Ross Welford war Journalist und Fernsehproduzent, bevor er entschied, sich ganz und gar dem Schreiben zu widmen. Er lebt mit seiner Frau, seinen Kindern, einem Border Collie und einer Menge tropischer Fische in London.

»Zeitreise mit Hamster« ist sein Debüt.

Ross Welford

Zeitreise mit Hamster

Mein Dad ist zweimal gestorben. Einmal mit neununddreißig und noch einmal vier Jahre später mit zwölf. (Er wird auch noch ein drittes Mal sterben, was für ihn natürlich nicht gerade erfreulich ist, aber das kann ich auch nicht ändern.)

Beim ersten Mal hatte ich gar nichts damit zu tun. Beim zweiten Mal schon, aber ich wäre ja nie dabei gewesen, wenn es seine »Zeitmaschine« nicht gegeben hätte. Das klingt jetzt vielleicht so, als wollte ich die Schuld auf ihn abwälzen, doch das will ich gar nicht, bloß … ihr werdet schon sehen, was ich meine.

Wenn mich irgendjemand vorher gefragt hätte, wie eine Zeitmaschine aussieht, hätte ich wahrscheinlich gesagt wie ein U-Boot. Oder wie eine Rakete. Jedenfalls was mit Schaltern, Armaturen und Lichtern, aus Eisen oder so und groß – richtig groß mit Triebwerken, Aggregaten und Reaktoren …

Stattdessen schaue ich jetzt auf einen Laptop und eine Zinkwanne aus dem Baumarkt.

Das ist Dads Zeitmaschine.

Und sie wird die Welt verändern – buchstäblich. Na ja, auf jeden Fall meine.

ISBN eBook: 978-3-649-62514-8

© 2017 für die deutschsprachige Ausgabe

Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Originally published by HarperCollins Publishers under the title:

Time Travelling with a Hamster

© Ross Welford 2016

Translation © Petra Knese 2017 translated under licence

from HarperCollins Publishers Ltd

Ross Welford asserts the moral rights to be identified as the author of this work.

Aus dem Englischen von Petra Knese

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text

wurde vom Deutschen Übersetzerfond gefördert.

Textauszug aus: T. S. Eliot, Vier Quartette. Übertragung und Nachwort

von Norbert Hummelt. © Suhrkamp Verlag Berlin 2015.

Umschlaggestaltung © HarperCollins Publishers 2016

Umschlagillustration © Tom Clohosy Cole

Lektorat: Jutta Knollmann

www.coppenrath.de

Das Buch (Hardcover) erscheint unter der ISBN 978-3-649-62237-6

Danksagung

Ein Riesendankeschön geht an meine Agentin Silvia Molenti, die meine Geschichte Nick Lake von HarperCollins gezeigt hat. Mit viel Feingefühl hat Nick mich überredet, Dinge zu ändern und besser zu machen. Ich danke auch meinen beiden adleräugigen Korrektorinnen Lily Morgan (Großbritannien) und Ellen Lind (USA), die ein paar sehr peinliche Fehler erspäht haben. Aber vor allem danke ich euch, liebe Leser, denn ohne euch wäre alles irgendwie Zeitverschwendung.

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Gleich gegenüber von dem Haus, wo wir gewohnt haben, bevor Dad gestorben ist (das erste Mal), gab es einen Durchgang zur nächsten Straße mit Gras, Büschen und wild wuchernden Bäumen. Als ich klein war, habe ich es »den Dschungel« genannt, weil es mir so vorkam, aber heute wird mir klar, dass es bloß ein Grundstück ist, auf dem noch keiner gebaut hat.

Und genau dort befinde ich mich im Augenblick. Den Motorradhelm noch auf dem Kopf, sitze ich mitten in der Nacht im Gebüsch und warte auf einen günstigen Moment, in unser altes Haus einzubrechen.

Zu meinen Füßen liegt eine vergammelte Schachtel mit Chicken Wings und etwas riecht fies, wahrscheinlich Fuchskacke. Im Haus ist alles dunkel, kein Licht brennt. Ich schaue hinauf zu meinem ehemaligen Zimmerfenster, dem kleinen über der Haustür.

Tagsüber ist es ziemlich ruhig in der Chesterton Road, einer gewundenen Straße mit kleinen Reihenhäusern aus rotem Backstein. Als sie gebaut wurden, sahen sicher alle Häuser gleich aus, doch mittlerweile haben die Leute schicke Gartentore angebracht, Garagen angebaut und der alte Mr Frasier hat sogar einen riesigen Schlangenbaum gepflanzt.

Um ein Uhr nachts ist hier niemand mehr unterwegs, und ich habe genügend Filme und Fernsehsendungen über Verbrecher gesehen, dass ich weiß, wie man sich nicht verhalten darf, verdächtig nämlich. Wenn man sich ganz normal gibt, fällt man nicht auf. Würde ich nervös die Straße auf und ab laufen, um den richtigen Augenblick abzupassen, könnte mich jemand sehen, wie ich in die Fenster gucke, und die Polizei rufen.

Aber einfach nur die Straße entlanggehen ist so gut wie unsichtbar sein.

(Den Motorradhelm aufzulassen, ist riskant oder »ein kalkuliertes Risiko«, wie Grandpa Byron sagen würde. Ohne merkt vielleicht jemand, dass ich nicht alt genug bin, um einen Motorroller zu fahren. Doch mit Helm rumzulaufen, wirkt verdächtig, also weiß ich es auch nicht. Ich setze ihn lieber ab.)

Ich habe mir alles auf dem Weg hierher überlegt. Vor einem Jahr, als wir noch in der Chesterton Road gewohnt haben, hat der Gemeinderat versuchsweise jede zweite Straßenlampe abgeschaltet, um Geld zu sparen. Deshalb ist es da, wo ich den Roller abgestellt habe, ziemlich dunkel.

So lässig wie möglich komme ich aus dem Gebüsch und verstaue den Helm im Topcase des Motorrollers. Ich ziehe den Kragen hoch und steuere schnurstracks auf die Nummer 40 zu. Dort laufe ich die kurze Auffahrt hoch und bleibe gut verborgen zwischen der Hecke zum Nachbargrundstück und dem kleinen Skoda stehen.

So weit kein Problem. Die neuen Besitzer sind bislang nicht dazu gekommen, das Garagentor zu reparieren. Vor dem Tor liegt ein Stein, und als ich ihn wegnehme, öffnet sich der rechte Flügel und stößt gegen den Skoda. Einen schrecklichen Moment lang fürchte ich, der Spalt ist zu schmal, doch ich passe gerade durch und bin drin. Die Garage ist staubig und stinkt nach Motoröl, der Strahl meiner Taschenlampe fällt auf noch nicht ausgepackte Umzugskisten und die dunklen Dielenbretter über dem Kellereingang.

Und hier noch ein Tipp, falls ihr mal irgendwo einbrechen wollt: nicht so sehr die Taschenlampe schwenken. Zuckende Lichtstrahlen ziehen Aufmerksamkeit auf sich, ein gleichbleibend ruhiges Licht nicht. Also lege ich die Taschenlampe auf den Boden und mache mich daran, die Dielenbretter über dem Eingang wegzunehmen.

Darunter kommt eine Betontreppe zum Vorschein, und nachdem ich die herabgestiegen bin, stehe ich auf einer Fläche von 1 x 1 m, rechts neben mir befindet sich eine kleine Metalltür, die vielleicht halb so groß ist wie ich und sich wie auf einem Schiff mit einem staubigen Stahlrad öffnen lässt. Das Rad wird von einem Bolzen gehalten, der mit einem Zahlenschloss gesichert ist.

Ich will einen erstaunten Pfiff ausstoßen, nur kommt kein Ton, weil meine Lippen vom Staub und der Aufregung zu trocken sind. So stelle ich nur im Schloss die Zahlen ein, die Dad in seinem Brief genannt hat – mein Geburtsdatum, Tag und Monat, bloß umgedreht –, greife das Rad mit beiden Händen und drehe es gegen den Uhrzeigersinn. Anfangs ist es etwas schwergängig, aber es lässt sich leise quietschend drehen und die Tür springt mit einem winzigen Seufzer nach innen auf.

Ich schnappe mir die Taschenlampe und leuchte geradeaus, während ich mich gebückt durch die Tür schiebe. Es geht weiter nach unten, rechts an der Wand fühle ich einen Schalter, doch ich wage nicht, ihn zu drücken, falls damit ein Alarm losgeht oder die Garagenbeleuchtung anspringt oder sonst was – keine Ahnung, aber ich habe zu viel Angst, deshalb betrachte ich alles durch den gelblich weißen Strahl der Taschenlampe.

Die Stufen führen zu einem Raum, der vielleicht halb so groß ist wie unser Wohnzimmer, nur mit einer niedrigeren Decke. Ein Erwachsener könnte hier so gerade eben aufrecht stehen.

An einer Wand sind vier Etagenbetten mit Kissen, Decken und allem. Eine Wand ragt einfach ins Zimmer hinein, dahinter steht ein Klo und eine Apparatur mit Rohren und Schläuchen. Auf dem hellen Zementboden liegen Teppiche, an der Wand hängt auch ein verblichenes orange-schwarzes Poster. Darauf sind in einem Kreis eine Frau, ein Mann und zwei Kinder abgebildet, in weißen Großbuchstaben steht: Schutz und Überleben. Das Poster habe ich schon mal gesehen, als so ein Typ zu uns in die Schule kam und in der Aula über Frieden, Atomkrieg und so einen Kram geredet hat. Dania Biziewsky hat vor Angst geweint und der Typ hat sich total geschämt.

Solche Bunker haben die Leute damals gebaut, als sie noch glaubten, die Russen wollten uns alle mit Atombomben umbringen.

Ich drehe mich um. Der Strahl der Taschenlampe trifft auf einen langen Schreibtisch mit Drehstuhl. Auf dem Tisch steht eine Zinkwanne, in der man einen Hund oder so baden würde. Darin befindet sich ein alter Apple-Laptop, dieser weiße, und eine Computermaus. Vom Computer führt eine Leitung zu einem schwarzen Metallkasten in der Größe eines Taschenbuchs, aus dem zwei ein Meter lange Kabel kommen, die seltsame Griffe an den Enden haben.

Neben der Zinkwanne steht ein Kaffeebecher mit einem Babybild von mir und den Worten: I love my Daddy. Im Becher blüht pelziger Schimmel. Daneben liegt das Lokalblatt, der Whitley Bay Advertiser, zur Hälfte gefaltet. Der aufgeschlagene Artikel zeigt ein Foto meines Vaters, die Überschrift lautet: Tragischer Tod in Culvercot.

Ich setze mich auf den Stuhl und fahre mit den Händen unter der Schreibtischplatte entlang. Als ich nichts fühle, knie ich mich hin und leuchte mit der Taschenlampe. Und da klebt der Umschlag, genau wie Dad gesagt hat.

Bloß gibt es hier keine Zeitmaschine. Wenigstens keine, die so aussieht, wie ich es mir vorgestellt habe.

Und so kommt es, dass ich in die Zinkwanne mit ihrem In-halt starre.

Das kann ja wohl kaum Dads Zeitmaschine sein.

Ist sie aber.

Und das Verrückte daran? Sie funktioniert.

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Angefangen hat alles – also Einbruch plus Raub, Brandstiftung, einen Roller stehlen, jemanden umbringen (fast jedenfalls) und natürlich das Zeitreisen – an meinem zwölft en Geburtstag.

An dem Tag bekam ich einen Hamster und einen Brief von meinem toten Vater.

Wenn man es genau nimmt, und Genauigkeit ist alles, sagt Grandpa Byron immer, fing es damit an, dass Mum und ich bei Steve und der Welt-schlimmsten-Stiefschwester Carly eingezogen sind. Das war, kurz nachdem meine Mutter und Steve in einer Mini-Hochzeit geheiratet haben (Anwesende: Mum, Steve, Grandpa Byron, ich, WSS, Aunty Ellie).

Und wenn man es super genau nimmt, fing es eigentlich mit Dads Tod an, doch das ist schon so lange her und darüber will ich nicht reden. Noch nicht.

Es war mein zwölfter Geburtstag, der am 12. Mai ist, ich war also am Zwölften zwölf, was ja nur einmal im Leben vorkommt. Manch einer muss darauf einunddreißig Jahre warten und dann ist es bestimmt nicht mehr so lustig.

Steve möchte unbedingt, dass ich ihn mag, deshalb hat er sich für mein Geschenk in Unkosten gestürzt, ein Newcastle United Trikot mit meinem Namen und meinem Alter auf dem Rücken: Albert 12. Leider nenne ich mich jetzt Al und Fußball mag ich auch nicht. Hin und wieder habe ich mir mit Steve ein Spiel angesehen, weil Mum sich dann immer freut, aber ehrlich gesagt sehe ich den Sinn dabei nicht so richtig.

»Zieh’s mal über, ob es passt, Al«, sagt Mum und lächelt wie blöd, und ich lächle auch, um zu überspielen, dass mir das Geschenk nicht gefällt, auch wenn es sicher nett gemeint ist. Und Steve lächelt irgendwie irritiert, nur Carlys Lächeln ist echt, weil sie anscheinend merkt, dass es mir nicht gefällt, und sie das freut.

Das Trikot ist eher zu groß, also werde ich da nicht so schnell herauswachsen. Mist.

Mums Geschenk ist viel besser. Es liegt auf dem Küchentresen: eine große Schachtel in buntem Papier mit Schleife wie ein Geschenk aus einem Bilderbuch, und ich habe überhaupt keine Ahnung, was drin ist, bis ich es öffne und auf dem Karton lese: Hamsterdam – Die Stadt für deinen Hamster. Auf dem Karton ist ein Käfig abgebildet mit allem Drum und Dran, Tunnel, Kisten, und ich muss so grinsen, weil ich mir schon gedacht habe, was in dem kleinen Karton ist, den Mum in der Hand hält. Und genau, da ist ein Hamster drin, ein niedlicher kleiner Hamster, noch nicht ganz ausgewachsen, und er (oder sie, ich kann das nicht unterscheiden) hat hellbraunes Fell und ein zuckendes Näschen und ich bin schon ganz vernarrt in ihn (oder sie).

Ich bin noch am Überlegen, wie ich ihn nennen will, da ruft Steve: »Ich habe einen tollen Namen für den Hamster!«

»Steve«, meint Mum, »lass Al den Namen doch lieber selbst aussuchen.«

Steve sieht enttäuscht aus, also lenke ich ein. »Schon gut. Was hast du denn für eine Idee?«

»Alan Shearer!« Beim Anblick meines ausdruckslosen Gesichts ruft Steve erneut: »Alan Shearer. Der beste Stürmer, den Newcastle je hatte? Rekordschütze der Premier League?« Noch immer fällt bei mir der Groschen nicht. »Der Typ von Match of the Day?«

Ich nicke und ringe mir ein Lächeln ab, das aber zu einem echten Lächeln wird, denn einem Hamster einen richtigen Namen zu geben, ist ja wohl zehntausendmal cooler, als ihn »Plüschi« oder »Hammy« zu nennen, was Besseres wäre mir nämlich nicht eingefallen. Also heißt er Alan Shearer.

Carly ist inzwischen das Lächeln vergangen. Als ich die Plastiktunnel auspacke, beugt sie sich so weit zu mir herunter, dass nur ich hören kann, was sie sagt. »Ein Hamster?«, murmelt sie. »Ratten für Babys.«

Doch wisst ihr was? Stört mich nicht.

Dann kommt Grandpa Byron, um mich wie jeden Morgen zur Schule zu bringen. Als ich die Haustür aufmache, steht er in seinem langen safrangelben Gewand vor mir, das graue Haar zu einem Zopf geflochten, mit kleiner runder Sonnenbrille und riesigen Motorradstiefeln. Unter einem Arm, dem schlechten, hat er seinen Sturzhelm und unter dem anderen, dem guten, eine Geburtstagskarte und einen Umschlag.

»Herzlichen Glückwunsch, mein Söhnchen«, sagt er und ich drücke ihn ganz fest. Grandpa Byron riecht so gut. Es ist eine Mischung aus dem Pfefferminzöl, das er sich ins Haar schmiert, und diesen süßlich duftenden Zigaretten, die er manchmal raucht, beedis (die kauft er von einem Mann, der einen libanesischen Schnellimbiss betreibt, obwohl er aus Bangladesch stammt), und außerdem seiner Zahnpasta mit Lakritzgeschmack, die ich schon mal probiert habe und die wirklich eklig schmeckt, aber lecker riecht.

Während ich ihn umarme, nehme ich einen tiefen Atemzug. Grandpa Byron winkt in die Küche, die nicht weit von der Haustür entfernt ist. »Morgen, Byron«, ruft Mum. »Komm doch rein!«

Carly schiebt sich an mir vorbei, um die Treppe hochzugehen. »Hi, Byron«, sagt sie lieb. »Krasse Klamotten, Alter!« Erst als sie an ihm vorbei ist und er sie nicht mehr sehen kann, dreht sie sich zu mir um, verzieht das Gesicht und fuchtelt mit der Hand vor der Nase herum, als würde Grandpa Byron stinken, was so gar nicht stimmt.

Er hat eine witzige Art zu reden, mein Grandpa. Ein herrlicher Mischmasch aus Geordie-Dialekt, den man in der Gegend von Newcastle spricht, indischem Akzent und hoff nungslos veralteten Redewendungen. Er ist der Vater meines Vaters, wobei Dad kein Geordie sprach oder nur wenig.

Grandpa kommt herein und setzt sich mit einer Tüte an den Küchentresen. »Tut mir leid, Kumpel. Hatte noch keine Gelegenheit, dir ein Geschenk zu besorgen.« Dabei wackelt er auf diese typisch indische Art mit dem Kopf, wahrscheinlich nur, um mich zum Lachen zu bringen, und dann lächelt er auch noch, sodass ich seinen großen Goldzahn sehen kann.

»Schon okay«, sage ich und öffne die Karte. Mir fallen zwei Zwanzig-Pfund-Scheine entgegen.

»Danke. Vielen Dank!« Und das meine ich auch so.

Dann sagt Mum: »Ich bin froh, dass du hier bist, Byron. Es ist Zeit, Al den Brief zu geben.« Sie steht auf und macht sich an einer Schublade zu schaffen. Irgendwie benimmt sie sich sonderbar. Aufgeregt kommt sie mit diesem dicken Umschlag auf mich zugeflattert. Steve lächelt ihr still zu, aber Grandpa Byron ist anzusehen, dass er keinen Schimmer hat, worum es geht. Mum setzt ihr ernstes Gesicht auf.

»Also, Al. Das ist für dich. Von deinem Vater.«

Ich bin sprachlos.

»Wir haben es nach seinem Tod in seinen Sachen gefunden. Er muss den Brief schon vor Ewigkeiten geschrieben haben.«

Entgeistert starre ich auf den Umschlag. Grandpa Byron verzieht noch immer keine Miene.

»Was steht drin?«, frage ich schließlich.

»Ich weiß es nicht. Der Brief ist an dich persönlich adressiert. Und du solltest ihn vertraulich behandeln.« Sie macht eine Pause. »Und mit niemandem darüber sprechen.«

Vorsichtig nehme ich ihr den Umschlag ab und lese das Gekrakel auf der Vorderseite. Mein vollständiger Name in der Handschrift meines Vaters: Albert Einstein Hawking Chaudhury. Darunter »WICHTIG: Umschlag erst sechzehn Stunden nach Erhalt öffnen. Auszuhändigen am zwölft en Geburtstag.«

Ich sehe hinüber zu Grandpa Byron. »Hast du davon gewusst?«

Er schüttelt den Kopf, doch die schnelle Seitwärtsbewegung und der verkniffene Mund machen mich stutzig. Mir scheint er sogar etwas blass geworden zu sein.

Steve lächelt derweil immer noch dümmlich vor sich hin, irgendwie wirkt es etwas gezwungen, und mir ist sofort klar, dass er eifersüchtig ist. Er will unbedingt, dass ich ihn mag, und nun ist er sauer, dass mein Vater wieder dazwischenfunkt. Damit verliert er bei mir ein paar Sympathiepunkte.

»Ich darf ihn ja sowieso noch nicht aufmachen«, sage ich und zeige auf die Anweisungen. Natürlich brenne ich vor Neugier, aber der Anblick seiner Handschrift hat die gleiche Wirkung auf mich, als hätte er mir persönlich etwas aufgetragen, und ich respektiere seine Wünsche. Außerdem macht mir Grandpa Byrons versteinertes Gesicht zu schaffen.

»Dann mal los, sonst kommst du noch zu spät«, meint er und nimmt seinen Helm vom Tresen. Und weiter sagt er nichts, bis er mich vor der Schule absetzt. »Kommst du nachher vorbei?«

Ich nicke, und da braust er auch schon mit seinem Roller davon, ohne zu winken.

Alles in allem ein sehr ungewöhnlicher Morgen.

Eine Woche zuvor

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Zwölf Dinge, die ich über Grandpa Byron weiß:

  1. Mit vollem Namen heißt er Byron Rahmat Chaudhury-Roy und geboren ist er an Neujahr, nur feiert er seinen Geburtstag nie. »Warum soll ich feiern, dass ich dem Tod ein Jahr näher gekommen bin?«, hat er mich mal gefragt. »Der Tag an sich ist doch nichts Besonderes.« Trotzdem bekomme ich immer was von ihm zum Geburtstag, so egal können ihm Geburtstage also auch wieder nicht sein. Er ist um die sechzig, sieht aber viel jünger aus, nur dass sein Haar fast weiß ist.
  2. Grandpa Byron hat ein wahnsinnig gutes Gedächtnis, unglaublich, wirklich. Mit zehn ist er bei einem indischen Guru in die Lehre gegangen, der ihm alle möglichen Meditationstricks beibrachte. Damit kann sich Grandpa Byron alles merken. Noch nie hat er einen Namen vergessen.
  3. Grandpa Byron ist in Indien, im Punjab, geboren und seine Mum und sein Dad haben ihn in den 60ern nach England geschickt, weil zu Hause so viel gekämpft wurde. Manche Leute sprechen von den »Swinging Sixties«, aber Grandpa Byron sagt, in Wallsend hätte er davon nichts gemerkt.
  4. Grandpa Byron lebte bei einer Tante und einem Onkel, nur sind die schon ewig tot und ich habe sie nie kennengelernt.
  5. 1972 hat er Grandma Julie geheiratet. Das weiß ich, weil er mir erzählt hat, dass zu der Zeit Without You von Nilsson der Hit in den Charts war, und ich es im Internet nachgeschaut habe. Grandma Julie ist schon vor meiner Geburt gestorben.
  6. Grandma Julies Eltern sind nicht zur Hochzeit erschienen. Grandpa meint, sie seien zu beschäftigt gewesen, aber das kommt mir komisch vor. Vielleicht waren sie Rassisten und hatten was dagegen, dass ihre Tochter einen Inder heiratet. 1972 war anscheinend jeder rassistisch.
  7. Früher hat Grandpa Byron keine gelben Gewänder getragen. Tut er heute auch nicht immer. Bloß nach Dads Tod verschwand er eine Weile – mehrere Monate, meinte Mum –, und als er zurückkam, hatte er einen Bart und trug diese langen Gewänder. (Der Bart war bald wieder ab, weil er zu sehr gejuckt hat.)
  8. Grandpa Byron hat ein Buch geschrieben, während er in einer Fabrik in North Shields gearbeitet hat. Jeden Abend hat er sich an eine Schreibmaschine gesetzt. Das ist so eine Art Computer, aber ohne Speicher. Tastatur und Drucker in einem, echt cool. In England wollte das Buch niemand verlegen, deshalb ist es in Indien erschienen.
  9. Sein rechter Arm wurde bei einem Unfall mit Feuerwerkskörpern zertrümmert. Für ein Fest hat er ein großes Feuerwerk vorbereitet, dabei hat sich irgendwo eine Schraube gelöst, und der Metallkranz, auf dem die Feuerwerkskörper saßen, krachte herunter auf seinen Arm. Er kann ihn kaum noch benutzen, er hängt auch etwas seltsam schief zur Seite. Grandpa bekam ein wenig Geld von der Versicherung und hörte in der Fabrik auf.
  10. Einen Teil des Geldes hat er in das erste Tandoori-Restaurant der Gegend investiert: Spice of the Sands, direkt an der Promenade in Culvercot gelegen. (Das Restaurant gibt es noch, doch die neuen Betreiber kommen aus Bangladesch, und das Essen ist jetzt viel besser, hat Grandpa Byron mal gesagt, aber dabei gelacht.)
  11. In der Fabrik hat er bei einem Talentwettbewerb mal einen Pokal gewonnen. Die meisten seiner Kollegen haben gesungen oder Witze erzählt und einer konnte die Stimme aller Vorgesetzten genial nachahmen, doch Grandpa Byron hat mit seinen Gedächtniskunststücken gewonnen! Jemand hat Karten gemischt und nacheinander laut vorgelesen und Grandpa hat sie alle in der richtigen Reihenfolge gewusst. Er meinte, das wäre nur Stufe 1 gewesen, also nicht mal ansatzweise schwierig.
  12. Grandpa Byron besitzt keine Fotos. Die schönsten Bilder seien in seinem Kopf und Fotos machen ist in seinen Augen reine Faulheit.
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Schule ist ganz okay. Miss Henry, die eigentlich immer ziemlich nett zu mir ist, lächelt heute besonders viel und erzählt allen, dass ich Geburtstag habe. Freddie Stayward, der letzte Woche, als ich einen einfachen Ball nicht gefangen habe, Loser-Loser-Chöre angeführt hat (bis Mr Springham alle anbrüllte, sofort aufzuhören), gibt mir in der Mensa sogar seinen Pudding. Natürlich untersuche ich ihn erst einmal gründlich auf Spucke, Haare und Popel, aber nachdem er den Chaudhury-Test bestanden hat, futtere ich ihn auf.

(Übrigens kannte ich an meinem ersten Tag auf St. Eddies genau keinen. Okay, abgesehen von Carly, aber die zählt nicht. Wir waren in den Sommerferien zu Steve und Carly gezogen. Mum hat diese Erwachsenennummer abgezogen und so getan, als sei alles ein großes Abenteuer, und mir ständig erzählt, wie viel Spaß wir haben würden, doch ich war nicht überzeugt. Bin ich ehrlich gesagt nach wie vor nicht. Genau weiß ich es zwar nicht, aber ich schätze, es war eine Geldfrage. Dad hätte uns nicht gerade in der besten finanziellen Lage zurückgelassen, hat Mum mal gemeint. Das ist auch das einzige Mal, dass sie etwas Schlechtes über ihn gesagt hat.)

Jedenfalls sitze ich nach dem Mittag in der kleinen Nische bei den Jacken, wo man nicht gesehen wird, wenn man die Füße hochnimmt. Den Platz habe ich an meinem zweiten Schultag im September entdeckt, als ich noch niemanden kannte und auf keinen Fall auf der »Freundschaftsbank« sitzen wollte. Außerdem gefällt es mir zwischen all den Jacken und dem Mief schlammiger Gummistiefel und Turnschuhe.

Ich habe mir aus der Schulbibliothek ein Buch über Hamster ausgeliehen und schlage es gerade auf. Da höre ich Jolyons Stimme. Schnell ziehe ich die Füße hoch, doch zu spät.

»Am Lesen, was?«, fragt Jolyon schleppend. Sein fürsorglicher Ton jagt mir einen Schauer über den Rücken. Unwillkürlich zittern meine Hände. So ein Mist, jetzt wirkt es, als hätte ich Angst. Auch das Buch in meinen Händen bebt.

Jolyon Dancey spricht mit diesem Pseudoakzent, halb Dialekt, halb Oberschicht, so redet sonst keiner. Jedes Weihnachten bekommt er ein nagelneues Mountainbike und sein Vater (den er kaum sieht) moderiert am Wochenende spätabends eine Jazzsendung auf Radio Metro und ist so eine absolute Micro- Berühmtheit. Trotzdem gibt Jolyon regelmäßig mit ihm an.

Viel schlimmer ist, dass Carly mit ihm abhängt, obwohl sie eine Klasse über ihm ist, und auch jetzt steht sie Kaugummi kauend neben Jolyon. Seine feste Freundin ist sie nicht, aber sie gehört zu seiner Clique oder würde es gern. Carly hat ihren Rock so hochgezogen, dass man ihn unter der Schulbluse nicht mehr sieht. Als würde sie nur in Bluse und Strumpfhose dastehen.

Jolyon Dancey ist eine totale Nervensäge und im Grunde ein Tyrann, nur kann man ihn nicht für Mobbing drankriegen, weil er immer so nett ist. Nicht nett nett, sondern fies nett.

»Am Lesen!«, wiederholt er sinnlos und hockt sich so hin, dass wir auf Augenhöhe sind, rückt dabei richtig nah und grinst hinterhältig wie diese Krokodile in Naturfilmen.

»Was haben wir denn da? Ein Buch? Ah, Hamster sind so niedlich. Findest du nicht auch, Carly?« Carly nickt. »Darf ich mal sehen?«

Als er die Hand ausstreckt, reiche ich ihm automatisch das Buch. Jolyon steht auf und liest, was auf dem Einband steht.

»Hamsterhaltung für Liebhaber von Dr. A. Borgström.« Er schnaubt. »Du stehst auf Hamster, was, Albert? Du liebst sie richtig, oder?!« Feixend dreht er sich zu Carly um.

»Das heißt doch nur …«

»Klar, glaube ich dir. Kann ich das mal leihen? Ja?«

Auch wenn es bloß ein Büchereibuch ist, dreht sich mir der Magen um, als er es sich in die Tasche seines Blazers stopfen will. Da sagt Carly: »Lass mal, Jol. Heute nicht.«

Jolyon stutzt.

In dem Moment dröhnt Mr Springhams Stimme durch den Flur. »Haltet euch links!« Seine schweren Schritte kommen näher.

Jolyon gibt mir das Buch zurück und zwinkert mir im Gehen noch mal zu. Zwinkert. Echt jetzt. Dabei hält er mich garantiert für den letzten Loser.

Das Ding ist nämlich, dass ich auf St. Eddies keine Freunde habe. Das liegt aber nicht an der Schule, eher an meinem Leben allgemein. Nicht dass ich keine Leute mag oder mich alle doof finden. Doch selbst wenn sie nett sind, schauen sie durch mich durch. Zum Glück bin ich gern für mich, sonst wäre ich wirklich traurig.

Nehmen wir zum Beispiel Umarmungen. Ich habe noch nie einen Freund umarmt und bin auch noch nie von einem Freund umarmt worden. Das macht mir nichts aus, zu Hause bekomme ich massig Umarmungen von Mum und Grandpa (manchmal auch von Steve, nicht so schön, aber immerhin), doch manche Jungs fallen sich in der Schule dauernd in die Arme und klopfen sich auf den Rücken. Das sieht aus, als würde es Spaß bringen.

Wie gesagt, Schule ist ganz okay.

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Grandpa Byron meditiert, als ich mich mit meinem eigenen Schlüssel in sein Haus lasse. Die Wohnzimmervorhänge sind zugezogen, ein Räucherstäbchen qualmt vor sich hin und verbreitet einen süßlichen Ledergeruch.

Grandpa sitzt mit gekreuzten Beinen auf dem Sofa, die Hände auf den Knien, den Rücken kerzengerade. Um mir zu bedeuten, dass er mich wahrgenommen hat, hebt er einen Zeigefinger, was mich beruhigt, denn manchmal macht er das nicht, und dann habe ich das Gefühl, er kann mich nicht hören oder so. Einmal bin ich so lange geblieben, bis er die Augen aufgemacht hat, und das hat Ewigkeiten gedauert. In der Zwischenzeit hatte ich meine Hausaufgaben gemacht, die Batterie meines MP3-Players geplättet und fast den gesamten Daily Telegraph durchgelesen und da sagt er bloß: »Oh, hallo. Bist du schon länger hier?«

Diesmal brauche ich aber nicht so ewig zu warten. Langsam öffnet er die Augen und entknotet die langen braunen Beine.

»Du kommst gerade richtig zum Chai-Tee. Mach doch den Fernseher an. Vielleicht bist du ja heute schneller als diese Dämel.« Während er das sagt, bilden sich kleine Fältchen um seine Augen, weil er die Teilnehmer der Quizshows nicht für wirklich dumm hält, nur eben nicht für so schlau wie sich.

Wir setzen uns vor den Fernseher, trinken supersüßen indischen Tee und essen badam barfi, indisches Karamell-Konfekt, das Grandpa Byron extra für meinen Geburtstag gemacht hat.

Um diese Zeit gibt es im Fernsehen immer irgendeine Quizshow. Meistens gucken wir was auf BBC, aber wenn Grandpa Byron die Sendung nicht mag, sucht er nach einer Wiederholung auf Challenge oder einem anderen Privatkanal.

Damit sie ihm gefällt, muss es bei den Fragen um »Allgemeinwissen« gehen. Hauptstädte, unbekannte ausländische Präsidenten, wann welche Kriege stattgefunden haben, chemische Verbindungen oder Meisterwerke der Kunst … Ich schätze, ihr wisst, was ich meine.

Heute läuft auf BBC 2 MindGames, eine neue Show, bei der sechs Kandidaten versuchen, sich gegenseitig aus dem Rennen zu werfen, indem sie sich mit anderen verbünden und Punkte setzen, wie sicher sie sich bei der Antwort sind. Das Ding dabei ist – und darum gefällt es Grandpa Byron auch so gut –, dass die Fragen superschwer sind, jedenfalls für mich.

Moderiert wird die Sendung von einem Typen, der sonst die Nachrichten spricht, bloß dass er jetzt schwarze Jeans und ein schwarzes Poloshirt trägt, was seltsam an ihm wirkt.

»Okay, Darren, du und Celia, mal sehen, wie ihr euch als Team macht. Könnt ihr zusammen Adnan ausschalten und dem großen Preis näher rücken? Es kommen drei Fragen zur Popmusik, ihr habt dreißig Sekunden ab … jetzt. Wie hieß der letzte Nummer-eins-Hit der Beatles in England, bevor sie …«

»Ballad of John and Yoko war 1969 drei Wochen Nummer eins«, sagt Grandpa Byron, bevor der Fernsehfuzzi mit seiner Frage fertig ist.

»Welches Album aus dem Jahr 1982 wurde zur meistverkauften Platte über …«

»Thriller von Michael Jackson!«, bellt Grandpa Byron.

»Und als Letztes: Welcher Künstler hat gemeinsam mit Alicia Keys 2010 die Hitsingle Empire State of Mind aufgenommen?«

Das weiß ich. »Eminem!«, brülle ich.

Grandpa Byron schüttelt lächelnd den Kopf. »Jay Z. Und es war 2009 und nicht 2010.«

Grandpa Byron kann einfach alles richtig beantworten.

So ist es immer. Oder fast immer.

»Wie machst du das nur?«, frage ich ihn nun bestimmt schon zum hundertsten Mal. »Woher weißt du so viel?«

Und Grandpa Byron gibt mir die gleiche Antwort wie sonst: »Verwechsle nicht Wissen mit Gedächtnis, Al. Ich habe ein gutes Gedächtnis, weil ich es geschult habe, aber das ist nicht das Gleiche wie Wissen, und weder Gedächtnis noch Wissen sind mit Weisheit gleichzusetzen.«

Er grinst und nimmt einen großen Schluck Chai.

Bei Grandpa Byron ist es stets so, dass er den Fernseher abstellt, wenn die Sendung zu Ende ist. Bei mir zu Hause verlassen wir einfach das Zimmer oder schalten durch die Programme, jedenfalls bleibt die Glotze an. Nicht so bei Grandpa Byron. So handhabt er es auch mit der Zeitung: Wenn er einen Artikel gelesen hat, faltet er sie säuberlich zusammen.

Sobald MindGames also vorbei ist, wird der Kasten ausgestellt, und wir sitzen eine Weile schweigend da. Grandpa Byron lächelt ein wenig. Vielleicht freut er sich, dass er alle Fragen wusste oder dass ich zum ersten Mal auch eine oder zwei innerhalb der dreißig Sekunden beantwortet habe.

»Eines schönen Tages wirst du dich besser erinnern als ich«, sagt er und sieht mich dabei aus halb geschlossenen Lidern an. »Weißt du, mit der Kraft deines Geistes kannst du so gut wie alles erreichen. Plus Die Gedächtnispaläste des Sri Kalpana natürlich.«

Das ist das Buch, das Grandpa Byron geschrieben hat. Es ist inzwischen so selten, dass er vermutlich das letzte Exemplar besitzt. Er hat es mir noch nie gezeigt. Früher hat er das immer so nebenbei erwähnt, aber nun schaut er mir direkt in die Augen und lächelt.

Mühelos springt er auf (ohne dieses Geächze, das alte Leute von sich geben, wenn sie sich vom Sofa erheben). Er holt das Buch vom Regal und reicht es mir. Es ist ein dünnes Taschenbuch mit einem schlichten gelben Einband, so gelb wie Grandpas Gewand. Auf dem Titel steht bloß: Die Gedächtnispaläste des Sri Kalpana und darunter von Byron R. Chaudhury-Roy.

»Ich wollte eigentlich noch ein bisschen damit warten«, sagt er. »Aber … der richtige Moment scheint gekommen. Nun bist du ja zwölf.«

»Echt jetzt? Ich meine, danke …«

Grandpa hebt den Zeigefinger, um mich zum Schweigen zu bringen. Sein Blick verschwimmt, bis er wie verrückt blinzelt. »Wir lesen es zusammen. Aber erst einmal kannst du es mitnehmen.«

Ich grinse. »Cool!«

Irgendetwas geht hier vor sich, aber ich komme nicht ganz dahinter. So wie Grandpa Byron gerade »Nun bist du ja zwölf« gesagt hat, lässt mich vermuten, dass es eine Verbindung zwischen dem Buch und seiner eigentümlichen Reaktion auf Dads Brief gibt. Ich muss nicht lange rätseln.

»Der Brief von deinem Vater …«, sagt er, ohne mich anzusehen. Es kommt so lässig rüber, als hätte er es geprobt. Ich nicke bloß und warte, bis er sich mir gegenüber hinsetzt und mich intensiv ansieht.

»Dein Vater und ich hatten Streit. Es ging um seine Arbeit.«

»Seine Arbeit?«

»Nicht um seinen Job. Aber um die Forschungen in seiner Freizeit. Er hat mir davon erzählt und … ich war dagegen.«

»Worum ging es denn?« (Denkt daran, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch keinen blassen Schimmer von der Sache mit der Zeitmaschine hatte.)

Statt mir direkt zu antworten, nimmt Grandpa Byron mir das Buch aus der Hand.

»Das Leben ist ein wunderbares Geschenk, Al. Wir sollten jeden Moment genießen und uns an den Erinnerungen erfreuen. Denn Menschen verändern sich. Orte verändern sich. Alles verändert sich, außer die Erinnerungen. Nimm das Leben so an, wie es ist, Al. Das ist der Schlüssel zum Glück.«

Irgendwie muss ich wohl etwas skeptisch dreingeschaut haben, denn Grandpa Byron holt tief Luft und schließt die Augen, bevor er weiter fortfährt. »Die schönsten Orte sind in meinem Kopf, in meinem Geist. Manche sind groß und prächtig wie Paläste, andere bescheiden. Und alle, Zimmer für Zimmer, sind gefüllt mit Erinnerungen. Manche dieser Fantasieräume sind wie Büros mit Schubladen und Aktenschränken, dort bewahre ich Fakten wie Fußballergebnisse, Daten, Gewinner beim Pferde rennen und Präsidenten auf. Doch die schönsten Zimmer im herrlichsten Palast sind meinen liebsten Erinnerungen gewidmet. Der Tag, an dem dein Vater geboren wurde zum Beispiel, oder die Hochzeit von deiner Großmutter und mir. Oder vor fünf Jahren, als wir in Druridge Bay im Regen gepicknickt haben und du deine Crocs verloren hast. Ich kann mich an jeden Tag meines Lebens erinnern, bis dahin zurück, wo ich in deinem Alter war. Jederzeit kann ich die Zimmer besuchen, Erinnerungen herausnehmen, sie noch einmal erleben, auf Hochglanz polieren und für später zurückstellen. Ich gehe dahin, wann immer ich will.«

»Machst du das, wenn du meditierst?«

»Ja. Meistens jedenfalls. Ich halte meine Erinnerungspaläste ordentlich und sauber. Manchmal können auch die ein bisschen zumüllen, wie richtige Zimmer. Erinnerungen gehen verloren oder verblassen und ich habe gern alles tipptopp in Ordnung!«

»Und was hat das jetzt mit Dads Brief zu tun?«

Grandpa Byron öffnet die Augen und sieht mich an, als hätte er den Brief vergessen. Schließlich sagt er: »Weiß ich auch nicht. Vielleicht hat es auch gar nichts damit zu tun. Aber lies mein Buch trotzdem. Das heißt, wenn du willst.«

Natürlich will ich. Doch noch brennender interessiert mich, warum er mir das alles ausgerechnet jetzt erzählt.

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Als ich nach Hause komme, schläft Alan Shearer, und Mum meint, ich solle ihn nicht wecken. In meinem Buch steht, Hamster seien »Dämmerungstiere«, was wahrscheinlich so viel wie »Schlafmützen« bedeuten soll, also sehe ich ihm beim Schlafen zu. So ganz aus Versehen stoße ich ein paarmal gegen die Käfigecke, wo er schläft, doch er wacht nicht auf.

Dads Brief ist noch in meiner Schultasche. Irgendwie kribbelt es mir in den Fingern, ihn herauszuholen, aber ich habe auch Angst, enttäuscht zu werden.

Steve kommt von der Arbeit nach Hause. »Hey, Champ«, sagt er. »Schön, dass dir das Trikot gefällt!« Ich hatte es ihm zuliebe angezogen. Na ja, eigentlich Mum zuliebe, weil ich weiß, wie sie sich freut, wenn mir Steves Geschenk gefällt.

Steve steuert direkt auf den Fernseher zu. Newcastles United U21 spielt gegen irgendeine europäische Mannschaft. Den Verein habe ich vergessen.

»Komm, mein Junge. Gleich ist Anpfiff!« Er tätschelt den Platz neben sich auf dem Sofa. »Weißt du, ich werde einfach … ich habe noch Hausaufgaben auf.« Ich halte meinen Schlüsselbund mit dem USB-Stick hoch, auf dem ich meine Hausaufgaben speichere, und mache einen Abgang. Leider nicht schnell genug. Aus dem Augenwinkel sehe ich noch Steves geknicktes Gesicht.

»Aber Dortmund spielt! Die Deutschen«, ruft er mir hinterher. Irgendwie klingt er traurig.

Das ist die Sache mit Steve. Ganz offensichtlich soll ich der Sohn sein, den er nicht hat. Und selbst wenn ich sein Sohn wäre, wäre ich nicht zwangsläufig an Fußball interessiert. Der Vater von Daniel Somerset aus meiner alten Klasse hatte wahnsinnig tolle Zaubertricks drauf und hat mir einmal auf einer Party ein buntes Taschentuch aus der Hose gezaubert. Daniel fand Zaubern total lahm, aber seinen Vater hat das nicht gestört, er ist trotzdem am Wochenende mit anderen Amateurzauberern unterwegs gewesen, ohne Daniel jedes Mal mitzuschleifen.

In meinem Zimmer lege ich mich aufs Bett und versuche, Grandpa Byrons Buch zu lesen, während DER BRIEF am Wecker lehnt. Um Mitternacht sind die sechzehn Stunden um.

Ich kann mich gar nicht richtig auf das Buch konzentrieren. Nicht weil es langweilig ist oder so. Aber Grandpa Byron hat es schon vor vielen Jahren geschrieben, also ist die Sprache etwas schwierig und Gedächtnistricks kommen auch keine vor. So ganz kapiere ich es nicht. Also stecke ich ein Lesezeichen hinein und lege das Buch vorsichtig beiseite. Normalerweise knicke ich einfach eine Ecke, doch da es Grandpa Byrons letztes Exemplar ist, fände er das sicher nicht gut.

Ich drehe mich um und starre DEN BRIEF an. Ich starre ewig darauf. Irgendwann strecke ich den Arm aus und schnappe ihn mir. Laut Dads Anweisungen darf ich ihn erst sechzehn Stunden nach Erhalt öffnen, aber ein paar Stunden mehr oder weniger spielen sicher keine Rolle.

»Al!«, ruft Mum von unten. »Essen!«

Seufzend lege ich DEN BRIEF wieder auf den Nachttisch und gehe nach unten.

Weil ich heute Geburtstag habe, hat Mum Lasagne gemacht. Sie versucht, Carly anzurufen, nur hat die ihr Handy ausgeschaltet. Steves Telefon auf dem Küchentresen plingt.

»Die ist mal wieder mit diesem Jolyon Dancey zusammen«, sagt Mum, nachdem sie die Nachricht gelesen hat. »Ist das ihr Freund?«, fragt sie mich.

»Woher soll ich denn das wissen?« In Sachen Carly und Jolyon halte ich mich sicherheitshalber lieber heraus.

»Na ja, wäre schon nett, wenn sie zum Geburtstagsessen ihres Stiefbruders erschienen wäre.«

Dazu sage ich nichts und stopfe mir schnell einen Bissen Lasagne in den Mund. Mum hat das Essen für die Halbzeit getimt und Steve gesellt sich zu uns.

»Null, null«, meint er und rülpst.

Ich grunze und hebe die Augenbrauen, um Interesse vorzutäuschen.

Zur Bettgehzeit habe ich DEN BRIEF immer noch nicht geöffnet, aber ich bin hellwach, als um halb elf Carlys Schlüssel in der Tür geht und laute Stimmen – Steves und Carlys – von unten ertönen.

Um elf bin ich schließlich so müde, dass ich es nicht länger aushalte. Eine Stunde zu früh greife ich nach dem Umschlag auf dem Nachttisch und schiebe die Finger unter die Lasche.