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BERND FISCHERAUER

Burli

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Über den Autor

Bernd Fischerauer, geboren 1943 in Graz, studierte am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und arbeitete zunächst als Regisseur an Theatern in Graz, Wien und München. Seit den siebziger Jahren ist er vor allem Filmregisseur. Zu seinen bekanntesten Werken zählen »Blut und Ehre – Jugend unter Hitler«, »Der Salzbaron« sowie »Mozart – Ich hätte München Ehre gemacht«. Von 2008 bis 2013 protokollierte er für den Fernsehkanal BR-alpha in der Fernsehspielserie »Vom Reich zur Republik« deutsche Zeitgeschichte. »Burli« ist sein erster Roman.

BERND FISCHERAUER

Burli

ROMAN

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Inhalt

Über den Autor

VORWORT

NACHWORT

VORWORT

Ich heiße Adolf Wretschnig und wurde 1942 in Graz geboren. Bei den Kreuzschwestern. Am 5. September. Damals war Krieg, aber das wusste ich nicht. Dieses Jahr werde ich dreizehn. Ausgerechnet am ersten Schultag. Aber egal. War schon einmal so.

Vor sechs Wochen habe ich beschlossen, Dichter zu werden. Da haben die großen Ferien gerade begonnen. Meinen Eltern sagte ich nichts davon. Meiner Schwester auch nicht. Die ist erst zehn. Mit der rede ich nie. Aber Wiltrud habe ich es gesagt. Sie ist um ein Jahr älter als ich und hat schon einen richtigen Busen. Ich bin dafür schon größer als sie.

Es war heiß an dem Tag und in der Umkleidekabine im Stukitzbad war es noch heißer. Sie hatte »Umdrehen« gesagt, bevor sie sich auszog, um in ihren neuen Bikini zu schlüpfen, der ein Hawaiiblumenmuster hatte. Ich dachte, der Augenblick sei günstig. Also sagte ich’s ihr.

»Nicht wahr?«, fragte sie lachend.

»Doch. Ich muss mein Leben aufschreiben.«

»Komm ich da auch drin vor?«

»Klar. Dich liebe ich schließlich«.

Ich liebte sie wirklich. Vom ersten Augenblick an. Und ich liebe sie immer noch. Sie ist die Frau meines Lebens. Obwohl sie diesen Bill Güpser geküsst hat, der schon sechzehn ist und Trompete spielt.

Dann hat sie gesagt, dass ich mich umdrehen soll und ich habe sie das erste Mal nackt gesehen. Das Gefühl, das ich hatte, als sie mich küsste, habe ich bis zum heutigen Tag nicht vergessen. Danach sprang ich vom Zehnmeterturm. Mit einem doppelten Salto. Das war mein Sprung ins Dichterleben! Seit diesem Tag schreibe ich wie ein Verrückter. Und wenn das Buch fertig ist, werde ich reich sein und weltberühmt.

Zwei Sachen kann meine Mutter gar nicht: kochen und zärtlich sein. Aber ich glaube, sie weiß das gar nicht. Seit ich denken kann, gibt es Woche für Woche jeden Tag dasselbe. Montag Spinatlaibchen mit Häuptelsalat, Dienstag Kartoffelgulasch, Mittwoch Leberkäspalatschinken, Donnerstag Letschoreis, Freitag Gemüsesuppe und am Abend, das einzige Mal in der Woche, was Warmes, weil da mein Vater nach Hause kommt.

Da gibt es dann Kärntner Nudeln. Das sind Teigtascherln, die mit Topfen gefüllt sind. Mit zerlassener Butter. Und Minze drin. Die mag er so gerne. Am Samstag gibt’s Fleisch. Das einzige Mal in der Woche. Brathendel oder auch Rindsschnitzel manchmal. Am Sonntag machen wir immer Ausflüge in die Berge. Die hasse ich. Da gibt’s Brote mit Salami und harten Eiern und Essiggurken.

Manchmal essen wir auch in einem Wirtshaus. Aber nur ganz selten. Und wenn, dann Würstel. Frankfurter oder Krainer mit Senf und Kren. Im Winter gibt’s montags dicke Bohnen mit Sauerkraut und am Donnerstag Risipisi. Das ist Reis mit Erbsen. Damit kann man mich jagen. Und am Abend gibt’s immer nur Butterbrote. Die ganze Woche und auch am Sonntag. Vati kriegt dann den Rest vom Fleisch vom Samstag.

Und was die Zärtlichkeit meiner Mutter anlangt, so was wie Streicheln oder Gutenachtkuss gibt’s bei uns nicht. Ich war vier oder fünf, als ich das letzte Mal von ihr einen kriegte.

Es war an einem Freitag und es gab die ewig gleiche Gemüsesuppe. Ich war mit dem Essen fast fertig, als es an der Wohnungstür läutete. »Wer kann denn das sein?«, fragte meine Mutter. Bis auf den Briefträger kam zu uns fast niemand und der kam um die Zeit nicht. Der kam am Vormittag. »Ich mache auf«, sagte ich, ging ins Vorzimmer und öffnete die Wohnungstür einen Spalt. Bei uns liegt immer die Sicherheitskette vor. In Wien bei meiner Großmutter übrigens auch. »Man kann nie wissen«, sagt sie immer.

Der Mann, der im Stiegenhaus stand, sah grauenvoll aus. Gehetzt. Wirr. Abgemagert. Und eine Haut war über seine knochigen Wangen gespannt, die dieselbe Farbe wie sein schäbiger Rucksack hatte. So gelbgrüngrau. Und dann sein Geruch. Ich wusste nicht gleich, wann ich den schon einmal gerochen hatte. Aber ich wusste, dass ich ihn kannte. Und ich kenne viele Gerüche. Solche, die ich mag und solche, die ich widerlich finde.

Die Gerüche im Haus, in dem meine Großmutter wohnt, in Wien, in der Lacknergasse, in ihrer Zimmer-Küche-Wohnung, die lieb ich zum Beispiel. In dem Haus gibt’s einen Fleischhauer, eine Wäscherei und ein Eisgeschäft. Und diese Mischung aus Geselchtem, Blut, Wurst, frischer Wäsche, Bügeldampf und Vanilleeis und den Gerüchen, die aus den einzelnen Wohnungen kommen, ist für mich himmlisch. Ein Geruchsparadies! Wenn ich traurig bin, muss ich nur an sie denken und gleich geht’s mir besser.

Was ich gar nicht mag, ist der Geruch von diesem Kölnischwasser, das sich mein Vater jeden Montag ins Gesicht und unter die Achseln klatscht, bevor er auf Tour geht. Er ist seit einem Jahr Vertreter für diese blöden Aarlandkekse, die nach nichts schmecken. Egal ob mit Zitronencreme oder Schokoladenguss oder was sonst noch allem. Oder den Geruch von Haarpomade, oder von nassen Hunden. Vor solchen Gerüchen graust es mir richtig.

Und dann fiel es mir ein. Dieser Mann roch genauso wie mein Vater gerochen hatte, als ich ihn das erste Mal sah. Das erste Mal, an das ich mich erinnern kann. Der Mann roch nach Angst. Genau wie mein Vater, als er in jener Nacht vor dem Schrebergartenhaus, in dem wir damals wohnten, auf dem Heuberg am Stadtrand von Wien, von seinem Motorrad stieg und sagte, er könne nicht lange bleiben. Absteigen habe ich ihn nicht gesehen. Ich hab ja geschlafen. Aber sein Motorrad hab ich gehört und sein Klopfen und meine Mutter, die aufstand und in die Küche hinausging und leise die Tür aufsperrte. Und danach ihr ängstliches Flüstern. Ich war damals vier. Vielleicht auch schon älter. So genau weiß ich das heute nicht mehr.

Der Mann vor der Tür hatte noch kein Wort gesagt. Er stand nur da, atmete schwer und roch genauso wie damals mein Vater. Und diese Augen. Sie glühten. Graugrün. Es waren bestimmt drei Sekunden vergangen, bevor ich zu ihm »Ja bitte?« sagte.

»Ist dein Vater zu Hause?«

»Nein, warum?«

»Wer ist es denn, Burli?«, rief meine Mutter, kam aus der Küche und erschrak fast zu Tode, als sie den Mann im Stiegenhaus stehen sah. »Grüß Sie, Frau Wretschnig.« Seine Stimme klang wie ein Röcheln. »Mein Mann ist nicht da«, sagte sie nur, scheuchte mich zurück in die Küche und schloss die Tür hinter mir. Ich lauschte. Dann öffnete ich die Tür einen Spalt und sah, wie sie ihn ins Wohnzimmer führte. Meiner Schwester war das alles egal. Die spielte, wie immer, mit ihrem Wellensittich, der während des Essens aus seinem Käfig darf. Der heißt Piepsi.

Es war keine Minute vergangen, als meine Mutter aus dem Wohnzimmer kam, eine Jacke meines Vaters aus dem Einbauschrank nahm, der bei uns im Vorzimmer steht, in die Küche kam und aus einer Lade der amerikanischen Küche, die mein Vater im Frühjahr, kurz nach dem Staatsvertrag, auf sechzig Monatsraten angeschafft hatte, ihr Geldbörsel nahm und ohne etwas zu sagen wieder ins Wohnzimmer wollte. Ich fragte, wer der Mann sei. Sie wirkte panisch. »Ein Bekannter von früher. Er geht gleich wieder.«

Sie hatte Angst. Das konnte ich riechen. Dabei roch meine Mutter nicht. Meine Mutter riecht nie! »Esst auf, Kinder, bitte, ich bin gleich wieder da.« Meine Schwester hatte schon aufgegessen. Ich ließ meine Suppe stehen und ging ins Kinderzimmer, das ich mit meiner Schwester teilen muss, ließ die Tür einen Spaltbreit offen und musste nicht lange warten.

Die Jacke meines Vaters passte dem fremden Mann nicht besonders. Vor allem waren die Ärmel zu kurz.

»Sagen Sie dem Robert, ich werd ihm schreiben.«

»Besser nicht, Herr Wegner. Wir leben noch immer in Todesangst.«

»Auf jeden Fall danke.«

Meine Mutter hatte ihn zur Wohnungstür gebracht, ihm alles Gute gewünscht und die Tür hinter ihm geschlossen, als wäre der Teufel hinter ihr drein. Mit zitternden Händen hat sie die Sicherheitskette wieder vorgelegt und nach Atem gerungen.

Ich hab leise die Tür zugemacht und bin ans Fenster gegangen.

In unserer Straße ist nur wenig Verkehr. Gibt ja kaum Autos bei uns in der Stadt. Mein Vater hat das Nummernschild G-158 auf seinem blöden VW Käfer, der links und rechts mit diesen Keksen bemalt ist, für die er jede Woche auf Tour geht, und mit einem blöd gezeichneten Mann, der eine Sprechblase hat, in der »Aah! Aarlandkeks!« steht.

Der Wegner kam aus dem Haus. Und ausgerechnet jetzt kam ein Auto die Straße herunter. Ein türkisgrüner Opel. Ein Opel Rekord. Mit weißem Dach und Weißwandreifen. Und zwar ziemlich schnell. Nach ein paar Schritten schaute der Mann zu mir hoch, sah mich am Fenster stehen, erschrak, kam ins Stolpern und flog der Länge nach auf die Straße. Direkt vor den Opel. Der Fahrer bremste. Aber zu spät. Ein Aufprall, ein Krachen, ein Reifenquietschen und weg war der Mann. Unter dem Auto. Dann war es still!

Oberst Hartl, der im Haus gegenüber wohnt, genauer gesagt in der großen Villa, trat auf den Balkon, auf dem er, nur eine schwarze Turnhose an, immer seinen Morgensport macht, und schaute auf die Straße hinunter. »Ist etwas passiert?«, rief er dem Fahrer zu, der ausstieg und unter den Opel schaute. »Die Rettung! Wir müssen die Rettung rufen!«,

»Ach, da bist du!« Meine Mutter war ins Zimmer gekommen und ich wollte wissen, wer der fremde Mann war, der jetzt unter dem Auto lag und sicherlich tot war. »Wieso tot?« Sie trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Blut rann unter dem Auto hervor. Sie hielt mir die Augen zu. Das war ihre erste Berührung seit Langem.

Es kann durchaus sein, dass meine Mutter mich liebt. Aber sie kann es nicht zeigen. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange manchmal ist schon viel für sie. Aber streicheln, oder gar in den Arm nehmen, scheint für sie undenkbar zu sein. Auch meinen Vater habe ich sie niemals umarmen gesehen. Aber das ist kein Wunder, wenn ich an die Nacht zurückdenke, in der ich ihn zum ersten Mal sah. Die Nacht in der Schrebergartenhütte auf dem Heuberg in Wien. Die Nacht, in der es in der Hütte so roch, wie dieser Wegner gerochen hat, als er vor mir im Stiegenhaus stand.

Schon damals kannte ich viele Gerüche. Unser Schrebergarten war mein Geruchsuniversum. Ribiseln, Stachelbeeren, Schnittlauch, Radieschen, Salat, Paradeiser, Paprika, Gurken, was da eben alles so wuchs in den Beeten. Und ich kannte den Geruch von Asphalt nach dem Regen, vom Wald, der über der Siedlung begann, und sogar schon Leichengeruch. Ich hatte im Wald mal einen Toten gefunden. Beim Indianerspielen mit den Buben, die in der Nachbarschaft wohnten. Ich kannte sogar den Geruch des Himmels, der sich über dem Garten wölbte und durch den manchmal Flugzeuge ihre Bahnen zogen. Flugzeuge, in denen (und zwar in allen!) Onkel Larry aus Amerika saß, der bei Tante Gusti in Mariahilf wohnte, wenn er in Wien war.

Tante Gusti ist die jüngere Schwester meiner Mutter und ist immer lustig. Ich wünschte mir damals oft, dass sie meine Mutter wäre. Und ich wünsche es mir noch immer. Wenn meine Mutter lacht, habe ich das Gefühl, sie glaubt, das sei Sünde. Tante Gusti ist das Gegenteil. Mit der lacht man mit. Auch wenn man nicht einmal weiß warum.

Weshalb meine Mutter Onkel Larry nicht mochte, ist mir neulich erst klar geworden. Er hatte etwas mit Tante Gusti. Und ich verstehe erst seit Kurzem genau, was das bedeutet. Sie hat gevögelt mit ihm. Und das, obwohl ihr Mann gefallen war! Als Held, wie mein Vater mir oft genug sagte. Genau wie Gunther, sein jüngster Bruder. Von dem stand ein Foto auf seinem Schreibtisch. In einem schmiedeeisernen Rahmen. Mit Trauerflor. Der war schon lange vor dem Krieg fürs Reich und für den Führer gefallen. Auch als Held. Helden gab’s nach dem Krieg jede Menge. Einbeinige, einarmige, blinde, oder alles zusammen. Aber warum es schon vor dem Krieg welche gab, hab ich bis heute nicht wirklich verstanden.

Wenn Onkel Larry aus Detroit geflogen kam, brachte er immer Geschenke mit. Mir vor allem. Modelle von Studebakers. Aber nicht so kleine wie in der Spielzeughandlung bei uns, sondern richtig große. Fast einen Meter lang. Richtige Straßenkreuzer. Und immer Cabrios, in die ich mich reinsetzen konnte. Mit Vollgummireifen und einem echten Lenkrad. Er war Generalvertreter für diese amerikanischen Schlitten. Von ganz Europa, glaub ich sogar. Auf jeden Fall etwas Wichtiges. Denn von Generälen wird in meiner Verwandtschaft nur mit Ehrfurcht gesprochen. Aber das war und ist auch noch heute nicht wichtig für mich. Wichtig war, dass ich mit diesen Wunderwerken der Technik die Straße zur Straßenbahnendstation hinunterdonnern konnte und die anderen Buben, die auf dem Heuberg wohnten, alt aussahen mit ihren selbst gezimmerten Seifenkisten. Meine Mutter bekam von ihm Parfums und Nylons und meine Schwester Schokolade und einmal eine Negerpuppe. Mit der hat sie nie gespielt, weil sie schwarz war.

Was er Tante Gusti mitgebracht hat, weiß ich nicht. Aber sie hatte viel Schmuck, seit sie ihn kannte. Den fand meine Mutter grauenvoll. Vulgär, wie sie sagte. Wie sie alles vulgär fand, was aus Amerika kam. Bis auf ihre Nylons natürlich.

Doch all das zählte für mich damals nicht. Was zählte, war einzig Onkel Larrys Geruch. Dabei roch er nicht einmal besonders. Vielleicht nicht einmal gut. Aber nach Sicherheit hat er gerochen. Sein Geruch war es, der mir den Glauben an Zukunft, an Sicherheit schenkte. An ein Leben, das anders war als das meiner Eltern und ihrer Freunde und Bekannten, die alle wirkten, als hätten sie etwas verbrochen. Außer wenn sie betrunken waren.

Aber meine Mutter hat nie einen Schluck getrunken. Nicht mal wenn Silvester war oder wenn sie Geburtstag hatte. Onkel Larry trank ab und zu einen Whisky. Und beim Heurigen ein Viertel »Reschen« mit Tante Gusti. Vielleicht auch zwei. Aber nie zu viel. Immer mit Genuss. Immer Herr seiner Sinne. Und er schien vor nichts und niemandem Angst zu haben.

Nicht so wie mein Vater, den ich in jener Nacht in der Küche mit meiner Mutter flüstern hörte. Es war Winter und kalt. Die Laube aus Holz. Innen Eis an den Wänden. Und dann das Keuchen und Stöhnen und das flehende »Nein, Robert, nein! Bitte nicht!« meiner Mutter. Ich stürzte hinein in die Küche. »Mutti?!« Sie saß auf dem Tisch, das Nachthemd hochgeschoben und ein Mann stand zwischen ihren gespreizten Beinen. »Vati ist da.«

Komisch, dieser Mann mit den heruntergelassenen Hosen. Auf dem Kopf kaum noch Haare. Und meine Mutter wie erstarrt. Im Gesicht einen Ausdruck, den ich nicht kannte. Das sollte also mein Vater sein? Dieser wildfremde Mensch, der mich keuchend ansah und nicht wusste, was er zu mir sagen sollte.

»Magst du nicht Grüß Gott sagen zu deinem Vati?« Ich hab gar nichts gesagt. Ich hab ihm nur zugesehen, wie er seine Hose hochzog und den Docht der Petroleumlampe höherdrehte.

»Vati muss gleich wieder weg.« Meine Mutter rutschte vom Tisch, hob mich hoch und trug mich zu dem Fremden. »Gib ihm ein Bussi, Burli.«

»Mein Gott, bist du groß geworden.« Dabei stopfte er sein Hemd in die Hose. »Kennst mich denn nimmer? Ich bin’s. Der Vati.« Dann hielt er mir seine Lippen hin. Ich hatte Angst vor ihm und verbarg mein Gesicht an der Schulter meiner Mutter. »Hast Angst womöglich? Vor deinem eigenen Vater?«

»Ist ja kein Wunder«, hat meine Mutter gesagt. »Er hat dich seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.«

Nebenan begann meine kleine Schwester zu weinen. Mein Vater nahm die Petroleumlampe, trat durch die Tür und beugte sich über das Gitterbett, in dem meine Schwester lag. »Das ist sie also, mein Töchterl, mein Hannerl. Was weinst denn? Ich bin’s. Dein Vati.« Er nahm sie aus dem Gitterbett und sie begann wie am Spieß zu schreien. Er gab ihr einen Kuss und lachte. Aber sie schrie nur noch lauter und meine Mutter nahm sie ihm weg.

»Die weckt noch die ganze Nachbarschaft auf.«

»Na, ihr seids vielleicht zwei. Haben Angst vor ihrem eigenen Vater.«

Seinen Geruch fand ich widerlich. Und das sollte auch so bleiben. Da konnte auch noch so viel Kölnischwasser nichts daran ändern.

Er ging vor mir in die Hocke. »Ich hab euch doch lieb.« Er wollte mich streicheln, aber ich rannte in die Küche und versteckte mich hinter dem eiskalten Ofen.

Inzwischen war die Polizei gekommen. Und ein Rettungswagen. Aber zu retten war da nichts mehr. Dieser Wegner war tot und wurde abtransportiert.

»Wer war denn dieser Herr Wegner, Mutti?«

Meine Mutter erschrak.

»Woher …? Wenn dich jemand fragt, du hast diesen Namen nie gehört. Versprich mir das!«

»Aber warum denn?«, wollte ich wissen.

»Weil … versprich es mir einfach!«

Ich versprach es. Nur fragte ich mich, warum sie von mir verlangte zu lügen. Sie, die mich damals geschlagen hatte, weil sie dachte, ich hätte sie angelogen.

Sie hatte sich Sorgen gemacht, weil ich um zwei noch nicht von der Schule zurück war. Sonst kam ich immer um halb zwei nach Hause. Als ich um zwei noch nicht da war, ist sie zu Harald hinüber. Der wohnte zwei Lauben weiter und ging mit mir in dieselbe Klasse. Der hat ihr gesagt, dass ich nachsitzen müsse, weil ich frech zu unserem Lehrer gewesen sei. Dabei hatte ich einer alten Frau geholfen, ihren Einkauf in ihre Wohnung zu tragen. Dafür hab ich dann einen Zwetschkenkuchen bekommen. Und das hat eben gedauert. Zeitgefühl hatte ich damals noch keines. Wer hat das denn schon in meinem Alter? Ich war keine sieben. Aber statt mir zu glauben, schlug mir meine Mutter hart ins Gesicht und wollte die Wahrheit wissen.

Ich hatte die Wahrheit gesagt. Aber sie glaubte Harald, mit dem sie mir sonst den Umgang verbot. Seine Mutter hatte es nämlich mit Negern. Mit schwarzen Soldaten. Meist waren es drei oder vier, die in einem Jeep am Abend kamen und bis spät in die Nacht mit Haralds Mutter lachten und tanzten. Dabei gab es immer laute Musik, die sehr schön war. Aber meine Mutter mochte die nicht. Für sie war es Negermusik. Und sie konnte nicht schlafen.

Mir machte das nichts. Im Gegenteil. Ich dachte dann immer an Onkel Larry und stellte mir vor, wie Amerika wohl war. Uns Kindern brachten die Neger immer was mit. Mal Schokolade, mal Kekse, mal Kaugummis. Mit denen haben sie so lustige Blasen gemacht, die dann zerplatzt sind. Harald nannten sie »Härri«. Darauf war er mächtig stolz. So stolz, dass er jeden, der ihn Harald nannte, auf der Stelle verprügelt hat. Und ausgerechnet ihm hat sie jetzt geglaubt.

»Sag die Wahrheit!« Und noch einmal schlug sie zu. Ihre Hand war hart und mir schoss Blut aus der Nase. Aber ich hatte ein reines Gewissen. Als sie nochmals zuschlug, bestand ich darauf, mit ihr zu der alten Dame zu gehen. Die gratulierte meiner Mutter zu ihrem Sohn und dann gab es noch einen Zwetschkenkuchen.

Statt sich zu entschuldigen, hat mir meine Mutter den Umgang mit Harald endgültig verboten. Als ob das nötig gewesen wäre. Für mich war der sowieso gestorben. Aber meiner Mutter hab ich das nie verziehen.

Am Freitagabend kam dann mein Vater von seiner Tour nach Hause. Ich machte die Wohnungstür für ihn auf. Meine Schwester fiel ihm um den Hals und freute sich sehr. Meine Mutter schickte uns in die Küche, sagte, sie habe mit Vati etwas zu besprechen und ging mit ihm ins Wohnzimmer. Als sie mit ihm kurz darauf in die Küche kam und die Kärntner Nudeln servierte, war ihm der Appetit anscheinend vergangen. Er rührte die Nudeln nicht an. Und er roch genauso wie dieser Wegner, als er vor der Tür stand. Und wie auf dem Heuberg damals.

»Die Mutti hat recht. Das ist wichtig, Burli.« Ich verstand sofort, was er damit meinte. Aber ich habe mich dumm gestellt.

»Was denn, Vati?«

»Ich mein, dass du niemandem was sagst. Wegen dem Mann, der heute da war.«

»Hab ich der Mutti versprochen, Vati.«

»Versprichst du mir’s auch?«

»Ich sag doch nie was. Das weißt du doch, Vati.«

»Weiß ich, Burli.«

Dabei hat er mich angesehen, als ob er mich umbringen wollte. Dann ist er ins Vorzimmer telefonieren gegangen.

Dass er mich immer nur »Burli« nannte, machte mich schon seit Langem wütend. Als ob ich keinen richtigen Namen hätte.

Auch wenn er mit anderen über mich sprach, nannte er nie meinen Namen, sondern redete nur von »seinem Burli«. Und auch heute noch sagt er Burli zu mir. Ich heiße Adolf. Das ist doch ein schöner Name. Aber er nennt mich Burli. Und meine Mutter genauso. Und auch alle Verwandten und Bekannten. Sogar meine Schwester nennt mich so. Und die ist um drei Jahre jünger als ich. Und auch für Tante Gretel, unsere Nachbarin, der das Haus gehört, in dem wir jetzt seit letztem Jahr wohnen, bin ich nur »der Burli«.

Dass er mit der etwas hatte, wusste ich schon lange. Deshalb war er auch so wütend, als ich ihm sagte, dass ich nie etwas sage. Das hat gleich am Anfang begonnen. Gleich nachdem wir von Wien nach Graz übersiedelt sind. Hals über Kopf. Weil mein Vater, der schon eine Zeit lang in Graz lebte, diesen Posten mit den Keksen bekommen hatte. Er kannte den Besitzer der Fabrik, den Herrn Aarland. Mit dem war er schon lange vor dem Krieg befreundet.

Das war kurz vor dem Ende der Ferien und ich konnte Herrn Krüger nicht einmal Danke sagen. Das war mein Volksschullehrer in Wien. Vier lange Jahre. Den hatte ich gerne. Richtig geliebt hab ich ihn. Von so einem Lehrer kann man heute nur träumen. Ich habe nie wieder so einen gehabt. Aber er war leider nicht da, weil ja Ferien waren.

Nach den Jahren im Wiener Schrebergarten war die neue Wohnung der Himmel. Drei Zimmer mit Küche, im ersten Stock eines schönen Hauses. Und sogar ein kleines Bad mit Sitzbadewanne. Und richtige Möbel und für meine Eltern ein Ehebett. »Der reinste Glücksfall«, wie mein Vater sagte. Und die Frau Seipolt, der dieses Haus gehörte, war freundlich zu uns. Gleich von Anfang an. Richtig überschwänglich. Meine Schwester und ich haben gleich Tante Gretel zu ihr sagen müssen.

Onkel Hermann, ihr Mann, war da anders. Mehr ein Leiser. Er ist viel älter als sie und hinkt ein bisschen. Er war Chefredakteur bei der Tagespost. Und das ist er noch heute. Deshalb kriegen wir das Blatt auch umsonst. Mein Vater nennt die Zeitung ein »Siegerblattl« und Onkel Hermann einen »roten Schmieristen«. Meine Mutter sagt dann immer »Vati, bitte« und meint, dass er dem Herrn Chefredakteur lieber dankbar sein soll.

So ist meine Mutter. Immer bescheiden. Nie die Meinung sagen. Und immer freundlich. Vor allem zu Leuten, die was Besseres sind. Und wenn jemand Professor ist oder Ingenieur oder Doktor, ist es ganz aus mit ihr. Da wird sie noch kleiner, als sie schon ist. Und ihre Stimme wird ganz leise. Dabei ist sie ohnehin nie laut.

Am Heuberg hatte es ja keine »besseren Leute« gegeben. Aber hier in Graz … Im Hochparterre wohnten ein Herr Doktor und ein Herr Professor. Doktor Ernst Bretterholzer und Professor Adalbert Vujkovic.

Die Frau Bretterholzer war nett und schon ziemlich alt. Bestimmt schon fünfzig. Ihr Mann war schon vor dem Krieg gestorben und sie stellte sich nie mit »Frau Doktor« vor. Im Gegenteil. Sie sagte meiner Mutter, dass sie diesen Titel bitte weglassen solle. Ihr Mann sei der Doktor. Sie selbst sei nur Hausfrau.

Aber die Vujkovic war da anders. Sie war geschieden. Doch auf den Titel hat sie trotzdem bestanden. Was hat sie sich aufgeregt, als ich sie das erste Mal mit »Frau Fuikowik« grüßte! Der Name stand auf dem Türschild. Und woher sollte ich wissen, wie man den ausspricht? »Das heißt ›Wuikowitsch‹, Burli. Und Frau Professor.« Jetzt sagte die auch schon Burli zu mir!

»Und ich heiße Adolf, Frau ›Wuikowitsch‹«, sagte ich so freundlich, wie meine Mutter mir das eingebläut hatte. »Das ›Wuikowitsch‹ kannst du ruhig weglassen, Burli. Sag einfach in Zukunft Frau Professor zu mir.«

Jetzt verstand ich, was mein Vater meinte, wenn er sagte, dass sie »eine arrogante Funsen« sei, »eine blöde«. Aufgedonnert, wie sie dastand. Am helllichten Vormittag. Geschminkt und in eine Duftwolke gehüllt. Die stank richtiggehend. So schwer und süßlich.

»Wie gesagt, ich heiße Adolf, Frau ›Wuikowitsch‹.« Da hat sie nur noch nach Luft geschnappt und ist in der Wohnung verschwunden. Ich sagte noch höflich »Auf Wiedersehen« und ging zum Greißler. Zu dem hatte mich meine Mutter geschickt, um Brot und Butter zu kaufen.

Mein Großvater wäre stolz auf mich gewesen. Der sagte immer »Großer« zu mir. Und nie dieses blöde »Burli«. Der hat mich schon als ich klein war wie einen Menschen behandelt. Und auf Titel hat er geschissen. Das lag sicher daran, dass er Künstler war und die Welt mit anderen Augen gesehen hat. Was andere über ihn sagten, interessierte ihn nicht.

»Das scheißt mich einen Dreck, mein Großer«, sagte er immer. Und meine Mutter gleich: »Opi, bitte, nicht diese Sprache!«

»Ich red, wie ich red und g’schissn ist g’schissn. Und auf dein ›höher hinaus‹ ist mit Anlauf g’schissn.«

Ich hab ihn geliebt! Meine Mutter wollte immer etwas Besseres sein. Seine Sprache fand sie entsetzlich. Die von Omama auch. Deswegen sprach sie auch immer Hochdeutsch. Er war, wer er war. Und er konnte lachen. Nicht nur über andere. Auch über sich selber. Und er war wirklich bescheiden. Nicht wie meine Mutter, die aus Feigheit bescheiden war. »Ich mach nur, was ich kann. Ein bisserl zeichnen und ab und zu ein Schluckerl trinken.« Und so lebte er auch.

Wenn er am Sonntag mit meiner Großmutter auf den Heuberg kam, brachte er immer einen Doppler Veltliner mit. Und den trank er dann aus im Laufe des Tages. Meine Mutter hasste es, wenn er trank. Dabei war er dann immer so lustig. Und nie betrunken. Er wurde nur fröhlich und zeichnete die Aussicht und meine Schwester und mich und meine Cousine Hexi, wenn sie mit der Tante Gusti da war. Manchmal mit Bleistift, manchmal mit Kohle, und dann sang er immer Heurigenlieder und erzählte Geschichten.

Am schönsten fand ich seine Geschichten aus England. Geschichten aus einer anderen Welt. Einer Welt, in der er geblieben wäre, wenn es dort »Freunderln« gegeben hätte und »einen g’scheiten Wein« und nicht nur dieses »g’schissene Ginnis«.

»Ich und Bier und kein Freund weit und breit, das hab ich einfach nicht ausg’halten, Großer.« Ein Haus hatte er dort. Eine richtige Villa. Und verdient hat er fürstlich. Und die Arbeit war schön. Nicht so wie in Wien, in der Staatsdruckerei. Wo er nur einer von vielen war. In London ist er Chef gewesen. Sogar ein Auto hatte er zur Verfügung. Und doch musste er weg. Zurück nach Wien. In sein Stammbeisel. Zu seinen Freunden. Nach Hernals. In die Zimmer-Küche-Wohnung mit dem Klo auf dem Gang für alle Parteien. »Sonst wär ich g’storbn, Großer.«

Und wenn die Flasche dann leer war, ging er mit mir vor die Hütte und machte aus dem Stand einen Salto vorwärts und gleich darauf einen Salto rückwärts. So einer war das. Er fehlt mir richtig.

Als ich mit dem Einkauf nach Hause gekommen bin, hat meine Mutter auf mich gewartet. Sie war am Boden zerstört. Die »Frau Professor« hatte sich über mein »impertinentes« Benehmen beschwert.

»Ich versteh dich nicht, Burli. Sogar die Frau Seipolt sagt ›Frau Professor‹ zu ihr. Und die ist eine Dame und unsere Hausfrau.«

»Na und? Ich scheiß auf …« Weiter kam ich nicht. Sie schlug zu. Mit ihrer harten Hand.

»So was sagst du nie wieder. Und in Zukunft machst du, was man dir sagt.«

Dass mir das Blut nur so aus der Nase geschossen ist, hab ich gut gefunden. Das hatte sie jetzt davon. Jetzt war der Vorzimmerteppich versaut. »Frau Professor« hab ich trotzdem zu dieser Frau nie gesagt.

Die Tante Gretel und Dame! Anscheinend hatte meine Mutter keine Augen im Kopf. Ich hatte von Anfang an bemerkt, dass mein Vater mit ihr etwas hatte. Wir waren noch keine zehn Tage in Graz, als ich die beiden erwischt hab. Da haben sie sich geküsst. Im Stiegenhaus. Und drei Wochen später ist er aus ihrer Wohnung gekommen. An einem Samstag. Da war meine Mutter auf dem Markt und Onkel Hermann bei der Zeitung. Und ich hatte keine Lust mehr gehabt, mit Hannerl und Renate im Garten zu spielen. Das ist die Tochter von den Seipolts. Die ist genauso alt wie meine Schwester. Und genauso blöd.

Als ich in unsere Wohnung wollte, ist mein Vater grad bei ihrer Tür rausgekommen und ist erschrocken. Tante Gretel trug nur einen Bademantel und er hatte seine Turnhosen an und ein Unterleiberl. Und beide haben verschwitzt ausgesehen. Und auch so gerochen. Mein Vater vor allem. Aber ich hab so getan, als würde ich mir nichts dabei denken, hab Tante Gretel gegrüßt und bin in die Wohnung. Sie hat sich bei meinem Vater übertrieben für seine Hilfe bedankt und er ist ins Badezimmer gegangen. »Hilfe« … die wollte mich wohl für blöd verkaufen.

Das nächste Mal war, als ich schon in die neue Schule gegangen bin. Ins »Zweite Humanistische«. In der Grabenstraße. Das »Erste« war in der Stadt. In der Bürgergasse. Da hätte ich eine halbe Stunde zu Fuß gehen müssen. Also war mir das Zweite lieber. Zu dem brauche ich keine fünf Minuten. Und dass die vom Ersten die Nase über uns rümpften, war mir egal. Da haben wir drauf geschissen, der Wagner Gerhard und ich. Mit dem hab ich mich vom ersten Tag an verstanden. Gleich als mich der Egger, unser Mathelehrer und Klassenvorstand, der Klasse vorgestellt hat. »Meine Herren«, hat er gesagt: »Es ist mir eine Freude, Ihnen Ihren neuen Mitschüler, Herrn Adolf Wretschnig vorzustellen« »Herrn Wretschnig«! Das war was anderes als am Wiener Gymnasium. Da haben die Professoren einfach »du« gesagt. Im Zweiten war das »Sie« für die Lehrer Pflicht.

Dann mussten sie alle ihre Namen nennen. Buchrieser, Schweizer, Kronawitter, das waren gleich zwei, Karl und Kurt, weil die Zwillinge waren, Ehall, Bachleitner, Gartner, Reichert. Und das ging immer so weiter. Mir wurde ganz schwindlig vor lauter Namen. Über zwanzig. Wie sollte ich mir die in so kurzer Zeit merken? Der Letzte, der sich mir vorstellen musste, war Gerhard. »Wagner«, hat er gesagt. »Und neben dem Herrn Wagner sitzen Sie auch, Herr Wretschnig. Setzen!« Gerhard ist in der letzten Bank gesessen. Und seither sitze ich neben ihm.

Hoffentlich nächstes Jahr auch noch. Er hat nämlich einen Nachzipf in Latein. Und wenn er den nicht schafft, bleibt er sitzen. Das wäre scheiße. Er ist mein einziger wirklicher Freund.

Gleich nach dem ersten Schultag haben sie in der Körblergasse auf mich gewartet. Sie waren zu acht und ich allein mit dem Gerhard. »Bleib ganz ruhig«, hat er nur leise gesagt. Ich war ruhig. Solche Situationen kannte ich ja vom Heuberg und vom Indianerspielen bei Onkel Hubert in Pölfing-Brunn unten. Ich war sogar sehr ruhig. Dann konnten wir nicht mehr weiter, weil sie uns den Weg versperrten. »Schleich dich, Gartner«, hat der Gerhard zu dem Riesen, der sichtlich ihr Häuptling war, ganz ruhig gesagt. »Wer mag als Erster?«, hab ich gefragt. Aber bevor sie was sagen konnten, hab ich mich blitzschnell gedreht, dem Gartner schon meinen Ellbogen in sein blödes Gesicht gehaut, dem Nächsten in die Eier getreten und den Ehall in den Schwitzkasten genommen. Den Namen hab ich mir als einen der ersten gemerkt, weil der Ehall so ein ganz ein Langer war, so ein Dünner. Der Gerhard hat den Buchegger an eine Hauswand geschleudert und die anderen vier sind stiften gegangen. Da hab ich den Ehall einfach fallen lassen, ihm noch kurz in die Rippen getreten und bin mit Gerhard weitergegangen, als ob nichts gewesen wäre. Der Gartner stand völlig fertig da und blutete aus der Nase.

»Wenn du wieder was brauchst, musst du’s mir nur sagen.« Dabei hab ich ihm eiskalt in die Augen geschaut.

»Das werd ich mir merken, Wretschnig.«

»Hoffentlich«, sagte Gerhard und wir gingen weiter. Seither sind der Gerhard und ich unzertrennlich.

Gerhard ist Waise. Seine Eltern sind bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen, als sein Vater auf Fronturlaub war. Er wächst bei seinem Großvater auf, dem Herrn Hasiba, der der Vater von seiner Mutter war. Er ist verwitwet und raucht sehr viel. Er hat gleich neben uns, zwei Häuser weiter, eine Eisenwarenhandlung. Da gibt es Schrauben, Nägel und Werkzeug. Einfach alles. Und es riecht ganz wunderbar in dem Laden. Nach Metall und ganz trocken. Über dem Geschäft ist ein großes Schild »Eisen Hasiba seit 1910«, und darüber ist ihre Wohnung. Da bin ich fast jeden Tag, weil der Gerhard eine elektrische Eisenbahn hat und weil ich ihm beim Lateinlernen helfe.

Er hat ein eigenes Zimmer, das nach hinten hinausgeht. Zum Garten. Da schauen wir oft mit seinem Fernglas in die Wohnungen gegenüber. Das ist spannend, weil man sich dann Geschichten ausdenken kann. Mit dem kann man auch in der Nacht alles sehen, weil es noch von der Wehrmacht ist. Das hat er von seinem verstorbenen Vater. Sonst hat er nichts mehr von ihm. Nur das Fernglas und ein Hochzeitsfoto von seinen verstorbenen Eltern. Er schaut seiner Mutter total ähnlich.

Es war November und fast schon dunkel. In den Häusern gegenüber gingen die Lichter an. Der Gerhard war mit dem Schauen dran. Wir schauten immer abwechselnd eine Minute. Dabei war’s bei uns immer finster im Zimmer.

»In eurem Gartenhaus ist wer.«

»Und?«

»Ich seh nur vier Haxn. Zwei sind in der Höh. Mit Stöckelschuhen. Mit roten.«

»Lass schauen.«

»Du bist no ned dran.«

Als ich dann dran war, kam Tante Gretel grad aus dem Salettl und ging rasch aufs Haus zu. Die roten Stöckelschuhe hatte sie in der Hand. Der Gerhard hat sie auch ohne Fernglas gesehen.

»Die Seipolt. Man glaubt’s ned. Jetzt bin ich echt g’spannt.«

»Auf was?«

»Wem die anderen Haxn g’hört ham.«

Wir haben gewartet. Dann war der Gerhard wieder mit Schauen dran.

»Hast du ned g’sagt, dass dein Vater auf Tour is?«

»Ja, er kommt erst gegen sieben.«

»Heut ist er früher da.«

Er gab mir das Glas – und tatsächlich. Mein Vater stand vor dem Gartenhäusel und brunzte auf die Wiese. Daneben sein Koffer, den meine Mutter am Sonntag immer für ihn gepackt hat. Ich hab dem Gerhard gesagt, dass ich ganz schnell nach Haus muss und bin losgerannt.

Und ich war schnell genug drüben in unserem Haus. Als ich im Hochparterre ankam, kam mein Vater gerade die Stiege herauf, die zum Garten hinunterführt. Ihn traf fast der Schlag.

»Du bist schon da?«, fragte ich strahlend. »So früh? Da wird die Mutti a Freud haben, Vati.« Ich ließ ihn stehen und lief die Stiege zu unserer Wohnung hinauf. »Jetzt wart halt, Burli! Ich will sie überraschen!« Aber ich rannte weiter und läutete Sturm. Meine Mutter machte auf. Wie immer lag die Sicherheitskette vor.

»Ach, du bist’s, Burli. Was läutest du denn wie verrückt?«

»Weil der Vati schon da ist!«

»Ich weiß«, sagte sie.

Das klang irgendwie eigenartig.

»Da bin ich, Polderl. Was sagst?«

»Ich hab dein Auto schon stehen gesehen. Schon vor zwanzig Minuten.«

»Ich war nur einen Sprung beim Herrn Sandgruber unten. Ich hab ihm aus Hartberg einen Speck mitgebracht.«

Der Herr Sandgruber ist unser Hausmeister, der unten im Keller wohnt.

»Und kennst ihn ja. Wir haben ein Schnapserl miteinander getrunken.«

Dass mein Vater so lügen konnte! Einfach nicht zu glauben!

Von den Kärntner Nudeln hat er nur drei gegessen. Sonst hat er mindestens acht verdrückt. Und angeschaut hat er mich nicht ein einziges Mal. Meine Mutter auch nicht und sie hat den ganzen Abend nicht ein einziges Wort zu ihm gesagt.

Jetzt wusste ich, was mein Großvater meinte, wenn er mit ihr über meinen Vater sprach.

»Dein feiner Robert«, sagte er immer. »Der lasst dich mit den Kindern da ganz allein und lasst sich’s gut gehen in der Steiermark drunten.«

»›Gut‹. Was du immer redest. Du weißt genau, warum er nicht da sein kann, Opi.«

»Weil er feig is. Weil ihr beide Feiglinge seids. So schaut’s aus, Menschi.«

Er sagte immer »Menschi« zu ihr. Sicher weil sie so klein ist. Aber vielleicht hat er sie einfach für einen kleinen Menschen gehalten. Sie ist wirklich feig. Schon beim ersten Elternsprechtag am Wiener Gymnasium. Da hat sich unser Deutschprofessor bei ihr über mich beschwert. Wegen meiner »überbordenden Fantasie«, wie er sagte.

Wir sollten einen Aufsatz über Wälder schreiben und aus meinem Aufsatz war ein Märchen geworden. Mit Feen und Geistern und dem Waldzauberkönig. Und mit einem Einhorn und mir als Zauberlehrling. Und statt der zwei verlangten Seiten war er zwölf Seiten lang. Mit ganz langen Schachtelsätzen. Wo er da hinkäme, wenn das jeder machte? Aber statt stolz auf mich zu sein, kam sie nach Hause und sah mich schon in einer Hilfsschule landen. Als ich sagte, dass der Professor Bürger ein Depp sei, hat sie mich wieder einmal geschlagen. Wie immer mit ihrer harten Hand. Mit dem Rücken. Ins Gesicht. Und ich hab aus der Nase geblutet. Und als mein Vater dann wieder einmal da war, in der Nacht, musste ich scheitelknien. Das mit dem Scheitelknien hat er schon richtig gefunden, als ich noch ganz klein war. Und meine Mutter hat nichts unternommen. »Das kommt davon, wenn man nicht brav ist, Burli« hat sie nur gesagt.

Am Sonntag darauf hat mein Großvater meinen Aufsatz gelesen. »Von mir hätt er einen römischen Einser kriegt, Menschi. Ich glaub, ich werd einmal reden mit diesem hirnamputierten Deppenprofessor.«

»Sonst noch was. Untersteh dich, Opi.«

»Da scheißt dich gleich wieder an, statt dass d’ selber hingehst und diesem Hirnederl sagst, dass du froh bist, dass dein Sohn Fantasie hat.«

Fantasie hab ich an dem Abend aber keine gebraucht. Weil dass mein Vater mit Tante Gretel im Gartenhaus war, hab ich ja gesehen. Und das Gesicht meiner Mutter auch.

Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht, weil das Ehebett so gequietscht hat. Durch die Türen unserer Wohnung hört man fast alles. Und unser Zimmer grenzt an das Schlafzimmer meiner Eltern. Von meiner Mutter kein Laut. Aber meinen Vater hörte ich ganz furchtbar schnaufen. Dann keuchte er »Jetzt! Jetzt!« und dann war es still. Das war jeden Samstag so. Immer ganz in der Früh. Dann hörte ich, wie meine Mutter ins Bad ging. Auch das war wie immer. Damals konnte ich mir das nicht erklären. Aber heute weiß ich, dass sie da immer gevögelt haben.

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