Rosalies Einhorn

Seit einiger Zeit geht die kleine Fee Rosalie zur Schule. In das berühmte Internat Blütenwald, in dem auch viele andere Feenkinder unterrichtet werden. Hier werden ihnen Zauberkunde, gutes Benehmen und die Feenregeln beigebracht, und sie lernen auch, wie man auf Einhörnern durch die Feenwelt reiten kann. Aber das Allerwichtigste: Die kleinen Feen üben, wie man den Feenbriefkasten leert. Dort hinterlassen Menschenkinder wie du ihre Wunschbotschaften. Möglicherweise hast du dir auch schon gewünscht, einer Fee zu begegnen? Einer echten Wunschfee, der du deine geheimsten Sehnsüchte mitteilen darfst?

Dann bist du hier genau richtig. In diesem Buch werden Wünsche wahr. Vielleicht ist es heute noch nicht dein Wunsch, aber das kann morgen schon ganz anders aussehen.

Gerade ist es Abend im Feenreich, doch Rosalie ist hellwach. Möchtest du wissen, warum? Dann lass uns nachsehen, wie es unserem Feenmädchen geht.

Tritt ein in die Welt der kleinen Wunschfee Rosalie und ihrer Freunde.

Nächtliche Traumbilder

Rosalie konnte nicht schlafen. Sie war viel zu aufgeregt. Auf nackten Füßen lief sie zum Fenster, öffnete es und sah nach draußen. Hunderte winziger Sternchen funkelten am Himmel über der Blütenwaldschule, und hoch oben schwebte der Vollmond. Sein helles Licht strahlte auf den frisch eingezäunten Weideplatz am Ende der Schulwiese. Es sah aus, als hätte jemand genau an dieser Stelle das Schwarz der Nacht mit goldener Farbe überpinselt.

Die kleine Blumenfee seufzte. »Wie feenfunkelig du leuchtest, lieber Mond! Genau auf die neue Weide für die Einhörner. Sieht das schön aus!«

Ganz leise sprach sie die Worte, denn auf keinen Fall wollte sie Nikki aufwecken. Rosalie sah zum Bett ihrer Freundin. Wie immer schlief die kleine Nebelfee tief und ruhig. Ihr Kopfkissen mit dem silbergrauen Bezug aus spinnwebfeiner Seide hatte sie sich fest aufs Ohr gedrückt. Typisch Nikki!

Rosalie wandte den Kopf und sah wieder zum Fenster hinaus. Noch war die golden beleuchtete Koppel leer. Aber schon morgen würden sich dort vierzehn wilde Einhörner tummeln. Rosalie lächelte vor Glück. Morgen war der Tag des Einhorns. Dann bekam sie zusammen mit den anderen kleinen Feen aus ihrer Klasse ihr eigenes Einhorn. Genauer gesagt: Jedes Einhorn suchte sich die Fee aus, die am besten zu ihm passte.

»Was meinst du, lieber Mond, wie sieht mein Einhorn aus? Ist es weiß oder braun? Hat es ein silbernes Horn, oder schimmert es in allen Regenbogenfarben?«, wisperte Rosalie in die laue Abendluft. »Glaubst du, ich kann es zähmen?«

Elvira, die Werkelfee und Reitlehrerin der Schule, hatte ihnen alles über die Einhörner erzählt. Die scheuen Tiere, die in den Kristallbergen lebten, ließen sich nicht einfangen. Sie kamen freiwillig und stellten sich in den Dienst der Feen der Blütenwaldschule. Dieses Glück war sonst nur noch den kleinen Firnen vergönnt, die die Schule bei den Kristallbergen besuchten.

»Ist das nicht aufregend, lieber Mond? Ich bin schon ganz zappelig. Ob wir Freunde werden, ich und mein Einhorn?«, murmelte Rosalie. »Hoffentlich mache ich alles richtig.«

Im Bauch der kleinen Blumenfee begann es auf einmal zu grummeln. Gerade war ihr nämlich eine Geschichte eingefallen, die Frau Windhauch erzählt hatte. Die Legende von einem kleinen Feenmädchen, das sein Einhorn vernachlässigt und dadurch für immer verloren hatte. Einhörner waren nämlich nicht nur scheue, sondern auch eigenwillige Wesen. Wenn der ausgewählte Freund sich nicht richtig kümmerte, war es möglich, dass sich ein Einhorn wieder in die Kristallberge zurückzog, hatte die Schulleiterin erzählt.

Feuchte Feenspucke, bloß das nicht! Rosalie seufzte tief.

»Der Mond ist viel zu weit weg. Aber wir haben alles gehört, Rosalie«, flüsterten die Blüten neben dem Fenster. »Mach dir keine Sorgen. Geh ins Bett, kleine Blumenfee! Sonst erkältest du dich noch und bist morgen krank. Husch, husch!« Die Blätter an den Stängeln raschelten, als wollten sie Rosalie ins Bett scheuchen.

»Ist ja gut. Ich gehe schon.« Rosalie drückte die Pflanze wieder sanft ins Freie und schloss das Fenster.

Tatsächlich bemerkte Rosalie erst jetzt, wie kühl es draußen war. Feenflink schwirrte sie zum Bett, kuschelte sich hinein und zog sich die Decke bis zur Nasenspitze.

In der Ferne hörte Rosalie den Nachtfirn Balduin mit der tiefen Stimme sein Lied singen:

»Große Feen, lasst euch sagen,

Zehne hat die Uhr geschlagen.

Auch für euch ist’s Zeit zum Ruh’n,

geht ins Bett und schlafet nun!«

Zehn Uhr! Rosalie erschrak. Dann war Balduin schon auf seiner zweiten Runde. Sie hatte davon gehört, dass er um diese Zeit die großen Feen ins Bett schickte. Koboldmist! So spät war Rosalie sonst nie munter. Jetzt aber schnell geschlafen!

Die kleine Blumenfee strich die Decke glatt.

Sie kniff die Augen zu.

Sie wackelte mit den Zehen.

Kräuselte ihr winziges Näschen.

Sie zählte Schäfchen. Siebenundzwanzig Stück.

Aber nichts half.

Gerade wollte Rosalie ärgerlich mit der kleinen Faust auf ihr Kissen trommeln, da passierte es: Sie musste heftig gähnen, dann rutschte sie tiefer ins Bett, noch tiefer, die Augen fielen ihr zu, und … sie versank in einen wunderbaren Traum.

In dieser Nacht träumte Rosalie, dass sie mit ihrem Einhorn mitten durch die Kicherblumenwiese sauste. Im Galopp jagten sie dahin, flogen über jedes Hindernis, sprangen über Gräser und Baumstümpfe. Bewundernd sahen alle Wiesenbewohner, die Schnorkse, Grimsel und Tippeltierchen, dem stolzen Tier und seiner Reiterin nach.

Mit einem Mal war die Wiese zu Ende, und es begann zu schneien. Silberne Kristalle fielen vom Himmel, schwebten auf Rosalies Wintermäntelchen und ihre warmen Stiefel, glitten feenhauchzart zu Boden. Jetzt saß sie nicht mehr auf dem Rücken des Einhorns, sondern in einem Schlitten, der von ihm gezogen wurde. Je schneller das Einhorn lief, desto mehr jauchzte Rosalie vor Glück.

Kling, klong. Kling, klang. Kling, klong. Kling, klang!

Dieses Geräusch. Ein sanftes Klingeln.

Irgendwie kam es Rosalie bekannt vor. Ob das wohl ein Glöckchen war, das das Einhorn um den Hals trug?

Kling, klong. Kling, klang. Kling, klong. Kling, klang!

Schon wieder dieses Klingeln!

»Rosalie!«

Wer rief da? Rosalie presste sich die Hände auf die Ohren. Sie wollte nicht hören. Nur mit ihrem Einhorn Schlitten fahren. Immer weiter und weiter. Und nie aufhören!

Der Tag des Einhorns

»Rosalie? Aufwachen, Rosalie! Dein Wecker hat schon zweimal geklingelt.«

Im Halbschlaf vernahm die kleine Blumenfee eine sanfte Stimme. Träumte sie, oder war sie wach?

»Rosalie Pennbacke! Sofort aufstehen.«

Rosalie Pennbacke? Frechheit! Rosalie öffnete die Augen und sah in das strahlende Gesicht ihrer Freundin.

»In unserem Zimmer gibt es nur eine, die Pennbacke heißt«, murmelte Rosalie. »Und das bist du!«

Die kleine Nebelfee kicherte. »Das stimmt. Aber heute war ich ausnahmsweise mal vor dir wach. Komisch. Ausgerechnet am Tag des Einhorns schläfst du noch. Was ist los mit dir?«

Mit einem Schlag war Rosalie hellwach. »Wie spät ist es, Nikki?«, fragte sie und setzte sich energisch im Bett auf. »Habe ich verschlafen? Habe ich etwa alles verpasst?«

Die Freundin legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Wenn du feenfix machst, schaffen wir das leicht.«

Mit einem Hops sprang Rosalie aus den Federn, schlüpfte in ihr Kleid und angelte sich ihre Reiseflügel. »Fertig!«, verkündete sie strahlend. »Alte Trollblume, das war flott!«

Im Eiltempo sausten die beiden Feenmädchen nach unten, auf die große Wiese vor der Blütenwaldschule. Keine Sekunde zu früh, denn gerade kamen die ersten Gäste. Auch Rosalies Eltern waren darunter.

»Mama!« Stürmisch umarmte die kleine Blumenfee ihre Mutter.