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Andreas Wirsching
Kollektiver Freizeitpark oder
Burnout-Gesellschaft
Wie überlastet ist der moderne Mensch?

Wiener Vorlesungen im Rathaus

Band 185

Herausgegeben für die Kulturabteilung der Stadt Wien

von Hubert Christian Ehalt

Vortrag im Wiener Rathaus
am 22. Jänner 2016

Andreas Wirsching

Kollektiver Freizeitpark oder
Burnout-Gesellschaft
Wie überlastet ist der
moderne Mensch?

Mit einem Vorwort
von Hubert Christian Ehalt

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Copyright © 2016 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Informationen zu den Wiener Vorlesungen unter
www.wienervorlesungen.at

Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Inhalt

Die Wiener Vorlesungen im Rathaus

Arbeit und Freizeit, ein Parallelslalom mit immer neuen Rekordzeiten

Vorwort

Andreas Wirsching
Kollektiver Freizeitpark oder Burnout-Gesellschaft
Wie überarbeitet ist der moderne Mensch?

Nachwort

Der Autor

Die Wiener Vorlesungen im Rathaus

Am 2. April 1987 hielt der bedeutende polyglotte deutsche Soziologe Prof. Dr. René König im Rahmen der Tagung »Wien – die Stadt und die Wissenschaft« einen Vortrag im Wiener Rathaus zum Verhältnis von Stadt und Universität. In seinem Referat gab René König den Akteurinnen und Akteuren der Wiener Stadtpolitik und -verwaltung den Rat, Wien möge seine Universitäten als Impulsgeber intellektueller Kultur in die Stadt »einnisten«. Die Stadt Wien folgte diesem Ratschlag durch die Initiierung zahlreicher Förderungsinitiativen, durch die Gründung von sechs Wissenschaftsförderungsfonds, durch die Wissenschaftsfundierung ihrer Verwaltungsarbeit und last but not least durch eine Vortragsreihe, die »Wiener Vorlesungen«, das Dialogforum der Stadt Wien an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.

Die Wiener Vorlesungen beschäftigen sich mit den großen wissenschaftlichen und intellektuellen Fragen der Zeit. Die Wissenschaften kommen in immer kürzeren Zeiträumen zu eindrucksvollen Ergebnissen, die sehr oft in für Bürgerinnen und Bürger interessante Anwendungen münden. Die Wirksamkeit der Wissenschaften bietet aber auch Probleme, die jedenfalls in immer stärkerem Maß eine Auseinandersetzung der Öffentlichkeit mit Voraussetzungen und Folgen von Forschung notwendig machen.

Aus den Wiener Vorlesungen ist ein intellektuelles Netz aus Veranstaltungen, Publikationen und TV-Sendungen geworden. Die Vorlesungen waren als Projekt der Wissenschaftsvermittlung, der Aufklärung, aber auch der Kritik geplant, und sie arbeiten an diesen Zielsetzungen durch ständige Selbstreflexion, Methoden- und Formatwechsel, vor allem aber durch die Einladung von Vortragenden, die eine interessante Botschaft haben. Somit ist das Konzept der Wiener Vorlesungen von Beginn der Initiative an klar und prägnant: Prominente Denkerinnen und Denker stellen ihre Analysen und Einschätzungen zur Entstehung und zur Bewältigung der brisanten Probleme der Gegenwart zur Diskussion. Die Wiener Vorlesungen skizzieren nun seit Anfang 1987 vor einem immer noch wachsenden Publikum in dichter Folge ein facettenreiches Bild der gesellschaftlichen und geistigen Situation der Zeit. Das Faszinierende an diesem Projekt ist, dass es immer wieder gelingt, für Vorlesungen, die anspruchsvolle Analysen liefern, ein sehr großes Publikum zu gewinnen, das nicht nur zuhört, sondern auch mitdiskutiert.

Das Wiener Rathaus, Ort der kommunalpolitischen Willensbildung und der Stadtverwaltung, verwandelt bei den Wiener Vorlesungen seine Identität von einem Haus der Politik und Verwaltung zu einer Stadtuniversität. Das Publikum kommt aus allen Segmenten der Bevölkerung; sehr viele Zuhörerinnen und Zuhörer sind in den akademischen Feldern der Universitäten beheimatet; das Wichtige an diesem Projekt ist jedoch, dass auch sehr viele Menschen zu den Vorträgen kommen, die sonst an wissenschaftlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen. Das Rathaus ist ein guter Vortragsort, viele Besucherinnen und Besucher der Wiener Vorlesungen identifizieren es als einen »Ort ihrer Angelegenheiten«, und sie verstärken durch ihre Anwesenheit den demokratischen Charakter des Hauses.

Die Referentinnen und Referenten der Wiener Vorlesungen sind Persönlichkeiten, die ihre Wissenschaft und ihr Metier durch die Fähigkeit bereichert haben, Klischees zu kritisieren und zu zerschlagen und weit über die Grenzen ihres Faches hinauszusehen. Das Besondere an den Wiener Vorlesungen liegt auch in dem dichten Netz an kollegialen und oft freundschaftlichen Banden, die die Stadt zu einem wachsenden Kreis von Forscherinnen und Forschern und Intellektuellen in aller Welt knüpft.

In den fast dreißig Jahren des Bestehens der Wiener Vorlesungen ist das Interesse an Wissenschaft ständig gewachsen. Die Wiener Vorlesungen haben dieses Interesse aufgegriffen und verstehen sich zunehmend als Schnittstelle zwischen der Forschung und einer an Wissenschaft interessierten Öffentlichkeit.

Die Vortragenden – bisher etwa sechstausend – kommen aus allen Kontinenten, Ländern und Regionen der Welt, und die Stadt Wien schafft mit der Einladung prominenter Wissenschafterinnen und Wissenschafter eine kontinuierliche Einbindung in die weltweite »scientific community«. Für die Planung und Koordination der Wiener Vorlesungen war es mir stets ein besonderes Anliegen, diese freundschaftlichen Kontakte zu knüpfen, zu entwickeln und zu pflegen.

Das Anliegen der Wiener Vorlesungen ist eine Schärfung des Blicks auf die Differenziertheit und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit. Sie vertreten die Auffassung, dass Kritik ein integraler Bestandteil der Aufgabe der Wissenschaft ist. Eine genaue Sicht auf Probleme im Medium fundierter und innovativer wissenschaftlicher Analysen dämpft die Emotionen, zeigt neue Wege auf und bildet somit eine wichtige Grundlage für eine humane Welt heute und morgen. Das Publikum macht das Wiener Rathaus durch seine Teilnahme an den Wiener Vorlesungen und den anschließenden Diskussionen zum Ort einer kompetenten Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen der Gegenwart, und es trägt zur Verbreitung jenes Virus bei, das für ein gutes politisches Klima verantwortlich ist.

Die Wiener Vorlesungen analysieren mit dem Wissen um die unterschiedlichen zeitlichen Bedingungshorizonte der Gegenwart (Naturgeschichte, Sozialgeschichte, Ereignisgeschichte) die wichtigen Probleme, die wir heute für morgen bewältigen müssen. Wir sind uns bewusst, dass die Wirklichkeit der Menschen aus materiellen und diskursiven Elementen besteht, die durch Wechselwirkungsverhältnisse miteinander verbunden sind. Die Wiener Vorlesungen thematisieren die gegenwärtigen Verhältnisse als Fakten und als Diskurse. Sie analysieren, bewerten und bilanzieren, befähigen zur Stellungnahme und geben Impulse für weiterführende Diskussionen.

Hubert Christian Ehalt

Arbeit und Freizeit, ein Parallelslalom mit immer neuen Rekordzeiten Vorwort

Begriffe wie Freizeitgesellschaft, postindustrielle Gesellschaft, Erlebnisgesellschaft, mit denen die kulturelle und soziale Welt seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieben wird, insinuieren, dass die Menschen die Arbeitsgesellschaft verlassen haben und sich in einem kollektiven Freizeitpark befinden. Aus den Auslagen, aus Hochglanzbroschüren, die in jeden Haushalt geliefert werden, und aus den digitalen Medien leuchten Produkte, die die Menschen dabei unterstützen, sich in der Welt als Freizeitgelände adäquat zu bewegen und zu verhalten. Die Freizeit, um die es hier geht, hat wenig mit dem alten Arkadien zu tun, das jahrtausendelang als irdisches Paradies ersehnt wurde – ein Ort, an dem es in einer elysischen Landschaft nur Liebe und Musik gab. Die Freizeitwelt, die überall angepriesen wird, bietet ein »Sixpack«, bestehend aus Erlebnis, Ereignis, Abenteuer, Erholung, Entspannung und Ruhe – all inclusive.

Die Lebensrealität der Menschen im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts schaut anders aus: Stress in der Arbeitswelt, Stress in der Familie, Stress in der sogenannten Freizeit, in Summe eine Situation, die bewirkt, dass immer mehr Menschen von einem Syndrom betroffen sind, das Psychologinnen und Psychologen sowie Therapeutinnen und Therapeuten mit dem Begriff »Burnout« benennen.

Die Zielvorstellung, der die Individuen nacheifern müssen, ist ein Höchstmaß an Eigenverantwortung für das Überleben, die Erbringung maximaler Leistungen, Konfliktfähigkeit und Resilienz – ein für die Zeit typischer Begriff, der die Materialqualität »Flexibilität« technischer Produkte auf den Menschen anwendet. Menschen müssen leistungsfähig und bereit sein, ihre Fähigkeiten, ihre Qualifikationen, ihre Widerstandsfähigkeit ständig zu optimieren, um den »Rien-ne-va-plus-Zeitpunkt« hinauszuschieben.

Arbeit und Freizeit bezeichnen beide eine Realität, die durch Zeitknappheit, Mangel an Geld und anderen Ressourcen und durch nicht unterbrochenen Stress gekennzeichnet sind. Bilder, Begrifflichkeit und Narrative sind im Gegensatz dazu rosarot und himmelblau – ein einziger Euphemismus.

Die positive Seite, die sich in den Lebensmöglichkeiten und Lebenschancen der Individuen realisiert, sind der gewachsene individuelle Freiheits- und Gestaltungsraum, die Möglichkeit, ein schöneres, erfüllteres, befriedigenderes Leben zu denken und zu planen, die tatsächliche Existenz der Option, es anders und besser zu machen.

Die Vorgeschichte der kurz skizzierten gegenwärtigen Situation, in der sich ein Großteil der Menschen befindet, hat im 17. Jahrhundert damit begonnen, dass die Arbeit und deren Früchte in Gestalt von Gewinnen und Profiten verherrlicht wurden. Im 20. Jahrhundert wurde, so schreibt Hannah Arendt in ihrem Buch »Vita activa oder Vom tätigen Leben«, die Gesellschaft als Ganzes in eine Arbeitsgesellschaft verwandelt. Arbeit und die dafür notwendige Leistung wurden nicht mehr als Folge der Erbsünde interpretiert, sondern als eigentlicher Lebenszweck menschlicher Existenz. Der Arbeit wird allenthalben gehuldigt, nur der dicht programmierte Terminkalender zählt, alle Normenverstöße wurden relativiert: Geiz ist geil, und Hoffart ist die Kunst, die Ökonomie der Aufmerksamkeit spielerisch zu beherrschen. Nur Faulheit und Trägheit gelten als Todsünde.

Arbeit und Freizeit standen historisch als ungleiches Paar in den letzten Jahrzehnten in einer parallel, häufig komplementär laufenden Entwicklung. Arbeit präsentiert sich als Spaß und Vergnügen in der Wissensgesellschaft, die Erfolgserlebnisse für jeden aus dem angestrebten Teilen des Wissens bezieht, Freizeit entpuppt sich bei näherer Hinsicht auch als Arbeit unter einem immer größeren Leistungsdruck. Die Maxime der neoliberal wirtschaftenden Gesellschaft lautet Profitmaximierung. Die Möglichkeiten zur Realisierung dieser Zielsetzung sind beschränkt. Daher muss rationalisiert, müssen Arbeitskräfte und Arbeitsstunden eingespart, alle Aktivitäten beschleunigt werden. In immer kürzerer Zeit sollen Profite erwirtschaftet werden. Dies sollte nicht über den Umweg der Herstellung und des Vertriebs von Produkten, sondern direkt und immer schneller – Ziel ist »Echtzeit« – geschehen. In der Finanzwirtschaft heißt dieser Vorgang Hochfrequenzhandel.

Die Umwälzungen der Arbeitswelt in den letzten Jahrzehnten hätten weniger Arbeit und mehr Freizeit bewirken können. Der empirische Befund zeigt, dass das Gegenteil der Fall war. Der Mensch ist, wie das vorliegende Buch von Andreas Wirsching zeigt, in der Arbeit, in der Familie und in der Freizeit allein. Fernsehen und elektronische Medien können reale Kommunikationen und Beziehungen nicht ersetzen. Aus großer Belastung entsteht bei immer mehr Individuen Überlastung, die zu Burnout führen kann.

Andreas Wirsching liefert einen schlüssigen Befund zu diesem Sachverhalt. Ich freue mich darüber, dass der spannende Vortrag in der nun vorliegenden Publikation einer größeren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird.

Hubert Christian Ehalt

Andreas Wirsching
Kollektiver Freizeitpark oder Burnout-Gesellschaft
Wie überarbeitet ist der moderne Mensch?

»There is no paucity of
evidence that American
society is becoming a
burnout society.«1

»Immer kürzere Arbeitszeit bei steigenden Lohnkosten, immer mehr Urlaub: Das ist keine Voraussetzung für eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Wir haben in Deutschland im Durchschnitt sechs Wochen Urlaub und zwölf Feiertage pro Jahr. Bei der wöchentlichen Arbeitszeit liegen wir gleichzeitig mit durchschnittlich 37,5 Stunden niedriger als alle unsere Konkurrenten. Dennoch scheint es für viele nichts Wichtigeres zu geben, als über mehr Freizeit nachzudenken. Wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, dass wir unser Land als einen kollektiven Freizeitpark organisieren.«2

Einführung