Reinhard Brandt (Hg.)

Die Macht des Vierten

Über eine Ordnung der europäischen Kultur

Meiner

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Giuseppe Pellizza da Voilpedo, II Quarto Stato (siehe S. 53 f.)

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Inhalt

Die Beiträge

Reinhard Brandt

Einführung

Andree Hahmann

Wird mit der Vier erst alles gut? Platon über Gerechtigkeit und Einssein

Rebecca Lämmle

Quartum datur: Das Satyrspiel in der tragischen Tetralogie

Hans Gerhard Senger

Die Funktion und Bedeutung des Quaternars bei Cusanus

Harald Schwaetzer

3, 4, 7: Die Konzeption von Seele in der frühniederländischen Malerei

Reinhard Brandt

Die vielfältige Verwendung der 1, 2, 3 / 4-Konstellation in Kants Philosophie

Ulrike Santozki

Die Macht des Vierten bei Johann Wolfgang von Goethe

Johann Kreuzer

»Wir sprachen nicht immer accordirend miteinander.« Über ein Denkmotiv Hölderlins

Paul Ziche

Schelling, die »Heiligkeit der Vierzahl« und der »Bestand« von Prozessualität

Margit Ruffing

Die 1, 2, 3 / 4-Konstellation bei Schopenhauer

Zu den Autoren

Die Beiträge

Andree Hahmann

Es ist auffallend, dass Platon den bestmöglichen Staat aus drei Ständen zusammensetzt. Jeder Stand hat seine besondere Tugend. Der Nährstand muss sich in der Selbstbeherrschung üben, der Wehrstand steht für Tapferkeit und die herrschenden Philosophen für die Weisheit. Neben den drei Tugenden widmet sich der platonische Staat einer vierten Tugend: der Gerechtigkeit. Ihr entspricht kein eigener Stand, sie stiftet dadurch, dass jeder das seine tut und erhält, die harmonische Ordnung der drei Stände. Diese Untersuchung fragt mit Thrasymachus, ob die Gerechtigkeit als vierte Tugend notwendig zum guten Leben ist oder, ob nicht auch der Ungerechte als vernünftig und wahrhaft gut gelten könne. Denn Platon selbst antizipiert zum Teil die kantische Beobachtung, dass die drei anderen Kardinaltugenden für sich genommen moralisch indifferent zu sein scheinen, sodass »Selbstbeherrschung und nüchterne Überlegung« (Kant, AA04: 394) den Verbrecher nur noch widerwärtiger machen. Zuerst wird betrachtet, was wahre Einheit für Platon bedeutet. Dann wird die Differenzierung der einzelnen Seelenteile erläutert und gezeigt, wie die drei Seelenteile zu dieser Einheit gelangen können, die als das Vierte oder eben die Gerechtigkeit aus ihnen erwächst. Schließlich wird angedeutet, dass die Vierheit auch den harmonischen Aufbau des Kosmos stiftet.

Rebecca Lämmle

An den Tragikerwettbewerben am bedeutendsten Dionysos-Fest in Athen, den sogenannten Großen Dionysien, führten die Tragiker im 5. vorchristlichen Jahrhundert und einige Jahrzehnte darüber hinaus ihre Stücke in Tetralogien von 3 Tragödien und einem Satyrspiel auf. Aufgrund ihrer Forschungen zum Satyrspiel, die den Befund erbracht haben, dass es sich dabei um ein Reflexionsinstrument handelt, mit dem die Tragiker ihr tragisches Schaffen der komischen und der ›dionysischen‹ Reflexion unterziehen, deutet Lämmle die tragische Tetralogie als eine Anverwandlung der Struktur 1, 2, 3 / 4. Zugleich argumentiert sie dafür, dass dieses Ordnungsmuster auch andere Elemente des attischen Theaterwesens strukturiere: das tragische Bühnenpersonal (getragen von drei Schauspielern und einem Chor) ebenso wie die Anlage der Festtage mit dramatischen Wettbewerben an den Großen Dionysien, bei denen ein Tag dem Agon der Komödiendichter, drei Tage dem Agon der Tragiker zugedacht waren.

Hans Gerhard Senger

Triadische Strukturen haben das griechische und lateinisch-christliche Denken in der Antike, im Mittelalter und darüber hinaus weithin bestimmt. Das trifft auch auf die Philosophie und Theologie des Nikolaus von Kues (1401–1464) zu. Im Rückgriff auf antike und patristische Anschauungen verbindet er in ihnen in spezieller Weise die christliche Trinitätslehre mit platonisch-neuplatonischen Philosophemen derart, daß die Welt als Abbild ihres trinitarisch gedeuteten Schöpfers selbst als durchgehend trinitarisch strukturiert gedeutet wird. – Mit seiner zweiten philosophischen Schrift De coniecturis durchbricht Cusanus einmal das in De docta ignorantia grundgelegte triadische Schema. Auf der Grundlage symbolischer Zahlenspekulationen entwickelt er, sich selbst korrigierend, mit einer quaternarisch bestimmten Erkenntnistheorie eine originelle, weitgehend quaternarisch bestimmte Kosmologie.

Harald Schwaetzer

In seinem Beitrag zeigt Harald Schwaetzer, wie die flämische Malerei, insbesondere diejenige Jan van Eycks, malerisch eine Idee von »Seele« ins Bild setzt, die auf der einen Seite historisch von einem Pythagoreismus, auf der anderen Seite aber vor allem von der Rheinischen Mystik her verstanden werden kann. Dabei geht es um die Wandlung von Seelenkräften, und zwar einer niederen und einer höheren Trias. In der Mitte dieser beiden Dreiheiten steht aber die Seele selbst als je vierte Position bzw. als Mitte zwischen zwei Dreiheiten. So ergibt sich eine Siebengliedrigkeit der menschlichen Seele und ihrer Kräfte, die durch das Verhältnis 1, 2, 3 / 4 bestimmt ist.

Reinhard Brandt

Kants Urteilstafel (stabil ab 1781) ist nach dem Vorbild der »Technik der Logiker« gemäß der Konstellation 1, 2, 3 / 4 aufgebaut, ihr folgen viele Teile der Kritiken. Auch andere Bereiche nehmen das Ordnungsprinzp auf, so die Vertragslehre, in der nach dem Vorbild der Pythagoreer der Eid an vierter Stelle steht. Kant spricht nicht über die Rolle des Vierten und damit nicht über die logische Ordnung, nach der er entscheidende Teile seiner Philosophie arrangiert.

Ulrike Santozki

Die Macht des Vierten bei Goethe ist auf alle Bereiche des Werkes verteilt. Vier Ausprägungen lassen sich unterscheiden, deren Anfänge chronologisch in etwa aufeinander folgen: 1. traditionell im 1, 2, 3 / 4-Schema seit der Antike Überliefertes, 2. Ausprägungen, die Goethe infolge seiner Bekanntschaft mit hermetischem und freimaurerischem Gedankengut entwickelte, 3. solche, die im Zusammenhang der Entwicklung einer Idee von »Klassik« durch die Zusammenarbeit mit Schiller entstanden und 4. solche, die typisch für Goethes spezifisch eigene, im Alter ab 1800 voll entwickelte Vorstellung von Naturwissenschaft und Goethes symbolische Weltsicht sind und sich auch auf seine Stilisierung wichtiger Punkte der eigenen Biographie im Rückblick auswirken. Sie greifen vielfältig ineinander, wie sich besonders gut an der Interpretation des Gedichts »Mächtiges Überraschen« zeigen lässt. Wichtig ist, dass Goethe zwar wie Schiller oft zwei Extreme ihre Einheit in einem Dritten finden lässt, die Trias nun jedoch – im Unterschied zu Schiller – noch einmal durch ein abschließendes Viertes überhöht, wohingegen bei Schiller das Dritte wiederum zum Ausgangspunkt für neues Vorwärtsstreben werden kann. Ebenfalls auffällig ist, dass Goethe sowohl im Märchen als auch in Wilhelm Meister Wanderjahre Traditionen aufgreift, aber zugleich originell umgestaltet, indem er die vierte Stelle als Position auszeichnet, die im Gegensatz zu den ersten drei Elementen etwas Selbständiges ermöglicht, sei es durch die Liebe, sei es durch die Ehrfurcht vor sich selbst.

Johann Kreuzer

Der Beitrag setzt sich mit einem zentralen Aspekt jener Logik auseinander, aus der sich für Hölderlin der Anspruch wie die philosophische Signifikanz poetischer Sprache ergeben. Der ›Verfahrungsweise des poetischen Geistes‹ liegt eine logische Notwendigkeit zugrunde. Sie folgt aus der Einsicht in die restriktive bzw. regressive Natur triadischer Denkformen, die Vermittlung als Rückführung verstehen. Ausgangspunkt ist die Kritik, die Hölderlin gegen vereinigungsphilosophische Prämissen anmeldet, die sich beim frühen Schelling formuliert finden. Diese Kritik weist auf bewußtseinsgeschichtliche Voraussetzungen zurück. Unter Heranziehung der Fortentwicklung neuplatonischer Vorgaben in der christlichen Trinitätsspekulation (gebündelt in der Deutung von Ex. 13.14 bei Eckhart von Hochheim) läßt sich zeigen, daß es die logische Eigenständigkeit des Dritten und mit ihr der Gedanke der Vermittlung selbst ist, aus dem die ›Notwendigkeit des Vierten‹ folgt. Hölderlin hat diese Notwendigkeit in die Forderung zusammengefaßt, ›eine Erinnerung zu haben‹. Dies ist nur in Formen der Äußerung möglich. Sie kommen als ›Viertes‹ der Selbstbeziehung des Denkens hinzu und erfüllen sie, indem sie sie reproduzierbar machen.

Paul Ziche

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling widmet der Struktur der Vierfachheit mehrfach Aufmerksamkeit. In einem kleinen Text von 1802 über »Die vier edlen Metalle« entwickelt er ein Strukturmodell, das aus seiner Natur- und zugleich aus seiner Identitätsphilosophie hervorgeht und in einer Form von dynamischer Prozessualität die Verbindung von Anfänglichkeit und Beständigkeit ermöglichen soll. Grundlage ist eine Konstruktion, die aus sich durchkreuzenden und überlagernden Polaritäten einen Konfigurationsraum aufspannt, innerhalb dessen sich alle einzeln bestehenden Formen begreifen lassen. Diese Viererstruktur ist ursprünglich in dem Sinne, dass sie sich nicht der Vervollständigung einer triadischen Struktur verdankt. Im Hintergrund von Schellings Modell werden wichtige Traditionslinien eines Denkens in Viererstrukturen sichtbar; mit Franz von Baader und Friedrich Christoph Oetinger werden zwei Vermittlungsstationen dabei eingehender behandelt.

Margit Ruffing

Ergänzend zu Reinhard Brandts Schopenhauer-Deutung im Sinne der 1, 2, 3 / 4-Konstellation in D’Artagnan und die Urteilstafel wird im vorliegenden Beitrag eine Auslegung durchgeführt, die die drei ersten Bücher als Weltverständnis in der Bejahung, das vierte als Selbstverständnis aus der Verneinung vorstellt, im Ausgang von drei Beziehungsarten einer aporetischen Duplizität und einer vierten, die diese aufhebt. Einen weiteren Ansatz bietet eine Selbstauskunft Schopenhauers, durch die er sich in der geistesgeschichtlichen europäischen Tradition positioniert: Er betrachtet nämlich seine eigene Philosophie als Verbindung und Vollendung von drei grundlegenden Einsichten, die die Welt den Veden, Platon und Kant verdanke. Eine Analyse der Welt als Wille und Vorstellung unter diesem Aspekt ermöglicht es, das Gesamtsystem der Willensmetaphysik als das vierte Element der Konstellation zu sehen.

– REINHARD BRANDT

Einführung

Vorspiel

Dreimal versucht Telemach, der Sohn der Penelope und des Odysseus, den Bogen im Palast seines Vaters zu spannen und den Pfeil durch die Ösen der Äxte zu schießen, dreimal vergeblich. Alle halten den Atem an. Würde der vierte Versuch gelingen?

»Und er trat an die Schwelle des Saals, und versuchte den Bogen Dreimal erschüttert’ er ihn, und strebt ihn auszuspannen; Dreimal verließ ihn die Kraft. Noch immer hoffte der Jüngling. Selbst die Sehne zu spannen, und durch die Äxte zu treffen. Und er hätt’ es vollbracht, […], Aber ihm winkt’ Odysseus und hielt den strebenden Jüngling.«1

Odysseus selbst unternimmt den vierten Versuch mit Erfolg, der Freiermord kann beginnen. Die drei Versuche des Telemach muss der Leser einerseits zur Kenntnis nehmen und die Odyssee wie einen Tatsachenbericht lesen. Er kann jedoch in den drei Versuchen auch das Vorzeichen des Vierten sehen, 1, 2, 3 / 4. Das dreifache Misslingen ist in den mangelnden Kräften des Telemach begründet, so die erste Variante; es kann auch, so die anspruchsvollere Lektüre, auf den vierten Versuch hin komponiert sein; dann findet das Misslingen seine Wende und sein Telos im alles entscheidenden vierten Versuch des Odysseus. Die erste, uninspirierte Lesart beschränkt sich auf das Faktische und Präsente, den »sensus litteralis«, die zweite liest den »vates«, der die Zukunft in das einbezieht, was die Gegenwart bedeutet. In dieser Ebene bilden das Bogenspannen des Telemach und des Odysseus eine einheitliche Komposition, die man ohne unser Muster nicht entdeckt. Von dieser Gedankenfigur handelt dieses Buch.

»Drei Frauen« lautet der Titel eines Abschnitts in dem vorzüglichen Homerbuch von Thomas A. Szlezák.2 Drei Frauen in der Odyssee, Kirke, Kalypso, Nausikaa. Wenn unsere These zu der 1, 2, 3 / 4-Ordnung in der europäischen Kultur korrekt ist, dann ist Szlezáks Titel nicht falsch, aber doch irreführend, denn die wichtigste Frau der Odyssee ist Penelope, also »Vier Frauen«, und nicht zufällig endet Szlezák das Kapitel hellsichtig mit dem Satz: »Daß Odysseus allen drei Versuchungen widersteht, hebt letztlich den Rang Penelopes.« (176) Durch unser Muster ändert sich die Dichtung; die Frauen werden dann nicht in beliebiger Abfolge vorgestellt mit der Möglichkeit, dass die Reihe schon vorher beendet oder auch ad nauseam fortgesetzt werden kann, sondern die vier und bewusst nur vier Frauen bilden eine strukturierte Einheit, die der Leser oder Hörer bemerken soll. Homer rechnet mit einem inneren Takt des Hörers oder Lesers, der durch die Dreizahl vorbereitet eine höhere, dirigierende Vier erwartet. Die Komposition besagt, dass die ersten drei eine gewisse Ordnung bilden, aber auf die Vier zielen und in ihr ultimativ gipfeln. Das bedeutet auch: Odysseus kann oder soll Ithaka nicht verlassen und weitere Abenteuer suchen.

Was geschieht, wenn er gegen die Ordnung verstößt, hat Dante gezeigt. In der Göttlichen Komödie verlässt Odysseus nach seiner Rückkehr mit wenigen Gefährten die Insel und fährt über Gibraltar hinaus, »[…] da erblickten wir einen Berg, in der Entfernung dunkel und so hoch, wie ich noch keinen gesehen hatte. Wir freuten uns, doch bald kam der Jammer, denn von dem neuen Land her brach ein Wirbelsturm los und traf vom Schiff den Bug. Dreimal wirbelte er es herum mit dem Strudel. Beim vierten Mal hob er das Heck und versenkte den Bug, wie einer es wollte. Bis das Meer sich über uns schloß.«3 Dieselbe Figur in der Vernichtung.

Noch zu Homer: Penelope erzählt von ihrem Web-Betrug an den Freiern:

»Also täuschte ich sie drei Jahr’, und betrog die Achaier.

Als nun das vierte Jahr im Geleite der Horen herankam …«4

Poseidon spricht:

»Denn wir sind drei Brüder, die Kronos zeugte mit Rheia:

Zeus, ich selbst und Hades, der Unterirdischen König.

Dreifach geteilt ward alles, und jeder gewann von der Herrschaft. […]

Aber die Erd ist allen gemein und der hohe Olympos«.5

Herodot berichtet, dass Salmoxis, ein Sklave im Dienst des Pythagoras, zurückging nach Thrazien und dort die Unsterblichkeit der Seele lehrte. Die Thrakier waren ungebildet und wollten ihm nicht glauben. Er ließ sich eine unterirdische Wohnung bauen und verschwand in ihr drei Jahre. Die Thraker betrauerten ihn. »Im vierten Jahre aber kam er wieder bei ihnen zum Vorschein, und nun glaubten sie, was er ihnen gesagt hatte. So, sagte man mir dort, hätte er es gemacht.«6

*

1, 2, 3 / 4: Diese Vierer-Ordnung dürfte die mächtigste europäische Ordnungsform sein, sie trat in der Logik auf, sie zeigte und zeigt sich in Dichtung, Theologie und den bildenden Künsten, in Mythen und Märchen, in Texten und Bildern der Reklame und besonders den Versuchen dauerhafter Institutionen wie des Staates und der Universität, auch der Kirche. Die Matrix erfüllt meistens folgende Aufgabe: Sie ordnet ein Mannigfaltiges in drei übersichtliche Positionen und schließt dann ein Viertes an, das keinen weiteren Inhalt hinzuaddiert, sondern die Dreiheit als vollständig bestätigt, sie zur gesicherten Wirklichkeit gelangen lässt oder auch ihre Zusammenkunft begründet. Die drei anfänglichen Positionen können so geordnet sein, dass sie durch ihre zeitliche Abfolge eine suggestive Einheit bilden, sie können auch ein Bedingungsgefüge erstellen; im ersten Fall kann eine triadische Serie genügen, wie wir oben bei Homer sahen. Das Vierte folgt zufällig und zugleich notwendig, setzt die Dreiheit fort und transponiert sie in eine neue Reflexions- oder auch Seinsstufe.

Die Binnenanlage der drei ersten Schritte kann variieren, konstant ist jedoch Fortsetzung und Bruch zwischen 3 und 4, hier liegt für uns das eigentliche Merkmal. Die Ordnung entspringt weder der formalen Logik noch den Zahlen im bloßen Zahlenstrahl noch irgendeinem bestimmten Inhalt, der gezählt und sortiert würde. Gibt es einen durchgehenden zwingenden Grund dieser Ordnung? Er wurde bisher nicht entdeckt; wir dokumentieren hier ihre erstaunliche Häufigkeit.7 Dabei wird unterstellt, dass es eine Einheit in der Sache gibt (bei vielleicht einigen misslichen Beispielen), diese Einheit also nicht der zufälligen Meinung des Betrachters entspringt, sondern funktional-objektiv zu begreifen ist. »Macht des Vierten«? Der oder die oder das Vierte setzt einerseits die drei Vorgänger fort, steht jedoch zugleich als Clou und Norm und Telos in einer neuen endgültigen Reflexions- oder Seinsebene. Das Fahnentuch ermöglicht sichtbar die Tricolore wie Christus die Zusammenkunft der Heiligen Drei Könige. Das Fahnentuch ist der Grund der Einheit und bedeutet die Nation, es transzendiert die drei wechselnden Farben und gehört als ihre einheitliche Fläche zu ihnen. Die Vier ist erfinderisch und bezieht sich in vielen Formen auf die Drei zurück, als Mischverfassung, als Vorbedingung, als Methode und Modalität, als ultimatives Verschwinden, als Wende oder Volte. Man sieht: ohne Toleranz und Witz wird man nur unglücklich bei der weiteren Lektüre.8

Die geistige Bauform des Quaternio zeigt, so zeigten oder unterstellen wir, ihre Wirkung bei Homer, sie durchdringt die Platonische Politeia, sie ist im Hellenismus und im Mittelalter präsent, in der Aufklärungsphilosophie, bei Kant besonders ab 1781 und in vielen Formationen des 19. und noch 20. Jahrhunderts; sie überdauert also unverändert die vielen Umbrüche der europäischen Geistesgeschichte. Die Struktur der vier Kardinaltugenden wird identisch reproduziert in der Kantischen vierteiligen Urteilstafel und im Roman von Alexandre Dumas Die drei Musketiere. Sie wird von Nikolaus von Kues reflektiert, von Rousseau verwendet, sie ist in Filmen des 20. Jahrhunderts präsent. Ein besonders sinnfälliges Beispiel ist das Bild Il quarto stato von Giuseppe Pellizza da Volpedo; es nimmt die Bezeichnung des Proletariats als des vierten Standes auf, aber auch die christliche Tradition der Heiligen Drei Könige und ist nur mit unserem Drei-Vier zu dechiffrieren. Auf dem Petriplatz in Berlin entsteht zur Zeit ein vierteiliges Gebäude mit Lehr- und Gebetsorten für Muslime, Juden und Christen; viertens tritt eine Stätte hinzu, die allen drei und den Bekenntnislosen gewidmet ist. Bei Homer war es, großzügig interpretiert, der Ort der Menschen außerhalb der getrennten Herrschaft der drei Götter Hades, Poseidon und Zeus.

Eine andere Figuration, in der ebenfalls drei Positionen um eine vierte ergänzt werden, ist die Trichotomie eines Begriffs. Es ist eine prekäre Variante des Drei-Vier. Man nehme folgendes Beispiel. Kant sagt in der Kritik der Urteilskraft (1790): »[…], so besteht doch die Kritik der reinen Vernunft […] aus drei Theilen: der Kritik des reinen Verstandes, der reinen Urtheilskraft und der reinen Vernunft, welche Vermögen dann rein genannt werden, wenn sie a priori gesetzgebend sind.« (V 179,10–15) Ist die so markierte Kritik, die aus drei Teilen besteht, eine vierte Kritik? Gibt es eine vierte Kritik? Nein, und doch setzt die Dreiheit der inhaltlich ausgeführten Kritiken ihren Begriff der Kritik als Viertes nach Kant voraus. In einem ganz anderen Begriffsmilieu sagt Platon, an sich gebe es drei Seelenteile mit genau benennbaren Funktionen, aber sie seien nur möglich als notwendige Teile der einen Seele: »[…] ob wir mit demselben alles verrichten, oder von dreien mit jeglichem ein anderes: mit einem von dem, was in uns ist, lernen, mit einem andern uns mutig erweisen, und mit einem dritten wiederum die mit der Ernährung und Erzeugung verbundene Lust begehren, und was dem verwandt ist, oder ob wir mit der ganzen Seele jegliches von diesen verrichten, wenn wir auf eines gestellt sind?«9

Die Matrix hat für sich weder in der Geschichte noch der Gegenwart irgendein Interesse gefunden, es sei denn in einzelnen Studien etwa zu Goethe. Selbst Autoren, die sie intensiv benutzen, ist die übergreifende Präsenz offenbar entgangen. Dabei hätte es z. B. für Kant nahegelegen, bei der Abfassung der Urteilstafel an die Universität zu denken, die nach demselben Bauplan strukturiert war, oder an die Ständegesellschaft mit den drei Ständen und dem einen König, auf die Kant in der Schrift zur Aufklärung (1784) verweist. Im Gegenteil: Auf die übergreifende Vierer-Konstellation weist Kant nie, statt dessen jedoch auf eine durchgehende Dreierordnung in seiner Philosophie.10 Mit der jetzt anstehenden Thematisierung in einer Anzahl von Beiträgen wird also eine Anamnese von etwas Vergessenem, vielleicht auch Verdrängtem geleistet, Verdrängtem, denn die neuesten Hinweise auf diese Figur wurden zur Kenntnis genommen, aber beiseite geschoben, auch aktiv befehdet. Die rätselhafte Verdrängung und Bekämpfung gibt es schon in älteren Publikationen zur sozialen Triangulation, wie unten vorgeführt werden soll.

Um gleich einem Einwand zu begegnen: Es wird nicht behauptet, die 1, 2, 3 / 4-Konstellation habe ein Monopol in der Strukturierung von Vielheit; es gibt selbstverständlich binäre11 und reine Dreierordnungen, es gibt den Quaternio ohne Auszeichnung des ersten oder vierten Elements vor den übrigen drei (vier Himmelsrichtungen, Elemente, Jahreszeiten etc.), es gibt die Quintessenz, auffällig ist jedoch hier die Struktur, in der das erste oder vierte Stück eine harte Grenze gegenüber den drei anderen Elementen markiert und zugleich gleichberechtigt neben ihnen steht.

Es wird keine einheitliche Logik des Drei-Vier-Schritts freigelegt, wir finden keine geheime Kraft, die auf den verschiedenen Gebieten und in den unterschiedlichen Epochen wirkt, sondern können nur das vielfache Vorkommen präsentieren. Auffällig und schwer zu erklären ist die bis heute andauernde Aversion gegen das Muster, auch wenn es vielfach belegt wird. Ein immer wiederholtes Argument lautet, es würden so völlig unterschiedliche Inhalte unter die Struktur subsumiert. Das stimmt. Aber es ist kein Einwand.

Im Jahr 2010 sind dagegen zwei Sammelbände zur Dreiheit erschienen: Die Figur des Dritten und Theorien des Dritten. Die Dreiheit hat Konjunktur.12 Der Schiedsrichter, der Bote, die und der Geliebte, das Dienstmädchen, der Parasit und Sündenbock, ihrer aller wird in diesen materialreichen Studien gedacht. »Die Beschäftigung mit dem Dritten zeitigt paranoische Effekte: Wohin man auch schaut, es blicken Dritte zurück. Überall lauern triadische, ternäre, trianguläre oder gar trinitarische Konstellationen. Keine Ego-Alter-Beziehung, in der nicht ein Tertius oder eine Tertia präsent, keine Dualität, in die nicht ein Tertium eingelassen wäre, kein noch so komplexes Gebilde, das sich nicht in elementare Dreiecke zerlegen ließe.«13 »Es scheint, als läge in der Figur des Dritten überhaupt das Betriebsgeheimnis von Gesellschaften verborgen.« So wirbt der Band Die Figur des Dritten auf dem Rückendeckel. Vom Vierten ist hier keine Rede, sondern nur von der Obsession durch die Dreizahl.

Wir folgen zuerst dieser Konkurrenz-Verhexung und stellen den Dritten als Mit- und Abschlussfigur einer gesellschaftlichen Dyade in den ersten Teil der folgenden Erläuterungen. Wir beginnen jedoch bei der Triade wiederum nicht in ihrer modernen Variante als einer soziologischen Theorie des Dritten, sondern einer alten Herrschaftsfigur. Sie lässt sich nach den vor allem französischen Autoren in Indien, im Vorderen Orient und danach in Europa, besonders in Frankreich, nachweisen. Georges Dumézil und Georges Duby sind die bekanntesten Forscher dieser alten Triangulation. Hier wiederum stellen wir voran eine Information über die Drei-Vierzahl im Hinduismus.

1. Trimurti

»Trimurti« (Sanskrit: »trimûrti«, dreiförmig), Adjektiv des Einen in drei Gestalten.14 Eine Gottesvorstellung des Hinduismus, in der sich die drei kosmischen Funktionen der Erschaffung, Erhaltung und der Zerstörung oder Umformung als Viertem vereinen. Die drei Gottheiten sind Brahma, Vishnu und Shiva. Sie drücken die schöpfenden, erhaltenden und zerstörenden Aspekte des höchsten Seienden aus, vereint in einem Vierten. »Wer dieser Vierte ist, das wechselt und muß immer aus dem Kontext erschlossen werden. Im zweiten Gesang des Kumārasambhava, eines Kunstgedichts von Kālidāsa, dem berühmtesten indischen Dichter, der wahrscheinlich im 5. Jh. u. Z lebte, wird das personifizierte brahman verehrt, der Gott Brahmā, der hier als Erschaffer des Weltalls gilt. Vers 2 beginnt: namas trimūrtaye tubhyam ›Verehrung Dir, dem Dreigestaltigen‹. Wie die drei Gestalten vorzustellen sind, ist nicht gesagt.«15 Sie werden entweder durch die drei Götter nebeneinander dargestellt, als eine einzige Figur mit drei Köpfen oder in einer dreiköpfigen Figur mit sechs Armen, die den jetzt personal gedachten Brahma mit Wasserkrug und Gebetskette zeigt, Vishnu mit Wurfscheibe und Muschel sowie Shiva mit seinem Dreizack und der kleinen Doppeltrommel Damaru.16 Die kosmischen Kräfte werden zwar als männliche oder weibliche Personen dargestellt, sie haben jedoch keine menschlichen Beziehungen, sondern bleiben bloße Personifikationen und könnten als solche ihre Plätze tauschen. Die Reihenfolge ist festgelegt durch die zeitliche Anschauung natürlicher und auch künstlicher Gegebenheiten: der Zyklus der Natur, aber auch die frühere Vorstellung von Staaten, die demselben Zyklus unterworfen sind.17 Die Abfolge ist irreversibel, kann jedoch beliebig wiederholt werden. Die vierte Position entzieht sich der Zeitlichkeit und macht dieselbe zyklische Wiederkehr allererst möglich. Sie ist die rätselhafte Einheit, die in den drei Gottheiten zur Erscheinung kommt.

»In der frühen Rechtsliteratur werden unter dem Stichwort trivarga (Nominalkompositum, m.) ›(ein Satz von) drei Dingen‹ drei Lebensziele des Menschen aufgeführt, kāma, artha und dharma, Erfüllung des Glücksverlangens, Erwerb von Reichtum, Pflichterfüllung. Wenn Religiöses ins Spiel kommt, dann tritt ein Viertes hinzu, moksha ›Befreiung, Erlösung‹, und zwar Befreiung aus dem Leben, von allem, was die drei Lebensziele ausmacht, also etwas, das abschließt und vollendet. Dieser moksha einschließende Vierersatz wird dann bevorzugt als purushārtha bezeichnet, im Sinne von ›worauf der Mensch hinzielt‹. Es gibt zwar auch eine ausdrückliche Vierheit, caturvarga (m.) oder caturbhadra (n.) ›(Satz von) catur vier Dingen‹ oder ›(Satz von) vier Glückswünschen‹. Da werden ganz unterschiedliche Dinge aufgezählt, moksha aber taucht nur, als letztes Glied, in einer Variante der Reihung kāma, artha, dharma auf.«18

Wir können hier nur auf fundierte Literatur verweisen. Die letzte Publikation des Indologen Walter Slaje trägt den Titel Zur Verwandlung eines inklusivistischen Dominanzbegriffs in eine monotheistische Trinitätslehre.19

Slaje geht zurück zu hinduistischen Mythen um Brahma, Visnu und Shiva und folgt ihrer Profilierung am Muster der christlichen Trinitätslehre bei Hegel und Schelling bis zur gegenwärtigen Theologie. Als Resultat bleibt eine vorsichtige Ursprungsidee eines »vierten, drei Götter umfassenden inklusivistischen Hintergrund[s].«20

Seltsam bleibt, dass schon hier im Namen die Dreizahl dominiert und so die wiewohl notwendige und präsente Vier aus dem Blickfeld verdrängt wird, so wie es auch später bis in die Gegenwart häufig geschieht.21 Odysseus’ drei Frauen? Nein, vier! Drei Musketiere? Nein, vier! Drei Stände? Nein vier, il quarto stato!22

2. Die Triangulation der Gesellschaft

Georges Dumézil und Georges Duby haben die drei-funktionale Gesellschaft im Orient und in Europa untersucht; Duby spricht von der durch Georges Dumézil »ans Licht gebrachten Dreiteilung«.23 Dumézil beginnt seine Untersuchung L’idéologie tripartie des Indo-Européens (1958) mit folgendem iritierenden und doch aufschlussreichen Satz: »L’un des traits les plus frappants des sociétés indiennes postrgvédiques est leur division en quatres ›classes‹ – le sanskrit dit: en quatres ›couleurs‹, varna – dont les trois premières, bien qu’inégales, sont pures, parce que proprement arya, tandis que la quatrième, formée sans doute d’abord des vaincus de la conquête arya, est coupée des trois autres et, par nature, irrémédiablement souillée. De cette quatrième, hétérogêne, il ne sera pas question ici.«24

Weil die Paria nicht zur Herrenklasse gehören, werde man in der nachfolgenden Untersuchung auch nichts von ihnen hören: Die Gesellschaft ist dreifunktional, denn der Vierte Stand ist nicht gesellschaftsfähig, wie die Oberen entscheiden. Die alte und neue Verdrängung? Georges Duby argumentiert ein wenig anders bei der Begründung, warum der Vierte aus der europäischen Geschichte ausgeklammert werden muss. Duby kämpft mit harten Bandagen. Er verfolge »die Absicht, deutlich zu machen, dass ein bestimmtes Bild gesellschaftlicher Ordnung in Frankreich ein ganzes Jahrtausend Bestand hatte. Die Dreiecksfigur, über die sich im Geiste der Bischöfe des Jahres 1000 der Traum von einer einzigen und dreifältigen Gesellschaft erhob, einer Gesellschaft als Ebenbild jener Gottheit, die sie erschaffen hatte und sie richten wird – diese Figur, in der ein Austausch gegenseitiger Dienste die Vielfalt der menschlichen Handlungen in die Eintracht zurückführt, unterscheidet sich in der Tat nicht von jener, die unter der Herrschaft Heinrichs IV. dazu diente, die Theorie der Unterwerfung des unter dem Joch der absoluten Monarchie einkasernierten Volkes auf einer Symbolik zu gründen, welche mit den ersten Fortschritten der Humanwissenschaften schon bald wieder in Frage gestellt werden sollte; an manchen Orten, die sicher immer seltener werden, denen aber noch nicht alle Lebenskraft genommen ist, klammert sich die Nostalgie einer erneuerten Menschheit, die endlich gereinigt wäre von dem zweifachen, dem weißen und dem roten Eiter, den die Großstadt absondert, die sowohl vom Kapitalismus als auch von der Arbeitsklasse befreit wäre, noch heute an diese Dreiecksfigur. Dreißig, vierzig aufeinanderfolgende Generationen haben sich die soziale Vollkommenheit in Form der Trifunktionalität vorgestellt. Diese Vorstellung hat jedem Druck der Geschichte widerstanden. Sie ist eine Struktur.«25 So sei es, im Namen der Dreieinigkeit.

Die Dreierstruktur ist demnach in sich notwendig und vollständig. Duby: »[…] daß die drei Funktionen, das heißt die drei ›Ordnungen‹, wie Klammern über ihre zahllosen Glieder greifen. Weshalb? Wie? Ehrlich gesagt, auf geheimnisvolle, auf jeden Fall aber unerklärte Art und Weise. Ist sie deshalb unerklärlich? An dieser Stelle des Diskurses öffnet sich eine Kluft. Der so um Beweisführung besorgte Loyseau versucht gar nicht erst, die Notwendigkeit dieser Klammern aufzuzeigen. Er stellt schlicht und einfach fest: die einen sind eigens zu diesem Amt bestimmt, die anderen zu jenem und noch andere zu einem dritten. Die Trifunktionalität kommt von selbst. Sie liegt in der Ordnung der Dinge.«26

Und so geht die Dreierfindung fort. Nur leuchtet auch in dieser Phalanx von Triaden die feindliche Vier auf: Die unterschiedlichen Funktionen würden erfüllt »von Männern, die gemeinsam die ›Träger der Gemeinschaft‹, der ›res publica‹ bilden, die Werkzeuge, derer der König sich bedient, um handeln zu können.«27 Duby vergisst in seiner Triadologie den Vierten, den König, der hier aus der Kulisse hervorsieht, sofort. An späterer Stelle tritt er versehentlich noch einmal auf. Die drei Stände tragen den Thron. »Auf diesen drei Füßen ruht der Thron. […] und setzt voraus, daß alle drei Stände, einschließlich der oratores, der königlichen Autorität unterstellt sind.«28 Was machen auch die Stände ohne König, die 3 ohne die 4? In den üblichen deutschen und französischen Geschichts- und Kinderbüchern wird berichtet, dass Frankreich vom Mittelalter bis 1789 eine ständisch organisierte Monarchie war, also 1, 2, 3 / 4, wie auch Alexandre Dumas noch weiß, der »Drei Musketiere« im Titel ankündigt, aber dann den vierten, D’Artagnan, an die Spitze stellt. Ohne den Vierten ist die Dubysche Ordnung nicht möglich, und das wundersame Pathos, mit dem er die Triangulierung vorträgt, scheitert an ihrem simplen inneren Widerspruch.

Die Stärke der Triangulationsforschung liegt darin, dass sie wohl als erste eine rein formale Anlage der Gesellschaft aufdeckt, die nicht gesetzlich-kausal hergeleitet, sondern geometrisch und numerisch bestimmt wird; hierfür hat sich der Begriff der Struktur bewährt. Die Triangulation ist eine Struktur, in der sich Gesellschaft durch ihre eigene Dynamik bildet. Sie ist grundsätzlich nicht oder nicht nur natural, sondern nur symbolisch zugänglich. Sie hat den Vorteil, dass die Akteure der Gesellschaft sich von vornherein in einem strukturierten Raum befinden, sie können nicht aus dem Ich-Bewusstsein zum alter ego vorstoßen und sich auf diese Weise von dem Solipsismus befreien (Husserl), sie finden sich auch nicht in einer Ich-Du-Beziehung, die nun durch Akte der Anerkennung und Kommunikation bereichert werden kann (Fichte; Habermas), sondern erst in einer Triade werden aus den unbestimmten Individuen auf Dauer gestellte Personen und Institutionen.

Dumézil stellt bescheiden zur triadischen Figur in der indo-europäischen Tradition fest: »Nous n’en tenons que le principe, un des principes et des cadres essentiels.«29 Eines der dunkelsten Probleme sei das Verhältnis der drei Funktionen zum König.30 Wohin gehört er? Er ist der Trias häufig überlegen, wenigstens äußerlich, er lässt sich nicht in die drei Ordnungen integrieren. Dumézil begeht hier m. E. zwei Fehler; einmal bezieht er das Problem eines überschießenden Vierten nur auf den König und keine anderen Vierten wie z. B. die eingangs zitierten Parias in Indien und den »quarto stato« der Industriegesellschaft. Zum anderen stellt er nicht die Frage, worin die Funktion des Vierten gegenüber dem schon vollständigen trifunktionalen System noch bestehen könnte.

Betrachtet man das Material der Dreiheitsforscher insgesamt, so ergibt sich ein Raster mit drei Varianten. Erstens die Gruppe, in der der Quelltext ausdrücklich auf die Abgeschlossenheit der drei Stände verweist, etwa mit dem Hinweis, dass der König in den Stand der Ritter integriert ist.31 Diese Gruppe ist im Ganzen wohl verschwindend klein. Sodann folgt die Gruppe mit Beispielen, in denen die exklusive triadische Figur behauptet, aber nicht belegt wird, und drittens, in denen die vierte Position eindeutig präsent ist. Die zweite und dritte Gruppe bilden den weitaus größten Anteil. Überblickt man das Material in dieser Weise, so ist der Leser perplex: Woher kommt die Blindheit der französischen Erforscher gegenüber der realen, belegbaren Viereinheit? Oder: Welches Interesse gibt es an der »triangulation«, wenn doch die Akten geschlossen sind und die geschichtliche Forschung längst das Heft in der Hand hat?

Die gegenwärtige deutsche Erforschung des Dritten als einer entscheidenden Figur der Bildung menschlicher Gesellschaften setzt sich nicht in eine Traditionslinie oder auch nur gedankliche Vergleichung der älteren Formation, und wir können gleich ergänzen: Sie nimmt auch kein Interesse an der Dreier-Figur als solcher, die es auch in anderen Gebieten als dem Sozialen geben könnte, und sie monopolisiert die Drei, obwohl seit dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts an die Konstellation 1, 2, 3 / 4 in der Kultur, auch in der Gesellschaftsbildung, erinnert wurde.32 Die Dreier-Forschung nimmt die Analysen Georg Simmels als ein unhinterschreitbares Faktum und arbeitet vor sich hin, ohne noch nach links oder rechts zu schauen.33 Dass diese Grenzziehung bei allen schönen Ergebnissen zu grundsätzlichen Defiziten führt, soll weiter unten gezeigt werden. Ein Grund der Bornierung mag darin liegen, dass die Figur des Dritten bearbeitet wurde in Projekten mit Anträgen und Drittmittel-Finanzierung, die auf das in der Planung benannte Gebiet festgelegt ist und den Plan und nichts anderes in der geplanten Zeit erfüllen soll. Obwohl selbst gestellt, wird das Projekt zur Auftragsarbeit, die die Neugier mit Abbruch sanktioniert: So der Eindruck, den das Ergebnis vermittelt.

3. Die Figur des Dritten nach 1900

Als Gründungsheros der jetzigen soziologischen Theorie des Dritten wird Georg Simmel (neben Sigmund Freud) genannt; die Theorie tritt, wie eben angemerkt, ohne Rückgriff auf die alte Triangulation auf, desgleichen ohne einen Blick auf andere Gebiete als die menschliche Gesellschaft und ohne Rücksicht auf die neue Konstellationsforschung.

In seiner Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908) setzt Simmel mit einer basalen Zweier-Beziehung ein, die durch den Dritten qualitativ über sich hinaus und zum Abschluss geführt wird. Die erste Zweier-Beziehung gibt es z. B. im flüchtigen Gruß, in spontaner Hilfe, im Geschenk; Liebe, aber auch Hass und Streit gehören zu den primären instabilen Phänomenen, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gibt. Daneben die Ehebeziehung, die noch als vorsozial gilt und erst durch das Hinzutreten des Dritten eine feste Konstitution gewinnt. Der Dritte tritt hinzu, verfestigt die Zweierbeziehung oder entzweit und zerstört sie. In der ersten Funktion vermittelt er und verstetigt die nur individuellen Beziehungen zu stabilen Institutionen; es kann zur Herrschaft des Dritten führen, der sich nicht mit gelegentlichen Geschenken begnügt, sondern Recht spricht34 und konstante Steuern eintreibt; bleibt es drittens nur bei seinem Profit, wird er zum lachenden Dritten, aber vielleicht nicht lange.35 Auf der Grundlage der Simmelschen Soziologie ist die trinitarische Formation notwendig und vollständig. Notwendig: Es zeige sich, »dass die Triade als konstitutive Bedingung von Sozialität gelten muß. Die Existenz als ein legitimer Akteur in der dyadischen Symbolverwendung muß durch den dritten Akteur garantiert werden.«36 Nach Bedorf: »Die Triade basiert auf der Strukturdominanz, während die Dyade auf einem Individualitätsapriori beruht. Die Dreiergruppe ist nicht auf die Präsenz eines bestimmten Individuums angewiesen.«37 Und die Trias ist vollständig, sie ist »nicht durch eine vierte oder fünfte Figur überbietbar«38. Will Simmel mit dieser letzteren These in abstracto die Konstellation 1, 2, 3 / 4 ausschließen? Oder ist sie nicht einschlägig? Auch die Neubelebung der Simmelschen Theorie nach hundert Jahren hat sich diese Frage nicht gestellt.

Zur Ich-Du Beziehung ist im Gegensatz zu früheren Subjekttheorien zu sagen, dass sich erst durch eine derart triadische Beziehung überhaupt die agierenden Personen konstituieren. Akteur ist nicht, wer als solcher beurteilt wird, sondern wer sich in einer erst dualen, dann triadischen Beziehung als solcher erweist und anerkannt wird. Gesellschaft konstituiert und begrenzt sich in der vorstrukturierten Trias. So die Soziologie Georg Simmels.

Albrecht Koschorke führt den Ansatz von Simmel in die Reflexionskultur ein, die sich hundert Jahre nach der ersten Initiative etabliert hat, jetzt inspiriert besonders durch französische zeitgenössische Autoren.

»Die klassische abendländische Episteme war binär organisiert«, so legt Koschorke fest.39 »Die klassische abendländische Episteme«? Koschorke meidet es, den Begriff dingfest zu machen; er meint vielleicht, ohne es zu sagen, die Wissenschaft, die sich an den Satz vom Widerspruch hält, also binär ist, wahr oder falsch; so auch die »binären Semantiken«.

Nun gab es nach Koschorke zwar eine »Vorherrschaft binärer Semantiken«, aber man könne dem Abendland auch attestieren, dass es eine »hochelaborierte Metaphysik der Dreizahl«40 mitgeführt hat. Immerhin gab es einen dreifaltigen Gott: Vater, Sohn und Heiligen Geist. So kann der Mythos eines durchgängigen Binarismus gegen Einwände abgefedert, aber nicht gerettet werden, er trifft nicht zu. Aber dies ist nur die Gegenposition, gegen die Koschorke die »Figur des Dritten« stellen will. Auf diesem Feld selbst kann man vielen Beobachtungen zustimmen. Der hinzukommende Dritte kann, wie Koschorke und auch Bedorf darlegen, versöhnend und zerstörend wirken, die fluide Symbiose heilen oder vergiften oder einfach stimulieren, so wie der Betrachter im dualen Verhältnis der Gewalt; sie entflammt häufig erst unter dem realen, antizipierten oder imaginierten Blick des Dritten als eines Betrachters. Das Empfehlungsschreiben eröffnet seit der Antike eine »trianguläre« Beziehung.41 Oder in der Therapie: »In den sogenannten Trialog-Foren begegnen sich Personen aus den drei am therapeutischen Prozeß beteiligten Gruppen, ohne die Herrschaft der wissenschaftlichen Dogmatik von vornherein anzuerkennen oder als gegeben anzunehmen.«42 Der Schiedsrichter scheint der Dritte und nur Dritte zu sein, der beim Streit zweier Antipoden hinzutritt. Tatsächlich ist die triadische Struktur eingehegt in eine vorhergehende Institution, die die Funktionen regelt und die Rollen bestimmt und sichert. Die Rolle des Richters ist somit in einer vorgängigen Verfassung bestimmt, die diejenigen anerkennen, die sich dem Richtspruch unterwerfen.

Exzellent geschrieben ist Eva Eßlingers Beitrag »Das Dienstmädchen. Zum Unbewußten der Psychoanalyse«43. Eßlinger demaskiert Freuds Ödipus-Komplex als eine Geschichte aus der Gesindekammer, und wir wiederum demaskieren Eßlingers wertvolle Erkenntnis als defizitär: Im Rock des Dienstmädchens, des vermeintlich Dritten, versteckt sich der Vierte Stand, und Ödipus ist nur die Beglaubigungsmaske, mit der Freud die eigenen Gedanken ins Unbezweifelbare der Antike hebt. Die Schritte im Einzelnen:

Die bürgerliche Familie des 19. Jahrhunderts immunisiert sich nicht mehr gegen verlockende Lebensmodelle des Adels, sondern gegen die »revolutionären Umtriebe und moralischen Verwilderungen auf offener Straße. Die ›gute Stube‹ wird zum Zufluchtsort, in dem die Väter ihren Frieden vor der feindlichen Geschäftswelt finden und eine liebende Mutter die Kinder umsorgt.«44 Der Vater, die Mutter, die Kinder, das ist, so scheint es, die komplette Familie. Im alteuropäischen Haus war jedoch die Aufzählung hiermit nicht beendet, weil das Gesinde hinzukam.45 Es sind die Knechte, Mägde, die Dienstmädchen und Diener. Aus diesem Haus wandert im 19. Jahrhundert der Teil des Gesindes ab, der in der Industrie Arbeit findet, der andere geringere Teil bleibt in der bürgerlichen Familie, aber nur als quantité négligeable. Die verbleibenden Dienstmädchen stehen jetzt zwischen Proletariat und Bürgertum, sie bilden keine eigentliche Produktivkraft und sind auch nicht Teil der verbleibenden, vereinten Familie. Unabhängig von wirtschaftlichen Erfordernissen »halten sich Bürgerfamilien mindestens ein ›Alleinmädchen‹«46. Es dient dem Ansehen und entlastet von den niederen Arbeiten, die im Haushalt und außerhalb anfallen. Wo und wie verläuft genau die Grenze zwischen der Familie selbst und dem Personal, dem vierten Stand im eigenen Haus? Vierter Stand? Eva Eßlinger unterläuft hier ein von Simmel gesteuerter Versprecher: »Das Dienstmädchen ist dabei eine paradigmatische47 Figur des Dritten: weder innen noch außen, störend und doch unentbehrlich.«48 Der Kern der Familie sollte aus erstens Vater, zweitens Mutter und drittens Kind oder Kindern bestehen, also spielt das Dienstmädchen die Rolle der/s Vierten, die aber in der von Simmel inspirierten Theorie des Dritten nicht vorkommen darf und entsprechend von der Autorin ohne Entschädigung als Vierte gestrichen wird; sie findet sich wieder als Dritte, die sie auf keinen Fall sein darf.

Um ohne Umschweife zum Freudschen Zentrum zu kommen, dem »Hang zum Küchenpersonal« bei den Vätern und Söhnen, aber auch der frühkindlichen Initiation in die kryptischen Organe des eigenen Körpers: »[…] während Freud in seinen theoretischen Schriften alle sexuellen und affektiven Dynamiken auf die Vater-Mutter-Kind-Triade zurückführt, ist in seiner Korrespondenz und der Empirie seiner Fälle ständig von Dienstmädchen als mütterlichen Ammen und erotischen Einführungsfiguren die Rede.«49 »In den Briefen, die Freud zur Zeit seiner Selbstanalyse von Mai bis Oktober 1897 an seinen Vertrauten Wilhelm Fließ verfasst, kommen seine Eltern wider Erwarten nur selten zur Sprache, dafür aber umso häufiger sein Kindermädchen Resi Wittek.«50 Um sie, um Resi, geht es also, wie des näheren gezeigt wird. Eßlinger hat inzwischen die Vierte aus dem Vierten Stand zur Dritten in der Familie gemacht und damit den Transfer aus Wien nach Theben und Athen über 2300 Jahre hinweg von Freud zu Sophokles ermöglicht. »Schreckt man vor einer Zuspitzung nicht zurück, stellt der Ödipuskomplex nur die Materialisierung eines Dienstmädchentraumes dar.« 51 Aber das ist nicht unser Thema; wir wollten nur zeigen, wie hier die deutlich markierte Position der Vierten noch einmal theoriegemäß nach Simmel zensiert und versteckt wird und wie das Dienstmädchen bei Eßlinger genauso wie bei Freud verschwindet: 1, 2, 3 soll es sein und nicht 1, 2, 3 / 4, wie Freud in seinen Briefen fern von aller Theorie doch gestand. Wieder eine feine Auswirkung der Drittmittel, die eine Abweichung vom Projekt hin zur Rolle der Vierten nicht vorsehen?

Zur Stilisierung des zensierten eigenen Traumes als eines antiken Dramas ließe sich viel sagen, aber das Thema ist zu umfassend. Es müsste der Griechenmythos von Winckelmann bis in die Gegenwart, bis in die Odenwaldschule, skizziert werden, es müssten in dieses Tableau die Beglaubigungsstrategien von Nietzsche bis Heidegger und den Epigonen eingetragen werden. Aber die Zeit drängt.

Gesa Lindemann vollzieht die Genealogie des Dritten, der die Dyade abschließt und ermöglicht, auch zerstört: Ohne den Dritten kein Ego und kein Alter. Nun heißt es jedoch in der 2010 publizierten Studie: »Wenn die Objektivität sozialer Gebilde an das Hinzutreten des dritten Akteurs gebunden ist, lässt sich die Doppelstellung des Individuums als sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gesellschaft stehend von einer dyadischen Konstellation aus nicht mehr begreifen. Das gleiche gilt entsprechend für das dritte Apriori, das die Integriertheit des Individuums in ein es umgreifendes gesellschaftliches Ganzes formuliert.«52 Dass das Dritte angewiesen ist auf umfassendere Randbedingungen, ist unmittelbar evident: Wenn zwei sich im Streit auf einen Schiedsrichter einigen, ist spätestens seit Thomas Hobbes aller Welt bekannt, dass die Einigung nur verbal bleibt, also nichtig ist und ausbleibt, wenn der Schiedsrichter nicht über eine umfassende Zwangsgewalt verfügt. Ohne Exekutive bleibt eine Judikative ein kindlicher Wunsch. So gelangt die Theorie des Dritten, wie sie von Gesa Lindemann vorgestellt wird, zu einer Theorie des »status civilis«, nur der Überschritt zum Staat gibt der Rede von »legitimen Akteuren« Sinn und Inhalt.

So wird auch in dieser Studie, die dem Dritten als notwendigem und hinreichendem Apriori der Sozialität gewidmet ist, der Rückhalt in einem Vierten gesucht, wie sehr sich die Autorin auch sträubt und windet.

Bevor wir zum Vierten kommen, einige Worte zu Identität und Verschiedenheit des vorhergehenden und des nachfolgenden Konzeptes.

Die soziologischen Analysen des Dritten beziehen sich weder auf soziale feste Gebilde noch auf die Kultur und gar Natur überhaupt, sondern auf interpersonale fluktuierende Beziehungen im gesellschaftlichen Mikromilieu; der Dritte sistiert die Bewegung und vermittelt, verfestigt oder ruiniert die polaren Partner. Die Figur dagegen, der wir uns im Folgenden zuwenden, strukturiert kulturelle Vielheiten auf Dauer. Die triadischen Gefälle organisieren sich ad hoc, hängen von der Initiative oder dem Schicksal personaler Begegnungen ab, sie sind nicht notwendig auf Dauer gestellt, sondern können sich mit kurzfristigen Problemlösungen begnügen. Die Figur des Dritten ist grundsätzlich deskriptiv, die des Vierten dagegen normativ. Der Quaternio setzt eine Ordnung fest, die dauern soll, sie schließt das offene Spiel des Dritten ab und besiegelt eine geschlossene Konstellation. Die Dreiheit bringt auf irgendeine Weise eine Vollständigkeit zustande, die jedoch in Bewegung bleiben könnte und von innen und außen gefährdet ist; erst die Hinzukunft des Vierten besiegelt die Ordnung und erklärt sie zur Norm, ultimativ. Bisweilen als diabolische Verneinung: Der vielverehrte Vierte, der Führer treibt alles hinab in die sittliche und physische Vernichtung.