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Thomas Buchheim

Unser Verlangen nach Freiheit

Kein Traum, sondern Drama mit Zukunft

Meiner

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek

eISBN (PDF): 978-3-7873-2023-3

eISBN (ePub): 978-3-7873-3113-0

www.meiner.de

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Inhalt

Vorwort

1 Gefühl der Freiheit: Ein Fingerzeig ohne Gewißheit

2 Wurzel der Freiheit: Die lebendige Natur potentiell freien Verhaltens

3 Bedingung der Freiheit: Der Ausschluß von Notwendigkeit

4 Statur der Freiheit: Können, Disziplin und Vollmacht

5 Geist der Freiheit: Richtigkeit und Gegenseitigkeit des selbstbestimmten Handelns

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Register ausgewählter Begriffe und Autoren

Iris, meiner geliebten Freundin und Frau

Vorwort

Unser Verlangen nach Freiheit – und zwar nach unverkürzter Freiheit: Kann es denn überhaupt erfüllt werden auch vor dem Hintergrund moderner und heute aktueller naturwissenschaftlich gegründeter Auffassungen über die Welt? Unter verkürzter Freiheit, die wohlfeil zu haben ist, verstünde ich das, was Kant in frechen Worten die »Freiheit eines Bratenwenders« genannt hat.1 Denn ein Bratenwender, so kompliziert (für Kants Verhältnisse) die maschinelle Erzeugung seiner Drehbewegung auch sein mag, kann nicht anders, als sich genau so zu drehen, wie die kausalen Zusammenhänge der Bratapparatur es vorsehen und herbeiführen. Ein freies Wesen – das wir verlangen zu sein – muß jedoch in jedem Gebrauch seiner Freiheit wirklich anders können, als es sich aus freien Stükken tatsächlich verhält. Doch was bedeutet diese Anforderung an die Freiheit genau? Wie verhält sie sich zur kausalen Bestimmtheit des natürlichen Universums? Auf welche Qualifikationen unseres Verhaltens berufen wir uns, wenn wir nach unverkürzter Freiheit verlangen? Und wie sind solche Qualifikationen möglich, wenn und obwohl wir zugleich natürlich entstandene Wesen sind, zuhause in einem materiellen Universum? Das sind die Fragen, die in diesem Buch erörtert werden, um so unser mehrtausendjährig immer wieder neu brennendes Verlangen nach Freiheit auf eine rationale Weise auch heute noch stillen zu können.

Mein größter Dank gilt Dr. Torsten Pietrek, Ortrun Daniel und Markus Wanzeck, den wissenschaftlich und studentisch mitdenkenden Mitarbeitern in einem drei Jahre lang geförderten Projekt der Thyssenstiftung unter dem Titel ›Freiheit auf Basis der Natur?‹. Ohne sie wäre ich auf vieles gar nicht gekommen. Außerdem enthielte das Buch noch weit mehr Unvollkommenheiten und Fehler, als es wahrscheinlich auch jetzt noch der Fall ist. Seit Jahren philosophisch gestärkt haben mich auch die thematischen Gespräche mit Friedrich Hermanni und Axel Hutter. Viele Ideen und Gedankengänge wurden geschmiedet und gehärtet, auch leider wieder zerrieben in diesen freundschaftlichen Auseinandersetzungen. Für eine sorgfältige Korrektur und Durchsicht des Umbruchabzugs danke ich Anke Breunig. Der Thyssenstiftung und nicht zuletzt meiner Universität bin ich dankbar für die Förderung, zusätzliche finanzielle Unterstützung und den noch übrig gelassenen Freiraum für das bloße Nachdenken und die geisteswissenschaftliche Forschung, was alles in Deutschland heute längst keine Selbstverständlichkeiten mehr sind.

1 Gefühl der Freiheit: Ein Fingerzeig ohne Gewißheit

1. Zwei Aufgaben einer Betrachtung der menschlichen Freiheit

»Das Gefühl der Freiheit« auf Begriffe zu bringen und den Begriff der Freiheit in seinem »Zusammenhang mit dem Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht« zu rechtfertigen – das sind die zwei Aufgaben einer philosophischen Untersuchung der menschlichen Freiheit, die Schelling ihr in seiner berühmten Freiheitsschrift gestellt und denen er diese Schrift insgesamt gewidmet hat.2

Nun ist gewiß das Ganze einer wissenschaftlichen Weltansicht heute ein anderes als 1809, dem Jahr, in dem die Freiheitsschrift erschien. Die Rechtfertigung eines Begriffs der Freiheit vor diesem Ganzen müßte deshalb heute auch anders ausfallen als damals. Eine grundlegende Differenz unserer wissenschaftlichen Weltansicht im Vergleich mit der von 1809 liegt insbesondere darin, daß die heutige gar nicht mehr den Anspruch auf eine wissenschaftlich homogene Theorie »des Ganzen« der Welt und damit die systematische Einordnung aller ihrer Bestandteile, Sachgebiete und Strukturen in einen einheitlichen Erklärungshorizont für sie erhebt. Die moderne Wissenschaft gibt kein »Ganzes einer wissenschaftlichen Weltansicht« an die Hand, sondern beschreibt Teilwelten, von denen nur undeutlich und daher unwissenschaftlich, höchstens philosophisch abzusehen ist, ob und wie sie alle zusammen ein Ganzes bilden.

Dennoch gibt es so etwas wie eine fast unstrittige wissenschaftliche Präokkupation dieses ›Weltganzen‹ durch die moderne Physik als Grundlagenwissenschaft des materiellen Universums. Obwohl ich sie nicht teilen möchte, ist es gewiß vernünftig, zeitgemäß reflektierte philosophische Ansichten an ihr zu prüfen und wenigstens nicht in direktem Widerspruch zu ihr zu formulieren. Mit Berufung auf die besagte Präokkupation des ›Weltganzen‹ durch die moderne Physik geht eine gegenwärtige wissenschaftliche Weltansicht davon aus, daß im Prinzip alles – man weiß allerdings nicht genau wie – in dem besagten materiellen Universum, der Welt der Körper, seinen Platz fi nden muß; und nicht nur seinen Platz fi nden, sondern im Prinzip (wenn auch nicht beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens) sich vollständig wissenschaft lich erklären lassen muß im Rekurs auf physikalisch erfaßbare, materielle Objekte, ihre Teile, Eigenschaft en und Verhaltensgesetze, aus bzw. nach denen sich alle Körper zusammensetzen oder verhalten. Eine solche Vorannahme über die physikalisch erfaßbare Natur des Universums und aller Dinge in ihm bezeichnet man als ›Physikalismus‹. Eine heutige wissenschaft liche Weltansicht, auch wenn sie sich zu einem überschauten »Ganzen« nicht als Wissenschaft aufschwingen möchte, wird am ehesten dadurch gekennzeichnet, daß sie die Gegenstände ihrer Untersuchung – sei es ausdrücklich oder implizit – unter dem Vorzeichen des Physikalismus zur Darstellung bringt. Der geschilderten physikalistischen Präokkupation werde ich mich im Interesse eines unverkürzten Freiheitsbegriff s zwar dezidiert nicht anschließen; jedoch werden alle Punkte des Ausstiegs daraus genau bezeichnet, in ihrer Möglichkeit wie auch Berechtigung begründet und zugleich deutlich gemacht, daß dadurch gewisse für das Funktionieren der Naturwissenschaft en notwendige Prinzipien und Ansprüche keineswegs aufgehoben werden müssen.

In Anbetracht der Freiheit des Menschen beschäftigt die gerade skizzierte zweite Aufgabe die philosophische Debatte seit Jahrzehnten in nahezu jeder denkbaren Spielart zwischen Determinismus und Indeterminismus, Kompatibilismus und Inkompatibilismus so sehr, daß darüber die andere von Schelling formulierte Aufgabe nahezu vollständig in Vergessenheit geraten ist: Fast alle Teilnehmer der Debatte betrachten den Begriff der menschlichen Freiheit in Bezug auf seinen Zusammenhang mit dem physikalistisch präokkupierten Ganzen einer wissenschaftlichen Weltansicht. Fast niemand jedoch kümmert sich darum, mit Schelling zu reden, »die Tatsache der Freiheit, so unmittelbar das Gefühl derselben einem jeden eingeprägt ist«, zunächst einmal angemessen auf Begriffe zu bringen; den Schritt von einer gefühlten Tatsache zum begriffenen Sachverhalt philosophisch einigermaßen deutlich und nachvollziehbar zu bewerkstelligen. Das könnte darum ein schweres Versäumnis sein, weil wir, ohne die erste Aufgabe zu leisten, nicht zuversichtlich sein können, mit unserer wissenschaftlichen Weltansicht dasjenige in Einklang zu bringen, was man mit einigem Recht unsere Freiheit überhaupt nennen darf. Was meinen wir denn eigentlich mit ›Freiheit‹?

2. Gibt es überhaupt ein ›Gefühl der Freiheit‹?

Man wird vielleicht in Zweifel ziehen, ob es so etwas wie ein Gefühl der Freiheit überhaupt gibt, so daß es tauglicher Ansatzpunkt für eine philosophische Begriffsklärung sein könnte.3 Philosophische Analysen gehen, wenn keine objektiven wissenschaftlichen Befunde zur Verfügung stehen, heute lieber von möglichst verbreiteten Intuitionen, dem allgemeinen Sprachgebrauch (westlicher Sprachen) und gewissen eingesessenen Grundüberzeugungen aus, die auf Konsistenz und Klarheit geprüft und aus denen nach entsprechender Kritik philosophische Folgerungen und Thesen entwickelt werden. Dies alles ist unbestritten möglich und probat auch in Bezug auf das Thema der menschlichen Freiheit.

Dennoch fragt man sich mit gewissem Recht, woher unsere Intuitionen, Grundüberzeugungen und der Sprachgebrauch ursprünglich stammen und was für eine Realität ihnen zugrundeliegen mag. Das ist für einige philosophische Themen, wie z. B. was ›Wahrheit‹ ist oder der ›Sinn von Sein‹ oder das ›Universalienproblem‹, eine recht schwierige und nahezu aussichtslose Frage. Denn niemand nimmt an, daß wir ein Gefühl für Wahrheit, das Sein oder Universalien besäßen. Vielmehr ist hier in der Tat ein buntes Gemisch von tradierten Auffassungen, populärwissenschaftlichen Überzeugungen und eingesessenen Weltanschauungen die einzige Basis philosophischen Arbeitens.

Im Falle der Freiheit sind wir dagegen in einer vergleichsweise komfortablen Lage. Denn fast wie bei Liebe und Haß künden die Lieder und Geschichten aller Menschen, aber auch die Lebenserfahrung jedes einzelnen von Gefühlen der Freiheit, dem Verlangen nach ihr und, damit gepaart, dem Leiden am Mangel der Freiheit. Allein schon das letztere – die unbestreitbare Existenz des Gefühls der Unfreiheit – ist ein fast untrügliches Zeichen dafür, daß auch die Freiheit sich uns im Gewand eines spezifischen Gefühls präsentiert.4 Denn Kennzeichen dessen, was wir fühlen können, ist, daß wir auch sein Gegenteil oder Fehlen in genuinem Sinne fühlen. Wer Unmut fühlt, fühlt auch Lebensmut; und wer Unruhe fühlt, der auch die Ruhe, wenn sie wiederkehrt. Daß die Unfreiheit so sehr fühlbar für uns ist, kann daher als Beweis für ein Gefühl der Freiheit als mögliche Ausgangsbasis philosophischer Reflexion über das Thema gelten.

Aber auch positiv kennen wir alle die unmittelbaren Beispiele von Freiheitsgefühl, etwa bei Kindern, die ihren Willen exerzieren oder sofort protestieren, wenn sie etwas nicht ›extra‹ oder aus freien Stücken pexiert haben. Auf was gründet sich die kindliche Unterscheidungsgabe zwischen frei und unfrei, wenn nicht auf ein Gefühl? Auch wenn es natürlich dabei bleibt, daß ein Gefühl keine klar zutage tretenden und unstrittig feststellbaren Züge besitzt, und es daher, wie Schelling sagt, keine leichte und schnell erledigte Aufgabe ist, es triftig in Begriffen auszusprechen. Wer würde dies aber auch bei zugestandenen Gefühlen wie Liebe und Weltschmerz für eine einfache Aufgabe halten?

Es gibt eine Reihe von unstrittigen Gefühlen im Umkreis und Zusammenhang mit Freiheit, die jedoch nicht schon völlig identisch mit dem Gefühl der Freiheit sind. So sprechen wir vom Verantwortungsgefühl, vom Gefühl der Reue und vom »Gefühl der Achtung« (Kant) für das moralische Gesetz.5 Während die ersten beiden Einschätzungen unseres Handelns sich nach erfolgter Tat oder auf ihrem Gange einstellen und sich somit nicht auf das beziehen, was wir gegebenenfalls aus Freiheit tun, ist das Gefühl der Achtung für das Sittengesetz zwar ein Gefühl, das freien Unternehmungen vorausgeht, jedoch eingeschränkt auf moralische Handlungen. Freiheit sollte aber nach der hier vertretenen Auffassung nicht eingeschränkt werden auf den Fall des moralischen Handelns. Auch was ein Künstler hervorbringt oder ein Mathematiker beweist, tut er aus Freiheit. Gesucht sind deshalb Schattierungen des Gefühls, die dieser weiten Anwendung entsprechen und dabei den moralischen Fall einschließen können.

Am nächsten scheint mir ein Gefühl zu kommen, das man als Gefühl, fähig zu sein, bezeichnen könnte und das zugleich einhergeht mit dem Versuch oder einer Versuchung, etwas zu tun; nicht das Gefühl der Fähigkeit allein, sondern der sich zugleich einen Wechsel der Verhältnisse zutrauenden Konfrontation von eigenem Können und gegebener Lage der Dinge. Das Gefühl der Freiheit verlangt den Sinn für eigene Fähigkeiten ebenso wie den für das faktisch Bestehende; nicht nur eines von beiden. Denn jeder Versuch erstrebt eine Änderung des Gegebenen, und die Versuchung zieht es zu anderen Möglichkeiten, die zwar de facto nicht gegeben sind, aber nur meines Nachgebens bedürften, um wirklich zu werden. Wenn das Gefühl der Freiheit mit der Verschmelzung zweier derartiger Frontlinien die größte Ähnlichkeit hat, dann gehört zu ihm auch ein Element der Unzufriedenheit mit herrschenden Umständen; und wenn das Gefühl der Freiheit für den gefühlten Sachverhalt einschlägig ist, dann gehört zur Freiheit somit ein Element der Verneinung und Selbstbehauptung gegenüber dem, was faktisch der Fall ist.

Jedoch gibt uns ein Gefühl, das wir verspüren und dessen Empfindung wir in philosophischen Debatten einer Rücksicht für wert halten würden, noch keine verläßliche Klarheit darüber ein, worum es sich bei der gefühlten Tatsache (der Freiheit) genauer betrachtet handelt und ob sie wirklich eine Tatsache oder nicht doch, wie viele vermutet haben, eine Illusion ist. Das Gefühl der Liebe kennt jeder, doch sagt es uns weder hinreichend genau, was Liebe ist, noch ob tatsächlich vorliegt, was uns das Gefühl einzugeben scheint. Immerhin gibt uns ein Gefühl gewisse Indizien und Eigenarten einer Sache kund, die in ihrem Begriff nicht ignoriert werden dürfen und die für das Bestehen des Sachverhalts diagnostischen Wert besitzen.

3. Freiheit und Subjektivität

Ein Gefühl ist immer subjektiv. Das bedeutet nicht, daß das, was wir fühlen, nicht objektiv der Fall sein könnte oder nur ein ›Hirngespinst‹ wäre. Vielmehr bedeutet es, daß Gefühle etwas sind, das nur in Subjekten und für Subjekte vorkommen kann. Wenn es keine Subjekte gibt, dann auch keine Liebe. Deswegen ist die Liebe noch nicht ein Hirngespinst. Ähnlich verhält es sich mit der Freiheit.

Es gibt allerdings ganz unterschiedliche Sorten solcher subjektiver Sachverhalte, wie Gefühle es sind. Die einen bestehen allein in Tönungen des Befindens eines Subjekts, wie z. B. das Gefühl der Angst oder der Freude, kurz, die sogenannten Affekte. Andere sind nicht bloße Affekte oder erschöpfen sich nicht im Gefühl, sondern drücken Sachverhalte aus, wie z. B. die Liebe oder ein Machtgefühl. Wieder andere sind, obwohl subjektiv, regelrecht propositionaler oder konstatierender Natur: wie z. B. das Gefühl, nicht allein in einem stockdunklen Raum zu sein, oder das Gefühl, daß es einem Abwesenden gut geht.

Gemeinsamer Zug aller stets subjektiven Gefühle ist es demnach, daß das Gefühl mindestens ein Stück (wenn nicht das Ganze) der gefühlten Realität ist. Das Gefühl der Liebe ist ein Stück der Liebe selbst, ohne das die Liebe nicht wäre, was Liebe ist; das Gefühl, nicht allein zu sein, ein Stück der Anwesenheit eines anderen da, wo auch ich bin, ohne das ›Anwesenheit‹ nicht wäre, was sie behauptet zu sein. Entsprechend wäre das Gefühl der Freiheit ein Stück von ihr, ohne das die Freiheit nicht wäre, was Freiheit ist. In den aufgezählten Fällen bedeutet das »ohne welches nicht« nicht eine notwendige Bedingung der Existenz des betreffenden Sachverhalts, sondern ein dem Sachverhalt selbst eingeschriebenes Kennzeichen, das weder notwendig noch untrüglich ist: Liebe kommt vor, auch ohne ihr Gefühl; und das Gefühl der Liebe kann noch ein Verhältnis übertönen, in dem sie selbst schon erloschen ist. Freiheit kann gegeben sein, auch wenn jemand sich nicht frei fühlt; und das Gefühl der Freiheit können wir besitzen, auch wenn sie eine Illusion ist. Das liegt eben daran, daß ein Gefühl und überhaupt jede Wahrnehmung einer Realität nur ein subjektives Symptom, aber nicht objektive Bedingung dieser Realität ist. Symptome – wie die einer Krankheit – gehören zwar unmittelbar zur Realität von etwas (und darin liegt ihre Stärke), obwohl die wirkliche Gegebenheit dieser Realität nicht in jedem Einzelfall von ihrem Auftreten abhängt (was ihre Schwäche darstellt). Dennoch wäre generell die betreffende Realität nicht das, was sie ist, wenn niemals diese typischen Symptome mit ihr verbunden und so selbst ein Stück der sich zeigenden Realität wären. So mit der Liebe; so auch mit der Freiheit und mit der Anwesenheit eines anderen da, wo auch ich bin.

Symptome sind also keine Kriterien. Gefühle keine Realitätsbeweise, sondern Anhaltspunkte, die diagnostischen Wert besitzen und Richtungen anzeigen, in die weitere Überprüfungen anzustellen sind. Kriterien für das tatsächliche Bestehen von Freiheit sind daraus erst zu entwickeln – falls es sie gibt – und können nicht allein dem Gefühl entnommen werden. So wie Kriterien der Liebe auch andere sind, als in dem Gefühl von ihr merklich werden. Schließlich bedeutet der oben beschriebene Konnex zwischen der Freiheit und ihrem Gefühl ebenfalls nicht, daß das Gefühl der Freiheit in der klaren und distinkten Behauptung besteht ›daß ich frei bin‹ – so wenig, wie das Gefühl der Liebe die Behauptung aufstellt, daß ich jemanden liebe. Ein Gefühl sagt nicht, was es verdeutlicht, sondern macht es nur merklich. Ihm haftet immer etwas Ungefähres an. Deshalb kann im Folgenden auch nicht so getan werden, als würden die herausgestellten Grundzüge der Freiheit allein aus dem isolierten Gefühl der Freiheit entnommen werden können. Vielmehr werden die angestellten Überlegungen zwar gestützt und in bestimmter Weise gerichtet mit Blick auf das Gefühl, können aber nicht aus ihm demonstriert oder abgeleitet werden. Eine Demonstration verlangt klar artikulierte und voll bestimmte Prämissen. Das Gefühl gibt keine Prämissen, sondern nur Anhaltspunkte und Richtungen, in die sich weiter zu denken lohnt.

Beide, Gefühl und Sachverhalt der Freiheit, bilden miteinander, was man eine synkretistische Einheit nennen könnte. Das Wort synkretistisch bedeutet ›zusammengemischt‹ oder ›beigemischt‹. Wenn also das Gefühl – als Symptom der Freiheit – auftritt und zugleich mehr ist als nur ein Gefühl, dann ist es synkretistisch ein Teil der Realität, die es auch anzeigt. In ähnlichem Sinn, wie ›Körpergefühl‹ den eigenen Körper fühlt, ohne daß, einen Körper zu haben, ein bloßes Gefühl und nicht ein objektiver Sachverhalt wäre.

4. Graduierbarkeit der Freiheit

Wenn es ein Gefühl der Freiheit gibt und es zugleich als Symptom und Teil ihrer Realität angesehen werden kann, dann leuchtet ein, was der normale Sprachgebrauch immer unterstellt, aber die philosophische Theorie der Freiheit nicht genauso oft berücksichtigt hat: Die Freiheit ist steigerbar; sie ist gegeben in Graden. Personen und Handlungen sind mehr oder weniger frei und nicht immer in gleichem Maße. Freiheit wird durch Handlungen gemehrt und geschmälert. Sie wird, wie es scheint, von Kindesbeinen an erst erworben und wieder verscherzt und ist, mindestens ihrem entwickelten Umfange nach, nicht eine natürliche Mitgift des Menschen.

Es ist aber schwer, wenn nicht unmöglich, dem im vermeintlichen Interesse der Freiheit gefürchteten Sachverhalt des Determinismus unserer Handlungen und seiner Verneinung (dem Indeterminismus) eine graduelle Differenzierbarkeit abzugewinnen. Wenn die Freiheit darin bestünde, daß unser Handeln nicht determiniert ist (was dies genau heißen soll, ist später zu erörtern), dann wäre nicht zu sagen, warum das Handeln und der Handelnde nicht immer im selben Maß frei, weil indeterminiert, sein sollte. Und umgekehrt: Wenn Freiheit trotz und in einer deterministischen Verursachung unserer Handlungen gegeben wäre, dann könnte dieser Sachverhalt nicht für eine wesentliche Graduierbarkeit der Freiheit verantwortlich zeichnen. Die Grade der Freiheit und ihr allmähliches Auftreten und Gemindertwerden im Leben eines Menschen sprechen dafür, daß bestimmte qualitative Züge und Charakteristika unseres Handelns und seiner Initiation dafür verantwortlich sind, daß ihnen und der handelnden Person das Prädikat der Freiheit zuzubilligen ist.

Ein Gefühl ist demgegenüber von Haus aus stärker oder schwächer ausgeprägt, die Steigerungsfähigkeit eines seiner wesentlichen Kennzeichen. Wenn sich das Gefühl zudem als synkretistischer Teil eines gefühlten Sachverhalts begreifen läßt, dann ist auch der Sachverhalt selbst – also die Freiheit – eine steigerbare und minderungsfähige Eigenschaft unserer Handlungen und der handelnden Person.

5. Das Gefühl der Freiheit und ihre Basis in der Realität von Handlungen

Wird Freiheit durch ein synkretistisch mit ihr verbundenes Gefühl angezeigt, so werden damit einige interessante Vermutungen über die Freiheit plausibel, einige andere hingegen unwahrscheinlich.

Weil sich, wie oben schon gesagt, ein Gefühl auch auf das Gegenteil der gefühlten Realität bezieht, gibt es zwei ganz unterschiedliche Arten der Verneinung von Freiheit: Die eine Verneinung ist ihre Leugnung für bestimmte Handlungen und Verfassungen eines Menschen; sie heißt dem gewohnten Sprachgebrauch nach ›Unfreiheit‹, und wird ihrerseits durch ein Gefühl der gleichen Art deutlich wie auch ihr Gegenteil. Unfreiheit ist »Beraubung« der Freiheit, wie Aristoteles diese Art der Verneinung bezeichnet, und damit selber dem Wesen nach eine Evidenz ihres möglichen Gegenteils.6 Freiheit und Unfreiheit haben folglich die gleiche Realitätsbasis und erfordern deshalb, um nicht illusionär, sondern wirklich zu sein, die gleichen ontologischen Bedingungen.

Nimmt man im Gegenteil an, daß ontologische Bedingungen gegeben sind, die weder Freiheit noch Unfreiheit (über das bloße Gefühl hinaus) zulassen, dann wird die andere Verneinung der Freiheit wahr, welche darin besteht, daß nichts existiert, dem entweder Freiheit oder Unfreiheit als Prädikate im Ernst zugeschrieben werden können. Etwa so wie die ›Gesundheit‹ nicht ist, wenn kein lebendiger Organismus existiert. Dann ist aber auch nichts ungesund oder krank.

Manche Philosophen und Neurowissenschaftler halten also ontologische Voraussetzungen für wahr, die bei näherer Betrachtung der Freiheit und ihrem Gegenteil zugleich den Boden entziehen.7 Wenn wir aber solche ontologischen Bedingungen für wirklich gegeben halten, dann können wir uns immerhin damit trösten, wenigstens auch nicht unfrei zu sein, obwohl wir uns manchmal so fühlen mögen.8 Wir hätten vielmehr allen Grund, uns ein solches Gefühl (der Unfreiheit) abzugewöhnen und vielmehr eine positivere Lebenseinstellung zu dem, was geschieht, zu lernen. So könnte – ironischerweise – die definitive Einsicht in die Unmöglichkeit der Freiheit ein Akt der Befreiung von falschen Gefühlen werden.

Was ist nun dieser ontologische Boden, der zugleich die Möglichkeit der Freiheit wie die der Unfreiheit trägt? – Nach meiner These ist dies primär die Realität von Handlungen, ihren Folgen und Ursachen, zu denen wiederum die Person gehört. Wenn es (im Ernst gesprochen) keine Handlungen gibt und nicht Personen als Urheber von Handlungen, dann hat man leichtes Spiel, die Freiheit zur Illusion zu erklären. Denn eine Illusion ist dann auch, daß jemand handelt oder handeln kann.9 Eine Leugnung der Freiheit ergibt sich daraus strenggenommen nicht, ähnlich wie die generelle Bestreitung des Wahrheitsbezugs von Aussagen nicht Leugnung einer Wahrheit ist.

Wie schnell es geschieht, durch philosophische Annahmen mehr oder weniger unvermerkt die Freiheit auf die zweite Art zu verneinen, kann man sich leicht durch einige für sich genommen überzeugend wirkende Beispielannahmen klarmachen. Wer annimmt, daß

(1) Handlungen irgendwelche Wirkungen haben;

(2) ein Kausalverhältnis nur besteht, wo physikalische Ereignisse in einem naturgesetzlichen Zusammenhang miteinander stehen;

(3) ein Gegenstand nur wirklich ist, soweit er kausale Relevanz besitzt,

der hat damit schon der Meinung Recht gegeben, daß Handlungen nur insoweit wirklich existieren, als sie unter Naturgesetzen stehende, physikalisch faßbare Ereignisse sind. Von hier zur Verneinung möglicher Freiheit ist es nur ein sehr kleiner Schritt.

Die Prämisse, die man m. E. zurückweisen sollte, ist Annahme (2). Denn gewiß haben Handlungen Wirkungen (sonst bräuchte man die Freiheit sowieso nicht, um jemanden für etwas verantwortlich zu machen). Und es ist auch ein gutes Argument gegen die Wirklichkeit von etwas, wenn es nachweislich keine kausale Relevanz besitzt. Zum Beispiel existierten homöopathische Arzneimittel nicht wirklich, wenn sie kraft ihrer Homöopathie keinerlei kausale Relevanz für Heilprozesse hätten. Die Annahme (2) dagegen mag zwar für die Physik unabweisbar sein, aber das zeigt nur, daß eben auch die Physik kein komplettes ›Ganzes‹ einer wissenschaftlichen Weltansicht hervorbringt. Wenn man der Aussage (2) nicht seine Zustimmung schenkt, so muß damit nicht unbedingt in Abrede gestellt werden, daß die Kausalität von Handlungen Naturgesetzen in irgendeinem Sinne dieses Wortes unterstehen könnte; vielmehr könnte (2) auch deshalb nicht zutreffen, weil Kausalverhältnisse nicht nur zwischen Ereignissen im physikalischen Sinn bestehen. Inwiefern Handlungen nicht als physikalische Ereignisse anzusehen sind und dennoch Fälle von gesetzmäßiger Kausalität sein können, wird im nächsten Kapitel ausführlich erörtert werden.

Hält man daran fest, daß Träger von Prädikaten der Freiheit jedenfalls Handlungen und ihre Urheber sind, so ergibt sich für eine begriffliche Explikation der Freiheit die wichtige Aufgabe zu erklären, was die Besonderheiten von Handlungen und Handlungsurhebern sind; Besonderheiten, die zur Folge haben, daß zwar ihnen, nicht aber automatischen Stoffwechselprozessen oder instinktiven Reflexen lebendiger Organismen, geschweige denn leblosen Naturereignissen solche Prädikate der Freiheit zukommen können.

6. Ist Freiheit gleich Ungehindertheit?

Bevor jedoch diese Aufgabe in Angriff genommen wird, soll – noch in Anbetracht des bloßen Gefühls der Freiheit – hervorgehoben werden, daß ein solches Gefühl zwar spezifisch im Zusammenhang mit Handlungen, aber nicht schon in allen Vorbereitungs- und Einzugsgebieten derselben aufzutreten scheint; wie bspw. nicht im ungehinderten, bloß spontanen Spiel von Gedanken und Vorstellungen. Sich auszumalen, wie man jemandem Vergeltungsschmerzen zufügt, und es wirklich zu tun, sind zweierlei Dinge. Die Freiheit oder jedenfalls ihr Gefühl beginnt erst bei dem zweiten, d. h. bei dem Versuch oder der Versuchung, es zu tun. Es ist lächerlich zu sagen, jemand habe sich ›frei‹ gefühlt bei der Vorstellung, dem anderen eine runterzuhauen; genauso lächerlich, ihn dafür beispielsweise zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Das Ausmalen ist nicht in spezifischem Sinne frei zu nennen, obwohl durch nichts gehindert und spontan, soweit die Vorstellungskräfte reichen und sogar darüber hinaus. Denn oft stellen wir uns vor, was ganz und gar unmöglich oder sogar ›unvorstellbar‹ ist.

Die Freiheit – nach ihrem Gefühl zu urteilen – besteht also nicht bloß in der Ungehindertheit eines Bewegungsimpulses oder einer Regung, wie zum Beispiel Thomas Hobbes sie definiert hat: »Freiheit bedeutet eigentlich eine Abwesenheit äußerlicher Hindernisse bei einer Bewegung und wird von unvernünftigen und leblosen Dingen ebensogut gebraucht wie von vernünftigen. […] frei wird der genannt, welcher durch nichts gehindert wird, das zu tun, wozu er Geschicklichkeit und Können besitzt.«10

Denn abgesehen davon, daß Freiheit, wenn sie synkretistisch mit einem Gefühl verbunden ist, die eines lebendigen und wahrnehmungsfähigen Wesens sein muß (was indessen aus Freiheit, mißverstanden als bloße Ungehindertheit, nicht entnommen werden kann), ist die Auffassung von Hobbes auch deshalb zurückzuweisen, weil für ihn selbst sogleich aus ihr folgt, daß Freiheit und Notwendigkeit nicht in Gegensatz miteinander stehen müssen: »Ebenso kann auch Freiheit und Notwendigkeit miteinander zugleich bestehen. So strömt das Wasser im Flußbette frei und doch zugleich aus natürlicher Notwendigkeit abwärts. Auf dieselbe Art sind alle willkürlichen Handlungen, welche ihrer Natur nach frei sind, weil sie ihre Ursachen haben, diese wieder andere Ursachen, usw. bis zu der ersten allgemeinen Ursache, nämlich dem Willen Gottes, dennoch notwendig.«11

Ähnlich ist es zwar seit Spinoza12 immer wieder von Philosophen gelehrt worden,13 jedoch bildet dies, nach dem Dafürhalten unseres Gefühls der Freiheit, das bei jedem Verdacht auf Notwendigkeit die Rechenschaft ablehnt, wie auch nach Auffassung der meisten neueren Teilnehmer an der Debatte,14 einen Mißbrauch der Sprache: Das bloß Ungehinderte, dessen Sich-Anders-Verhalten jedoch a limine ausgeschlossen ist,15 sollte nicht ›frei‹ heißen. Es fänden sich sonst am Ende nur wenig Dinge, denen – naturnotwendig wie sie sind – nicht das Prädikat der Freiheit zuzugestehen wäre.

Nun ist das Bestehen oder Nichtbestehen von Notwendigkeit natürlich nicht möglicher Gegenstand eines Gefühls. Vielmehr protestiert das Gefühl der Freiheit nur gegen den Verdacht von Notwendigkeit und gegen einen vermuteten oder verspürten Zwang. Ein verspürter Zwang ist Nötigung zu irgendeinem Verhalten, die, wie auch der Unterschied zwischen genötigtem und ungenötigtem Verhalten, sehr wohl ein unmittelbarer Gegenstand des Gefühls ist. Die Nötigung ist allerdings nur der subjektive Bruder der Notwendigkeit; während Ledigkeit von Zwang nur zum einen das subjektiv gefühlte, zum anderen aber auch das objektiv unterstellte Fehlen von Notwendigkeit einschließt. Ungenötigtheit und Ledigkeit von Zwang zusammen lassen sich fassen im Ausdruck ›Ungezwungenheit‹. So wendet sich also das Gefühl der Freiheit negativ gegen den Verdacht von Notwendigkeit und verlangt positiv nach Ungezwungenheit (nicht allein Ungehindertheit) all dessen, dem das Prädikat der Freiheit zugesprochen wird. Die Zurückweisung einer Explikation der Freiheit als bloße Ungehindertheit und die Zugrundelegung von Ungezwungenheit als conditio sine qua non der Freiheit können so beide mit Blick auf das Gefühl der Freiheit gerechtfertigt werden.

7. Freiheit und Faktizität des Handelns

Was ist nun genauer betrachtet der Unterschied zwischen einer ungezwungenen Handlung und der spontanen Vorstellung einer Handlung, so daß nur die erstere spezifische Prädikate der Freiheit verdient? Der Ernstfall der Handlung besteht darin, daß sie die Konfrontation mit den faktischen Gegebenheiten der Wirklichkeit – die schon im Gefühl der Freiheit bemerkt wird – auf eine nicht mehr rückgängig zu machende Weise aufzulösen versucht. Die Handlung, im Unterschied zur bloßen Vorstellung, schlägt sich gewissermaßen selbst auf die Seite des Faktischen, das nicht anders ist, als es eben ist, und dessen Beschaffenheit für den Handelnden wie für andere, die damit konfrontiert werden, nicht mehr zur Disposition steht. Dadurch bekommen die Handlungen, ihre Charaktere und Folgen eine Unverfügbarkeit für den Handelnden, die nicht Sache allein seiner Auslegung und seiner Ansichten über die Dinge ist. Es ist immer ein kleines (oder größeres) Risiko zu handeln, statt sich bloß in Vorstellungen und Wünschen zu ergehen, und dieses Risiko in Kauf zu nehmen, macht die Freiheit erst zur Freiheit.

Das Gesagte bedeutet nicht, daß es keine ›innere‹ Freiheit geben könnte. Es ist nicht so zu verstehen, daß jemand erst Steine werfen oder Ohrfeigen verteilen muß, bevor er sich frei nennen darf. Vielmehr besteht das Risiko in der Setzung des Versuchs, die dem Handelnden (und meist nicht nur ihm) mitteilt, was er kann und was nicht, wozu er imstande ist und wozu nicht; was er getan hat und was nicht. Auch bei ›inneren‹ oder rein gedanklichen Anstrengungen, die man unternimmt, stellt sich dieses Risiko ein, das einen Unterschied macht zwischen Scheitern und Gelingen und zwischen einer so oder andersgearteten Hinzufügung zur faktischen Wirklichkeit.

Zur Freiheit gehört also das Risiko der Handlung als ein gesetztes, nicht rückgängig zu machendes Merkmal der Person. Auch wo wir uns beispielsweise einer Unterlassung schuldig machen, gehen wir ein solches Risiko ein, mit dem wir faktische Entwicklungen gleichsam als Zöglinge unseres eigenen Verhaltens adoptieren. Das Risiko ist hier sogar noch höher, da wir die Kontrolle über die Folgen unseres Verhaltens noch mehr aus der Hand geben, als wenn wir selbst handeln. Das interessante Phänomen der Unterlassung, von dem man kaum bezweifeln kann, daß es ein Fall von Freiheit im nahezu vollen Sinn dieses Wortes ist, zeigt, daß der Überschritt von dem, was ich tun kann, zu dem, was sich faktisch tut in der Welt, für die Freiheit von zentraler Bedeutung ist. Freiheit ist keine Verfassung eines Handelnden vor dem Faktischen, sondern innerhalb und konfrontiert mit dem Faktischen. Das gälte selbst dann, wenn das einzige, was faktisch der Fall ist, ein Handelnder und seine eigene Verfassung wäre. Das heißt, diese Bindung der Freiheit an das Faktische gälte selbst für Gott.

Was aus Freiheit unternommen wird, muß deswegen eigens daraufhin diszipliniert sein, die Konfrontation mit dem Faktischen auf eine nicht mehr zurückzunehmende Weise zu lösen. Disziplin bedeutet nicht unbedingt Überlegung, Wille oder Wissenschaft, schließt solche Fälle jedoch ein. Disziplin meint vielmehr das formale ›Design‹ einer Handlung oder eines Versuchs auf die (durchaus partielle) Lösung jener Konfrontation mit dem Faktischen hin. Zufällige Lösungen zählen nicht für die Freiheit. Das meinen Kinder, wenn sie beteuern, etwas ›nicht extra‹ getan zu haben: Ihr Verhalten hat den fraglichen Erfolg zwar mit sich gebracht, war aber nicht ›extra‹ darauf abgezirkelt oder diszipliniert.

Freiheit – das scheint ihr Gefühl zu belegen – gibt es also nur in der Konfrontation mit wirklichen Umständen, in denen das Handeln verändernd zurechtzukommen sucht. Außer der Ungezwungenheit (die wir zur Not auch unseren Vorstellungen noch zubilligen könnten) braucht die Freiheit offenbar eine gewisse disziplinierte Unnachgiebigkeit oder Insistenz des Subjekts in bestimmter Richtung, die es nur im Zusammenhang einer bestimmten Stellung innerhalb des Faktischen haben kann. Diese Bindung der Freiheit an unverfügbare Züge des Faktischen (sowohl in der Konfrontation wie im Design der Handlung) wird entscheidend verstärkt, sobald andere Freie mit im Spiele sind. Denn unverfügbar für mich ist vor allem, wie ein anderer das, was ich tue, sieht und beurteilt. Beim wirklichen Handeln kommt es darauf an, eine gemeinsame Auffassung dessen, was faktisch ist und was ich faktisch tue, sowohl überhaupt zu haben als auch weiterhin zu bewahrheiten. Deshalb ist die Freiheit – durch ihre prinzipielle Bindung an das Faktische – insbesondere in interpersonalen Handlungszusammenhängen am Platz. Wo es allein meiner Sicht der Dinge obliegt zu entscheiden, welcher Art die faktischen Umstände sind, mit denen ich konfrontiert bin, und wie das Design der Handlung zu deuten ist, die ich begehe oder unterlasse, da ist auch die Freiheit und ihr inhärentes Risiko gering. Das Kind auf dem Schulweg, das sich bemüht, nicht auf die Fugen zu treten oder Gesichter in den Wolken zu erkennen, tut dies nicht aus Freiheit im eminenten Sinn, sondern nur aus zwangloser, sich selbst überlassener Spielerei.

Urteilt man am Leitfaden des oben beschriebenen, subjektiven Gefühls der Freiheit, dann setzt sie sich also zusammen aus Ungezwungenheit (was unstrittig sein dürfte) und jener disziplinierten Unnachgiebigkeit, die das Subjekt in einer Konfrontation mit dem Faktischen an den Tag legen muß, um wirklich frei heißen zu können. Wer sich nur von den Umständen treiben läßt oder döst, den nennen wir nicht frei. Freiheit erfordert ein Moment des Versuchs, der Durchsetzung, Initiative, Beabsichtigung – der Willenskraft – wie man eigentlich immer gesehen hat, ohne den darin liegenden Bezug auf ein Arrangement mit dem Faktischen deutlich zu fassen und auf einen Begriff zu bringen. Die disziplinierte Unnachgiebigkeit gegenüber dem Faktischen ist für die Freiheit so wichtig wie die Ungezwungenheit. Während letztere auch dem Vor-sich-hin-Denken, Sinnieren und Tagträumen, dem bloßen Sich-Ausmalen, Vorstellen, ja dem Schlafen und Rumsitzen zukommt und daher nicht (wie erst recht nicht Ungehindertheit) schon mit Freiheit gleichgesetzt werden darf, ist die Unnachgiebigkeit und Insistenz gegenüber dem Faktischen, den sogenannten Umständen des Handelns, das Element der Freiheit, das sie exklusiv dem Handeln und seinem Urheber zuschreibbar, sowie zum Grund der Rechenschaftsfähigkeit und Verantwortlichkeit des handelnden Subjekts werden läßt.

Freiheit und ihr Gegenteil, die Unfreiheit, sind somit – weil handlungsbezogen – immer und nur denkbar in der Konfrontation eines Subjekts mit faktischen Umständen und der daraufhin von ihm zuwege gebrachten Überführung in andere Umstände. Der Freiheit inhäriert ein Bezug auf das Faktische ebenso wie eine Tendenz zum Kontrafaktischen. Beides paart sich im Moment der Unnachgiebigkeit. Aufgrund dieses Elements hat man oft und mit gewissem Recht die Ansicht vertreten, Freiheit gebe es nur, wo unableitbar Neues in die Welt gesetzt wird, das vorher nicht da war.16 Und umgekehrt hat man aus dem gleichen Grund gemeint, daß da, wo durch schon faktisch bestehende Umstände determiniert wird, was jemand tut, nichts Neues kreiert werde und somit keine Freiheit am Werk sein könne. Jedoch ist das Neue neu für den Handelnden und seine Umstände, nicht unbedingt absolut neu in der Welt insgesamt; und seine Determination erfolgt eben durch die disziplinierte Unnachgiebigkeit des so-Handelnden, der eine Tendenz zum Kontrafaktischen innewohnt. So sehr subjektbezogen die Engführung des Faktischen am handelnden Subjekt ist, so sehr subjektbezogen ist die Hinzufügung zum Faktischen, die mit der Handlung selbst zuwege gebracht wird. Dennoch wird man schwer leugnen können, daß eine Handlung der Welt, wie sie bis dato ist, etwas hinzufügt, was vorher nicht der Fall war; und auch nicht leugnen, daß jegliche Handlung in gewissen, vorher bestehenden Nischen des Universums ihren Platz einnimmt.

Zur Unterscheidung von dem irreal Kontrafaktischen, d. h. demjenigen, was das handelnde Subjekt tatsächlich nicht tut, aber in einer anderen möglichen Welt getan haben würde, heiße das in der Unnachgiebigkeit des Handelns liegende innovativ-kontrafaktische Element der Freiheit binnen-kontrafaktisch; denn es muß innerhalb einer jeden Welt, in der frei handelnde Subjekte existieren, zur Verwirklichung kommen. Das irreal Kontrafaktische dagegen heiße außen-kontrafaktisch, weil es immer nur in einer anderen möglichen Welt als der des handelnden Subjekts gegeben sein kann. Die Freiheit in jedem über die bloße Ungezwungenheit hinausgehenden Sinn, also auch – will man sie in Rücksicht ziehen – die Freiheit Gottes, ist eine Paarung von faktischem Standort (charakterisiert durch wenigstens interne Umstände) und binnen-kontrafaktischer Neuerung durch das Handeln des betreffenden Subjekts.

8. Freiheit und Kontrafaktizität

In dem Begriff der Freiheit schließt man gemeinhin die Forderung ein, daß der frei Handelnde zum Zeitpunkt des Handelns einer kontrafaktischen Handlung mächtig gewesen sein muß, d. h. anders hätte handeln können. Weniger üblich ist demgegenüber die oben aufgestellte These, daß – nach dem Gefühl der Freiheit beurteilt – der frei Handelnde auch tatsächlich kontrafaktisch gehandelt haben muß in dem Sinne, daß sein Handeln einen für ihn erheblichen Unterschied gemacht haben muß gegenüber der Konfrontation mit dem Faktischen vor Beginn der Handlung. Wir haben die zweite kontrafaktische Bedingung der Freiheit ihre Binnen-Kontrafaktizität genannt; die erste dagegen ihre Außen-Kontrafaktizität.

So unbegründet es nun wäre, die Erfüllung der Binnen-Kontrafaktizität als Beweis nicht-illusionärer Freiheit aufzufassen, so klar ist doch immerhin, daß das handelnde Subjekt in einer anderen möglichen Welt, in der es die andere (außen-kontrafaktische) Handlung tatsächlich beginge, sie ebenso binnen-kontrafaktisch im Verhältnis zu einer vorher gegebenen Konfrontation mit dem Faktischen begehen müßte. Die Frage, die sich von daher stellt, lautet: Ist für die Freiheit zu fordern, daß (1) in jener anderen möglichen Welt lediglich die binnen-kontrafaktische Handlung eines frei Handelnden (bei identischer Konfrontation mit dem Faktischen vor Beginn der Handlung) anders ausfiele; oder ist vielmehr zu fordern, daß (2) auch die anfängliche Konfrontation des Subjekts mit dem Faktischen jener anderen Welt andersartig sein muß, in der es außenkontrafaktisch anders handelt als in der wirklichen Welt?

Meine These ist, daß es erstens irrational in Ansehung des handelnden Subjekts17 und zweitens widersprüchlich in Beziehung auf die als möglich vorausgesetzte Welt wäre, wenn man (1) behauptet. Vielmehr ist man im Interesse eines tauglichen Begriffs möglicher Handlungsalternativen gezwungen, (2) als Forderung aufzustellen. Mein Argument ist, daß andernfalls leicht Fälle konstruierbar sein müßten, in denen die Erfüllung der außen-kontrafaktischen Bedingung der Freiheit einer Verneinung ihrer binnen-kontrafaktischen Bedingung gleichkäme: Das Subjekt in der anderen möglichen Welt beginge eine Null-Handlung, d. h. veränderte sein Verhältnis zu den Umständen nicht – und soll trotzdem das Prädikat der Freiheit behalten.

Man pflegt mit den Subjekten in anderen möglichen Welten allzu achtlos umzugehen: Man läßt sie handeln und doch nicht handeln – ganz wie es einem paßt und obwohl sie dadurch als potentiell freie Subjekte zerstört würden. Im Interesse der Freiheit (auch in anderen möglichen Welten) ist aber zu fordern, daß auch in diesen Welten freie Subjekte in ihren Handlungen frei sein würden und nicht vielmehr unfrei, weil sie gewisse Bedingungen für die Freiheit inkonsistenter Weise nicht mehr erfüllen. Es ist also wichtig festzuhalten, daß die für Freiheit in unserer Welt erforderliche (außen-kontrafaktisch) alternative Möglichkeit des Handelns in einer anderen möglichen Welt (wo sie tatsächlich ausgeführt wird) nur dann als eine freie Handlung gelten kann, wenn sie in jener anderen Welt auch noch die binnen-kontrafaktische Bedingung freien Handelns erfüllen würde.

Zwar will ich durch die vorgeführte Überlegung die Freiheit nicht mit einem Zwang zur Aktivität gleichsetzen. Auch nichts zu tun (wie bei der Unterlassung) kann aus Freiheit erfolgen. Jedoch ist selbst dann ein zuversichtlich erwarteter Wechsel der Umstände als adoptierte Folge meines Verhaltens eine Leistung anderer Dinge oder Personen. Da man jedoch nach Voraussetzung in jener anderen möglichen Welt bis dato nichts ändert, als lediglich die (in der wirklichen Welt) außen-kontrafaktische Handlung anstelle der von demselben Subjekt tatsächlich vollzogenen Tat einzusetzen, darf man keinen sonstigen Wechsel der Umstände als Kompensation für eine ›frei‹ zu nennende Null-Handlung des Subjekts zusätzlich einführen. Dementsprechend würde die Erfüllung der (zuzugebenden) außen-kontrafaktischen Bedingung der Freiheit im Sinne von (1) es erlauben, mit der ebenfalls zuzugebenden binnen-kontrafaktischen Bedingung der Freiheit in einen Widerspruch zu geraten: Das Subjekt – in jener anderen Welt – würde unterstelltermaßen »frei« etwas tun, das gar nicht binnen-kontrafaktisch auf die Lösung einer Konfrontation mit faktischen Umstände hin diszipliniert ist. Denn diese sind noch die gleichen wie in der wirklichen Welt, wo das Subjekt allerdings tatsächlich das Gegenteil dieser Handlung, wie wir annehmen, »frei« getan hat.

Dieser Widerspruch ist jedoch ganz unnötig, da in (1) die außenkontrafaktische Bedingung mißverstanden wird. Man fordert: Dieselbe Person muß in derselben Situation und unter exakt denselben Bedingungen anders handeln können, als sie de facto handelt. Doch interpretiert man diese berechtigte Forderung dadurch, daß man eine mögliche Welt annimmt, in der dasselbe Subjekt in derselben Situation und unter exakt denselben Bedingungen faktisch anders handeltkönnenhandeln