, jetzt fürchtete er sich.

Als es Zeit war, den Brief endlich zu lesen, fragte er sich, ob es nicht besser wäre, ihn zu vernichten, ihn ungelesen wegzuwerfen, so wie er war, als inhaltslose Hülle? Ein Brief von Jakob verhieß nichts Gutes, nach all den Jahren, in denen er ihn nicht vergessen hatte. Zuversicht war also fehl am Platz, fehl am Platz und unbegründet war die Freude gewesen, die ihn zwei Tage lang geradezu emporgetragen hatte. Ein Brief von Jakob verhieß nichts Gutes, Punkt. Noch einen Schluck, ein halbes Glas, ein ganzes Glas. Nach kurzem Zögern füllte er das Glas bis zum Rand und stellte die Flasche neben sich. In diesem knisternden Kuvert lauerte Gefahr, gleich würde sie ihn anspringen, und er war nicht vorbereitet. Aber was nützte es, länger zu warten? Sobald die Neugierde über den gesunden Menschenverstand gesiegt haben würde, der ihm sagte: Öffne ihn nicht, wirf ihn weg, schau ihn dir nicht an, würden die alten Wunden wieder aufreißen, das wußte er, aber er war nicht imstande, der Vorsicht zu gehorchen, der Brief würde die Narben wieder aufreißen, ein Schreiben ist dazu imstande, vor den Worten, die ihn erwarteten, fürchtete er sich weit mehr als vor der nutzlos verstreichenden Zeit.

Er saß in der Küche, hemdsärmelig, lebendig und dennoch innerlich wie ausgelöscht, in diesem Aufzug war er ein Mensch. Erst im weißen Jackett erkennt man den Kellner, ohne weißes Jackett ist der Kellner ein Individuum, als Kellner ist er ein Niemand, so soll es auch sein. Das Jackett muß ordentlich gebügelt und sauber sein. Er sah auf, sein Blick verharrte auf dem einzigen Fenster im Mietshaus gegenüber, das noch erleuchtet war, es war bereits halb zwei. Im Licht bewegte sich ein Schatten, er schnellte zur Decke und fiel in sich zusammen, er schoß hoch und verschwand im angrenzenden Zimmer. Dort brannte kein Licht, niemals hatte Erneste dort Licht brennen sehen, dort war vermutlich das Schlafzimmer. Das war, wie immer, die schlaflose Frau, deren hin und her eilenden, auf und ab springenden Schatten er kannte, ihren Namen kannte er nicht, ihr Gesicht hatte er nie gesehen, was sie trieb, wußte er nicht, ob sie las oder strickte, auf der Straße sah er sie nie, er hätte sie gar nicht erkannt, einen Fernseher besaß sie nicht, Nacht für Nacht brannte das Licht, immer wenn er von der Arbeit nach Hause kam, war das Fenster des einen Zimmers erleuchtet, auch jetzt, das Licht erlosch erst Tage nachdem sie gestorben war, aber das ereignete sich Wochen später.

Ein Foto von Jakob? Die wenigen Fotos, die er von Jakob besaß, Fotos mit gezackten Rändern, hatte er so gut versorgt, daß sie beinahe vergessen waren, er hatte sie in einer Schachtel versenkt und die Schachtel im Keller deponiert, sie waren außer Reichweite, so fern wie Jakobs Atem und ferner, noch ferner als die Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit in Giessbach. Fotos von früher sah er sich nie an, Fotos von früher gaben nur Anlaß zu trüben Gedanken an die Gegenwart.

Insgeheim aber erhoffte er sich doch mehr als Worte, ein Porträt, ein Foto von Jakob. Hatte die Zeit in Jakobs Gesicht gewütet, war sie ungerecht, unerbittlich und unbestechlich gewesen, wie sie eben ist, wie sie in seinem eigenen Gesicht gewütet hatte, so daß er lieber wegschaute als hinsah, wenn ihm sein Spiegelbild entgegenschlug? Was auch immer sich in dem Umschlag befand, der vor ihm auf dem Tisch lag, eine Fotografie mit Sicherheit nicht, eine Fotografie hätten seine Finger durch das Papier hindurch ertastet.

Und dann machte er sich endlich daran, ihn zu öffnen. Er benutzte dazu weder Messer noch Schere, er riß den Brief mit seinem rechten kleinen Finger auf. Das Papier war dünn, der Umschlag ließ sich mit einer einzigen Bewegung öffnen, es knisterte ganz leise und zerriß. Woher Jakob seine Adresse kannte, war ihm ein Rätsel, darüber hatte er sich bereits Gedanken gemacht. Er zog den Brief, ein Blatt, dreimal gefaltet, aus dem länglichen Kuvert. An manchen Stellen hatten sich die scharfkantigen Schrifttypen durch das Papier gebohrt und auf der unbeschriebenen Rückseite winzige Risse und Erhebungen hinterlassen. Im Unterschied zur Adresse auf dem Kuvert hatte Jakob den Brief mit der Schreibmaschine getippt. Nur die Unterschrift war von Hand gezeichnet, aber anders als auf dem Absender stand hier nicht Jakob, sondern Jack, schwunglos, klein und schräg, abfallend, mit einem kleinen, albernen Kringel am Ende des Namens. All das erfaßte Erneste mit einem einzigen Blick, nachdem er den Brief auseinandergefaltet und bevor er eine einzige Zeile gelesen hatte. Ihm war, als wäre bislang alles nur ein Traum gewesen, und nun wäre er gerade dabei aufzuwachen.

Was er dann las, war genau das Gegenteil dessen, was er sich in den letzten zwei Tagen insgeheim erhofft hatte: Daß Jakob sich verändert hätte. Das war nicht der Fall. Jakob war noch immer derselbe, ob er sich Jakob oder Jack nannte, er interessierte sich nur für seine Belange. Während Erneste die niederschmetternd unpersönlichen, unmißverständlichen Zeilen immer wieder las, wurde seine Kehle immer trockener, aber er trank nichts, er konnte nicht, er dachte nicht einmal daran, nach der Flasche zu greifen, die neben ihm stand, er las und las die an ihn gerichteten Worte wieder und wieder und verstand sie nicht und verstand sie bald allzu gut, und während er sich noch einzureden versuchte, daß dieser Jack unmöglich jener Jakob sein könne, dem er einst so nahegestanden hatte, mit dem er in Giessbach dasselbe Zimmer unter dem Dach geteilt hatte, war ihm natürlich längst klar, daß niemand anderer als ebendieser ferne Jakob, in Jack verwandelt, seine Worte, seine Bitten zu dem tödlichen Geschoß verdichtet hatte, das ihn, Erneste, jetzt traf, als hätte wirklich jemand geschossen. Er sah den See vor sich, eisblau und schieferkalt. Das Wasser umfing ihn und stieg, nein, er sank. Er war verloren. Er war und blieb allein, er war und blieb ein lächerlicher Mensch. Der an ihn gerichtete Appell rief ihn um Hilfe, aber nicht nach einem Freund. Aus Gründen, die Erneste nicht kannte, war Jakob auf seine Unterstützung angewiesen.

Er schrieb:

Lieber Erneste

Ich habe lange nichts von mir hören lassen. Du auch nicht. Hast Du meine Adresse nicht? Ich schreibe Dir aus New York, wo ich seit vielen Jahren lebe. Hast du hin und wieder an mich gedacht? Wir sind so weit voneinander entfernt. Hier zu leben ist schwer, nicht zuletzt deshalb, weil alles anders gekommen ist, als ich es mir gedacht hatte. Ich brauche dringend Deine Hilfe, eine andere wüßte ich jetzt nicht mehr. Ich bitte Dich, in meinem Auftrag zu Klinger zu gehen und ihn um einen Gefallen zu bitten, sonst bin ich verloren. Meine finanzielle Lage ist sehr prekär, und nicht nur die. Du kannst mir helfen. Du musst mir helfen! Gehe bitte zu Klinger und bitte ihn, mir Geld zu schicken. Sage ihm nur, es geht mir schlecht, in jeder Beziehung geht es mir schlecht. Ich bin ihm damals gefolgt und frage mich heute, ob es ein Fehler war. Einerseits habe ich hier den Krieg überlebt, andererseits ist es mir nicht gelungen, nach Europa zurückzukehren. Es heißt, K. sei für den Nobelpreis nominiert, also hat er genug Geld. Ich wollte alles hinter mir lassen, aber es ist mir nur teilweise gelungen. Ich denke oft an Köln, an meine Mutter, die umgekommen ist. Du weißt ja, wo du K. findest, er wohnt in derselben Stadt, in der Du lebst, Du hast sicher davon gehört. Lass bitte von Dir hören, wenn Du mit ihm gesprochen hast. Ich werde wohl nie mehr zurückkehren. Ich könnte nur dann nach Deutschland zurück, wenn ich genug Geld hätte, aber wer ausser ihm hat Geld? Hast Du Geld? Bist Du wohlhabend? Halte mich bitte auf dem Laufenden. Es ist nur recht und billig, daß er mir zahlt. Könnte ich vielleicht in die Schweiz?

Mit herzlichen Grüssen

Dein Jack!

2

Erneste hatte weder seine Ankunft in Giessbach am 2. April 1934 noch seinen ersten Arbeitstag vergessen. Er hatte auch Jakobs Ankunft ein Jahr später im Mai 1935 nicht vergessen, den Beginn jenes Aufenthalts in Giessbach, dem Jakob vermutlich sein Leben verdankte, denn der Arbeitsaufenthalt in der Schweiz bewahrte den jungen Deutschen vor der Einberufung in die Wehrmacht, die unweigerlich erfolgt wäre, hätte er sich vier Jahre später in seiner Heimat aufgehalten. 1935 brauchte man nicht viel von Politik zu verstehen, um zu ahnen, was von Deutschland zu erwarten war, wenn es weiterhin von Hitler regiert würde. Es genügte, hin und wieder eine der Zeitungen aufzuschlagen, die im Hotel auslagen, oder die eine oder andere Bemerkung eines deutschen oder österreichischen Gastes aufzuschnappen. Gleichgültig, wie die einzelnen Gäste sich zur neuen Regierung in Deutschland verhielten, ob sie sie guthießen oder verurteilten, ob sie sie zu verstehen, zu verharmlosen, zu ignorieren oder zu bekämpfen versuchten, alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß sich der eigentliche Umsturz, von dem so oft die Rede war, mit Hitlers Machtantritt noch gar nicht ereignet hatte, in Wahrheit stand er erst bevor, das Feuer war entfacht, aber noch nicht ausgebrochen. Immer wieder fiel das Wort Krieg. Es hieß, die deutsche Politik führe unweigerlich zum Chaos und wieder würden Millionen sterben.

Einige der Gäste sah Erneste noch dreißig Jahre später vor sich, einige Namen und Gesichter hatten sich ihm eingeprägt. Er sah sie vor sich, wie sie morgens – schlaftrunken und oftmals ungewaschen, vom Licht geblendet – im Frühstücksraum erschienen, und wie sie abends – hellwach, begierig nach Aufmerksamkeit und Bestätigung, erlebnishungrig, wo es kaum etwas zu erleben gab – den großen Saal mit Blick auf den Giessbach betraten oder sich, wenn die Temperatur es erlaubte, auf der Seeblickterrasse auf den leise quietschenden Korbstühlen niederließen, ihre Zigarren oder Zigaretten anzündeten oder anzünden ließen, sofern ein Kellner in der Nähe war, ihre Cocktails bestellten, Gläser mit Eiswürfeln an ihre Lippen führten und dann die erste Flasche Wein entkorken ließen, erst weißen, dann roten. Die Kellner hatten alle Händen voll zu tun, und wenn mehrere Gäste am Tisch saßen, wurden im Lauf des Abends weitere Flaschen geöffnet.

Es wurde diniert und geredet, getrunken und gelacht, wer hinzutrat, wurde willkommen geheißen, wer auf sich aufmerksam machen konnte, wurde registriert, man blickte sich nach Bekannten um, winkte ihnen zu, doch galt es als unfein, während des Essens, ja selbst danach, den Tisch zu wechseln, also blieb man sitzen, man konnte sich später am Rand der Terrasse oder in der Hotelbar unterhalten.

Erhöhtes Interesse wurde jenen zuteil, die allein aßen, besonders am ersten Abend ihres Aufenthalts. Sie anzustarren war taktlos, sie zu übersehen unhöflich, wer den Vorzug eines guten Beobachtungspostens genoß, konnte seinem Tischnachbarn eine Menge über den Neuankömmling erzählen. Die meisten waren schon etwas älter, die einen tranken auf geradezu provozierende Weise ausschließlich Wasser, die anderen tranken sichtlich zuviel Portwein oder Sherry, manche blätterten vor oder nach dem Essen oder zwischen den einzelnen Gängen in Zeitungen oder Büchern, und die meisten waren bemüht, sich den Anschein leichtfertiger Zerstreuung zu geben. Nur wenige aber schafften es, die verstohlenen Blicke der anderen Gäste hochmütig zu übersehen. Viele dieser Einzelgänger wurden im Verlauf eines Essens immer unsicherer und durchsichtiger. Arroganz ist ein durchlässiger Panzer, wenn man allein essen muß.

Je wohlhabender die Gäste waren, desto mehr Aufmerksamkeit durften sie beanspruchen, desto mehr Aufmerksamkeit widmete man zugleich aber auch jenen Seiten ihrer Existenz, die der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit unbedingt entzogen werden sollten. Manchmal war das Privatleben der Alleinreisenden ein wenig anrüchig, man unterstellte ihnen, irgend etwas zu verbergen, und ließ sie deshalb nicht aus den Augen. So lernte Erneste die feine Welt und ihre Eigenheiten kennen, jene Gesellschaftsklasse, die hier, unbehelligt von Politik und Geschäften, erholsame Tage in gehobener Atmosphäre verbrachte, doch handelte es sich selten um die allerhöchste Gesellschaft, das entging ihm nicht, denn die große Zeit des Grandhotels war vorbei. Der Adel, der sich in Giessbach blicken ließ, war von geringem Rang.

Man neigte dazu, sich voneinander abzugrenzen, die einen glaubten sich den anderen überlegen und ließen sie es spüren, je unaufdringlicher, desto wirkungsvoller. Innerhalb dieses Rahmens, den bunte Exzentriker und unscheinbare Langweiler ausfüllten, wurden die allgegenwärtigen und unerläßlichen Hotelangestellten nur aus den Augenwinkeln, am Rande des Blickfelds wahrgenommen. Da die Mehrzahl der meist jungen Angestellten aus Südeuropa stammten und dunkelhäutig waren, kam es fast täglich zu Verwechslungen. Es mußte einer schon ein außergewöhnlich ansprechendes oder abstoßendes Äußeres haben, wenn er auffallen wollte. Für die meisten Gäste sahen alle Kellner gleich aus.