Louis Weinert-Wilton

Die Königin der Nacht

e-artnow, 2016
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-7274-0

INHALTSVERZEICHNIS

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Die Hauptpersonen des Romans sind:

Chefinspektor Terry, von Scottland Yard

Clive Boyd, sein ehemaliger Oberinspektor

Sir Nicholas Morton, Sir Benjamin Cartwright, Direktoren des Cartwright-Zeitungskonzerns

Gordon Lawrence, Neffe Sir Benjamin

Thomas Hymans, Anwalt

William Osborn, Angestellter im Cartwright-Konzern

Helen Osborn, seine Frau

Charlie Selwood, sein Vetter

Evelyn Dyke, Chefsekretärin im Cartwright-Konzern

Clarisse Avery, Reporterin

Noel Wellby, Reporter

Jacob Fish, Reporter

Pat Coppertree, Portier

Der Roman spielt in London.

1

Inhaltsverzeichnis

Jack Beery war von Beruf ein harmloser, bescheidener Taschendieb, aber wenn er genügend getrunken hatte, was ziemlich häufig vorkam, ließ er sich auch auf großzügigere und gewagtere Unternehmungen ein.

Unerläßliche Voraussetzung hierfür war allerdings, daß die Sterne gut standen. Jack hatte zwar von der wunderbaren Astrologie nie im Leben etwas gehört, und seine Bildung war so gering, daß er nicht einmal wußte, was ein Horoskop war. Aber seit dem Tag, da er eine Brieftasche geklaut hatte, die nichts anderes enthielt als einige bedruckte, sehr abgegriffene Blätter, war ihm so etwas wie eine Offenbarung von dieser geheimnisvollen Wissenschaft und ihrer außerordentlichen Bedeutung für das praktische Leben geworden.

An einem langweiligen, verregneten Oktoberabend hatte er in diesen Papieren etwas verständnislos gelesen, daß Merkur Venus mit Jupiter in gutem Aspekt begegne und daß kühne Ausführung der Pläne zu Erfolg und Vorteil führe. Als er aber einige Stunden später tatsächlich nebst verschiedenen Kleinigkeiten zwei Taschenuhren und einige Börsen mit zusammen fünfzehn Pfund sechs Schilling gezogen hatte, war sich Jack Beery vollkommen klar darüber, welch kostbaren Schatz er in seinen unscheinbaren Blättern besaß, und sein Glaube an das, was sie verkündeten, war fortan unerschütterlich.

Deshalb hielt er auch die Augen offen, als er von Hampstead nach Paddington hereinkam. Er hatte bis gegen Mitternacht mit einigen Zunftgenossen in der gemütlichen Bar ›Zur schwarzen Bauchtänzerin‹ ausgezeichneten Portwein und ebenso ausgezeichneten Whisky getrunken und harrte gespannt der Dinge, die da kommen sollten. Denn es stand geschrieben: ›Ein besonders guter Tag für Sie ist der 17. März, wenn Sie es verstehen, außerordentliche Gelegenheiten, die sich Ihnen bieten, zu erkennen und entschlossen auszunützen.‹

Bis jetzt hatte Jack trotz eifrigster Umschau allerdings nichts von einer derartigen Gelegenheit wahrgenommen. Die Leute, mit denen er im Bus gefahren war, hatten nicht danach ausgesehen, als ob bei ihnen etwas zu holen wäre, und die Straßen, die er nun fröstelnd durchwanderte, waren fast menschenleer. Hie und da fuhr ein Windstoß durch den gelben Nebel zwischen den Häusern und peitschte von dem verhangenen Himmel beißendes Schneewasser herab. Es war eine wenig einladende Nacht, und wenn die Verheißung der Sterne nicht gewesen wäre, hätte Jack schon längst wieder irgendwo Unterschlupf gesucht. Aber er war augenblicklich zu abgebrannt, um eine todsichere Chance aufzugeben. Deshalb setzte er seinen Weg unverdrossen fort, aber er kam bis in die Nähe von Porchester Square, bevor seine Aufmerksamkeit durch eine Kleinigkeit außerordentlich in Anspruch genommen wurde.

Er war eben an der Vorderfront eines vornehmen einstöckigen Hauses vorbeigegangen und um die Ecke in eine enge, dunkle Seitengasse eingebogen, als er plötzlich haltmachte. Sein scharfes Auge hatte entdeckt, daß einer der Fensterflügel in dem kaum fünf Fuß hohen Parterre nicht ordentlich geschlossen war und bei jedem Windstoß bedenklich in den lockeren Angeln klirrte.

Jack schaute eine Weile das klappernde Fenster an, dann ging er einige Schritte weiter und überlegte. Er war zwar kein Fachmann in solchen Dingen, aber auch kein unerfahrener Neuling, und die gediegene Vornehmheit des Hauses ermunterte entschieden zu einem kleinen Wagnis. Schließlich durfte er sich auf seinen Instinkt und seine Gewandtheit und vor allem darauf verlassen, daß ihm für diesen Tag von geheimnisvollen höheren Mächten ein besonderer Erfolg vorherbestimmt war.

Jack Beery kam rasch zu einem Entschluß, aber er war nicht der Mann, ein solches Unternehmen zu übereilen. Er stopfte sich trotz Sturm und Schneeschauer sorgfältig seine Pfeife, setzte sie in Brand und begann dann mit prüfenden Blicken neuerlich einen langsamen Rundgang um das Haus. Aus den Fenstern drang nicht ein Laut und nicht der Schimmer eines Lichtes, und auch ringsumher war alles wie ausgestorben. Nur als er wieder in die Gasse mit dem verführerischen Fenster einbog, kam ihm eine Gestalt entgegen, die wie er den Kragen des Mantels hochgeschlagen und den Hut tief in die Stirn gedrückt hatte. Jack machte mit ausgesuchter Höflichkeit auf dem Gehsteig Platz.

Erst als der andere in der Finsternis untergetaucht und seine Schritte völlig verhallt waren, hielt der Dieb den günstigen Augenblick für gekommen. Er drückte sich dicht neben dem klappernden Fenster an das Mauerwerk und horchte intensiv. Dann reckte er seine hagere Gestalt und war bereits im Begriff, die Arme auszustrecken und sich hochzuziehen, als er ein Geräusch vernahm, das ihn sofort wieder zusammenknicken und förmlich eins mit der dunklen Hausfront werden ließ.

Über ihm hatte für den Bruchteil einer Sekunde ein Riegel geknackt, und Jack wußte, daß das nicht der Wind gewesen war. Er fühlte, daß in greifbarer Nähe ein anderes menschliches Wesen stand, über dessen Absichten er sich nicht klar war. Hatte man im Haus den Lärm des Fensters vernommen, und sollte im letzten Augenblick die günstige Gelegenheit vereitelt werden – oder ...?

Jack Beery wurde durch die Ereignisse rasch des Grübelns enthoben. Er hörte ein leises Schleifen, und dann erspähte er erst ein Bein, hierauf ein zweites, das sich über die Fensterbrüstung schwang. Es waren außergewöhnlich schlanke und wohlgeformte Beine, die sekundenlang in der Luft baumelten, aber Jack hatte keine Zeit, sich mit dieser überraschenden Tatsache zu beschäftigen. Für ihn ging es um das Geschäft, und das schien ihm in dieser Minute sicherer, müheloser und lohnender denn je.

Seine Arme langten blitzschnell in die Luft, und seine gelenkigen Hände umklammerten beide Beine mit eisernem Griff.

»Ich helfe dir herunter«, tuschelte er. »Aber selbstverständlich nur gegen eine anständige Belohnung. Sonst schlage ich Lärm.«

Jack hob mit einem liebenswürdigen Grinsen den Blick zum Fenster, aber mit einemmal erstarrte er, und wenn sich seine Finger nicht eiligst aus dem krampfhaften Griff lösten, so lag dies nur daran, weil Furcht und Entsetzen ihn völlig lähmten.

Er hatte eine Erscheinung gesehen, die ihm das Blut in den Adern erstarren ließ, weil sie unbedingt Schlimmes bedeutete. Man sprach in seinen Kreisen nur im Flüsterton davon, und niemand wußte etwas Bestimmtes darüber. Aber wenn es Unheil gab, ging scheu ein Name von Mund zu Mund, ohne daß man wußte, wie, wann und wo er in die Welt gekommen war. Niemand hatte die ›Königin der Nacht‹ bisher gesehen, aber sie war da und bald hier, bald dort an ihrem unheimlichen Werk.

Er, Jack Beery, war vielleicht der erste, der sie leibhaftig zu Gesicht bekam, aber auch er sollte sie nie gesehen haben ...

Eine Hand schnellte jäh in das Dunkel, und der entsetzte Mann fühlte einen sanften Schlag gegen sein Kinn, als ob ihn der Flügel irgendeines kleinen Nachtvogels gestreift hätte.

Einige Atemzüge später warf er die Arme in die Luft und stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden.

Der schwarze Schatten mit der silbernen Mondsichel und den drei flimmernden Sternen glitt aus dem Fensterrahmen lautlos wieder in das Haus zurück, und der nächste Windstoß kam um sein Spiel mit den klappernden Scheiben.

Eine kleine Weile später lief irgendwo auf der anderen Seite beim Porchester Square ein Motor an, eben als der Mann mit dem hochgeschlagenen Kragen und dem tief herabgezogenen Hut wieder in der Gasse erschien. Er hatte die Hände in die Taschen seines triefenden Wettermantels vergraben und kam diesmal mit den gemessenen, gleichmäßigen Schritten einer militärischen Runde auf dem gegenüberliegenden Gehsteig daher. Unter der schützenden Krempe suchten seine Augen ununterbrochen die Front des kleinen, vornehmen Hauses ab, bis sie plötzlich auf das regungslose Bündel an der Mauer fielen. Er stand mit zwei raschen Sätzen bei ihm, und seine Taschenlampe leuchtete grell über das fahle Gesicht und die steife Gestalt Jack Beerys. Als er sich wieder aufrichtete, kam ein halblauter ärgerlicher Fluch über seine Lippen, und wieder flogen seine Blicke über die dunklen Fensterreihen des Hauses. Dann leuchtete er rasch den Boden um den Toten herum ab, aber sein Suchen blieb erfolglos.

Es dauerte ziemlich lange, bis auf sein schrilles Pfeifen ein diensteifriger Polizeibeamter eilig aus dem Nebel auftauchte.

»Hier gibt es etwas für Sie zu tun«, sagte der Mann in dem Wettermantel kurz.

Bevor er sich mit der Gestalt am Boden beschäftigte, die ihm sicher war, sah sich der Polizeibeamte erst einmal mit dem vorgeschriebenen Mißtrauen den Sprecher an, aber was er bemerkte, ließ jeden Verdacht schwinden. Er hatte offenbar einen vornehmen Herrn vor sich, wenn auch von dessen Gesicht so gut wie gar nichts zu erkennen war. Aber schon die Art, wie er sprach, verriet das, und der schwere Regenmantel war ein gediegenes Stück, das mindestens seine zwanzig Pfund gekostet hatte.

Der Wachtmeister war beruhigt, und er wurde noch beruhigter, als er einen Blick auf den Toten geworfen hatte. Jack Beery war ein der Polizei bekannter Dieb, und wenn solch einen Kunden endlich einmal das Geschick ereilte, so verursachte das keine allzu große Aufregung. Aber der Wachtmeister fand überhaupt nichts, was auf ein gewaltsames Ende gedeutet hätte, und das vereinfachte die Sache noch mehr. Nur um seinen Vorschriften zu entsprechen, fragte er den Herrn überaus höflich nach Namen und Adresse und bekam auch bereitwilligst Auskunft.

Als man später den Zeugen zur Totenschau und noch aus anderen wichtigen Gründen brauchte, stellte sich allerdings heraus, daß seine Angaben falsch gewesen waren.

Etwa eine Viertelstunde später, knapp nach halb zwei Uhr morgens, wurde der Pförtner des vornehmen, kleinen Hauses durch das Schrillen des Telefons aus tiefem Schlummer aufgeschreckt. Als er sich schlaftrunken und mürrisch meldete, schlug eine ungeduldige, herrische Stimme an sein Ohr.

»Sehen Sie sofort nach, ob Sir Nicholas etwas zugestoßen ist.«

Der Befehl klang so seltsam, daß ihn der Hausmeister nicht sofort zu fassen vermochte. Er wußte, daß sein Herr am vergangenen Abend das Haus überhaupt nicht verlassen und sich bereits gegen elf Uhr zurückgezogen hatte, und er begriff nicht, wie seither in dem wohlbehüteten Haus irgend etwas geschehen sein sollte. Einen Augenblick dachte er an einen üblen Scherz und wollte gerade etwas fragen, aber die Verbindung war bereits unterbrochen. Der alte Mann bekam es nun plötzlich mit der Angst zu tun. Er schlurfte eilig nach der Stube des Dieners, der ihn überrascht und bestürzt anhörte, und dann eilten beide in das erste Stockwerk.

Das Schlafzimmer von Sir Nicholas lag am äußersten Ende der Galerie, die um die Halle lief, gegen den kleinen Garten zu. Es war nie versperrt, sondern bloß durch ein Schnappschloß gesichert, zu dem außer ihm selbst nur der Diener einen Schlüssel besaß.

Der Diener war auch der erste, der sich zu einem Entschluß aufraffte, nachdem sie minutenlang mit angehaltenem Atem an der Tür gelauscht hatten, ohne dadurch irgendwelche beruhigende Gewißheit zu erlangen. Er öffnete mit unsicherer Hand und suchte zunächst durch einen kleinen Spalt einen Blick nach dem Bett zu werfen, das in der einen Fensterecke des nicht allzu großen Zimmers stand. Aber der Raum war durch die dichtgeschlossenen Portieren in undurchdringliches Dunkel gehüllt, und die Stille, die drinnen herrschte, hatte etwas Beklemmendes. Nicht ein Atemzug war zu hören, und die beiden Lauscher an der Tür standen mit fliegenden Pulsen und feuchten Stirnen.

Endlich glaubte der Diener die Verantwortung für das Außergewöhnliche auf sich nehmen zu müssen und schaltete das Licht ein.

Sir Nicholas Morton, ein langer, sehniger Mann, lag, das Gesicht der Wand zugekehrt, in seinen zerwühlten Kissen, und die unnatürliche, krampfhafte Verrenkung der Glieder verriet auf den ersten Blick, daß das nicht der Schlaf eines Lebenden war. An dem Körper war nicht ein Blutfleck, nicht das geringste Anzeichen einer Gewalttat zu entdecken, aber die verzerrten Züge sprachen von einem furchtbaren Todeskampf.

2

Inhaltsverzeichnis

An dem Vormittag, der dieser Nacht folgte, lag über dem Riesengebäude der Cartwright-Presse Gewitterstimmung. Man wußte, daß ein Unwetter im Anzug war, aber man war sich noch nicht im klaren, wo es einschlagen würde.

Der augenblicklich allmächtige Chef, der Anwalt Mr. Thomas Hyman, den täglich mindestens hundertmal der Schlag hätte treffen müssen, wenn es nach den liebevollen Wünschen so ziemlich aller Angestellten gegangen wäre, war bereits um zehn Uhr vorgefahren, und der ›süße Pat‹, der Portier, hatte kaum einen Blick aus den kalten, farblosen Augen aufgefangen, als er auch schon eiligst die Tagesprognose ›Sturm‹ an die einzelnen Abteilungen ausgab. Diese Voraussage war für alle Abteilungsleiter und Redakteure, soweit sie überhaupt mitzählten, eine sehr wichtige Sache, denn Mr. Hyman an einem kritischen Tag unter die Augen zu kommen, war gleichbedeutend mit einer Katastrophe.

Deshalb bezog Pat Coppertree aus seiner inoffiziellen Obliegenheit auch ein weit höheres Einkommen als aus seiner sonstigen vielstündigen, aber langweiligen Tätigkeit, und man mußte zugeben, daß er alles daran setzte, um sich seiner wichtigen Aufgabe und des aufgewandten Geldes würdig zu erweisen. Denn so ausdruckslos das breite, schwammige Gesicht des Gewaltigen der Cartwright-Presse selbst in den Augenblicken zügellosester Erregung und grimmigster Laune auch war, der kleine, krummbeinige Ire mit den verschmitzten Augen und dem bärtigen Affengesicht war innerhalb weniger Wochen doch dahintergekommen, was hinter der ewig gleichen starren Maske des gefürchteten Chefs jeweils vorging.

So bedenkliche Anzeichen wie heute hatte er allerdings noch nie wahrgenommen, und er hatte auch nicht unterlassen, dies in seinem ›Wetterbericht‹ nachdrücklichst hervorzuheben.

Der Reportersaal der ›London Sensations‹ war noch ziemlich leer, als die beunruhigende Meldung eintraf, aber fünf bis sechs Herren lungerten doch schon an ihren Tischen herum, und der Mann vom Gerichtssaal war der erste, der fünf Schilling auflegte, daß der Blitz in die außenpolitische Abteilung einschlagen werde, weil man in der heutigen Morgenausgabe Paris wieder einmal zu offen die Meinung gesagt habe, was in die augenblickliche politische Orientierung nicht so recht passe. Demgegenüber setzte der gemütliche Mr. Bilkert, der das Gras wachsen hörte, denselben Betrag auf einen gewaltigen Rüffel für den Volkswirtschaftler, weil im Handelsteil eine abfällige Bemerkung über Aktien stehe, an denen wahrscheinlich Mr. Hyman interessiert sei, und der Bearbeiter von Verkehrsunfällen gab seine letzten drei Schilling für die feste Überzeugung hin, daß der Redakteur des lokalen Teiles endlich hinausfliegen werde, weil dieser alle interessanten Berichte, die er ihm auf den Tisch lege, skrupellos in den Papierkorb werfe.

Der sehr jugendliche, aber äußerst gerissene Mr. Fish, der wegen seines roten Haarschopfes und seines von Sommersprossen übersäten Gesichts sowie wegen einiger anderer Eigenschaften kurz der Fliegenpilz genannt wurde, schob nach einiger Überlegung rasch ebenfalls fünf Schillingstücke auf den Tisch, von denen drei etwas verdächtig aussahen, hielt jedoch als kluger Mann mit seiner Meinung vorläufig noch zurück.

Nur Noel Wellby beteiligte sich nicht an der Sache, und nicht einmal dem sonst recht zudringlichen Fish fiel es ein, ihn dazu zu animieren. Man hatte mit dem Mann, der erst wenige Wochen der Redaktion angehörte, noch keine rechte Fühlung, weil er in seinem ganzen Gehabe zwar sehr korrekt, aber ebenso zurückhaltend war. Er schien an den Vergnügungen und Späßen, mit denen man sich im Reporterzimmer die freie Zeit vertrieb, keinen sonderlichen Geschmack zu finden, und die leicht angegrauten Schläfen waren dafür keine ausreichende Begründung. Denn erstens taten auch ältere, würdige Herren dabei gern mit, und zweitens sah das junge, wettergegerbte Gesicht Wellbys gar nicht aus, als ob er durch harte Lebenskämpfe zu einem griesgrämigen Menschenfeind geworden wäre. Dem mißtrauischen ›Fliegenpilz‹ kam es sogar zuweilen vor, als ob der seltsame Kollege, der immer stumm und anscheinend völlig teilnahmslos hinter seinen Zeitungen vergraben saß, mit gespitzten Ohren auf jedes Wort hörte und manchmal sogar den dünnen, bartlosen Mund zu einem Lächeln verzöge.

»Ein aufgeblasenes Ekel«, entschied Mr. Fish am dritten Tag in seiner bestimmten Art, und so oft er fortan in die Nähe Wellbys kam, warf er ihm einen mißtrauischen Blick zu.

Die Debatte über die Streitfrage, wen der Zorn Mr. Hymans heute treffen würde, war auf ihrem Höhepunkt angelangt, als sie ganz unvermittelt verstummte. Mr. Fish, der das große Wort führte und dazu lebhaft und ausdrucksvoll mit den Händen gestikulierte, blieb ein halber Satz in der Kehle stecken, und er verharrte mit ausgestreckten Handtellern wie eine Statue von Offenbachs König Mydas.

In der Tür stand der gefürchtete Boy des Gewaltigen und schnarrte mit selbstbewußter Würde seinen Auftrag herunter.

»Mr. Hyman wünscht Mr. Wellby sofort zu sprechen.«

Am wenigsten überrascht und betroffen schien Noel Wellby zu sein. Er räkelte sich nicht allzu eilig aus seiner bequemen Lage auf und nahm sich sogar noch Zeit, einen Griff nach seiner Krawatte zu tun und die Bügelfalten seiner etwas spiegelnden Hose umständlich glattzustreichen.

Als er endlich gegangen war, war der fünfundzwanzigjährige Mr. Fish der erste, der seine Fassung wiedergewann. Er riß die wasserblauen Augen auf, verzog den Mund von einem Ohr bis zum andern, schnalzte vielsagend mit der Zunge und strich zunächst einmal bescheiden, aber mit einiger Hast die aufgelegten Beträge ein, ohne sich durch die etwas betretenen Gesichter seiner Kollegen irgendwie beirren zu lassen.

»Nun, was habe ich Ihnen gesagt?« meinte er unverfroren. »Nicht nur lumpige fünf Schilling, ganze hundert Pfund hätte ich wetten können, wenn ich Sie hätte 'reinlegen wollen. Lesen Sie die Notiz über den Tod von Sir Nicholas Morton in den heutigen ›London Sensations‹, und Sie werden wissen, weshalb der Alte so schief gewickelt ist. In seinem eigenen Blatt muß er gleich beim ersten Frühstück so etwas finden.« Der junge Mann grinste schadenfroh und klimperte befriedigt mit den Schillingen in seiner Hosentasche. »Dabei hat sich dieser Naivling Wellby wahrscheinlich die Beine ausgerissen, um die Geschichte noch in der Morgenausgabe unterzubringen – auf eigene Verantwortung, weil nicht einmal der Nachtredakteur mehr anwesend war. Toll, was er jetzt zu hören bekommen wird. Ich glaube, Hyman schmeißt ihn eigenhändig die Treppe hinunter. Das könnte mir den Alten geradezu sympathisch machen.«

Der gemütvolle Fish legte keinen Wert darauf, die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Er hatte es plötzlich sehr eilig, rückte den Hut weit nach hinten auf seinem roten Birnenkopf und schoß mit wichtiger Miene davon.

Das in Ebenholz, Kardinalsrot und mattem Gold gehaltene riesige Chefzimmer war noch in dem etwas prunkliebenden Geschmack des kürzlich verstorbenen Sir Benjamin Cartwright eingerichtet, und Thomas Hyman machte darin keine gute Figur. Von dem mächtigen borstigen Schädel bis zu den gewaltigen behaarten Händen und den riesigen Füßen war alles an ihm von einer geradezu erschreckenden Grobschlächtigkeit, und sein Körper schien an dieser Masse zu viel zu tragen zu haben, da er ständig vornübergeneigt war.

Wie ein verdrießlicher Stier, dachte Noel Wellby respektlos, als er das Zimmer betrat und minutenlang warten mußte, bevor der Chef von seiner Anwesenheit Notiz nahm und seinen schwerfälligen Spaziergang in dem großen Raum unterbrach.

Dafür machte es Hyman nun kurz. Von einer Begrüßung, selbst in der flüchtigsten Form, sah er überhaupt ab, einmal, weil er kein Freund von Förmlichkeiten war, und zweitens, weil er sie einem so untergeordneten Wesen gegenüber, wie einem Reporter, doppelt überflüssig fand. Er stützte seine massige Gestalt auf den Schreibtisch und kam in seiner direkten Art sofort auf den Kern der Sache.

»Waren Sie betrunken oder leiden Sie zuweilen unter Wahnvorstellungen?« krächzte er kurzatmig, indem er die Rechte aus der Hosentasche zog und wuchtig auf die letzte Ausgabe der ›London Sensations‹ fallen ließ.

Wellby beeilte sich mit seiner Antwort auf diese grobe Frage nicht, sondern betrachtete zunächst einmal den gefürchteten Mann, dem er zum erstenmal gegenüberstand, mit dem sorglosen Interesse, das man etwa einem gereizten Löwen hinter Gitterstäben entgegenbringt. Er wollte vor allem wissen, was er von dem ergrimmten Koloß zu halten hatte und wie dieser zu nehmen war.

»Weder das eine noch das andere«, gab er endlich mit unverschämtem Phlegma zurück. »Um jemals betrunken zu sein, vertrage ich zuviel, und auf meine Sinne kann ich mich mindestens ebenso verlassen, wie Sie sich auf die Ihren.«

Es war wohl die frechste Antwort, die der allmächtige Hyman in diesem Raum je erhalten hatte, und sie kam so unerwartet, daß er den Sprecher aus seinen verquollenen Augen wie ein Wundertier anstarrte. Dann stieg eine Blutwelle in sein ungesundes Gesicht, die die Adern an den Schläfen in dicken Knoten hervortreten ließ, und er fuhr sich mit seinen gewaltigen Fingern um den gedrungenen Hals, als ob ihm sogar der gut einen halben Zoll abstehende Kragen zu eng würde.

Der Reporter wartete gefaßt auf eine Explosion, aber sie kam wider Erwarten nicht. Hyman war zwar eine cholerische, brutale Natur, aber er war nicht umsonst lange Jahre hindurch einer der gewiegtesten Anwälte Londons gewesen, bevor er in den Zeitungspalast eingezogen war, und er wußte sich zu beherrschen, wenn es not tat. Und diesmal schien es ihm dringend geboten. Der Mann, der mit so unerschütterlicher Ruhe und so impertinenter Schlagfertigkeit vor ihm stand, hatte Andeutungen in eines der Blätter seines Konzerns geschmuggelt, die ihm höchst unangenehm waren, und er mußte erfahren, ob es sich hier bloß um einen seltsamen Zufall handelte oder ob dieser Noel Wellby von der heiklen Geschichte wirklich etwas wußte und vielleicht seine erste Karte ausgespielt hatte.

»Dann kann ich nur annehmen«, lenkte er daher in verbissenem Grimm ein, »daß Sie mit Ihrer albernen Nachricht die Leute zum Narren halten wollten. Sie scheinen vergessen zu haben, daß Sie für ein ernstes Blatt arbeiten und nicht für die Boulevardpresse, die sich derart blödsinnige Sensationen gestatten darf. Ganz Fleet Street wird vor Vergnügen kopfgestanden haben, als man Ihre Notiz bei uns las, und ich glaube, wir werden einige recht anzügliche und unangenehme Bemerkungen zu hören bekommen.«

Er nahm die Zeitung, die er vor sich liegen hatte, auf, und obwohl er die betreffenden Zeilen bereits ungezählte Male überflogen und der andere sie ja selbst geschrieben hatte, fühlte er sich doch veranlaßt, sie mit seiner dicken, heiseren Stimme unter nachdrücklicher Betonung einiger Stellen vorzulesen:

»Sir Nicholas Morton in seiner Wohnung tot aufgefunden wie vor einigen Monaten Sir Benjamin Cartwright. – Was wollte die ›Königin der Nacht‹?«

Die Stimme Hymans wurde bei jedem dieser Titel, die einen geheimnisvollen Fall gellend in die Welt schrien, immer knarrender und wütender, bis sie sich schließlich völlig überschlug.

»Sind Sie bei den ›London Sensations‹ angestellt oder wo sonst?« fauchte er atemlos. »Mit einer solchen Geschmacklosigkeit hätten Sie Ausrufer bei einer Schaubude, aber nicht Reporter werden sollen.«

»Das war ich bereits«, gab der junge Mann mit höflicher Gelassenheit zurück. »Aber jeder Mensch hat den Ehrgeiz, es weiter zu bringen.«

Wieder verschlug diese Antwort dem gewaltigen Mann die Sprache, und sein Blick wurde flackernd und unsicher.

»Mit solchen Dingen werden Sie nicht weit kommen«, sagte er dann sarkastisch, und seine Augen, verhießen nichts Gutes. »Wenigstens bei mir nicht.« Er schlug wiederum verächtlich auf das unschuldige Blatt, und um weiter zu gelangen und aus dem anderen möglichst unauffällig das herauszubringen, was er wissen mußte, las er weiter vor:

»Wie wir nach Redaktionsschluß erfahren, ist der bekannte Finanzier und Sammler Sir Nicholas Morton heute nacht kurz nach ein Uhr in seinem Haus in der Nähe des Porchester Square tot aufgefunden worden. Das plötzliche Ableben des allgemein geschätzten Mannes, der sich um das öffentliche Leben hervorragende Verdienste erworben hat, kommt um so überraschender, als Sir Nicholas erst achtundvierzig Jahre alt war und sich der besten Gesundheit erfreute. Unwillkürlich erinnert der Fall an den ebenso unerwartet raschen Tod Sir Benjamin Cartwrights vor fünf Monaten. Seltsamerweise waren die beiden Männer eng befreundet und haben vor zwölf Jahren eine afrikanische Jagdexpedition unternommen, die in völlig unerforschte Gebiete vorgedrungen ist. Diese eigenartigen Umstände dürften wohl den seltsamen Gerüchten, die bereits nach dem Ableben von Sir Benjamin in Umlauf kamen, neue Nahrung geben und diesmal hoffentlich zu einer etwas nachdrücklicheren Untersuchung führen ...«

Der große, starke Mann hatte den letzten Satz Wort für Wort hervorgestoßen und dabei kein Auge von seinem Gegenüber gewandt. Nun beugte er sich vor, und das Zittern seiner blutleeren Lippen verriet, wie sehr er sich beherrschen mußte.

»Zum Teufel, was sind das für Gerüchte? Sind Sie wirklich übergeschnappt oder so einfältig, daß Sie auf das Gewäsch von Klatschweibern hereinfallen?« Er rang heftig nach Luft. Der Reporter zuckte gleichmütig die Achseln.

»Ich kann doch nicht gut annehmen, daß dieses ganze Haus aus lauter alten Klatschweibern besteht«, gab Wellby gelassen zurück. »Wohin Sie hören, wird davon geflüstert, sobald die Rede auf den verstorbenen Sir Benjamin kommt. Und auch draußen munkelt man allerlei.«

Hyman öffnete den Mund, aber erst nach einer Weile kam ein Ton heraus, der halb wie ein Glucksen, halb wie ein Gurgeln klang, aber wahrscheinlich ein spöttisches Lachen sein sollte.

»So ... Man munkelt allerlei ... Da haben Sie wohl auch die seltsame Geschichte aufgefangen, die Sie zum Schluß zum besten geben?«

Er senkte den Blick wieder auf das Zeitungsblatt und begann neuerlich zu lesen:

»Weiter erhalten wir von einem zuverlässigen Gewährsmann die interessante Mitteilung, daß Sir Nicholas Morton am verflossenen Freitag einer großen Gesellschaft bei Lord Etheridge beigewohnt hat und dort unmittelbar vor seinem Weggehen von einer dicht verschleierten Frau angesprochen wurde, die ihm die Worte zuflüsterte: ›Königin der Nacht vom Brunnen der sieben Palmen wartet noch das Viertel eines Mondes ab.‹ – Auf Sir Nicholas schien diese Begegnung einen außerordentlichen Eindruck zu machen, denn er brauchte mehrere Minuten, um sich zu fassen, und verließ dann verstört und in fluchtartiger Eile die Gesellschaft. – Das Viertel eines Mondes wäre morgen abgelaufen gewesen.«

Der Chef des Cartwright-Konzerns knüllte die Zeitung mit seinen schaufelartigen Händen geräuschvoll zusammen und warf die Papierkugel verächtlich in eine Ecke.

»Woher haben Sie dieses gruselige Märchen?« fragte er ironisch, vermochte aber sein lebhaftes Interesse doch nicht ganz zu verbergen.

»Dieses gruselige Märchen habe ich mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört«, erklärte der Reporter, und Hyman horchte bei dem ruhigen, bestimmten Ton, in dem Wellby sprach, mit ungeduldiger Spannung auf.

»Sie wollen mir also einreden ...«, begann er nach einem kurzen Schweigen etwas stockend, aber Wellby fiel ihm sofort sehr entschieden ins Wort.

»Ich will Ihnen gar nichts einreden, sondern Sie dürfen überzeugt sein, daß sich alles so verhielt, wie ich es berichtet habe. Ich kenne die Bedeutung unseres Blattes zu gut, um unseren Lesern irgendwelchen lächerlichen Tratsch aufzutischen. Die Geschichte von der ›Königin der Nacht‹ mag sich ja etwas sonderbar anhören, aber sie hat sich tatsächlich zugetragen.«

Thomas Hyman schob die Hände in die Hosentaschen und sah mit starren Augen lauernd auf den jungen Mann.

»Wenn ich Ihnen das glauben soll, müssen Sie schon etwas deutlicher werden«, knurrte er.

»Nichts ist leichter als das. Ich habe nämlich dicht neben Sir Nicholas hinter einer Portiere gestanden, als die Frau ihm in den Weg trat, und so leise sie auch sprach, konnte ich doch jedes ihrer Worte deutlich vernehmen.«

Es schien, als ob Hymans graues Gesicht noch um einen Ton fahler geworden wäre, und er nagte erregt an den Lippen, bevor er sich abwandte und etwas zögernd weiterfragte.

»Hat Sir Nicholas irgend etwas erwidert?«

»Nein. Er war so entsetzt, daß er die Erscheinung wie ein Wesen aus einer anderen Welt anstarrte und vor ihr zurückwich.«

»Wie sah sie aus?«

Wellby hob die Schultern.

»Wie alle die anderen Damen, die anwesend waren. Lord Etheridge hatte gegen zweihundert Einladungen ergehen lassen, und weil die Sache ein so großes gesellschaftliches Ereignis war, hatte mich der Chef mit noch zwei Kollegen von unserem Blatt hinbeordert. Die Frau trug ein schwarzes Abendkleid, wie ich noch viele andere gesehen habe. Nur der Kopfputz war apart: Ein dunkler Turban aus feinstem Gewebe mit einer großen silbernen Mondsichel und drei Sternen in der Mitte der Stirn. Davon war eine Falte so geschickt drapiert, daß sie mit einem Griff Gesicht und Hals völlig verdecken konnte, aber diese Maskierung konnte praktisch ebenso mit einem einzigen Griff wieder entfernt werden.

»War es eine jüngere oder eine ältere Frau?« wollte Hyman nach längerem Schweigen weiter wissen.

»Nach der Figur und den Bewegungen eine junge Frau. Außerdem –«

Wellby brach plötzlich ab, aber der andere war nicht gewillt, sich mit dem unvollendeten Satz zufrieden zu geben.

»Was wollten Sie noch sagen?« drängte er, indem er den jungen Mann mit einem seiner unangenehmen, lauernden Blicke ansah.

»Oh, nichts von Bedeutung«, erwiderte der Reporter leichthin, und der gleichmütige, etwas gelangweilte Ausdruck in seinem Gesicht schien dies zu bestätigen.

Der Anwalt fühlte, daß der Mann ihm etwas Wesentliches vorenthielt. Aber schon das, was er gehört hatte, genügte, um ihn außerordentlich zu beschäftigen. Er beendete die Unterredung, die er so polternd eingeleitet hatte, mit einer stummen entlassenden Geste, und als Wellby ebenso stumm gegangen war, begann er, mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern, schwerfällig auf und ab zu marschieren.

3

Inhaltsverzeichnis

Mrs. Evelyn Dyke blieb noch einige Augenblicke regungslos über die offene Lade ihres Schreibtisches gebeugt, bevor sie den winzigen Kopfhörer vom Ohr nahm, in der dazugehörigen Kassette verwahrte und dann die Lade mit besonderer Sorgfalt abschloß. Hierauf schob sie die Riegel an den Türen zurück, die sie vor jeder Störung gesichert hatten, nahm einige Papiere und drückte auf einen Klingelknopf. Das leise schnarrende Signal bedeutete, daß ihr der Weg durch die dick gepolsterte Doppeltür in das anstoßende Chefzimmer offenstehe.

Hyman empfing sie mit seinem, wie gewöhnlich, unfreundlichen Gesicht und einem kurzen Knurren, denn er konnte diese Frau noch weniger ausstehen als seine übrige Umgebung, weil er an sie nicht herankonnte.

Mrs. Evelyn Dyke war fünf Jahre lang Sekretärin und die rechte Hand des verstorbenen Sir Benjamin in seinem Zeitungskonzern gewesen, und eine letztwillige Verfügung hatte ihr diese Stellung lebenslänglich gesichert. Hyman war wütend über dieses Vermächtnis, das seine Selbstherrlichkeit einschränkte und seiner launenhaften Willkür eine Grenze setzte. Die Einsicht, daß er ohne dieses Erbe unendlich viel mehr Zeit und Mühe hätte verwenden müssen, sich in die komplizierten Verhältnisse des großen Zeitungsunternehmens einzuarbeiten, stimmte ihn womöglich noch schlechter. Tatsächlich kannte Mrs. Evelyn alles, wußte alles, und sie war zu Lebzeiten Sir Benjamins die eigentlich leitende Persönlichkeit gewesen, und das gesamte Personal, von den Chefs der einzelnen Blätter bis zum letzten Laufboy, hatte sich stillschweigend darauf eingestellt. Und wenn man auch heute den ungemütlichen Anwalt, dessen Tage im Haus infolge der besonderen Umstände allerdings gezählt waren, als unumschränkten Herrn gelten lassen mußte, weil er sich mit rücksichtsloser Energie als solcher gebärdete, vermochte dies der bisherigen Stellung der tüchtigen Mrs. Dyke doch keinen Abbruch zu tun. Man wußte, daß sie nach wie vor in allen wesentlichen Fragen das entscheidende Wort hatte, und es gab einige warnende Beispiele dafür, daß die Ungnade dieser noch immer schönen Frau mit dem regelmäßigen, kühlen Gesicht und dem energischen Mund mindestens ebenso verhängnisvoll werden konnte wie die des vierschrötigen Chefs.

»Drei neue Telegramme«, sagte Evelyn Dyke ohne weitere Einleitung mit ihrer dunklen Stimme. »Perth, Adelaide, Sydney. Alle negativ. Mr. Lawrence ist seit seinem Aufbruch von Urandang spurlos verschwunden.«

Sie legte die Blätter auf den Schreibtisch und ließ sich anmutig in einen der Klubsessel fallen. Sie tat dies vom ersten Tag an aus Prinzip, um dem unhöflichen neuen Chef zum Bewußtsein zu bringen, daß sie eine Dame und eine leitende Persönlichkeit und nicht eine seiner Korrespondentinnen war. Hyman hatte zwar beim erstenmal etwas Wütendes geknurrt, aber der unerschrockene, kampfbereite Blick, der auf ihn gerichtet war, hatte ihn abgehalten, das zu sagen, was er auf der Zunge hatte. Es ging etwas Bezwingendes von dieser gescheiten, tatkräftigen Frau aus, dem selbst seine urwüchsige Grobheit nicht standhielt.

Hyman nahm die Telegramme mechanisch auf und überflog sie, aber er war nicht wie sonst bei dieser wichtigen Sache. Das Ereignis der letzten Nacht und die Unterredung, die er eben gehabt, hatten ihm eine weit drückendere Sorge gebracht, die ihn unaufhörlich beschäftigte.

Die Frau, die vor ihm saß, wußte das. Sie wartete geduldig und sah angelegentlich auf die Spitze ihres eleganten Pumps, mit dem sie im Takt wippte. Aber es entging ihr nicht die leiseste Regung in dem finsteren Gesicht des Anwalts.

»Wann haben wir den Aufruf veröffentlicht?« unterbrach er endlich das Schweigen.

»Am 28. Oktober. Am Tag nach der Testamentseröffnung. Mr. Lawrence hat allerdings bereits am 15. September den Marsch in das Innere angetreten, aber nach den ursprünglichen Dispositionen hätte er spätestens Ende Januar wieder an der Küste sein müssen. Und da viele englische, amerikanische und australische Blätter den Aufruf gebracht haben und auch alle Auslandsstellen verständigt worden sind, hätte er bei seinem Eintreffen in dem erstbesten größeren Ort unbedingt sofort davon erfahren müssen.« Sie faltete die gepflegten schmalen Hände über dem Knie und richtete ihre grauen Augen mit eigenartigem Ausdruck auf Hyman. »Die Sache fängt an, rätselhaft zu werden.«

Der Anwalt hatte darauf nur ein Achselzucken. Bis heute morgen hatte ihn diese vergebliche Jagd nach dem Neffen und Universalerben Sir Benjamins einigermaßen in Atem gehalten, aber jetzt stand weit mehr auf dem Spiel. »Haben Sie die Notiz über den Tod Sir Nicholas' gelesen?« fragte er unvermittelt.

Mrs. Evelyn nickte gleichmütig, als ob es sich um eine ganz alltägliche Todesanzeige handelte, und Hyman mußte sich dazu bequemen, sein lebhaftes Interesse an dieser Sache etwas deutlicher zum Ausdruck zu bringen.

»Was sagen Sie zu der Geschichte?« schnaufte er, indem er die Hände in die Hosentaschen versenkte und nervös mit einem Schlüsselbund klapperte.

»Daß sie natürlich sehr viel Staub aufwirbeln wird und daß man wahrscheinlich fragen wird, weshalb wir nicht schon längst etwas unternommen haben, wenn uns die Umstände, unter denen Sir Benjamin gestorben ist, bedenklich schienen.«

»Wer sagt Ihnen, daß nichts unternommen wurde?« platzte der Anwalt wütend heraus, wandte sich aber sofort mit einem jähen Ruck ab, so daß Mrs. Evelyns seltsam flimmernde Augen nur seinen Rücken trafen.

»Das wußte ich natürlich nicht«, meinte sie gelassen, »und den anderen dürfte es wohl noch weniger bekannt sein. Sie werden sich an das halten, was in und zwischen den Zeilen der heutigen ›London Sensations‹ zu lesen ist und das nicht nur geheimnisvoll, sondern wie eine förmliche Anklage klingt.«

»Was wissen Sie von diesem Wellby?« sprang Hyman plötzlich vom Thema ab.

»Nicht viel. Er hat uns bei Ausbruch der Wirren in Afghanistan einige sehr interessante Artikel über die dortigen Verhältnisse gebracht, und der leitende Redakteur hat ihn später auf seine dringende Bitte in den Reporterstab des Blattes aufgenommen. Der Mann scheint viel in der Welt herumgekommen zu sein und ganz gut zu schreiben, aber es ist ihm offenbar in der letzten Zeit nicht zum besten gegangen.«

Alles das interessierte den Anwalt sichtlich nicht im mindesten, und er unterbrach Mrs. Dyke sehr schroff und ungeduldig.

»Glauben Sie alles, was er gesehen und gehört haben will?«

Die schöne Frau hob die Schultern und vermied es, auf diese Frage eine direkte Antwort zu geben.

»Es ist nicht anzunehmen, daß ein Mensch mit gesundem Menschenverstand so etwas bei einem derart tragischen Anlaß erdichtet. – Aber es ist möglich, daß die Episode im Haus von Lord Etheridge mit den Ereignissen in der letzten Nacht gar nichts zu tun hat.«

Hyman verriet nicht, wie er über diesen Punkt dachte, sondern nagte eine Weile an den wulstigen Lippen und kam dann in seiner sprunghaften, abgehackten Art plötzlich auf eine Reihe geschäftlicher Angelegenheiten zu sprechen.

Mrs. Evelyn war sehr nachdenklich, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, und fand es notwendig, neuerlich die Türen zu verschließen, um ungestört zu bleiben. Eine flüchtige Bemerkung, die dem Chef entschlüpft war, hatte sie etwas aus der Fassung gebracht, denn sie kannte seine Verschlagenheit nur zu gut und mußte wissen, woran sie war. Der findige Reporter hatte einen Stein ins Rollen gebracht, der zu einer verheerenden Lawine werden konnte, und es hieß nun doppelt auf der Hut sein.

»Pat«, sagte sie eine halbe Stunde später zu dem kleinen breitschultrigen Mann, der aus seinen blitzenden Augen schlau und ergeben zu ihr aufblickte, »ich möchte einiges über Mr. Wellby erfahren. Sie kennen ihn doch wohl? So rasch als möglich. – Haben Sie mich verstanden?«

Der Ire verzog den breiten Spalt zwischen seinem in allen möglichen Farben spielenden Bartwald, was bei ihm ein Grinsen bedeutete, und nickte lebhaft. Er wußte ganz genau, was das hieß, denn es war nicht der erste Auftrag dieser Art, den er von Mrs. Dyke empfing, und es gab nichts, was er lieber getan hätte. Er war in diese schöne Frau so schwärmerisch verliebt, daß es ihm stets ein Vergnügen war, ihr einen derartigen Dienst leisten zu können, und außerdem pflegte Mrs. Evelyn geradezu fürstlich zu honorieren. Wenn er seine schwärmerische Verehrung bezeigen und außerdem noch Geld verdienen konnte, war Pat Coppertree von doppeltem Eifer, und er brachte seiner Auftraggeberin stets reiches, brauchbares Material. Wie er es anstellte, so genaue und erschöpfende Auskünfte erteilen zu können, blieb sein Geschäftsgeheimnis. Jedenfalls konnte man sich auf ihn verlassen, und Mrs. Dyke durfte daher hoffen, binnen vierundzwanzig Stunden über den Mann, der die ›Königin der Nacht‹ gesehen haben wollte, manches zu erfahren, was ihr nützlich sein konnte.

Noel Wellby ahnte nichts von dem lebhaften Interesse, das die einflußreiche Frau, von deren Existenz er bisher nur vom Hörensagen wußte, an ihm nahm, aber als er sich am selben Abend im Cartwright-Haus einfand, konnte er die Beobachtung machen, daß er plötzlich zu einer Persönlichkeit geworden war. Schon im Vestibül legte Pat die Hand höflich an die Mütze, was er sonst nur bei jenen Herren tat, von denen er ein monatliches Geschenk von mindestens einem Pfund bezog, und im Reporterzimmer wechselte man bei seinem Eintritt bedeutsame Blicke. Mr. Fish bequemte sich sogar zu so etwas wie einem gönnerhaften Kopfnicken, und in seinen Augen lag die scheue Bewunderung, die man etwa einem Mann zollt, der unversehrt aus einem Löwenkäfig herausgekommen war. Noch vor einer Viertelstunde hatte der stets unternehmende ›Fliegenpilz‹ allerdings eine Wette vorgeschlagen, daß man den aufgeblasenen Burschen nicht mehr zu sehen bekommen werde, aber es war niemand darauf eingegangen, und Mr. Fish hatte zu seiner größten Entrüstung hören müssen, daß er sich am Vormittag höchst unfair benommen habe.

Wellby vergrub sich sofort in seinen Zeitungen und konnte feststellen, was er mit seinen wenigen Zeilen in den ›London Sensations‹ angerichtet hatte. Die kurze Notiz hatte in Fleet Street wie eine Bombe eingeschlagen, und die Spalten der Abendblätter verrieten, mit welcher Gier sich das aufgescheuchte Reporterheer auf die geheimnisvolle Angelegenheit gestürzt hatte. Man wußte zwar in der Sache selbst nichts Neues zu berichten, erging sich aber dafür um so ausführlicher in Nebensächlichkeiten und Vermutungen. Eins der Blätter teilte mit, daß zur selben Stunde, da Sir Nicholas vom Tod ereilt wurde, an der Mauer des Hauses ein polizeibekannter Dieb leblos zusammengebrochen war. Überall erinnerte man sich auch an den Tod von Sir Benjamin Cartwright, der vor ungefähr fünf Monaten eines Morgens in seinem Haus in Bayswater starr und steif an seinem Schreibtisch aufgefunden worden war. Der ›Evening Messenger‹ hatte sich sogar auf irgendwelche Weise den seinerzeitigen Obduktionsbefund zu beschaffen gewußt, den er nun in großer Aufmachung veröffentlichte. Das Gutachten war lediglich dadurch bemerkenswert, daß es einen trotz seiner gelehrten Weitschweifigkeit über die eigentliche Todesursache völlig im unklaren ließ. Der einzige einigermaßen auffallende Befund war eine eigenartige Affektion der Luftwege und der Lunge, doch wurden daraus keine besonderen Folgerungen gezogen.

Wie Mr. Hyman und Mrs. Dyke vermutet hatten, konnte es sich kein Blatt versagen, das seltsame Verhalten des Cartwright-Konzerns zu kritisieren, dessen leitende Persönlichkeiten doch offenbar längst gewisse Verdachtsmomente haben mußten, aber mit diesen viele Monate zurückgehalten hatten, bis das Schicksal Sir Mortons sie plötzlich zu einer schlecht angebrachten versteckten Anklage veranlaßte.

Der bereits genannte ›Evening Messenger‹ benützte die günstige Gelegenheit auch, um in einem fetten zweispaltigen Titel die äußerst herausfordernd und verfänglich klingende Frage aufzuwerfen: ›Wo bleibt der Erbe Sir Benjamin Cartwrights?‹ Das Blatt erinnerte daran, daß der Zeitungsmagnat ohne direkte Nachkommen gestorben sei und zu seinem Universalerben seinen Neffen Gordon Lawrence, den Sohn seiner verstorbenen älteren Stiefschwester, eingesetzt hatte, die mit einem Amerikaner, dem Grubenbesitzer Frank Lawrence, verheiratet gewesen war. Der junge, etwas abenteuerlustige Lawrence habe einige Wochen vor dem plötzlichen Ableben seines Onkels eine Reise in das innere Australien angetreten und sei seither trotz aller Bemühungen unauffindbar geblieben. Daran war in äußerst vorsichtigen Wendungen eine Bemerkung geknüpft, die die Leser mit geheimem Gruseln aufmerken ließ, weil sie die Möglichkeit andeutete, daß das unerklärliche Verschwinden von Gordon Lawrence vielleicht ein neues Glied in der Kette der rätselhaften Umstände bilden könne, unter denen der Tod von Benjamin Cartwright und Nicholas Morton erfolgt war.

Zum Schluß hatten so ziemlich alle Zeitungen das seinerzeit erschienene interessante Buch Sir Benjamins über seine afrikanische Jagdexpedition erwähnt und sogar einige der Bilder, wie Gruppenaufnahmen der Teilnehmer, wildromantische Landschaften und Fotografien seltener Trophäen, reproduziert. Aus den beigefügten Kommentaren war zu entnehmen, daß von den Mitgliedern dieses Jagdausflugs nur mehr drei am Leben waren: Mr. Arthur Bryans auf Threecourts und die beiden bekannten Londoner Kluberscheinungen Charlie Selwood und William Osborn.

Der Mann von den ›London Sensations‹, auf dessen Stichwort hin diese tolle Fontäne von Spürsinn, Phantasie und Druckerschwärze hochgeschossen war, hatte sich mit gelangweiltem Gesicht durch den ungeheuren Wust durchgelesen und nicht eine Zeile übersprungen, obwohl es für ihn dabei vorläufig nichts mehr zu tun gab. Mr. Hyman hatte die strikte Weisung ergehen lassen, daß die Blätter seines Konzerns in dieser Sache nur jene Nachrichten bringen dürften, die ihnen direkt vom Chefbüro zukamen, und die Reporter waren darüber nicht sonderlich böse. Man ersparte sich eine Menge Mühen und die unaufhörliche Angst, von der Konkurrenz geschlagen zu werden.

Wellby entnahm seinem abgenützten Etui eine Zigarette, setzte sie in Brand und sah dann nach der Uhr. Es ging gegen acht, und um neun hatte er einer Versammlung der Heilsarmee beizuwohnen, die sich augenblicklich für und wider ihren General in den Haaren lag, woran alle echten englischen Bürger dasselbe lebhafte Interesse nahmen wie an jedem außergewöhnlichen Fußballspiel. Es blieb ihm also Zeit, noch vorher in einem der billigen Restaurants in der Nähe von Old Bailey ein einfaches Abendbrot einzunehmen, was sich bei der zu gewärtigenden Redseligkeit der streitbaren Versammlung dringend empfahl.

Als er im Vestibül an Clarisse Avery, einer seiner Kolleginnen, mit einem kurzen Gruß vorüber wollte, sprach sie ihn plötzlich an. Es hatte den Anschein, als ob sie auf ihn gewartet habe, und sie vermochte eine gewisse Befangenheit und Unruhe nicht zu verbergen.

»Verzeihen Sie«, sagte sie hastig, »aber ich habe gehört, daß Sie ebenfalls zu der Versammlung in der Cartershall gehen. Ich habe einige der weiblichen Offiziere zu interviewen und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich mitnehmen würden. Wir können uns dann auch gleich in die Abfassung des Berichts teilen«, schloß sie schüchtern, und Wellby stimmte höflich zu.

Er war von dieser plötzlichen Vertraulichkeit des jungen Mädchens einigermaßen überrascht, denn Miss Avery galt als ein verschlossenes Wesen, das wie ein Schatten im Haus ein und aus ging. Sie arbeitete, soviel er wußte, bereits über ein halbes Jahr bei den ›London Sensations‹ und erwies sich als sehr geschickt, aber ihre Erscheinung war nicht danach angetan, einen besonders für sie einzunehmen. Während der Fahrt im Bus hatte er bei dem gleichgültigen Gespräch, das sie führten, zum erstenmal Gelegenheit, sich diese Kollegin näher anzusehen, und er war betroffen von dem widersinnigen und grausamen Spiel, das die Natur hier getrieben hatte. Das feingeschnittene, regelmäßige Gesicht mit dem kleinen, etwas üppigen Mund war durch ein häßliches Feuermal verunstaltet, das vom linken Ohr über die untere Wange bis an den Hals lief, und dazu kam noch, daß eine dicht anliegende, große dunkle Sonnenbrille die Augen völlig verbarg und den Zügen etwas Unpersönliches und Altjüngferliches gab. Auffallend schön war ihre Gestalt, wenn sie sich hie und da aus ihrer schlechten Haltung aufrichtete, und wenn man die gesunde Wange mit dem frischen, brünetten Teint vor sich hatte und sich durch die schauderhaften toten Brillengläser nicht stören ließ, war man von dem Reiz des regelmäßigen Profils außerordentlich überrascht und gefesselt. Aber Clarisse Avery tat gar nichts dazu, um ihre Vorzüge wenigstens einigermaßen zur Geltung zu bringen. Sie ließ die Schultern nach vorne hängen, trug unter einem engen, unmodernen Mantel ein hochgeschlossenes, altmodisches Kleid, und die Haarlocke von dunklem Kupferglanz, die sie unter dem einfachen verblichenen Hut kokett hervorgedreht hatte, war das einzige an ihr, was von weiblicher Eitelkeit sprach.

Wellby mußte das Mädchen an seiner Seite immer wieder verstohlen betrachten, und er fragte sich, ob dieses arme Geschöpf wohl unter seiner Häßlichkeit litt.