© 2021, Septime Verlag, Wien

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Umschlag und Satz: Jürgen Schütz

Umschlagbild: © i-stock-ferrantraite

 

 

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: ISBN: 978-3-903061-48-4

 

 

Erstmals erschienen als Hardcover

Septime Verlag, 2017

 

Paperback-ISBN: 978-3-99120-007-9

 

 

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Ute Cohen

(geb. 1966) studierte Linguistik und Geschichte in Erlangen und Florenz. Berufliche Stationen in amerikanischen Unternehmensberatungen in Düsseldorf und Frankfurt und einer internationalen Organisation in Paris folgten. Freiberuflich konzentrierte sie sich ab 2003 auf Konzeptentwicklung, Kundenkommunikation und Journalismus. Bei Septime erschienen bisher die Romane Satans Spielfeld und Poor Dogs.
Ute Cohen lebt heute mit ihrer Familie in Berlin.

 

Klappentext

 

Die zwölfjährige Marie wächst in den Siebzigerjahren auf dem bayerischen Land auf. Bäuerliche Rohheit und dumpfe Obrigkeitshörigkeit prägen die Dorfgemeinschaft. Die Eltern, gefangen in einer zerrütteten Ehe und belastet mit Geldsorgen, sehen in der Tochter die Erlöserin aus dem eigenen Elend. Kleinbürgerliche Enge und der Druck des Elternhauses lassen das empfindsame, begabte Kind Zuflucht im Katholizismus und in Tagträumen finden.

Als Marie eines Tages Sabine und Nicole, die Töchter des schillernden Architekten Fred Bauleitner, kennenlernt, bricht ihre Einsamkeit auf. Ungezwungenheit und Sorglosigkeit locken Marie aus ihrem Kokon. Sie befreit sich von der elterlichen Schwere, entdeckt eine Welt, die moralinsaure Beschränkung gegen freigeistige Leichtigkeit tauscht. Marie riecht, schmeckt, genießt eine dunkel geahnte pubertäre Erregtheit. Der Vater ihrer Freundinnen, getrieben von den eigenen Schatten, webt ein Gespinst aus Verführung, Vaterliebe und Macht, aus dem sich Marie nicht mehr zu entreißen vermag.

Sexualität wird zum brutalen Kernstück einer ungleichen Verbindung, die sich keinen Deut um bürgerliche Moralvorstellungen schert. Sie eröffnet ein schier grenzenloses Spielfeld zwischen Obsession und Macht, zeigt menschliche Abgründe, in denen die Liebe Vorwand und Maske bleibt. Die kindlich-ahnungslose Protagonistin wird zur Spielfigur männlicher Fantasien und

versucht zugleich, sich über ihre eigene sexuelle Macht, deren sie sich bewusst wird, zu emanzipieren. Ihr Scheitern ist vorprogrammiert – ebenso wie das Scheitern einer Gesellschaft, die Heuchelei und Opportunismus zum Prinzip erhoben hat.

 

 

Ute Cohen

 

Satans Spielfeld

 

Roman | Septime Verlag

 

 

Mit einem Nachwort der Autorin zur Neuauflage

 

 

 

 

»Die Einsamkeit ist Satans Spielfeld.«

Vladimir Nabokov

 

 

1

 

 

Der Geruch des Wassers kroch die Nasenscheidewand entlang. Mit geschlossenen Augen sog Marie jedes einzelne Molekül ein. Die Faszination für ekelerregende Gerüche empfand sie nicht als beunruhigend. Wenn sie im Schulbus an den frisch gedüngten Feldern vorbeifuhr, kniete sie sich auf den Sitz und atmete durch das Kippfenster den stechenden Geruch von Ammoniak ein. Er füllte ihre Lungen mit einem Schauder, den sie in sich hütete, bis er sich davonschlich. Er erinnerte sie daran, wie sie einmal vor Jahren einen Urinschwall in das Stroh-Gülle-Gemisch eines Misthaufens ergossen hatte, vorsichtig darauf bedacht, das stinkende Gemisch nicht auf die Schenkel spritzen zu lassen. Die Bäuerin, eine griesgrämige Alte, hatte sie misstrauisch beäugt. Lachend war sie davongelaufen. An den schleimigen, mit einem Algenteppich überwucherten Schrägen des Beckenrandes rieb sie gedankenfern ihren Bauch, bis ein Schrei, spitz und grell wie der eines verletzten Tieres, sie erschrocken aufhorchen ließ. Unter tropfenden Wimpern suchten ihre Augen nach dem Opfer.

Vor den hölzernen Umkleidekabinen entdeckte sie ein blondes Mädchen. Zitternd vor Wut stampfte es auf und verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse. Sein flaches Gesicht mit dem breiten, geschwungenen Mund leuchtete rot neben einem Fahrrad, das, die Reifen in die Luft gereckt, mit glitzernden Speichen auf dem Sattelrücken im Sand lag. Mit dem Handrücken wischte es sich die Tränen von den Wangen und brüllte ein dunkelhaariges Mädchen mit schulterlangen Locken an. Marie, die Hände an den Beckenrand geklammert, war froh über das Ereignis. Endlich hatte die Langeweile ein Ende. Das blonde Mädchen hatte sich wohl das Knie angeschlagen. Jammernd tupfte es die Wunde ab. Marie musste an den Boxkampf denken, den sie im Fernsehen gesehen hatte. Gebannt beobachtete sie das Treiben. Die Dunkle wirkte muskulöser, körperlich der anderen eindeutig überlegen. Die Blonde aber schien in ihrer Wut zu allem bereit. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, sie griff nach dem Bein der Gegnerin und zog ihr dabei das Bikinihöschen herunter. Der Dunklen stiegen Scham und Zornesröte ins Gesicht, sie ballte die Fäuste und schnappte sich die Luftpumpe, die sie in hohem Bogen in die Luft schleuderte, bis sie auf der Wasseroberfläche aufprallte. Das Wasser spritzte kurz auf, bevor die Pumpe langsam schaukelnd in der Tiefe zu versinken drohte. Blitzschnell griff Marie nach der untergehenden Pumpe und hievte sich mit ihrer Beute über den Beckenrand. »Gehört die euch?«, fragte sie. »Hier!«

Das blonde Mädchen richtete sich auf und wollte die Luftpumpe entgegennehmen, sank jedoch vom Schmerz durchzuckt wieder auf den Rasen zurück. »Das tut verdammt weh!«, wimmerte sie.

Marie kniete sich nieder und beugte sich über sie. »Du musst Spucke auf die Wunde geben und dann ein Taschentuch um das Knie binden!« Sie spuckte in ihre Handfläche und verrieb den Speichel. »Ich bin Marie.«

»Sabine«, sagte das blonde Mädchen, lächelte sie aus grünen Augen an und spuckte auf sein blutendes Knie, »und das ist«, leiser Abscheu zeichnete sich auf ihr Gesicht, »meine Schwester Nicole.«

Das dunkelhaarige, sichtlich jüngere Mädchen verdrehte die Augen und wühlte in einem auf einer großen Bastmatte liegenden Stoffbeutel. Das zerknitterte Taschentuch, das sie zutage förderte, faltete sie zu einem Dreieck und band es um Sabines Knie. Damit hatte sie auch deren Wut gezähmt.

»Wie alt bist du?« Sabine hob den Kopf und sah Marie neugierig an. »Wieso haben wir dich eigentlich noch nie hier gesehen?«

»Gerade umgezogen. Ich kenne niemanden hier«, sagte Marie und schaute zu Nicole hinüber, die nun mit einem Mickey-Maus-Heft auf dem Handtuch lag. »Elf bin ich«, fügte sie hinzu.

»So alt wie ich!« Sabine strahlte. »Wir kommen bestimmt in eine Klasse!«

Marie nickte abwesend, beschäftigt damit, den an ihrem Körper klebenden Häkelbikini auszuwringen. Plötzlich sah sie ein weißes Mercedes Cabriolet mit quietschenden Reifen am Straßenrand anhalten. Ihr stockte der Atem. Verwegen stand er vor ihr. War sie in einem Film? Sein Anblick traf sie wie ein elektrischer Schlag. Wie damals, als sie den Finger in die Steckdose gesteckt und der Strom ihr Blut zum Rauschen gebracht hatte. Taumelnd und zitternd war sie auf dem Boden gelegen. Er lächelte. Sie lächelte, murmelte verlegen eine Begrüßung. Seine Schuhe wirbelten Staubwolken auf, in denen ihre Füße wie in Zuckerwatte versanken.

»Papa!«, riefen Sabine und Nicole und warfen sich ihm in die Arme.

Sah es nur so aus oder wollte er seine breiten, schwarzen Schwingen auch über sie ausbreiten? Sein Blick, umschattet von seiner tief ins Gesicht gezogenen Cabriomütze, schweifte über ihre staksigen Beine, die triefenden Haare, das verlegene, verwirrte Gesicht.

»Ein Eis?«, fragte er und hielt ihr ein Kilimandscharo unter die Nase. Ein fremdes Gefühl schlich sich unter ihre Haut, kribbelnder Appetit.

 

Natürlich war er verwunschen, der Garten. Vom Himmel ist er gefallen, als der Feuergott wild über die Wolken ritt und blutrote Mohnblüten hier, genau hinter dem Gelben Haus, aufplatzten. Unter dem Steintisch saßen sie und versteckten sich vor den glühenden Funken der eisernen Räder. Unzertrennlich waren sie seit dem Beginn der Ferien. Morgens, wenn die Mutter zur Arbeit fuhr und der Vater griesgrämig in seinem Zimmer saß, floh Marie in das Gelbe Haus. Dampfender Kakao auf dem Küchentisch, ein Klavier, aus dem der Flohwalzer hüpfte, ließen das Unwohlsein, die Bedrückung für einen Sekundenbruchteil verschwinden. Ein Sportwagen mit Flügeltüren, orange und saftig, lag auf dem in der Hitze flimmernden Kunstrasen des Balkons. Das Hausmädchen zählte die Fliegen auf dem klebrigen Band, das träge von der Decke baumelte. Unten saß Inge Bauleitner, schweigend in einem Raum, der, so ganz anders als der Rest des Gelben Hauses, einschüchternd, nüchtern, entzaubert wirkte. Mechanisch wie eine Aufziehpuppe griff sie in eine Schale mit Gummibärchen, den strengen Knoten im Nacken zusammengerollt wie eine verschreckte Katze. Sommersprossen, braune Tupfer, die sie scheinbar immer wieder mit ihrer Hand wegzuwischen versuchte, sprenkelten das helle Gesicht. Sie aß, als folgte sie einem detaillierten Plan. Mit Zeige- und Mittelfinger schob sie ein Gummibärchen zwischen die leicht geöffneten Lippen. Ausgesaugt glitt es ihren schlanken Hals hinunter. Eine Schleife, penibel genau gebunden, verschloss die Wickelbluse über dem knielangen Rock, unter dem nervöse Beine wippten. Auf und ab bewegten sie sich und ließen violette Pumps wie Herbstlaub von den Füßen fallen. Als Marie mit Sabine und Nicole unter dem Carport hindurch an ihrem Büro vorbeistürmte, rief sie ihnen lächelnd nach: »Wartet! Was macht ihr? Wohin geht ihr?«

»Nirgendwohin!«, antworteten die Töchter und eilten über die Treppe hinauf in die Küche.

Marie rannte ihnen hinterher und setzte sich auf die Eckbank, die den Eichentisch einrahmte. Die Armseligkeit, das erdrückend Unveränderliche der elterlichen Wohnung, vergessen. Schlaraffenland. Sie ließ das Wort auf ihrer Zunge zergehen. Braun glänzende Würste hingen an dem Baum, unter dem rotwangige, dickbäuchige Jungen schlummerten. Zuckerkringel baumelten von den Ästen, die in den Himmel zu wachsen schienen. Frisch gebrühter Kaffee verströmte seinen Duft aus der wildrosenumrankten Tasse. War er hier? Sie versuchte jedes Anzeichen von Unruhe, Aufregung zu vermeiden, unterdrückte die kurze Atmung. Ängstlich versuchte sie, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen, das dunkelsüße Gefühl in sich zu schützen.

Sabine öffnete eine Dose mit Buttergebäck und leckte den zähen Marmeladentropfen von der Mitte des Spritzgebäcks. Nicole nahm sich einen Schokoladenkeks und stopfte ihn sich in den Mund. Brösel klebten an ihren Mundwinkeln. Sie wischte sie mit ihrem Handrücken ab und schob sich eine Vanillewaffel zwischen die Lippen. Sabine setzte sich zu Marie auf die Bank, straffte ihren Pferdeschwanz und öffnete eine mit Blütenranken bedruckte Schachtel, die neben der Kaffeetasse lag. Sie faltete den Karton auseinander und entfernte die Plastikfolie, die über mit Puderzucker bedeckten, geleeartigen Würfeln lag. »Lokum!«, rief sie, nahm sich einen Würfel und hielt ihn in das durch das Küchenfenster strahlende Sonnenlicht. Ein weißer Flaum aus Puderzucker schimmerte über dem rosa Würfel, den sie nach einem Moment der Verzückung mit kurzen Zungenschlägen ableckte, bis das pastellfarbene Fruchtgummi freigelegt war. »Das musst du probieren! Mein Vater hat es aus der Türkei mitgebracht!« Sie hielt Marie die geöffnete Schachtel hin.

Ein Duft aus Rosen und Orangenblüten kitzelte ihre Nase. Vorsichtig wendete Marie einen Würfel zwischen den Fingern und legte ihn auf ihre Zunge. Die geleeartige Masse fühlte sich pelzig an und betäubte ihre Papillen, während sich die Zähne widerstandslos in die süße Masse bohrten. Ihre Geschmacksknospen zogen sich zusammen, schockiert und überwältigt von der extremen Süße. Sabine lachte und zog Marie durch eine Schiebetür in das Wohnzimmer. Neugierig blickte Marie sich um, berührte im Vorbeigehen einen Samtsessel, den seidigen Vorhang. Wie träge Katzen schmiegten sich die Orientteppiche an das Parkett. Nur ein steinerner Kamin zeigte sein verkohltes Inneres. Schmiedeeisernes Kaminbesteck hing an einem Ständer, neben dem ein Weidenkorb mit Holzscheiten und Reisig lag. Sabine schnappte sich ein Pappschächtelchen vom Kaminsims und zog die nachtblauen Übergardinen des Esszimmerfensters zu. Die gedrechselte Rückenlehne des Sofas warf einen dunklen Schatten auf den verblichenen Gobelinstoff. Der Messingschlüssel bohrte sich tief in die Anrichte. Nur mehr schemenhaft konnte Marie Sabine vor dem Steinkamin erkennen. Sabine öffnete ihre Hand, flüsterte, Gefahr heraufbeschwörend: »Das ist kein normales Streichholz. Es ist bengalisches Feuer. Wenn es entfacht wird, bricht die Hölle aus. Rauchschwaden umnebeln dich und Gase nehmen dir den Atem. Das Licht blendet deine Augen und …«

Ein Schauer lief Marie über den Rücken und der süße Belag ihrer Lokum-Zunge verschwand augenblicklich.

»Soll ich es nun anzünden oder kneifst du?«, fragte Sabine.

Marie, wieder gefasst und bemüht, ein vorschnelles Nicken zu unterdrücken, tat ihr den Gefallen und setzte einen furchtsamen Gesichtsausdruck auf.

Sabine quittierte Maries angstvoll geweiteten Blick mit einem gefälligen Lächeln. Der Kopf des Hölzchens näherte sich der Zündfläche. Ein zuckender Blitz tauchte vor ihren Augen auf und breitete sich zu einem gezackten Stern aus, der von bläulichem Licht eingekesselt war. Die Möbel lugten bösartig aus den Wänden und warfen bedrohliche Schatten, die wie gierige Zungen über die üppig entfalteten Baumkronen der Teppiche wanderten. Sabine warf das glimmende Streichholz in den Kamin. »Luzifer!«, rief sie mit tiefer Stimme und riss die Arme nach oben.

Flammen züngelten empor, Tentakel schlangen sich um die dürren Ästchen, bis das unruhig flackernde Feuer nach heftigem Prasseln in beißendem Qualm aufging. Mit gekrümmtem Oberkörper klammerte sich Marie hustend am Kaminsims fest. Nicole war ganz plötzlich aus dem Rauch aufgetaucht, eine leere Wasserschüssel in den Händen, und lachte über ihre entgeisterten Gesichter. Übelkeit kroch aus Maries Magen die Speiseröhre entlang. Krampfhaft die bitter aufsteigende Flüssigkeit zurückdrängend, lief sie über den Flur in das Badezimmer. Der Toilettendeckel schlug gegen die Kacheln, ihre Hände suchten Halt am Rand der Kloschüssel. Saures Lokum erbrach sie. Benommen bespritzte sie ihr Gesicht mit eiskaltem Wasser. Ihre Augen brannten und tränten. Im Flur waberte ein harziger Duft über den knarzenden Dielen. War es ein Schatten, oder hatte sie ihn wirklich gesehen vor dem Spiegel? Tief atmete sie den Gedanken an seinen lauernden Blick aus. Klare, kühle Luft erwartete sie. Trug! Kardamom und Zitrone sog sie ein, unwillkürlich, und folgte dem Duft bis zum Treppenhaus, wo sich seine schwülstigen Moleküle zersetzten und verloren.

Der Klang jedoch, das Echo seiner Schritte, blieb.

 

Marie bewegte sich wie eine Puppe mit lebendigen Gliedern. Sie fühlte das Blut in den Adern pochen, spürte, wie es unter der weißen Haut floss. Ihre Arterien verzweigten sich, verwandelten sich in ein feines Gespinst, das sich aus ihrem Körper in den anderen fortpflanzte. Die silbernen Fäden des Puppenkleides spannen sie ein in einen mild unter der Porzellanleuchte erglänzenden Kokon. Neben ihr auf einer niedrigen Klappleiter stand das Gift, scheinbar harmlos, getarnt als Cola und doch vernichtend. Wenn sie Sabines Befehl ausgeführt, die Flasche an ihre Lippen gesetzt hätte, fräße sich die ätzende Flüssigkeit jetzt durch ihre Speiseröhre und würde die Magenwände durchlöchern. Sabine hatte ihr die Flasche in letzter Sekunde entrissen. Gelacht hatte sie, offensichtlich selbst erleichtert über die vereitelte Tat. »Nimm du das Silberkleid«, hatte sie, wohl in einem Anflug schlechten Gewissens, gerufen und Marie mit großmütiger Geste das Kleid in die Hände gelegt. Marie lauschte angestrengt, ob sie diesen Dämon endlich selbst einmal hören würde, der Sabine Dinge ins Ohr flüsterte, die sie unmöglich selbst denken konnte. Vergeblich. Also legte sie die Ohren an die Balken und glaubte Würmer fressen zu hören, die sich durch das Holz bohrten, Tunnel gruben, durch die sie mit ihren Schlitten sausten, immer schneller durch die dunklen Windungen. Dann erloschen die Bilder und die Dinge wurden wieder zu dem, was sie waren, Flaschen, Bilder, Balken, Barbiepuppen.

Sabine bauschte den weißen Tüllrock über dem Bauchnabel der Puppe. Nicole saß auf der Plastikschaukel, den Kopf nach oben auf die quietschenden Schaukelhaken gerichtet. »Seht doch mal!«, rief sie. »Sieht sie nicht aus wie die weiße Frau aus King Kong?«

Marie blickte sie fragend an.

»King Kong, der Riesenaffe!«

Sollte sie zugeben, dass sie noch nie von ihm gehört hatte? »Ja, ja, ich erinnere mich!« Maries Stimme klang dünn, ein wenig trotzig. Immer wenn sie in das Gelbe Haus eintauchte wie durch einen Wasserspiegel, selbst überrascht, dass er nicht in tausend Stücke zersplitterte, zog Sabine sie ans Ufer.

»Kong«, begann Sabine, »lebte auf einer unheimlichen Insel mit Monsterskorpionen und Menschenfressern mit Knochen auf dem Kopf.« Sie rollte mit den Augen und fuchtelte mit den Händen, während Nicole neben Marie kauerte, fiebrig und gelöst zugleich. »Eines Tages«, fuhr sie fort, »wurde eine wunderschöne blonde Frau von einem Schiff entführt. Ein Opfer für Kong!« Sie hielt die Barbiepuppe in die Höhe, als heischte sie Mitleid. »Nicole, du bist King Kong. Du, Marie, die weiße Frau.« Brav folgten sie ihren Anweisungen und nahmen ihre Puppen in die Hand. »Doch wie sollten sie die weiße Frau aus dem Dorf heraus zu King Kong bringen, ohne selbst gefressen zu werden? Sie hatten sich etwas ganz Besonderes ausgedacht.« Sabine machte eine kurze Pause und blickte Marie und Nicole erwartungsvoll an. »Sie bauten ein riesiges Holzgestell, auf dem sie die weiße Frau festbanden.« Sabine bog die Arme nach hinten und bedeutete Marie, es ihr nachzumachen. Marie löste ihre Haare und befestigte die Puppe mit dem Haargummi an Mittel- und Ringfinger der rechten Hand. »Die weiße Frau zappelte und weinte.« Marie wimmerte und bewegte wild die gespreizten Finger. Nicole stampfte und schnaubte. »Mindestens tausend Kannibalen zogen am Seil und warfen die weiße Frau genau«, Sabine senkte die Stimme, »vor King Kongs Füße.« Maries Herz krampfte sich zusammen. Die Puppe hing an ihren Fingern. Sabine weidete sich ganz offensichtlich an ihrer Angst und flüsterte: »Nicole, du musst die weiße Frau jetzt überall anfassen. Am ganzen Körper.«

King Kong streckte seine Pranken nach Marie aus, drohte ihr die Kleider vom Leib zu reißen und sie zu zermalmen. Den Kannibalen zwar entkommen, würde sie nun im Maul eines zähnefletschenden Ungeheuers enden.

 

Mehr und mehr verspürte Marie eine Unlust, nach Hause zu gehen. Sobald sie ihre Hausaufgaben und den Abwasch erledigt hatte, schlüpfte sie unter die Bettdecke, hielt sich die Ohren zu, um den Streitigkeiten der Eltern, den endlosen Litaneien über Eifersucht und Betrug zu entfliehen. Hinter ihren geschlossenen Lidern tauchten der Vater, die Mutter auf. Marie kniff die Augen zusammen, versuchte die abwesende Miene des Vaters, den Blick der Mutter in das leere Portemonnaie zu übertünchen mit Farben und Gerüchen aus dem Gelben Haus. »Morgen! Morgen gehst du wieder hin!«, wiederholte sie immer wieder, bis die bitteren Töne, die aus dem Schlafzimmer drangen, verklangen. Sie hörte sich atmen, anfangs unruhig, als erstickte sie unter dem Federbett, dann langsamer, gleichmäßig im Takt der Wimpernschläge. Das Schlaraffenland, sie wusste es nun, existierte und würde sie morgen schon retten.

 

Der Teufelsberg befand sich ein paar hundert Meter außerhalb von Heddesheim neben einem verlassenen Feldweg. Geheimnisvolle Legenden umwoben die Ruine. Auf unergründliche Weise verschwanden Säcke, Spaten, Äxte aus den umliegenden Erdkellern. Seltsame Geräusche hörte man nachts hinter den Toren einer Fabrikruine, klobige Würfel, die aus einem riesigen Knobelbecher auf die schwarzen Äcker geworfen schienen.

Keuchend zogen Nicole, Sabine und Marie ihre Schlitten den Hügel hoch. Klirrende Kälte kroch durch ihre Handschuhe. Schneekristalle setzten sich in den Pudelmützen fest und überzogen ihre Gesichter mit einer glitzernden Glasur. Nicole erklomm als Erste den Gipfel. Sie riss sich den Schal vom Hals und hisste eine Flagge. Marie stapfte ihre Initialen in den Schnee. Gipfelstürmer! Der Berg war bezwungen. Vor der Linde, die ihre schneebedeckten Äste über ihnen ausbreitete, positionierten sie ihre Schlitten. Eine Abfahrt, die sie direkt in den kochenden Schlund der Hölle führte, lag vor ihnen. Die Piste war harsch und gefroren. Am Ende des Abhangs befand sich dorniges Gestrüpp. Sanft zu landen war unmöglich.

»Bremsen verboten!«, rief Sabine. »Haribo für den Sieger!« Mit den Zähnen nestelte sie an ihrem Handschuh und zog mit klammen Fingern eine Tüte Schaumerdbeeren aus der Jackentasche. »Seid ihr bereit? Feiglinge haben hier nichts zu suchen!«

Marie spielte das Spiel mit, warf ihr einen herausfordernden Blick zu und schrie: »Darauf kannst du wetten!« Sie legte sich bäuchlings auf den Schlitten, umklammerte mit beiden Händen die Hörner und wartete auf das Signal.

»Auf die Plätze, fertig, los!«

Die Mädchen sausten den Berg hinab. Holzlatten stießen an die Hüften. Wind pfiff um die Ohren. Tränen gefroren auf den Wangen. Eine halbe Schlittenlänge lag Sabine vor Marie. Nicole war mit ihr auf gleicher Höhe. Marie musste gewinnen. Tapfer presste sie sich an ihren Schlitten und raste mit wild pochendem Herzen auf den Abgrund zu. Flammen loderten auf. Funken sprühten aus einem schmiedeeisernen Kessel. Eine schwarze Fratze mit gerillten Hörnern und peitschendem Schwanz starrte ihr wiehernd ins Gesicht.

»Marie, ist alles in Ordnung?«, fragte Nicole beunruhigt und rüttelte an ihrem Arm.

Maries Gesicht fühlte sich an, als hätte eine Katze ihre Krallen an ihr gewetzt. Eine süßliche Flüssigkeit rann ihr in den Mund.

»Warum bremst du denn nicht?«, fragte Sabine.

Maries Kopf dröhnte. Die durchnässten Wollhandschuhe waren von hellroten Blutspuren durchzogen.

»Hier, nimm!«, bot ihr Sabine an.

Sie öffnete die Lippen und ließ sich ein Bonbon in den Mund stecken. Die Zuckerkruste, harsch und süß, kitzelte ihre Zunge. Speichel quoll aus ihren Drüsen. Und da war er, der Moment, so sehr ersehnt, der sie Kratzer und Dornen vergessen ließ, in den sie sich einschloss, weil ihre Zunge zuckte, wie sie wollte, und für kein böses Wort mehr zu gebrauchen war. Auch nicht für ein Nein.

 

Schaum schmiegte sich um Maries ausgekühlten Körper. Sie nahm einen Butterkeks aus einem Schälchen, das auf dem Waschtisch stand, und ließ ihn auf der Zunge mit einem Schluck Limonade zu einer breiigen Masse zerfließen.

»Die Hexe«, rief Nicole, »ich hab sie genau gesehen. Sie stand hinter der Linde und hat den Besen nach Marie geworfen.« Sie schlug mit der flachen Hand auf das Badewasser. »Deshalb ist sie gestürzt.«

»Der Nachtgiger war’s! Er hatte Marie ins Ohr geflüstert: Nicht bremsen! Nicht bremsen!«, widersprach Sabine.

»Du bist doch blind!«, sagte Nicole. »Hast du den schwarzen Kater nicht gesehen? Die Haare haben sich gesträubt auf seinem fürchterlichen Katzenbuckel.« Sie krümmte den Rücken und fauchte ihre Schwester an, die nun fast die ganze Flasche Schaumbad in die Wanne entleerte.

Marie legte den Kopf ins Wasser und schloss die Augen. Nur ein auf- und abebbendes Blubbern nahm sie wahr, die Stimmen waren gedämpft, wie in Styropor gepackt. Noch einmal glitt sie den Abhang hinab, als das Badewasser plötzlich über ihr zusammenschwappte und sie nach Luft schnappte. Sie riss die Augen auf und sah ihn vor sich stehen. Bauleitner zwirbelte seinen Schnurrbart, lachte. Verschreckt versuchte sich Marie hinter dem Schaumberg zu verstecken, der jedoch zu einem mickrigen Häufchen zusammengeschmolzen war. Er kam auf sie zu, bis nur eine Armlänge sie trennte. Marie verbarg sich hinter Sabines Rücken, Schutz suchend. Seine Hand griff in ihr nasses Haar.

»Was ist passiert, Marie? Dein Gesicht ist ganz zerkratzt!«, sagte er, es klang wie Mitleid. Mit Daumen und Zeigefinger hielt er ihr Kinn fest und betrachtete prüfend ihre Verletzungen. Sie spürte ihren Kopf in seiner Hand, die aufgeritzte Haut wie ein zerrissenes Tuch zwischen seinen Fingern, der Mund wie eine Tube, aus der er Farbe quetschen wollte. »Der Nachtgiger? Schnappt der sich nicht die bösen Mädchen?«

Er lachte und wuschelte kurz in ihren Haaren, braunen, glitschigen Büscheln. Dann trocknete er sich die Hand ab, öffnete den Verbandskasten und nahm eine Salbe heraus. Er kniete sich vor die Wanne, schraubte den Deckel auf und drückte Creme auf seinen Zeigefinger. Maries Gesicht wich zurück, als fürchtete es sich mehr als sie selbst. Behutsam tupfte Bauleitner es mit einem Handtuch ab. Jeder Tropfen, den das Tuch aufsog, brachte die Wärme in die Haut zurück und hob auch sachte die Angst. Er strich eine dünne Schicht Salbe auf jeden einzelnen Kratzer und verrieb sie mit seiner Fingerkuppe, bis sie ganz in ihren Poren verschwand. Schaum prickelte betäubend in ihren Ohren und zerfloss zu einem dünnen Strahl, der ihren Hals entlangrann.

»Und jetzt ein Foto!«, rief er plötzlich.

Wie aufgescheuchte Hühner sprangen die Mädchen aus der Badewanne und versuchten, sich ein Handtuch zu angeln. Doch schon stand er wieder im Türrahmen mit der Kamera in der Hand. Sie hüpften zurück in die Wanne, pressten den Bauch an den Rand und legten das Kinn auf die aufgestützten Hände. Er bewegte sich vor und zurück, das rechte Knie leicht gebeugt und das Objektiv nach links gedreht. Sein Auge verschwand hinter dem schwarzen Rohr, das sich immer mehr auf Marie zubewegte. Untertauchen wollte sie und starrte doch wie gebannt in die schwarze Öffnung. Das zerkratzte Gesicht und die nassen Haare reflektierten auf der spiegelnden Oberfläche der Linse. Sie musste hineinblicken, um ihre Augen nicht wie umherirrende Murmeln wegrollen zu sehen. Seine Wimpern aber robbten unaufhaltsam an ihre dampfende Haut heran und versanken in den eingesalbten Wunden.

 

»Intschu tschuna entblößte den Vorderarm seines Sohnes, um ihn mit dem Messer zu ritzen. Dann sagte Intschu tschuna: ›Die Seele lebt im Blute. Die Seelen dieser beiden jungen Krieger mögen ineinander übergehen, dass sie eine einzige Seele bilden. Trinkt!‹«

Im Schneidersitz saß Sabine auf der Wohnzimmercouch und las aus einem blauen Buch mit tiefer Stimme die Besiegelung der ewigen Freundschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand vor. Nicole, den geflochtenen Stoffgürtel um die Stirn, schwankte zwischen Häuptling und Squaw, verwandelte sich dann doch in Letztere, vermutlich weil ihr die Schwester ohnehin den Federschmuck entrissen hätte. Marie machte eine Pause, betrachtete die Freundinnen mit zärtlicher Verbundenheit und folgte schließlich einer plötzlichen Eingebung. Sie hob den Becher Früchtetee in die Höhe und deklamierte feierlich: »Mein Blut ist dein Blut! Eine für alle, alle für eine!«

Nicole blickte sie, nun ganz Abbild indianischen Edelmuts, fragend an: »Drei Musketiere?«

»Egal! Pech und Schwefel. Nur das zählt!«, winkte Sabine ab.

Marie nickte, klappte das Buch zusammen und täuschte einen Schnitt in ihren Unterarm vor, den sie fast schmerzhaft missempfand. »Blutsschwestern! Auf immer und ewig!«, flüsterte sie, den Arm mit Früchtetee befleckt.

Sabine und Nicole strahlten. »Auf immer und ewig!«, riefen sie wie aus einem Munde.

Sie schworen mit erhobener Hand, sich gegenseitig stets zu helfen im Kampf gegen Feinde und finstere Mächte. Geheimgehalten werde der Bund, kein Sterbenswörtchen komme über ihre Lippen. Einen Vertrag, mit unsichtbarer Tinte verfasst und rotem Kerzenwachs versiegelt, vergruben sie im Garten. Vergissmeinnicht würden aus ihm sprießen. Genug war es dennoch nicht. Winnetou hätte sich niemals damit begnügt. Sein Herzblut für Old Shatterhand! Blut musste fließen! Echtes, rotes Blut aus ihren Adern! Sabine sprang auf und lief in die Küche. Mit einem kleinen, spitzen Messer bewaffnet, kam sie zurück. Sie losten, wer beginnen sollte. Die Messerspitze ritzte weiße Haut. Hellrote Tropfen quollen aus den Armen. Marie drückte die kalte Messerschneide auf den Arm und befühlte die weißen Druckstellen. Die Klinge drehte sich. Das Muttermal franste aus wie rosa Tüll. Schmerzlos floss das Blut zu Blut, brandete aus der Wunde, zerstob und verlor sich in den Schwestern.

 

 

 

2

 

 

Inge Bauleitner öffnete das knisternde Butterbrotpapier und zeigte den Kindern die glänzenden, goldgelben Röhren. »Schillerlocken«, erklärte sie, als wäre nichts passiert, als wäre es ein Tag wie jeder andere, »das ist geräucherter Hai.«

Marie war nicht nach Essen zumute. Die Koffer standen bereits vor der Tür. Auf immer und ewig! Zerstört hatte sie ihren Bund.

»Es ist besser so. Ein Internat am Starnberger See. Weit weg von diesem Dorf. Weit weg von ihm«, hatte sie gesagt und geschwiegen.

Marie verzieh ihr nicht. Wie sollte sie überleben ohne die Blutsschwestern? Der Dachboden der Villa war ihr Zufluchtsort, der Garten ihr Paradies. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, zeichnete sich ein Lächeln auf das Gesicht.

»Mama«, Nicole machte noch einen letzten verzweifelten Anlauf, »können wir Marie nicht einfach mitnehmen?«

Die Mutter schüttelte den Kopf und vertröstete sie mit den Wochenenden und den Ferien. Noch einmal umarmten sie einander, versprachen unter Tränen, Briefe zu schreiben und anzurufen.

Sabine stapfte wütend auf und fragte ihre Mutter, jede Silbe hämmernd: Jetzt sag es uns endlich! Warum müssen wir eigentlich ins Internat?«

Die Mutter schwieg, setzte eine letzte Unterschrift auf das Formular. Erledigt war das Thema. Äußere Umstände. Bessere Lösung. Worte, die ungehört aus ihrem Mund fielen. Betreten blickten sie zu Boden, fast glücklich, wenigstens das Unglück teilen zu dürfen, als Bauleitner, einen Ordner unter den Arm geklemmt, ins Zimmer stürmte.

»Was soll das?«, brüllte er. »Gerade habe ich Gerd getroffen. Nichts ist eingegangen.«

Seine Frau blickte ihn fragend an. »Der Wettbewerb? Die Bank?« Sie fasste sich an die Stirn, begann zu stottern: »Ich … ich … Es tut mir leid! Ich muss wohl vergessen haben … Das Internat, die Kinder …«

Verächtlich schleuderte er ihr den Ordner vor die Füße. Sie zuckte zusammen, bückte sich, um die auf dem Boden verstreuten Papiere aufzusammeln. Er schüttelte den Kopf und stieß mit der Hand eine auf dem Schreibtisch stehende Schale um.

»Und diese Fresssucht!«

Er hatte völlig die Fassung verloren und bemerkte erst jetzt die Töchter und Marie. Blitzartig wandelte sich seine Stimmung. »He, ihr drei!«, rief er, die Arme ausgebreitet zu einer Umarmung, als hätte er soeben den Raum betreten. »Macht doch nicht so ein Gesicht! Heute ist der große Tag!«

Inge Bauleitner ordnete ihre Frisur und strich das Kleid über den Hüften glatt. Umständlich schlüpfte sie in ihren Mantel. Bauleitner zog seine beiden Töchter an sich. Lachend küsste er sie auf die Stirn. »Und was Marie betrifft. Kommt sie eben zu mir ins Büro und wir rufen im Internat an! Und wenn ich das nächste Mal nach München fahre, nehme ich sie einfach mit.«

Marie lächelte verlegen, war hin und her gerissen zwischen der aufsteigenden Sanftmut und seiner noch Sekunden vorher peitschenden Stimme. Flüchtig drehte sie sich nach Inge Bauleitner um, hoffte auf Klarheit, sah, wie ihre weiß hervortretenden Knöcheln den Autoschlüssel umklammerten. Sabine und Nicole schlangen sich um den Vater wie Kletterpflanzen, eine letzte Umarmung, ein letzter Kuss.

Rosen flogen in hohem Bogen in den Himmel. Ein langes Wochenende, drei ganze Tage würden sie zusammen sein! Maries Hände umklammerten die Haltestangen der Schiffschaukel. Mit aller Kraft beugte sie die Knie, schwang sich in die Luft, leicht und losgelöst. Nur ein einziger Gedanke krallte sich in ihr fest: Sie wollte den Überschlag schaffen, die Schwerkraft überlisten. Ein einziges Mal hatte sie erst gesehen, wie sich die Schaukel dem Zenit näherte. Der Junge neben ihr, die Wangen rot, die Haare an der Stirn klebend, ging noch einmal tief in die Knie und schaffte den Überschlag. Marie holte tief Luft, spannte die Muskeln an, versuchte, es ihm gleichzutun. Fast hatte sie es geschafft! Ein, zwei Schwünge trennten sie vom Ziel, als der Schaukelbursche abrupt die Bremse unter die Schiene schob. Blitzartig verließ sie die Euphorie, ihre Muskeln brannten von der Anstrengung und an den Händen zeigten sich Rötungen. Die beiden Schwestern, vor dem Gitter wartend, trösteten sie. Sie hakten sich unter und ließen sich treiben im ohrenbetäubenden Lärm der Kirchweih. Rotwangige Frauen in bayrisch blauen Dirndln trugen Bierkrüge durch die Gegend. Eine Blaskappelle spielte »Rosamunde«. Schweinshaxen, Bratwürste und Sauerkraut wurden im Akkord auf die in langen Reihen aufgestellten Bierbänke gestemmt. Die Mädchen suchten Bauleitner. Die Aussicht auf das Kirchweihgeld lockte sie. Kandierte Früchte wollten sie kaufen und in der Geisterbahn vor Skeletten und Totenköpfen zittern.

Als sie vor der Bühne stand, entdeckte sie ihn. Flankiert von einer Blondine mit Hornbrille und einer Brünetten mit Hibiskusblüte im Haar, redete Bauleitner auf zwei Männer ein. Marie spürte, wie sie in seine Richtung vorwärtsgeschoben wurde. War er es, der sie anzog? Oder doch nur die grölende, Bier und Schweiß ausdünstende Menge? Sie war nahe daran, zu stolpern, so sehr war sie damit beschäftigt, seinem Blick nicht zu begegnen. Sie konzentrierte sich auf den an einer Silberkette über dem Dekolleté baumelnden Anhänger seiner Begleitung. Das Gesicht konnte sie nicht erkennen, die dick getuschten Wimpern verschatteten die Augen. Übelkeit stieg in ihr auf. Warum hatte sie nur so hemmungslos geschaukelt und Zuckerwatte gegessen? Die andere war gebräunt, schön, kein Kind mehr. Es war nicht leicht, mit dem Gefühl der Unterlegenheit so zu tun, als wäre es ihr egal. Ihr Blick schweifte über die glatten Haare auf den nackten Schultern, ein leises Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.

Bauleitner zog einen Zwanzigmarkschein aus der Brieftasche und hielt ihn an ein Feuerzeug. »Wenn ihr ihm den Auftrag gebt, dann könnt ihr euer Geld gleich verbrennen!«

Die Blondine neben ihm hob zweifelnd eine Braue über ihrer Hornbrille, während ihr kahlköpfiger Begleiter gemächlich den Rauch seiner Zigarre auspaffte. Die Flamme züngelte bedenklich nah an dem grünen Geldschein. In Maries Bauch begann es zu kribbeln.

»Das ist Staatseigentum! Du machst dich strafbar!«, warnte der Glatzkopf.

Ein Ausdruck von verachtendem Triumph huschte über Bauleitners Gesicht. »Mach dich nicht lächerlich! Ich kann mit meinem Geld machen, was ich will!« Es schien ihm Freude zu machen, dass er seinen Eindruck bei Menschen mit einer kleinen Bemerkung verändern konnte. »Und wenn ihr glaubt, das wäre eine gute Investition, dann zeige ich euch mal, wie schnell das Ding in Flammen aufgehen wird!«

Die Flamme nagte bereits am Papier.