Henriette Vásárhelyi

Seit ich fort bin

Roman

DÖRLEMANN

Alle Rechte vorbehalten
© 2017 Dörlemann Verlag AG
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-941-6

www.doerlemann.com

 

Für Mareike.

 

Für Irina, für Jasmin.

Für Eva.

Für Nadja und für Paul.

 

Aber die Erfahrung sollte nicht verkleinert werden
durch die Tricks der Erinnerung. Es gibt da auch Dinge,
die der Regen nicht abwäscht.

Uwe Johnson

Noch sind wir als Reisende zwar verdächtig,
aber geduldet, weil erwünscht. Wir werden auf Reisen
zwar beobachtet, durchleuchtet und erfasst,
jedoch in aller Freiheit.

Christof Moser

Seit ich fort bin

Ich packte meinen Koffer und nahm mit.

Ich packte meinen Koffer und nahm das Foto vom Schwarzen Meer mit (und eine Flasche Mastika! [мастика]).

Ich packte meinen Koffer und nahm das Foto vom Schwarzen Meer mit und den Moment, als Anis mir den Kopf rasierte.

Ich packte meinen Koffer, nahm das Foto vom Schwarzen Meer, den Moment, als Anis meinen Kopf kahl schor, und die melancholische Wiese am Ende des Gartens mit.

Ich packte meinen Koffer und nahm das Schwarzmeerfoto, den Rasiermoment, das Ende des Gartens und die Worte, die ich noch wusste, mit.

Ich packte meinen Koffer. Ich packte und packte. Ich nahm mit. Mich packte mein Koffer: die vielen Dinge, die aus ihm herausquollen und mich begleiten wollten. Aber das konnten sie ja nicht bestimmen, dachte ich.

Ich packte meinen Koffer. Es war gleich zweiundzwanzig Uhr und am nächsten Morgen würde ich losfahren.

Ich verstaute auch den roten Bauernschrank, über das Bett an der offen stehenden Balkontür, riss einen Himmel herunter, der fast den gesamten Horizont ausgemacht hatte und nun liederlich aus dem Koffer ragte, knüllte ihn zusammen, zog ihn aber dann doch wieder auseinander und strich ihn glatt. Ich faltete ihn ordentlich und legte ihn über die melancholische Wiese vom Ende des Gartens, über das rote Etui der Rasiermaschine. Ich griff nach dem blauen Fahrrad meiner Großmutter, an dem noch der Russe hing (an den ich mich nur vom Hörensagen erinnere), nach den zwei Rosen-Haarreifen und den dazugehörigen Gummistiefeln mitsamt der Ecke, an der sie uns wiederfanden. Ich griff nach dem Stapel der Fotos von Anis, meines Bruders Karl, meiner Eltern und Großeltern.

Ich packte meinen Koffer und schichtete alles übereinander. Ich schichtete und schichtete. Ich schichtete die abgetragenen Sachen von Anis in den Koffer: die Klamotten ihrer Jugend, die ich nicht wegschmeißen wollte. Die feuchte, schwere Bettdecke aus Driews altem Haus quoll mir entgegen. Als ich ihn endlich verschlossen hatte, zurrte ich das Russenfahrrad auf ihm fest.

Immer wieder riss ich den Mann, der mir nachts so listig aus dem Fenster seines Wagens zugewunken hatte, aus der kleinen Werkzeugtasche unter dem Sattel, aber er fand sich immer wieder ein und ich sah sein zähes Grinsen, sein Winken in Zeitlupe und ich guckte mich ängstlich um, um feststellen zu müssen, dass ich wieder allein mit ihm war.

Ich legte mich auf mein Bett. Ich sah den Koffer nicht, es war zu dunkel. Ab und zu hörte ich ein leises Trampeln auf den Stufen im Hausflur, und wenn die Stille wieder zunahm, auch meinen Atem, wusste aber, dass ich dem Treppensteigen lauschte. Ich lauschte ihm wie guter, viel zu leiser Musik, die im Radio vorne beim Fahrer läuft, während du im Bus ganz hinten sitzt. Diese Musik löst ein bekanntes Gefühl in dir aus und du versuchst, dich an den Ort der Erinnerung zurückzuversetzen. Du spitzt die Ohren. Die Musik aber ist sehr leise: Zu leise für die Erinnerung und zu laut für die Nichterinnerung, und die Zeit bleibt im Moment der höchsten Konzentration und im Hören des Liedes stehen. Das Voranschreiten der Zeit tritt für diesen Moment in den Hintergrund und die Gegenwart der Erinnerung nach vorn. Macht sich breit. Bevor du das Lied nicht mehr hören kannst, der Totalverlust des Hörens durch die Ansage der nächsten Haltestelle eingetreten ist oder du aussteigen musst.

Ich lag auf meinem Bett und fröstelte, konnte mich aber nicht durchringen, meine Bettdecke zu greifen und sie mir über den Körper zu ziehen. Ich hatte meinen Koffer gepackt. Sicher noch nicht alles. Es gab noch viele Dinge und Begebenheiten, die ich hätte aufsammeln und einräumen müssen.

Dann knipste ich die kleine Lampe an und suchte im Radio nach einem Musiksender, damit es in der Wohnung nicht so dunkel und still war. Im Wohnzimmer stellte ich auch den Fernseher an. Per Kurznachrichten alberte ich eine Zeit lang mit meinem Bruder herum, so dass die Zeit allmählich verstrich. Nach Mitternacht muss ich dann vor dem Fernseher eingeschlafen sein.

Gleich nach dem Aufwachen suchte ich Erinnerungen, die mich ausmachten, ich aber nur selten bedachte, weil ich Mut brauchte oder besondere Kraft, an sie zu denken, oder die selten einen Anlass bekamen, erinnert zu werden.

Ich suchte in den alten Schulheften, von manchen trennte ich mich nun. Suchte unter dem Bett, tastete die Tischplatte von unten ab. Fühlte aber nichts. Blätterte grob einen Stapel Bücher durch, drehte einige dicke Bände meiner Kinderbücher um und schüttelte die Seiten. Kaum fiel etwas heraus, erkannte ich es gleich.

Das Lesezeichen, der Zettel an die Eltern, das Foto, der Brief der Schulfreundin, der Wunschzettel. Hartnäckige Eselsohren ließ ich eingeknickt, auch wenn sie nur auf sich selbst verwiesen.

Ich öffnete ein paar Wechselrahmen und schaute, welche Bilder ich einmal eingewechselt hatte: meine Großeltern sitzend in den Dünen von Dierhagen. Er mit seiner Baskenmütze, hellem Sommerjackett und dunkler Leinenhose, sie im leichten geblümten Baumwollkleid und ihrem Dutt, den sie zeitlebens trug.

Ich fand in einem der Rahmen ein ausgeschnittenes Zeitungsbild ohne Unterschrift von Käthe Reichel, die sich an einem Geländer festhielt und nicht in die Kamera guckte. Ganz in der Ferne hinter ihr die Freiheitsstatue. Das Foto der Werkstatt der Alten Mühle steckte ich mir ein.

Ich fühlte mich unbeholfen. Identität ein Krähen, so laut, dachte ich. West-Ostlerin, dachte ich. Nicht denken, dachte ich, packen und gehen!

Ich schaute ins Bad und schloss das Fenster. In der Küche trank ich den letzten Schluck kalten Kaffees, goss den Grund in den Ausguss und spülte die Tasse aus. Als ich die Kühlschranktür öffnen wollte, fiel mein Blick auf die Hochzeitseinladung meines Bruders. Karls Hochzeit war nun der Anlass, die Reise anzutreten, eine begründete Gelegenheit zum Heimaturlaub. Ich nahm die Karte und steckte sie mir ein. Griff nach der Salami, und aus dem Korb nahm ich die Tüte mit dem Brot, das ich mir für die Fahrt gekauft hatte.

Als ich in den Flur kam und meinen Koffer nehmen wollte, klingelte das Telefon. Ich erkannte die Nummer auf dem Display und griff nach dem Hörer.

»Hier ist der automatische Anrufbeantworter aus Zypressen und Wolfsmilch«, sagte ich. »Nach dem großen Unwetter suche ich Donnerkeile im Blasentang am Ufer der Ostsee. Sollte ich je wiederkommen, werde ich sie erreichen«, dann ahmte ich ein Pfeifen nach.

Der Anrufer legte auf.

Ich hatte Mühe gehabt, alles in den Koffer zu verstauen. Einiges konnte ich gern vergessen. Und obwohl ich mich nicht bemüht hatte, alle Dinge einzupacken, wusste ich, dass auch einige redselige Erinnerungen ihren Platz gefunden hatten. Ich vermutete sie ganz in der Nähe derer aus meinem toten Winkel.

In den Blüten der Kunstrosen meines Haarreifens versteckten sich jene wiederkehrenden Erzählungen meiner Großmutter, jene Klagelieder, die sie uns Kindern immer dann vortrug, wenn sie nach dem Tod ihres Mannes gelegentlich bei uns im Kinderzimmer übernachtete und nicht einschlafen konnte.

Jene immer gleichen und auch in derselben Reihenfolge gehaltenen Erzählungen über ihre unmögliche Nachbarin Frau Krüger, die feixend den Boden des gemeinsamen Vorraums im Hausflur wienerte, gleich nachdem meine Großmutter ihn gebohnert hatte, aber nie dann, wenn sie laut Plan dran war.

»Und in der Neununddreißig«, begann sie und erzählte ihre Geschichten über Frau Koch aus dem Nachbarhaus, die sie mecklenburgisch Köching nannte, mit der sie schon zu Kaiserzeiten über das Kopfsteinpflaster gelaufen war und mit der sie außerdem die Gemeinsamkeit teilte, nur mit Mühe die erneut rasanten gesellschaftlichen und politischen Veränderungen zu verstehen.

Zu vergessen, so könnte diese Liste heißen, aber schon so eine Liste zu machen stünde natürlich im Widerspruch zu dem, was sie bewirkte.

Das Bild eines ungeborenen Kindes steckte ich mir in die Manteltasche. Es gehörte sicher auf die widersprüchliche Liste.

Ich zog mir meinen Mantel über und schleppte den Koffer zur Tür, hängte mir meine Tasche um und zog die Tür hinter mir zu.

Beinahe gleichzeitig rissen wir unsere Arme hoch und Karl Bonin lachte mir laut ins Ohr, als er mich umarmte. Mein Bruder hatte nicht bemerkt, dass ich schon einige Zeit vor ihm gestanden hatte, an mir vorbeigesehen und mich in der Menge der Aussteigenden gesucht.

»Ach hier!«, rief er nun.

Gemeinsam liefen wir durch den Bahnhof, der vor einigen Jahren teilweise unterirdisch angelegt worden war. Ich konnte mich aber nicht mehr genau daran erinnern, wie der Bahnhof früher ausgesehen hatte. Die Erinnerung war schon bei den letzten Besuchen von den neuen Tatsachen übermalt worden, dennoch blieb es für mich der neue Bahnhof. Der Vorplatz war mir vertraut, obwohl auch er verändert war, vielleicht durch das Licht und den weiten Himmel, wodurch man schon hier, zwanzig Minuten entfernt, die Ostsee ahnt.

Als wir die Bahnhofsstraße entlangliefen, war es, als gingen wir direkt nach Hause, wie an anderen Abenden, wenn wir von Strandnachmittagen aus Warnemünde zurückgekehrt waren. Noch bevor wir an unserem alten Wohnhaus vorbeigingen, erzählte Karl, er habe schon einige Male vor der Haustür gestanden und erst festgestellt, dass es die falsche Tür sei, als der Schlüssel nicht passte. Nun wohne er schon einige Monate wieder hier, aber es habe eine Zeit gebraucht, bis ein Teil von ihm zu alten Gewohnheiten übergegangen sei, die er ganz vergessen hatte.

»Als wenn manches wieder aufgerufen wird, nur weil ich hier lebe. Ich denke gar nicht bewusst darüber nach, es denkt sich eher selbst und erinnert mich an sich.«

»Was denn?«

»Alltägliches, wo die Mülltonnen standen zum Beispiel, dass sie aus Metall waren, aber braun von der Asche, dass es in ihnen oft brannte, weil wir die Asche zu heiß reinkippten, und wie es dann in der ganzen Straße stank. So was. Da führt eins zum anderen. Oder die Kassiererin, die schon in der DDR an der Kasse saß und wir nicht Supermarkt sagten, aber auch nicht Kaufhalle, sondern Stasihalle, weil die Stasi in der Nähe war. Dass die da immer noch ist!«

»Die Stasi?«

»Nein, die Kassiererin! Und dann fällt mir beim Rausgehen auch plötzlich ein, wie es früher dort überall aussah. Eigentlich vergesse ich mit der Umsetzung von Veränderungen immer sofort, wie es davor ausgesehen hat. Wie ausgelöscht. Aber jetzt, wo ich die alten Wege wieder häufig gehe und mit dem Abstand zu früher, ist es wieder da.«

»Und dann verblasst es wieder«, lenkte ich ab und verlangsamte meine Schritte.

Vor unserem alten Wohnhaus bremste ich, Karl bemerkte es nicht, niemand konnte es sehen, doch meine Schritte verlangsamten sich, als schliche ich in Zeitlupe. Augenblicklich stieg Karl in diese weichen ausholenden Schritte und seine Sprache wandelte sich in ein verzerrtes Jaulen, sodass ich nicht mehr verstand, was er sagte.

Ich wandte mein Gesicht von ihm ab und schaute die Hauswand hinauf, hinunter und in die Fenster hinein. Er hatte recht, auch ich hätte unvermittelt in eine zwanzig Jahre alte Routine umschalten können. Karl grinste, dann machte er eine appellierende Geste.

»Ja, komm jetzt. Luminiţa wartet«, hörte ich ihn plötzlich wieder.

Er zog seinen Schlüssel aus der Jackentasche und reichte mir meinen Koffer, um aufzuschließen.

Oben in der Küche stand Luminiţa und briet Fleisch scharf an, sie hatte unser Eintreten nicht bemerkt und zuckte beim Umdrehen zuerst einmal kräftig zusammen, bevor sie »Hallo, Mirjam!« ausrief und mich umarmte. Sie strich mir über den Kopf und sah mich an.

»Heirate ich dein Brüderchen?«, fragte sie.

Ich nickte. Luminiţa drehte sich um und griff nach einer Flasche Rachiu.

»Eine machen wir schon mal auf«, erklärte sie und füllte unsere Gläser.

»Dann heiratest du wohl Karl«, fragte ich.

»Schön, dass du doch noch gekommen bist!«, sagte Luminiţa und hob das Glas. Karl nickte.

Ich küsste meinen Bruder und umarmte ihn kurz und fest, dann setzte ich mich an den runden Tisch in der Mitte der Küche.

»Uns ist beiden oft schlecht gewesen in den letzten Wochen«, lachte Karl, und Luminiţa stimmte zu.

»Wir haben Angst«, sagte sie.

»Wovor?«

»Nicht davor, uns zu heiraten, zu heiraten überhaupt«, sagte Karl.

»Aha«, nickte ich und kippte den beiden Rachiu nach.

In meinem Koffer lag keinerlei Erinnerung an den Abschied von unserer Wohnung in der Hansenstraße. Nicht an den Tag des Umzugs.

Viele Jahre hatten wir gleich gegenüber von John Brinckmans Haus in der Barlachstadt gewohnt, bevor wir in die Hansestadt an der Warnow zogen.

Ich erinnere mich nicht daran, dass wir – bevor wir in den Wartburg stiegen – uns noch einmal umgesehen und dem Haus zugewunken hätten. Dass weder Karl noch ich gebettelt hätten, noch einmal zum Inselsee zu fahren, um auf dem Parkplatz in der Nähe von Barlachs Atelierhaus auszusteigen und mit nackten Füßen in den hellen Strandsand zu treten, zum See zu laufen und am Ufer im morastigen Grund zu waten.

Nicht daran, dass wir Tage vor dem Abschied noch einmal in das verwunschene Haus von Tante Marilie gegangen wären und nach langem Suchen die geheime Wendeltreppe gefunden hätten, die zu ihrer Wohnung führte, um zum Abschied ein Glas Apfelmost zu trinken. Ich erinnere mich nicht an eine genaue Abschiedsszenerie.

Aber daran, wie oft wir mit dem Kindergarten zu Mutter Erde auf den Gertrudenfriedhof spazierten und ihr Kieselsteine in den Schoß legten. Sie sitzt dort immer noch und formt mit ihren Händen unter dem Mantel einen großen Schoß.

Karl, erinnerst du dich noch an unseren Garten? An den Garten, mit dem Anbau und den großen Süßkirschbäumen. Im Anbau hatte Vater zwei seiner drei Arbeitszimmer eingerichtet, die immer nach Staub und nach Zigarren rochen, darüber war ein Dachboden, auf dem im Winter die Wäsche trocknete, und dahinter die Veranda, in die hinauf eine Steintreppe führte. Du und deine Freunde erstürmtet die Veranda.

Sie erstürmten die Veranda mit einer Wäschestange und zerstörten alle für sie erreichbaren kleinen quadratischen Fensterscheiben, teilweise mitsamt dem dünnen Holzrähmchen. Dabei sangen sie mit ihren hohen Stimmchen: »Wir sind die sieben Schwaben«, und Vater und Mutter schrien, als sie das singende klirrende Drama entdeckten.

Karl, erinnerst du dich noch an den Nachmittag, an dem wir – ich glaube, es war deine Idee – den weißen Lackflecken auf den gelben Ziegelsteinen des Bürgersteiges nachschlichen und erforschten, woher sie kamen, wer sie hinterlassen hatte? Wir fanden am Ende der Hansenstraße, schon nach der Brücke, auf der anderen Seite der Schanze, einen dunen Malermeister am Ufer des Stadtgrabens, der gerade in den Fluss pisste und mächtig schwankte, sein Fahrrad lehnte unweit an einer Bank, am Lenker baumelte noch die Dose weißer Farbe, aus der es tropfte. Wir lachten, breiteten die Arme erleichtert aus und schritten rückwärts, um uns gleich umzudrehen und davonzulaufen.

Und riechst du noch das Bier aus dem Hansabad? Der Geruch des Bieres, der im Flur des Hansabades stand und herausdrang, wenn die Tür offen stand, dass die Tür Nachmittage lang offen stand, und an den gefliesten Flur? An die Farbe der Kacheln erinnere ich mich nicht.

Ich erinnere die unendlich langen rotblonden Haare unserer Kinderfrau und ihren großen breitzinkigen Kamm aus gelber Plaste, mit dem sie vorgab, sie zu kämmen. An Vaters Klagen, dass sie nur Bratwurst und Klopse kochen konnte. Und daran, dass wir sie nicht mehr sahen, als sie das Land verlassen durfte.

Am Ende des Gartens floss der Stadtgraben, auf dessen gegenüberliegendem Ufer, auf dem Gelände einer Oberschule, ein Hausmeister uns beim Näherkommen mit Prügel drohte.

Im späten mecklenburgischen Sommer holte Mutter nachts die Wäsche rein. Ich schlich ihr nach und hockte mich in das feuchte Gras unter die Leinen, von denen sie die Klammern abzog und die Stücke grob zusammengelegt in den Korb neben mir fallen ließ. Wie still es war. Ich weiß nicht, ob sie mich bemerkte. Hoch über uns zogen leise schnatternd die Gänse auf ihrem Weg in den Süden.

Erinnerst du dich, Karl, dass Mutter müde vom Nachtdienst nach Hause kam? Dass sie mit Vater debattierte. Wie wir erfuhren, dass sie während ihres Dienstes zu einer Schießerei gerufen worden war. Dass dort Menschen gestorben waren. Wie sie, während Vater sich den Kopf zerbrach, was zu tun sei, was zu sagen, vor sich hinfragte: »Wer war bloß dieses kleine graue zitternde Männchen?«

Und dass sie diese Frage Jahrzehnte später wiederholte und uns erklärte, dass dort noch jemand gewesen sein musste, nicht der Wachhabende, der geschossen hatte, und nicht die drei Männer, von denen zwei starben, und nicht die Männer in Leder.

Und weißt du noch, dass wir nach der Schießerei in die Stadt an der Warnow fuhren? Wir gingen zur Tante und verschwanden mit ihren Kindern im Barnstorfer Wald, um dort zu rodeln. Die Großen zogen uns in der Dunkelheit auf den Schlitten zu den Hügeln und wir brausten hinunter, so oft wir konnten. Ich weiß noch, dieses goldene Dunkel, das es nur in von Schnee bedeckten Städten gibt.

Und weißt du noch, dass die Alten weiß waren vor Sorge, als wir spät an diesem Silvesterabend wiederkamen? Wir hatten ihnen nicht gesagt, wir würden weggehen, geschweige denn, wohin.

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich oft den Blick in unseren Garten, auf den ich aus dem Küchenfenster schaue – ihn im Blick habe –, in der Erinnerung schaue ich immer aus dem Küchenfenster auf den Garten. Am Ende, gleich vor den Erdbeerbeeten, unter den Apfelbäumen, dort sehe ich sie sitzen, Karl mit seinem Freund Axel und mit meiner Freundin Carina. Ich winke ihnen zu, obwohl sie nicht zu mir heraufschauen. Ich stelle vier Flaschen Brause in einen Korb und hole aus dem Kühlschrank den Kalten Hund, den Mutter uns dann in den Garten trägt. Wir feiern unser Abschiedsfest.

Ich stand noch einmal auf, als alle längst schliefen, trat aus der Wohnungstür und schritt vorsichtig die Treppe hinunter.

Anis hätte genau gewusst, welche Stelle auf welcher Stufe sie betreten durfte, damit sie kein Geräusch machte. Selbstbewusst und flink hätte sie die Stufen mit den Fußspitzen angetippt und wäre beinahe geräuschlos durch den Hausflur nach draußen gelangt. Ich hingegen zögerte bei jedem Schritt. Das laute Knarren der Dielen, die sich unter dem frisch gebohnerten Linoleum verbargen, konnte Mütter wecken, Väter und Nachbarn. Ich strich mit der flachen Hand über den rauen Putz vorbei am Lichtschalter die Wand hinunter und setzte eine Fußspitze nach der anderen vorsichtig auf die Stufen auf.

Wir waren welche gewesen, die auszogen, um das Fürchten zu lernen, strichen nachts durch die dunklen Straßen und kannten keine Angst, jedenfalls keine große, keine bittere, keine, die einen von etwas abhält.

»Erinnerst du dich an die Hautrinde, die wir damals hatten, diese Schutzhülle, unter der das feuchte Holz lebte, das Fleisch? Ja, da waren Regionen von Trauer, aber da war auch ein großes Netz der Blutbahnen, in denen das Leben pulsierte. Sie gaben den Takt vor«, flüsterte ich, als würde Anis direkt neben mir im Dunkel stehen und warten, dass wir losgingen.

Heute musste ich nicht mehr an Karls Bett vorbeischleichen, einmal durch die Wohnung gehen, um mich zu vergewissern, dass die Eltern schliefen. Nicht noch einmal ins Kinderzimmer zurück, um seinen großen Plüschhund unter meine Bettdecke zu legen und dann das rechte Fenster zu kippen, das linke weit zu öffnen. Ich musste mich nicht mehr auf die Fensterbank stellen, umständlich durch das gekippte Fenster das weit geöffnete schließen, mich schließlich zum Hof hindrehen, einen vorsichtigen Zwischenschritt auf die Wäscheleine machen und endlich hinunterspringen. Ich konnte einfach durch die Tür gehen. Dennoch, sofort erkannte ich eine Lärm vermeidende Vorsicht, keine Höflichkeit vor den Schlafenden. Dieser leise Fluchtimpuls entsprang meiner Abneigung gegenüber Nachfragen der Familie oder anderen befugten Personen, die mich schon als Kind ausgezeichnet hatte.

Hinter der Haustür hielt ich inne, froh, dem Hausflur entkommen zu sein. Drinnen blieb es still, kein Licht ging hinter einem der Fenster an. Ich lehnte mich gegen den halbhohen Zaun des Vorgartens unseres alten Wohnhauses und sah mich um. Im Schein der Straßenlaternen war ich wieder die Freundin von Anis, die mit ein klein wenig Bammel die Straße zum Treffpunkt hinunterlief. Da fiel mein Blick auf ein Fahrrad vor der Tür, vielmehr das Schloss kam mir bekannt vor. Ich stellte eins fünf null neun auf dem Schloss ein, und es ging auf. Es musste sich also um das Fahrrad meines Bruders handeln.

Als ich lostrat, spürte ich den Widerstand des Dynamos. Ein leises Surren war zu hören, und ein schwaches Licht leuchtete vor mir auf den Asphalt über die Lichtkegel der Laternen, die deutlich kräftiger waren. Niemand war auf der Straße. Hinter den Fenstern war es fast überall dunkel, mein Atem und der Dynamo waren die deutlichsten Geräusche. Ich fummelte einhändig am Reißverschluss meiner Jacke, um ihn zu schließen, weil ich fror. Daraufhin verhakte er sich in das Innenfutter, sodass ich abstieg, und für einen kurzen, aber endlosen Moment erkannte ich, dass ich schon einmal an dieser stillen Kreuzung zum Stehen gekommen war. Mein Körper wurde steif und ich richtete suchend meinen Blick auf die nicht weit entfernte Hauptstraße, doch ich sah niemanden. Niemand fuhr im Auto vorbei, niemand winkte mir zu, nur zwei Männer gingen auf dem Bürgersteig, in ein Gespräch vertieft. Sie schauten nicht einmal auf, als ich ihnen reflexartig zunickte. Mit einem Ruck löste ich den Reißverschluss, stieg auf das Rad und machte kehrt.

Die melancholische Wiese vom Ende des Gartens hatte ich schon während des Studiums in Gießen oft aus meinem Koffer gezogen, und ich entfalte sie immer noch an den unzähligen leeren Sonntagen, an denen Menschen unterhalb meines Fensters spazieren gehen. Sie ist eine Mischung aus der kleinen schmalen Wiese des Gartens der Hansenstraße und der großen Wiese hinter dem Sommerhaus meiner Großmutter, welches inmitten der Rügener Landschaft in der Nähe des Boddens lag.